Göttlich verloren / Göttlich Trilogie Bd.2
Helen leidet tagsüber darunter, dass sie und Lucas sich nicht lieben dürfen. Nachts streift sie durch die Unterwelt, wo sie auf Orion trifft. Die beiden kommen sich immer näher. Und dann passiert etwas Unerwartetes, das ausgerechnet...
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Produktinformationen zu „Göttlich verloren / Göttlich Trilogie Bd.2 “
Helen leidet tagsüber darunter, dass sie und Lucas sich nicht lieben dürfen. Nachts streift sie durch die Unterwelt, wo sie auf Orion trifft. Die beiden kommen sich immer näher. Und dann passiert etwas Unerwartetes, das ausgerechnet Lucas und Orion zum Zusammenhalt zwingt: Die vier Häuser Scion werden vereint - und ein neuer Trojanischer Krieg naht.
Klappentext zu „Göttlich verloren / Göttlich Trilogie Bd.2 “
In der Unterwelt ist die Zeit für immer.Helen muss die Hölle gleich zweifach durchstehen: Nachts schlägt sie sich durch die Unterwelt, noch schlimmer quält sie tags, dass Lucas und sie sich unmöglich lieben dürfen. In der Unterwelt trifft Helen auf Orion. Je mehr Zeit die beiden miteinander verbringen, umso näher kommen sie sich. Dann geschieht etwas völlig Unerwartetes, das ausgerechnet Orion und Lucas zum Zusammenhalten zwingt: Die vier Häuser Scion werden vereint und ein neuer Trojanischer Krieg scheint unausweichlich!Eine packende Saga um eine Liebe, die nicht sein darf! SPIEGEL Besteller: Nach Band eins »Göttlich verdammt« wurde der zweite Band der grandiosen "Göttlich"-Trilogie schon sehnlichst erwartet. www.goettlich-trilogie.de www.facebook.com/Goettlichverdammt Auch als E-Book erhältlich
Lese-Probe zu „Göttlich verloren / Göttlich Trilogie Bd.2 “
Göttlich verloren von Josephine AngeliniHelen und Orion in der Hölle
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»Verdammter Mist!«, brüllte Helen.
»Was sollte denn passieren?«, fragte Orion erwartungsvoll.
Sie hatte gerade versucht, sich Persephones Gesicht vorzustellen und sich und Orion in die Gegenwart der Königin zu befördern. Aber sie hatten sich keinen Millimeter bewegt. Helen marschierte aufgebracht im Kreis herum und trat gegen kleine Zweige, bis ihr auffi el, dass es in Wirklichkeit winzige vergilbte Knochen waren.
»Wieso kann das nicht einfach funktionieren?«, stöhnte sie. »Ich will nur ein einziges Mal einen Plan haben, der dann auch klappt. Ist das zu viel verlangt?«
Orion machte den Mund auf, um etwas Beruhigendes zu sagen.
»Natürlich nicht!« Helen ließ ihn nicht zu Wort kommen und ihr Wutausbruch nahm Fahrt auf. »Hier unten funktioniert nichts! Nicht unsere Fähigkeiten, nicht mal die Geografie. Dieser See da vorn hängt an einem Abhang! Er sollte ein Fluss sein, aber oh nein, nicht hier unten! Das würde ja zu viel Sinn ergeben!«
»Okay, okay! Du hast gewonnen! Es ist total verrückt«, sagte Orion kichernd. Er legte die Hände auf ihre Oberarme und hielt sie fest, bis sie ihn ansah. »Reg dich ab. Wir denken uns was anderes aus.«
»Es ist ja nur, weil alle auf mich zählen. Und ich dachte wirklich, wir hätten einen Plan.« Helen seufzte. Ihre Wut war verraucht. Sie ließ ihren Kopf nach vorn gegen Orions Brust fallen. Sie war so müde. Orion ließ sie gewähren und strich ihr beruhigend über den Rücken.
»Soll ich dir die Wahrheit sagen? Ich habe nie geglaubt, dass es klappen würde«, sagte er vorsichtig.
»Ehrlich?« Helen sah enttäuscht zu ihm auf. »Wieso nicht?« »Nun, du hast Persephones Gesicht nie gesehen, nur ein Bild von ihr.«
»Aber als ich das erste Mal in deiner Nähe aufgetaucht bin, habe ich auch nicht dein ganzes Gesicht gesehen. Alles, was ich mir vorgestellt habe, waren deine Stimme und deine Hände und ... dein Mund.« Helen tat sich mit diesen letzten Worten schwer und ihr Blick fiel unwillkürlich auf Orions Lippen.
»Aber das sind immer noch echte Teile von mir - nicht nur Gemälde«, sagte Orion ruhig und schaute weg. »Außerdem weißt du doch gar nicht, ob Persephone wirklich so aussieht wie auf dem Bild.«
»Und wann wolltest du mir das sagen?«, fragte Helen und boxte ihm gegen die Schulter, um die Situation mit ein wenig Humor zu entschärfen. »Warum hast du nichts gesagt?«
»Was zur Hölle weiß ich schon?«, sagte er. »Hör mal, bis wir etwas gefunden haben, das funktioniert, sollten wir keine Idee als unsinnig abtun. Wir werden eine Lösung finden, aber nur, wenn wir nicht zu engstirnig an die Sache herangehen.«
Helen spürte, wie ihr Herz leichter wurde. Orion wusste genau, wie er mit ihren vom Schlafmangel verursachten Stimmungsschwankungen umgehen musste. Irgendwie war es in seiner Gegenwart in Ordnung, wenn sie sich so gab, wie sie wirklich war - so verrückt das auch sein mochte.
»Danke.« Sie lächelte zu ihm auf.
Helen konnte unter ihrer Hand sein Herz pochen hören. Es schlug heftig. Seine Atmung wurde schneller und jeder Atemzug blieb in seiner Lunge stecken. Helen war sich plötzlich sehr bewusst, dass er sie in den Armen hielt, und ihr Rücken spannte sich unter dem leichten Druck seiner Hände. Ein intensiver Augenblick verstrich. Helen hatte das Gefühl, dass Orion auf sie wartete. Um zu verbergen, dass sie fast genauso außer Atem war wie er, lachte sie nervös und wand sich aus seiner Umarmung.
»Du hast recht. Wir sollten für alle Ideen offen sein«, sagte sie und wich einen Schritt zurück.
Was zum Teufel mache ich hier?, dachte sie und ballte die Fäuste, bis sich die Nägel schmerzhaft in ihre Handfl äche gruben.
Sie wusste genau, was sie gerade machte - sie versuchte, nicht daran zu denken, dass sie »viel Spaß« mit einem Scion aus dem Haus von Rom haben konnte, wie Hector so schön gesagt hatte. Was hatte er damit gemeint? Immerhin war es das Haus von Aphrodite ...
»Du hast nicht zufällig welche, oder? Ideen, meine ich«, fuhr sie fort und verdrängte den Gedanken daran, wie viel Spaß sie wohl mit Orion haben durfte.
»Ich glaube, ich habe tatsächlich eine«, sagte er und wechselte so schnell die Gangart, dass Helen sich fragte, ob sie die Situation richtig interpretiert hatte. Orion betrachtete aufmerksam den schrägen See und nagte dabei an seiner Unterlippe.
»Ich höre«, sagte sie, um ihn zu erinnern, dass sie noch da war.
Hatte er daran gedacht, sie zu küssen, oder machte sie sich nur etwas vor? Helen beobachtete, wie er die Zähne sanft über seine Unterlippe gleiten ließ, und wusste nicht, welche dieser beiden Versionen ihr lieber war.
Wieso musste Orion ein Erbe sein? Wieso konnte er nicht einfach ein toller Typ sein, den sie kennengelernt hatte, am besten ein Normalsterblicher, der nichts mit diesem Waffenstillstands-Unsinn zu tun hatte? Alles wäre so viel einfacher, wenn Orion ein normaler Mensch wäre.
»Bei allem, was ich über die Unterwelt gelesen habe, gab es nur ein paar Dinge, die immer wieder erwähnt wurden«, fuhr er fort, ohne zu ahnen, was in Helens Kopf vorging. »Es ist fast, als wären es die einzigen Dinge hier unten, über die sich alle Historiker einig sind.«
Helen begann, alles aufzuzählen, auf das Orions Beschreibung passen konnte.
»Also, wir sind gerade in Erebus - dem öden Nirgendwo.
Dann ist da noch der Asphodeliengrund: gruselig. Und Tartaros: igitt.«
»Ich war nur einmal da - bei unserem ersten, äh, Treffen«, sagte Orion als Anspielung darauf, wie er Helen aus dem Treibsand gezogen hatte. »Das hat mir gereicht.«
»Da sind alle Titanen gefangen. Kein besonders netter Ort, um die Ewigkeit dort zu verbringen«, stellte sie ernst fest. »Also, es gibt Tartaros, Erebos, den Asphodeliengrund, die Elysischen Felder - gewissermaßen der Himmel. Ich bin sicher, dass ich dort noch nicht war. Was habe ich vergessen? Ach ja, da sind noch die fünf Flüsse. Die Flüsse!«, rief Helen aus und begriff erst jetzt, worauf Orion hinauswollte. »Hier unten dreht sich alles um die Flüsse, richtig?«
In Helens Kopf tauchte eine vage Ahnung von einem Fluss auf, fast wie eine Erinnerung aus einem Fiebertraum - mehr Gefühl als tatsächliches Bild -, aber sie wusste nicht, welcher Fluss es war. Als sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, verblich die Erinnerung wie ein Fisch, der in trübem Wasser verschwindet.
»Der Styx, der Acheron, all die anderen. Die defi nieren hier unten den Raum, nicht wahr?«, überlegte Orion, der diesen neuen Ansatz verfolgte. »Sie könnten uns führen wie Pfade.«
»Und wie kommst du auf so unglaublich geniale Ideen?«, fragte Helen voller Bewunderung. Der Gedanke, der kurz vorher in ihrem Kopf aufgetaucht war, war wieder verschwunden, als hätte er nie existiert.
»Durch deine Bemerkung über deinen Lieblingssee da drüben«, antwortete Orion grinsend. »Er sollte eigentlich ein Fluss sein, ist aber keiner. Das hat mich auf die Idee gebracht, dass die Flüsse anders sein müssen. Die übrige Landschaft hier unten verändert sich dauernd, als wäre sie austauschbar. Aber die Flüsse bleiben an ihrem Platz. Sie sind immer da. Ich meine, sogar die Normalsterblichen kennen den Styx, stimmt's? Die Flüsse kommen in jedem halbwegs zuverlässigen Bericht über die Unterwelt vor, den ich bisher gelesen habe, und in den meisten Büchern steht, dass alle Flüsse irgendwo zusammenfl ießen.«
»Also müssen wir nur irgendeinen Fluss fi nden, ihm folgen, und landen schließlich an dem, den wir brauchen«, sagte Helen und sah Orion dabei in die Augen. »Persephones Garten befi ndet sich neben dem Palast von Hades und der Palast soll an einem Fluss stehen. Finden wir diesen Fluss, fi nden wir auch Persephone.«
»Ja, aber das wird uns noch Kopfschmerzen bereiten. Der Fluss, der den Palast von Hades umgibt, ist Phlegethon, der Fluss des Ewigen Feuers. Den lockeren Spaziergang am Ufer können wir uns dort abschminken.« Orion runzelte nachdenklich die Stirn. »Und dann müssen wir auch noch Persephone überreden, dass sie uns hilft, die Furien loszuwerden.«
Plötzlich brach Orion den Augenkontakt ab und sah sich nervös um, als hätte er etwas gehört.
»Was?«, fragte Helen. Sie warf einen Blick über ihre Schulter, konnte aber keine Bedrohung entdecken.
»Nichts. Komm mit«, sagte er beunruhigt. Orion zog an Helens Arm, damit sie sich schneller bewegte.
»Was soll die Hetzerei? Hast du was gesehen?«, fragte Helen, als sie neben Orion hereilte, aber er antwortete nicht. »Sag mir wenigstens, ob es Zähne hat, okay?«
»Hast du von dem Einbruch ins Getty Museum gehört?«, fragte er unerwartet.
»Äh, ja«, sagte Helen, vollkommen verblüfft von seinem plötzlichen Themenwechsel. »Meinst du, dass der Einbruch etwas mit dem zu tun hat, was du gerade gesehen hast?«
»Ich weiß nicht, was ich gesehen habe, aber wir waren auf jeden Fall zu lange am selben Ort«, sagte er verärgert. »Das hätte ich verhindern müssen. Ich kann nicht fassen, dass ich ...«
Helen wartete darauf, dass Orion seinen Satz beendete. Doch stattdessen ging er mit gerunzelter Stirn neben ihr her. Helen sah sich immer wieder um, aber sie konnte nichts Bedrohliches ausmachen.
Die winzigen Knochen auf dem Boden, die Helen so achtlos herumgekickt hatte, wurden größer, je weiter sie gingen. Schon nach wenigen Metern waren sie von Mäuse- über Katzen- bis zu Elefantengröße angewachsen. Kurz darauf bewegten sie sich zwischen Skeletten, die um ein Vielfaches größer waren als die von Dinosauriern. Helen schaute zu den riesigen verkalkten Strukturen auf, und es kam ihr vor, als würden sie einen Wald aus Knochen durchqueren.
Gigantische Rippen wölbten sich über ihnen wie die Bögen einer gotischen Kathedrale. Massive Gelenke, überzo
gen von verzweigten Kolonien toter und staubiger Flechten, lagen wie Felsbrocken im Weg. Helen fi el auf, dass die Skelette vollkommen durcheinander waren, als wären Hunderte Kreaturen von der Größe eines Wolkenkratzers übereinandergestapelt gestorben. Die Überreste waren so riesig, dass es Helen vorkam, als würde sie normale Knochen durch ein Mikroskop betrachten. Sie ließ ihre Hand über eine der löchrigen Oberflächen gleiten und sah Orion fragend an.
»Weißt du, was das für Kreaturen waren?«, flüsterte sie. Orion schlug die Augen nieder und schluckte.
»Die Frostriesen. Ich habe Geschichten darüber gelesen, aber nie geglaubt, dass es sie wirklich gab. Dieser Ort ist verflucht, Helen.«
»Was ist hier passiert?«, wisperte sie, denn der Anblick der gigantischen Knochen und Orions Betroffenheit weckten Ehrfurcht in ihr.
»Es ist ein ganzes Schlachtfeld, das direkt in die Unterwelt verfrachtet wurde. Das ist nur möglich, wenn der letzte Krieger gefallen ist. Die Frostriesen sind jetzt ausgestorben«, sagte er mit einer monotonen Hoffnungslosigkeit in der Stimme, die gar nicht zu ihm passte. »Ich hatte Albträume von einem anderen Schlachtfeld, das in die Unterwelt transportiert wurde. Nur dass die Knochen in meinen Träumen nicht von den Frostriesen stammen, sondern von Scions.«
Er kniff die Lippen zusammen, und Helen musste wieder daran denken, was Hector gesagt hatte. Orion hatte ein hartes Leben geführt. Das spürte sie nun in ihm.
Sie drehte den Kopf nach oben, bis sie seinen Blick erhaschte. Dann rüttelte sie sanft an seinem Arm.
»Hey«, sagte sie. »Weißt du, was mich am Geschichtsunterricht immer am meisten genervt hat?«
»Was?« Orion wurde durch diese scheinbar zusammenhanglose Frage aus seiner düsteren Stimmung gerissen, genau wie Helen es beabsichtigt hatte.
»Es geht dabei immer nur um Kriege und Schlachten und wer wen besiegt hat.« Helen legte beide Hände um einen seiner massiven Unterarme und setzte sich mit ihm im Schlepptau wieder in Bewegung. »Weißt du, was ich finde?«
»Was?«
Er fi ng wieder an zu lächeln und war bereit, auf ihr Spiel einzugehen. Helen war froh, dass die Wolken, die sein Gesicht verdunkelt hatten, so schnell abgezogen waren. Es war beinahe, als würde sie die Fähigkeit besitzen, sie ganz nach Lust und Laune zu vertreiben.
»Ich finde, für jede Schlacht, die wir auswendig lernen müssen, sollten sie uns auch mindestens zwei tolle Dinge beibringen. Zum Beispiel, wie viele Leute jedes Jahr von Feuerwehrmännern gerettet werden oder wie viele Menschen schon auf dem Mond waren. Weißt du, was das Schlimmste ist? Ich habe keine Ahnung, wie viele es waren.«
»Ich auch nicht«, gestand Orion mit einem Lächeln. »Aber wir sollten es wissen! Wir sind Amerikaner!« »Also, offiziell bin ich Kanadier.«
»Das ist dicht genug dran!«, versicherte ihm Helen und
fuchtelte hitzig mit einer Hand herum. »Ich meine doch nur, dass die Menschen zu den tollsten Dingen fähig sind - wieso müssen wir uns dann nur ihre Kriege ansehen? Die Menschheit kann es doch besser.«
»Aber ihr seid keine Menschen, also nicht richtig, nicht ganz menschlich. Hübscher kleiner Göttersohn«, zischte leise eine schmeichlerische Stimme.
Helen sah etwas aufblitzen, als Orion eine der vielen Klingen hervorzog, die er unter seiner Kleidung versteckt trug. Er schob Helen hinter sich und seine Finger krallten sich in ihre Hüfte, damit sie dort blieb und nichts Idiotisches tat, wie etwa hervorzuspringen und um sich zu schlagen.
»Komm hervor und zeig dich«, forderte Orion den Gegner heraus. Seine Stimme war ruhig und kalt - fast als hätte er darauf gewartet, dass so etwas passierte.
Helen hasste es, ohne ihre Blitze völlig hilflos zu sein, und
beschloss zu lernen, wie man als Sterblicher kämpfte, sobald sie wieder in der richtigen Welt war. Falls sie jemals in die richtige Welt zurückkam.
Ein dünnes, schrilles Lachen hallte durch den Wald aus Knochen und ein unheimlicher Singsang drang zu ihnen hinüber.
»Dickes Göttersöhnchen! Größer als die meisten, wie der Jäger, dessen Namen er trägt! Willst du gegen mich kämpfen, dummer Himmelsjäger? Sei gewarnt! Ich habe den Krieg erfunden. Krieg, meine kleinen Schönheiten, und ich habe ihn erfunden. Aber nein, der Himmelsjäger wird nicht weichen.
Er wird kämpfen! Und sie für immer durch die Nacht jagen. Weil sie so hübschhübschhübsch ist!«
Der Singsang mündete in ein kindliches Gelächter, das Helen Angst machte. Während Orion sich suchend um sich selbst drehte, erhaschte Helen einen Blick auf einen langen, dürren Mann, der durch die Grabstätte der Frostriesen schlich. Er war knochig, fast nackt und am ganzen Körper mit bläulichen Schnörkeln bemalt wie ein Wilder aus der Steinzeit.
»So sehr wie meine Schwester, meine Geliebte. So sehr wie das Gesicht! Oh! Das Gesicht, das geliebt hat, das Schiffe in See stechen ließ und das so viel BlutBlutBlut vergossen hat! Wieder, wieder! Ich will noch einmal das Spiel mit den hübschen kleinen Götterkinderchen spielen!« Kichernd sprang er herbei und versuchte, Orion von Helen wegzulocken, aber Orion fi el nicht darauf herein.
Als der Wilde näher kam, konnte Helen ihn genauer sehen. Voller Entsetzen drückte sie sich enger an Orions Rücken. Der Wilde hatte vorquellende graue Augen und lange verfilzte Haare, die ursprünglich vielleicht hellblond oder weiß, jetzt aber mit blauer Farbe und getrocknetem Blut verkrustet waren. Aus seiner Haut quoll Blut hervor. Es lief ihm aus der Nase und den Ohren - sogar aus seiner Kopfhaut, als würde ihm sein verrottetes Gehirn aus jeder Pore treten.
In der Hand hielt er ein stumpfes Schwert, das an den Kanten vom Rost orange verfärbt war. Als Helen mit Orion herumfuhr, um einer der Attacken des Wilden auszuweichen, erhaschte sie seinen Geruch. Er stank so nach Verwesung, dass
sich ihr beinahe der Magen umdrehte. Er roch nach saurem Schweiß und modrigem Fleisch.
»Ares«, flüsterte Orion Helen über die Schulter zu, als der Gott hysterisch kichernd davonsprang, um sich zwischen den Knochen zu verstecken. »Keine Angst, Helen. Er ist ein Feigling.«
»Er ist verrückt«, wisperte Helen hektisch zurück. »Er ist total durchgeknallt!«
»Das sind die meisten Götter, allerdings soll Ares mit Abstand der verrückteste sein«, sagte Orion mit einem beruhigenden Lächeln. »Keine Angst, ich werde ihn nicht in deine Nähe lassen.«
»Äh, Orion? Wenn er ein Gott ist, kann er dich dann nicht ganz einfach töten?«, fragte Helen vorsichtig.
»Wenn wir hier unten keine Halbgottkräfte haben, wieso sollte er dann seine Gottkräfte haben?«, fragte er mit einem Schulterzucken. »Außerdem rennt er gerade vor uns weg. Das ist im Allgemeinen ein gutes Zeichen.«
Das ergab Sinn, aber Helen war noch nicht überzeugt. Sie konnte den verrückten Gott vor sich hin summen hören, als er sich von ihnen entfernte. Sehr ängstlich hörte er sich nicht an.
»Du da, kleiner Göttersohn! Versteckst dich vor den anderen?«, rief Ares plötzlich ein paar Hundert Meter entfernt aus. »Wie unpraktisch. Ihr solltet alle zusammen sein, wenn ich mein Lieblingsspiel mit euch spiele! Bald, bald. Zunächst lasse ich es durchgehen. Ich schaue erst einmal zu, wie ihr mit dem Schoßtier meines Onkels spielt. Es geht los, kleiner Göttersohn!«
»Mit wem redet der?«, flüsterte Orion Helen zu.
»Keine Ahnung, mit uns jedenfalls nicht. Meinst du, dass er Wahnvorstellungen hat?«, überlegte Helen.
»Ich weiß es nicht. Vorhin dachte ich, ich hätte gesehen ...« Orions Satz wurde abrupt unterbrochen.
Ein gigantisches Heulen hallte durch den Knochenwald. Es
war so tief und laut, dass Helen die Vibrationen bis in ihren Magen fühlte. Ein zweites und ein drittes Heulen folgten und jedes war ein bisschen anders als das vorherige. Helen erstarrte.
»Zerberus«, keuchte Orion angsterfüllt. »Lauf!«
Er packte Helens Arm und zog sie mit sich, was sie aus ihrer Angststarre riss. Dann rannten sie um ihr Leben und das gackernde Lachen von Ares gellte in ihren Ohren.
Sie hechteten über morsche Knochen und versuchten, das
Heulen hinter sich zu lassen und nicht in eine Sackgasse zu geraten. Zum Glück wurden die Knochen immer kleiner, als sie im Zickzack das andere Ende des Friedhofs ansteuerten.
»Weißt du, wohin wir rennen?«, schnaufte Helen. Orion reckte das Handgelenk aus dem Ärmel seiner Jacke und betrachtete das goldene Armband.
»Es glüht, wenn ich in der Nähe eines Tores bin«, rief er ihr zu.
Helen sprintete um einen besonders scharfkantigen Beckenknochen herum und warf dann ebenfalls einen Blick auf das Armband. Es glühte nicht im Geringsten.
Übersetzung: Simone Wiemken
© Dressler Verlag GmbH, Hamburg, 2012
»Verdammter Mist!«, brüllte Helen.
»Was sollte denn passieren?«, fragte Orion erwartungsvoll.
Sie hatte gerade versucht, sich Persephones Gesicht vorzustellen und sich und Orion in die Gegenwart der Königin zu befördern. Aber sie hatten sich keinen Millimeter bewegt. Helen marschierte aufgebracht im Kreis herum und trat gegen kleine Zweige, bis ihr auffi el, dass es in Wirklichkeit winzige vergilbte Knochen waren.
»Wieso kann das nicht einfach funktionieren?«, stöhnte sie. »Ich will nur ein einziges Mal einen Plan haben, der dann auch klappt. Ist das zu viel verlangt?«
Orion machte den Mund auf, um etwas Beruhigendes zu sagen.
»Natürlich nicht!« Helen ließ ihn nicht zu Wort kommen und ihr Wutausbruch nahm Fahrt auf. »Hier unten funktioniert nichts! Nicht unsere Fähigkeiten, nicht mal die Geografie. Dieser See da vorn hängt an einem Abhang! Er sollte ein Fluss sein, aber oh nein, nicht hier unten! Das würde ja zu viel Sinn ergeben!«
»Okay, okay! Du hast gewonnen! Es ist total verrückt«, sagte Orion kichernd. Er legte die Hände auf ihre Oberarme und hielt sie fest, bis sie ihn ansah. »Reg dich ab. Wir denken uns was anderes aus.«
»Es ist ja nur, weil alle auf mich zählen. Und ich dachte wirklich, wir hätten einen Plan.« Helen seufzte. Ihre Wut war verraucht. Sie ließ ihren Kopf nach vorn gegen Orions Brust fallen. Sie war so müde. Orion ließ sie gewähren und strich ihr beruhigend über den Rücken.
»Soll ich dir die Wahrheit sagen? Ich habe nie geglaubt, dass es klappen würde«, sagte er vorsichtig.
»Ehrlich?« Helen sah enttäuscht zu ihm auf. »Wieso nicht?« »Nun, du hast Persephones Gesicht nie gesehen, nur ein Bild von ihr.«
»Aber als ich das erste Mal in deiner Nähe aufgetaucht bin, habe ich auch nicht dein ganzes Gesicht gesehen. Alles, was ich mir vorgestellt habe, waren deine Stimme und deine Hände und ... dein Mund.« Helen tat sich mit diesen letzten Worten schwer und ihr Blick fiel unwillkürlich auf Orions Lippen.
»Aber das sind immer noch echte Teile von mir - nicht nur Gemälde«, sagte Orion ruhig und schaute weg. »Außerdem weißt du doch gar nicht, ob Persephone wirklich so aussieht wie auf dem Bild.«
»Und wann wolltest du mir das sagen?«, fragte Helen und boxte ihm gegen die Schulter, um die Situation mit ein wenig Humor zu entschärfen. »Warum hast du nichts gesagt?«
»Was zur Hölle weiß ich schon?«, sagte er. »Hör mal, bis wir etwas gefunden haben, das funktioniert, sollten wir keine Idee als unsinnig abtun. Wir werden eine Lösung finden, aber nur, wenn wir nicht zu engstirnig an die Sache herangehen.«
Helen spürte, wie ihr Herz leichter wurde. Orion wusste genau, wie er mit ihren vom Schlafmangel verursachten Stimmungsschwankungen umgehen musste. Irgendwie war es in seiner Gegenwart in Ordnung, wenn sie sich so gab, wie sie wirklich war - so verrückt das auch sein mochte.
»Danke.« Sie lächelte zu ihm auf.
Helen konnte unter ihrer Hand sein Herz pochen hören. Es schlug heftig. Seine Atmung wurde schneller und jeder Atemzug blieb in seiner Lunge stecken. Helen war sich plötzlich sehr bewusst, dass er sie in den Armen hielt, und ihr Rücken spannte sich unter dem leichten Druck seiner Hände. Ein intensiver Augenblick verstrich. Helen hatte das Gefühl, dass Orion auf sie wartete. Um zu verbergen, dass sie fast genauso außer Atem war wie er, lachte sie nervös und wand sich aus seiner Umarmung.
»Du hast recht. Wir sollten für alle Ideen offen sein«, sagte sie und wich einen Schritt zurück.
Was zum Teufel mache ich hier?, dachte sie und ballte die Fäuste, bis sich die Nägel schmerzhaft in ihre Handfl äche gruben.
Sie wusste genau, was sie gerade machte - sie versuchte, nicht daran zu denken, dass sie »viel Spaß« mit einem Scion aus dem Haus von Rom haben konnte, wie Hector so schön gesagt hatte. Was hatte er damit gemeint? Immerhin war es das Haus von Aphrodite ...
»Du hast nicht zufällig welche, oder? Ideen, meine ich«, fuhr sie fort und verdrängte den Gedanken daran, wie viel Spaß sie wohl mit Orion haben durfte.
»Ich glaube, ich habe tatsächlich eine«, sagte er und wechselte so schnell die Gangart, dass Helen sich fragte, ob sie die Situation richtig interpretiert hatte. Orion betrachtete aufmerksam den schrägen See und nagte dabei an seiner Unterlippe.
»Ich höre«, sagte sie, um ihn zu erinnern, dass sie noch da war.
Hatte er daran gedacht, sie zu küssen, oder machte sie sich nur etwas vor? Helen beobachtete, wie er die Zähne sanft über seine Unterlippe gleiten ließ, und wusste nicht, welche dieser beiden Versionen ihr lieber war.
Wieso musste Orion ein Erbe sein? Wieso konnte er nicht einfach ein toller Typ sein, den sie kennengelernt hatte, am besten ein Normalsterblicher, der nichts mit diesem Waffenstillstands-Unsinn zu tun hatte? Alles wäre so viel einfacher, wenn Orion ein normaler Mensch wäre.
»Bei allem, was ich über die Unterwelt gelesen habe, gab es nur ein paar Dinge, die immer wieder erwähnt wurden«, fuhr er fort, ohne zu ahnen, was in Helens Kopf vorging. »Es ist fast, als wären es die einzigen Dinge hier unten, über die sich alle Historiker einig sind.«
Helen begann, alles aufzuzählen, auf das Orions Beschreibung passen konnte.
»Also, wir sind gerade in Erebus - dem öden Nirgendwo.
Dann ist da noch der Asphodeliengrund: gruselig. Und Tartaros: igitt.«
»Ich war nur einmal da - bei unserem ersten, äh, Treffen«, sagte Orion als Anspielung darauf, wie er Helen aus dem Treibsand gezogen hatte. »Das hat mir gereicht.«
»Da sind alle Titanen gefangen. Kein besonders netter Ort, um die Ewigkeit dort zu verbringen«, stellte sie ernst fest. »Also, es gibt Tartaros, Erebos, den Asphodeliengrund, die Elysischen Felder - gewissermaßen der Himmel. Ich bin sicher, dass ich dort noch nicht war. Was habe ich vergessen? Ach ja, da sind noch die fünf Flüsse. Die Flüsse!«, rief Helen aus und begriff erst jetzt, worauf Orion hinauswollte. »Hier unten dreht sich alles um die Flüsse, richtig?«
In Helens Kopf tauchte eine vage Ahnung von einem Fluss auf, fast wie eine Erinnerung aus einem Fiebertraum - mehr Gefühl als tatsächliches Bild -, aber sie wusste nicht, welcher Fluss es war. Als sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, verblich die Erinnerung wie ein Fisch, der in trübem Wasser verschwindet.
»Der Styx, der Acheron, all die anderen. Die defi nieren hier unten den Raum, nicht wahr?«, überlegte Orion, der diesen neuen Ansatz verfolgte. »Sie könnten uns führen wie Pfade.«
»Und wie kommst du auf so unglaublich geniale Ideen?«, fragte Helen voller Bewunderung. Der Gedanke, der kurz vorher in ihrem Kopf aufgetaucht war, war wieder verschwunden, als hätte er nie existiert.
»Durch deine Bemerkung über deinen Lieblingssee da drüben«, antwortete Orion grinsend. »Er sollte eigentlich ein Fluss sein, ist aber keiner. Das hat mich auf die Idee gebracht, dass die Flüsse anders sein müssen. Die übrige Landschaft hier unten verändert sich dauernd, als wäre sie austauschbar. Aber die Flüsse bleiben an ihrem Platz. Sie sind immer da. Ich meine, sogar die Normalsterblichen kennen den Styx, stimmt's? Die Flüsse kommen in jedem halbwegs zuverlässigen Bericht über die Unterwelt vor, den ich bisher gelesen habe, und in den meisten Büchern steht, dass alle Flüsse irgendwo zusammenfl ießen.«
»Also müssen wir nur irgendeinen Fluss fi nden, ihm folgen, und landen schließlich an dem, den wir brauchen«, sagte Helen und sah Orion dabei in die Augen. »Persephones Garten befi ndet sich neben dem Palast von Hades und der Palast soll an einem Fluss stehen. Finden wir diesen Fluss, fi nden wir auch Persephone.«
»Ja, aber das wird uns noch Kopfschmerzen bereiten. Der Fluss, der den Palast von Hades umgibt, ist Phlegethon, der Fluss des Ewigen Feuers. Den lockeren Spaziergang am Ufer können wir uns dort abschminken.« Orion runzelte nachdenklich die Stirn. »Und dann müssen wir auch noch Persephone überreden, dass sie uns hilft, die Furien loszuwerden.«
Plötzlich brach Orion den Augenkontakt ab und sah sich nervös um, als hätte er etwas gehört.
»Was?«, fragte Helen. Sie warf einen Blick über ihre Schulter, konnte aber keine Bedrohung entdecken.
»Nichts. Komm mit«, sagte er beunruhigt. Orion zog an Helens Arm, damit sie sich schneller bewegte.
»Was soll die Hetzerei? Hast du was gesehen?«, fragte Helen, als sie neben Orion hereilte, aber er antwortete nicht. »Sag mir wenigstens, ob es Zähne hat, okay?«
»Hast du von dem Einbruch ins Getty Museum gehört?«, fragte er unerwartet.
»Äh, ja«, sagte Helen, vollkommen verblüfft von seinem plötzlichen Themenwechsel. »Meinst du, dass der Einbruch etwas mit dem zu tun hat, was du gerade gesehen hast?«
»Ich weiß nicht, was ich gesehen habe, aber wir waren auf jeden Fall zu lange am selben Ort«, sagte er verärgert. »Das hätte ich verhindern müssen. Ich kann nicht fassen, dass ich ...«
Helen wartete darauf, dass Orion seinen Satz beendete. Doch stattdessen ging er mit gerunzelter Stirn neben ihr her. Helen sah sich immer wieder um, aber sie konnte nichts Bedrohliches ausmachen.
Die winzigen Knochen auf dem Boden, die Helen so achtlos herumgekickt hatte, wurden größer, je weiter sie gingen. Schon nach wenigen Metern waren sie von Mäuse- über Katzen- bis zu Elefantengröße angewachsen. Kurz darauf bewegten sie sich zwischen Skeletten, die um ein Vielfaches größer waren als die von Dinosauriern. Helen schaute zu den riesigen verkalkten Strukturen auf, und es kam ihr vor, als würden sie einen Wald aus Knochen durchqueren.
Gigantische Rippen wölbten sich über ihnen wie die Bögen einer gotischen Kathedrale. Massive Gelenke, überzo
gen von verzweigten Kolonien toter und staubiger Flechten, lagen wie Felsbrocken im Weg. Helen fi el auf, dass die Skelette vollkommen durcheinander waren, als wären Hunderte Kreaturen von der Größe eines Wolkenkratzers übereinandergestapelt gestorben. Die Überreste waren so riesig, dass es Helen vorkam, als würde sie normale Knochen durch ein Mikroskop betrachten. Sie ließ ihre Hand über eine der löchrigen Oberflächen gleiten und sah Orion fragend an.
»Weißt du, was das für Kreaturen waren?«, flüsterte sie. Orion schlug die Augen nieder und schluckte.
»Die Frostriesen. Ich habe Geschichten darüber gelesen, aber nie geglaubt, dass es sie wirklich gab. Dieser Ort ist verflucht, Helen.«
»Was ist hier passiert?«, wisperte sie, denn der Anblick der gigantischen Knochen und Orions Betroffenheit weckten Ehrfurcht in ihr.
»Es ist ein ganzes Schlachtfeld, das direkt in die Unterwelt verfrachtet wurde. Das ist nur möglich, wenn der letzte Krieger gefallen ist. Die Frostriesen sind jetzt ausgestorben«, sagte er mit einer monotonen Hoffnungslosigkeit in der Stimme, die gar nicht zu ihm passte. »Ich hatte Albträume von einem anderen Schlachtfeld, das in die Unterwelt transportiert wurde. Nur dass die Knochen in meinen Träumen nicht von den Frostriesen stammen, sondern von Scions.«
Er kniff die Lippen zusammen, und Helen musste wieder daran denken, was Hector gesagt hatte. Orion hatte ein hartes Leben geführt. Das spürte sie nun in ihm.
Sie drehte den Kopf nach oben, bis sie seinen Blick erhaschte. Dann rüttelte sie sanft an seinem Arm.
»Hey«, sagte sie. »Weißt du, was mich am Geschichtsunterricht immer am meisten genervt hat?«
»Was?« Orion wurde durch diese scheinbar zusammenhanglose Frage aus seiner düsteren Stimmung gerissen, genau wie Helen es beabsichtigt hatte.
»Es geht dabei immer nur um Kriege und Schlachten und wer wen besiegt hat.« Helen legte beide Hände um einen seiner massiven Unterarme und setzte sich mit ihm im Schlepptau wieder in Bewegung. »Weißt du, was ich finde?«
»Was?«
Er fi ng wieder an zu lächeln und war bereit, auf ihr Spiel einzugehen. Helen war froh, dass die Wolken, die sein Gesicht verdunkelt hatten, so schnell abgezogen waren. Es war beinahe, als würde sie die Fähigkeit besitzen, sie ganz nach Lust und Laune zu vertreiben.
»Ich finde, für jede Schlacht, die wir auswendig lernen müssen, sollten sie uns auch mindestens zwei tolle Dinge beibringen. Zum Beispiel, wie viele Leute jedes Jahr von Feuerwehrmännern gerettet werden oder wie viele Menschen schon auf dem Mond waren. Weißt du, was das Schlimmste ist? Ich habe keine Ahnung, wie viele es waren.«
»Ich auch nicht«, gestand Orion mit einem Lächeln. »Aber wir sollten es wissen! Wir sind Amerikaner!« »Also, offiziell bin ich Kanadier.«
»Das ist dicht genug dran!«, versicherte ihm Helen und
fuchtelte hitzig mit einer Hand herum. »Ich meine doch nur, dass die Menschen zu den tollsten Dingen fähig sind - wieso müssen wir uns dann nur ihre Kriege ansehen? Die Menschheit kann es doch besser.«
»Aber ihr seid keine Menschen, also nicht richtig, nicht ganz menschlich. Hübscher kleiner Göttersohn«, zischte leise eine schmeichlerische Stimme.
Helen sah etwas aufblitzen, als Orion eine der vielen Klingen hervorzog, die er unter seiner Kleidung versteckt trug. Er schob Helen hinter sich und seine Finger krallten sich in ihre Hüfte, damit sie dort blieb und nichts Idiotisches tat, wie etwa hervorzuspringen und um sich zu schlagen.
»Komm hervor und zeig dich«, forderte Orion den Gegner heraus. Seine Stimme war ruhig und kalt - fast als hätte er darauf gewartet, dass so etwas passierte.
Helen hasste es, ohne ihre Blitze völlig hilflos zu sein, und
beschloss zu lernen, wie man als Sterblicher kämpfte, sobald sie wieder in der richtigen Welt war. Falls sie jemals in die richtige Welt zurückkam.
Ein dünnes, schrilles Lachen hallte durch den Wald aus Knochen und ein unheimlicher Singsang drang zu ihnen hinüber.
»Dickes Göttersöhnchen! Größer als die meisten, wie der Jäger, dessen Namen er trägt! Willst du gegen mich kämpfen, dummer Himmelsjäger? Sei gewarnt! Ich habe den Krieg erfunden. Krieg, meine kleinen Schönheiten, und ich habe ihn erfunden. Aber nein, der Himmelsjäger wird nicht weichen.
Er wird kämpfen! Und sie für immer durch die Nacht jagen. Weil sie so hübschhübschhübsch ist!«
Der Singsang mündete in ein kindliches Gelächter, das Helen Angst machte. Während Orion sich suchend um sich selbst drehte, erhaschte Helen einen Blick auf einen langen, dürren Mann, der durch die Grabstätte der Frostriesen schlich. Er war knochig, fast nackt und am ganzen Körper mit bläulichen Schnörkeln bemalt wie ein Wilder aus der Steinzeit.
»So sehr wie meine Schwester, meine Geliebte. So sehr wie das Gesicht! Oh! Das Gesicht, das geliebt hat, das Schiffe in See stechen ließ und das so viel BlutBlutBlut vergossen hat! Wieder, wieder! Ich will noch einmal das Spiel mit den hübschen kleinen Götterkinderchen spielen!« Kichernd sprang er herbei und versuchte, Orion von Helen wegzulocken, aber Orion fi el nicht darauf herein.
Als der Wilde näher kam, konnte Helen ihn genauer sehen. Voller Entsetzen drückte sie sich enger an Orions Rücken. Der Wilde hatte vorquellende graue Augen und lange verfilzte Haare, die ursprünglich vielleicht hellblond oder weiß, jetzt aber mit blauer Farbe und getrocknetem Blut verkrustet waren. Aus seiner Haut quoll Blut hervor. Es lief ihm aus der Nase und den Ohren - sogar aus seiner Kopfhaut, als würde ihm sein verrottetes Gehirn aus jeder Pore treten.
In der Hand hielt er ein stumpfes Schwert, das an den Kanten vom Rost orange verfärbt war. Als Helen mit Orion herumfuhr, um einer der Attacken des Wilden auszuweichen, erhaschte sie seinen Geruch. Er stank so nach Verwesung, dass
sich ihr beinahe der Magen umdrehte. Er roch nach saurem Schweiß und modrigem Fleisch.
»Ares«, flüsterte Orion Helen über die Schulter zu, als der Gott hysterisch kichernd davonsprang, um sich zwischen den Knochen zu verstecken. »Keine Angst, Helen. Er ist ein Feigling.«
»Er ist verrückt«, wisperte Helen hektisch zurück. »Er ist total durchgeknallt!«
»Das sind die meisten Götter, allerdings soll Ares mit Abstand der verrückteste sein«, sagte Orion mit einem beruhigenden Lächeln. »Keine Angst, ich werde ihn nicht in deine Nähe lassen.«
»Äh, Orion? Wenn er ein Gott ist, kann er dich dann nicht ganz einfach töten?«, fragte Helen vorsichtig.
»Wenn wir hier unten keine Halbgottkräfte haben, wieso sollte er dann seine Gottkräfte haben?«, fragte er mit einem Schulterzucken. »Außerdem rennt er gerade vor uns weg. Das ist im Allgemeinen ein gutes Zeichen.«
Das ergab Sinn, aber Helen war noch nicht überzeugt. Sie konnte den verrückten Gott vor sich hin summen hören, als er sich von ihnen entfernte. Sehr ängstlich hörte er sich nicht an.
»Du da, kleiner Göttersohn! Versteckst dich vor den anderen?«, rief Ares plötzlich ein paar Hundert Meter entfernt aus. »Wie unpraktisch. Ihr solltet alle zusammen sein, wenn ich mein Lieblingsspiel mit euch spiele! Bald, bald. Zunächst lasse ich es durchgehen. Ich schaue erst einmal zu, wie ihr mit dem Schoßtier meines Onkels spielt. Es geht los, kleiner Göttersohn!«
»Mit wem redet der?«, flüsterte Orion Helen zu.
»Keine Ahnung, mit uns jedenfalls nicht. Meinst du, dass er Wahnvorstellungen hat?«, überlegte Helen.
»Ich weiß es nicht. Vorhin dachte ich, ich hätte gesehen ...« Orions Satz wurde abrupt unterbrochen.
Ein gigantisches Heulen hallte durch den Knochenwald. Es
war so tief und laut, dass Helen die Vibrationen bis in ihren Magen fühlte. Ein zweites und ein drittes Heulen folgten und jedes war ein bisschen anders als das vorherige. Helen erstarrte.
»Zerberus«, keuchte Orion angsterfüllt. »Lauf!«
Er packte Helens Arm und zog sie mit sich, was sie aus ihrer Angststarre riss. Dann rannten sie um ihr Leben und das gackernde Lachen von Ares gellte in ihren Ohren.
Sie hechteten über morsche Knochen und versuchten, das
Heulen hinter sich zu lassen und nicht in eine Sackgasse zu geraten. Zum Glück wurden die Knochen immer kleiner, als sie im Zickzack das andere Ende des Friedhofs ansteuerten.
»Weißt du, wohin wir rennen?«, schnaufte Helen. Orion reckte das Handgelenk aus dem Ärmel seiner Jacke und betrachtete das goldene Armband.
»Es glüht, wenn ich in der Nähe eines Tores bin«, rief er ihr zu.
Helen sprintete um einen besonders scharfkantigen Beckenknochen herum und warf dann ebenfalls einen Blick auf das Armband. Es glühte nicht im Geringsten.
Übersetzung: Simone Wiemken
© Dressler Verlag GmbH, Hamburg, 2012
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Autoren-Porträt von Josephine Angelini
Angelini, JosephineJosephine Angelini wurde als jüngstes von acht Kindern in Massachusetts/USA geboren und lebt heute mit ihrem Ehemann, einem Drehbuchautor, und drei Katzen in Los Angeles. Sie hat an der Tisch School of the Arts in New York Angewandte Theaterwissenschaft mit den Schwerpunkten "Antike tragische Helden" und "Griechische Mythologie" studiert. Josephine Angelini veröffentlichte mit der "Göttlich"-Trilogie ihr erfolgreiches Debüt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Josephine Angelini
- Altersempfehlung: 14 - 17 Jahre
- 2012, 576 Seiten, Maße: 16 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung:Wiemken, Simone
- Übersetzer: Simone Wiemken
- Verlag: Dressler Verlag GmbH
- ISBN-10: 379152626X
- ISBN-13: 9783791526263
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