Schattenfreundin / Schneidmann & Käfer Bd.1
Roman. Originalausgabe
Tatort Münster: Der kleine Leo wurde entführt!
Kommissarin Schneidmann ermittelt: Sie muss den Jungen finden, bevor es zu spät ist. Dabei setzt sie nicht nur die Verzweiflung von Leos Mutter unter Druck, sondern auch...
Kommissarin Schneidmann ermittelt: Sie muss den Jungen finden, bevor es zu spät ist. Dabei setzt sie nicht nur die Verzweiflung von Leos Mutter unter Druck, sondern auch...
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Produktinformationen zu „Schattenfreundin / Schneidmann & Käfer Bd.1 “
Tatort Münster: Der kleine Leo wurde entführt!
Kommissarin Schneidmann ermittelt: Sie muss den Jungen finden, bevor es zu spät ist. Dabei setzt sie nicht nur die Verzweiflung von Leos Mutter unter Druck, sondern auch die Erinnerungen an ihre eigene traumatische Kindheit.
Kommissarin Schneidmann ermittelt: Sie muss den Jungen finden, bevor es zu spät ist. Dabei setzt sie nicht nur die Verzweiflung von Leos Mutter unter Druck, sondern auch die Erinnerungen an ihre eigene traumatische Kindheit.
Klappentext zu „Schattenfreundin / Schneidmann & Käfer Bd.1 “
Wo ist Leo? Charlotte Schneidmann, Kommissarin in Münster, setzt alles daran, den kleinen Jungen zu finden, bevor es zu spät ist. Denn nicht nur die Sorgen der verzweifelten Mutter lassen sie fieberhaft ermitteln, auch die Erinnerungen an die eigene traumatische Kindheit machen diesen Fall für die engagierte Kommissarin zur ganz besonderen Bewährungsprobe.
Lese-Probe zu „Schattenfreundin / Schneidmann & Käfer Bd.1 “
Schattenfreundin von Christine Drews Prolog
Hektisch trocknete sie sich die Hände ab und sah auf die Uhr. Ihr ganzer Zeitplan war durcheinandergeraten. In einer halben Stunde fing die Musikschule an. Vorher musste sie es noch in den Supermarkt schaffen, sonst würde der Abendbrottisch heute leer bleiben. Und nichts war schlimmer, als in die enttäuschten Augen eines hungrigen Kindes zu blicken, das sich den ganzen Tag auf die versprochenen Würstchen gefreut hatte und das sich nun mit Graubrot begnügen sollte. Also musste sie sich sputen.
Sieschloss die Augen und schüttelte den Kopf. Was war los mit ihr? Supermarkt .. . Würstchen .. . Wo hatte sie nur ihren Kopf? Sie musste etwas viel Wichtigeres erledigen. Er durfte auf keinen Fall entkommen ...
Leise öffnete sie die Tür zum Nebenzimmer und sah hinein. Der Räuber Hotzenplotz dudelte aus dem CD-Player. Gut. Sie ging durchs Wohnzimmer und öffnete die Terrassentür. Auch hier schien alles in Ordnung zu sein.
Niemand durfte etwas erfahren. Unter keinen Umständen.
Gerade als sie sich wieder umdrehte, hörte sie eine Melodie. Ganz leise nur und gedämpft. Einen Augenblick lang blieb sie wie versteinert stehen. Sie kannte die Melodie, und sie wusste genau, wo sie herkam. Von einem Handy. Sie musste es bei der Leiche vergessen haben.
Hoffentlich war der Akku bald leer.
Kapitel 1
Vier Wochen früher
»Schaffst du es zum Abendbrot?«, fragte Katrin, während sie sich die Wimpern tuschte.
Thomas gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Wahrscheinlich nicht. Ich stecke den ganzen Tag in irgendwelchen Meetings und muss danach noch eine Präsentation vorbereiten. Könnte spät werden. Leider.«
Wie immer also, dachte Katrin und nickte nur.
... mehr
Seit ihrem Umzug nach Münster arbeitete Thomas noch mehr als früher. Das lag an seinem neuen Job, für den sie von Köln hierher gezogen waren. Das Unternehmen, das sich auf die Herstellung von Kühlgeräten spezialisiert hatte, expandierte, und so hatte Thomas alle Händevollzutun und kam meisterstspätabends nach Hause. Manchmal hatte Katrin allerdings das Gefühl, dass er ganz froh war, wenn er lange im Büro bleiben konnte. Auf diese Weise entkam er dem Chaos, das zu Hause herrschte. Noch immer standen viele Kisten in den Zimmern und warteten darauf, ausgepackt zu werden. Von der dunkelrot gestrichenen Wand im Schlafzimmer, die sie sich als Kontrast zu den weißen Möbeln gewünscht hatte, konnte man kaum etwas sehen; Unmengen von Kartons stapelten sich davor.
Der ganze Umzug blieb an Katrin hängen. Dabei hatte sie seit einer Woche selbst einen neuen Job, und schließlich war Leo auch noch da. Wie aufs Stichwort stürmte er um die Ecke, in den Händen einen bunten Stoffball.
»Papa, spielen!«, rief er freudestrahlend und hielt den Ball hoch.
Thomas nahm ihn auf den Arm und gab ihm einen Kuss. »Ich kann nicht, Schatz«, sagte er und drückte ihn an sich. »Papa muss zur Arbeit.«
Leo verzog das Gesicht und fing an zu weinen. »Papa spielen! «
»Ach Engel, du kannst doch gleich im Kindergarten toll spielen! « Er strich Leo über die hellblonden Haare und gab ihm noch einen dicken Kuss auf die Wange. »Heute Abend bringe ich dich ins Bett, okay?«
Leo weinte noch lauter. Doch so plötzlich, wie er angefangen hatte, hörte er auch wieder auf. »Mama, Fußball spielen?«, fragte er und schaute seine Mutter mit tränennassen Augen an.
Katrin musste lachen. Sie tappte ihm auf die kleine Stupsnase und schüttelte den Kopf. Jetzt war wirklich keine Zeit zum Ballspielen. »Wir müssen bis neun im Kindergarten sein, sonst kriegen wir Schimpfe«, sagte sie. »Komm, ich helfe dir beim Anziehen. «
Während Thomas das Haus verließ, suchte sie Leos Sachen heraus. Seit Tagen bestand er darauf, jeden Morgen dasselbe Sesamstraßen- T-Shirt anzuziehen, und auch heute gab sie nach, obwohl das T-Shirt schon Flecken hatte. Nachdem sie ihm ein Frühstücksbrot geschmiert hatte, war es schon fast neun Uhr.
»Wie immer zu spät«, murmelte sie und packte eilig ihre Sachen zusammen. Sie nahm eine Sporttasche und eine große Plastiktüte, in der ein paar ausrangierte Kleidungsstücke lagen, die sie nach der Arbeit bei ihren Eltern vorbeibringen wollte. Ihre Mutter engagierte sich in der Kirchengemeinde, in der es auch eine Kleiderkammer gab. Die ehrenamtlichen Helfer dort waren dankbar für jede Spende.
Aber jetzt erst mal schnell zum Kindergarten, dann in die Praxis. Um halb zehn hatte sie schon den ersten Behandlungstermin. Dann einkaufen, Leo abholen und zu ihren Eltern fahren. Dort wollte sie sich auf keinen Fall zu lange aufhalten, damit sie heute wenigstens noch eine Kiste auspacken konnte. Katrin seufzte. Ein langer, hektischer Tag lag vor ihr.
Zehn Minuten später fuhr sie auf den Parkplatz des Kindergartens. Sofort spürte sie, wie Ärger in ihr aufstieg, denn eine Hand voll Mütter stand quatschend in der einzigen freien Parkbucht. Kurz entschlossen parkte sie ihren schwarzen Nissan in der Feuerwehrzufahrt und stieg aus.
»Da ist Halteverbot«, sagte eine der Mütter tadelnd.
»Bin gleich wieder weg«, antwortete Katrin schuldbewusst, ohne die Frau anzusehen.
In diesem Augenblick kam noch ein Auto angefahren, ein BMW - groß, schwarz und teuer. Wie zuvor schon Katrin warf die Frau am Steuer der plaudernden Damenrunde einen bösen Blick zu. Dann ließ sie das Fenster herunter.
»Könnten Sie vielleicht erst den Parkplatz freimachen und danach Ihre Unterhaltung fortsetzen? Danke.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr die Frau das Fenster wieder hoch und setzte den Blinker. Die Mütter murmelten etwas von »Frechheit« und »Was ist das denn für eine?« und verließen langsam die Parkbucht. Die Frau fuhr ihren dunklen BMW hinein, stieg aus und schnallte ihren Sohn vom Kindersitz los.
Beiläufig beobachtete Katrin die Szene, bevor sie die Beifahrertür öffnete und Leos Rucksack herausnahm. Die Frau, die jetzt ausstieg, war ihr auf Anhieb sympathisch. Die dunklen Haare hatte sie hochgesteckt, was ihr hübsches rundes Gesicht betonte. Sie hatte, wie Katrin fand, einige Kilo zu viel auf den Rippen, aber das stand ihr gut. Sie trug eine schwarze Hose und eine weiße Bluse mit grauem Paisleymuster, die unter der Brust lässig geknotet war. Ihr Make-up war angenehm dezent. Das einzig Auffällige waren die knallroten Ohrringe in Erdbeerform, sie passten perfekt zum Lippenstift.
Katrin hob Leo aus dem Auto. Sofort rannte er zu dem anderen Jungen. »Ben, Ben! Fußball spielen?«
Der dunkelhaarige Ben nickte, und schon liefen die beiden Jungen in den Kindergarten.
»Ich wusste gar nicht, dass Leo schon einen Freund gefunden hat«, sagte Katrin, während sie auf die Frau zuging und ihr die Hand gab. »Hallo, ich heiße Katrin Ortrup. Unsere Söhne scheinen sich ja bestens zu verstehen.«
»Hallo, ich bin Tanja Weiler. Ja, Ben hat schon viel von Leo erzählt. Ich bin so froh, dass die beiden sich angefreundet haben. Wir sind noch ziemlich neu hier.«
Katrin sah sie überrascht an. »Wir auch! Wir sind erst vor ein paar Wochen hergezogen. Ich bin zwar in Münsteraufgewachsen, aber nach meiner Ausbildung bin ich sofort weg von hier.«
»Genau wie bei uns«, sagte Tanja. »Umziehen mit Kindern ist ganz schön stressig, oder? Bei uns sind immer noch nicht alle Kisten ausgepackt.«
Katrin winkte lachend ab. »Bei uns auch noch nicht.«
Gemeinsam gingen sie in den Kindergarten, um sich von ihren Söhnen zu verabschieden.
Wenig später standen sie wieder auf dem Parkplatz.
»Hier um die Ecke ist ein neuer Spielplatz«, sagte Tanja Weiler, bevor sie in ihren Wagen stieg. »Wir können die Jungs ja mal spielen lassen, wenn du magst - oh, ich darf doch du sagen, oder?«
»Ich bitte darum«, sagte Katrin und lachte. »Ja, lass uns mal auf den Spielplatz gehen. Das Wetter soll ja so schön bleiben.« Katrin blickte hinauf in den strahlend blauen Himmel, über den nur ein paar kleine weiße Wolken zogen. Sie seufzte. »Im Moment schaffe ich es noch nicht, aber in ein paar Tagen sieht die Welt hoffentlich anders aus, vor allem ordentlicher.«
»Wir sehen uns ja bestimmt hier am Kindergarten«, sagte Tanja. »Dann können wir was ausmachen.«
Katrin nickte und sah ihr nach, wie sie wegfuhr. Zufrieden machte sie sich auf den Weg. Leo hatte einen Freund gefunden, wie schön. Die Mutter von Ben machte einen entspannten Eindruck, und sie schien auch noch nett zu sein, keine von diesen Vorzeigemüttern, mit denen man nur über die richtige Ernährung oder den Fernsehkonsum von Kleinkindern reden konnte. Eine dieser Mütter hatte ihr tatsächlich mal ernsthaft Vorwürfe gemacht, weil Leos Gehirn dauerhaft geschädigt würde, wenn er jeden Abend die paar Minuten den Sandmann sehen dürfe. Als würde das automatisch Gehirnkrebs auslösen! Diese Wir-lesen alle- Ratgeber-Muttis, die grundsätzlich alles richtig machten, konnte Katrin nicht ausstehen.
Umso positiver war ihr Eindruck von Tanja. Sie nahm sich vor, in den nächsten Tagen etwas Zeit freizuschaufeln und mit Tanja einen Termin auszumachen, damit die Jungen spielen und die Mütter sich besser kennenlernen konnten.
Ihre Schritte wurden automatisch langsamer, nachdem sie vom Weg abgebogen war und durch das Unterholz ging. Sie musste an die Vertrautheit denken, die zwischen ihnen geherrscht hatte, und an das Grauen, das sie beide verband. Tieftraurig ließ sie ihre Hände durch das Gestrüpp gleiten, niedergedrückt von der Trauer um die verlorene Freundin.
Was war ihr wohl durch den Kopf gegangen, als sie diesen Weg zum letzten Mal genommen hatte? Was hatte sie gefühlt? Hier hatte sie die letzten Minuten ihres Lebens verbracht, zum letzten Mal die frische Luft geatmet, das Zwitschern der Vögel gehört und das Rascheln ihrer Schritte auf dem Waldboden.
Ob sie das wirklich noch alles wahrgenommen hatte? Oder hatte sie nur das Seil gespürt, das sie in ihren Händen hielt und das sie nur wenige Augenblicke später zu einer Schlinge knüpfen würde, die ihr für immer die Luft zum Atmen nehmen würde?
Was dachte ein Mensch, wenn er zu dem Ort ging, an dem er sterben würde?
Sie wusste es nicht.
Jetzt stand sie unter dem Baum und schaute hoch zu dem Ast, an dem ihre Freundin über sechs Wochen lang gehangen hatte, bevor ein Jäger das fand, was übriggeblieben war von ihr. Ein Skelett in Jeans und Bluse.
Niemand hatte die junge Frau vermisst. Niemand hatte gemerkt, wie sehr sie mit ihrem Leben haderte, mit ihrem Schicksal und mit ihrer Schuld. Nur sie, sie hatte es gemerkt, und sie hatte alles versucht, um ihre einzige Freundin zu retten.
Sie hatte es nicht geschafft.
Müde setzte sie sich an den Fuß des Baumes und betrachtete den Waldboden vor sich. Sie nahm ein bisschen Erde in die Hand und ließ sie gedankenverloren durch die Finger rieseln.
Plötzlich zuckte sie zusammen.
Kaum einen halben Meter von ihr entfernt blitzte etwas Weißes aus dem dunklen Waldboden hervor. Obwohl sie ahnte, was es war, stand sie auf und begann vorsichtig, es mit den Fingern auszugraben.
Kurz darauf hatte sie es in der Hand.
»Dich haben die Bullen nicht gefunden«, sagte sie leise. Sie ging zurück zum Baum und setzte sich wieder. Zärtlich strich sie über die glatte Rundung.
»Die Zeit ist reif. Ab heute wird er büßen.«
Es war schon nach drei, als Katrin den letzten Patienten verabschiedet hatte. Sie liebte ihren Beruf als Physiotherapeutin, aber die Arbeit strengte sie auch an. Die Übungen mit den Patienten waren oft kraftraubend. Sport brauchte Katrin nicht zu treiben. Dank ihres Jobs war sie kräftig und durchtrainiert.
Sie schaffte es nicht mehr, sich umzuziehen, und so stieg sie in ihrem weißen Trainingsanzug ins Auto. Bevor sie losfuhr, kämmte sie sich ihre schulterlangen blonden Haare und band sie zu einem neuen Zopf. Von ihrem Make-up war nicht viel übrig geblieben, wie sie mit einem Blick in den Rückspiegel feststellte. Siewischte die verschmierte Wimperntusche ab und nahm sich fest vor, dass nächste Mal wasserfeste Mascara zu kaufen.
Der Weg von der Praxis zum Kindergarten führte an ihrem alten Gymnasium vorbei. Nichts hatte sich verändert: Der große rote Backsteinbau wirkte immer noch so abweisend wie früher. Ein paar Teenager standen lustlos auf dem Schulhof herum, einige rauchten, die meisten waren mit ihren Handys beschäftigt. Unwillkürlich sah sie sich selbst mit ihren Klassenkameraden auf dem Schulhof stehen. Ohne Handys, aber geraucht hatten sie damals auch, und selbst die Kleidung schien sich nicht groß verändert zu haben. Leggings hatte Katrin Ende der Achtzigerjahre jedenfalls auch getragen.
Ernüchterung machte sich in ihr breit. Nicht wegen der alten, unwiederbringlich vergangenen Zeiten, sondern weil sie wieder an dem Ort war, von dem sie unbedingt weggewollt hatte, und zwar für immer. Münster war zweifelsohne schön, nicht zu groß, trotzdem voller Leben, aber in ihrer Jugend hatte Katrin sich hier immer eingeengt gefühlt, die Beamtenstadt erschien ihr wahnsinnig spießig und kleinbürgerlich. Da ihre Familie schon seit Generationen in Münster wohnte, war sie beinahe stadtbekannt. Wie oft hatte sie sich damals nach ein bisschen Anonymität gesehnt . . . In Köln war es ganz anders gewesen. Der Umzug in die Großstadt war ihr vorgekommen wie ein Befreiungsschlag. Endlich konnte das behütete Einzelkind so leben, wie sie es wollte.
Seit sie selbst Leo hatte, konnte sie die übertriebene Fürsorge ihrer eigenen Mutter zwar besser nachvollziehen, aber manches war ihr auch heute noch unverständlich. So durfte Katrin als Teenager nie Röcke tragen, die oberhalb des Knies endeten. Immer hieß es, damit würde sie die Männer provozieren und womöglich in Gefahr geraten. Als wenn jeder Mann beim Anblick eines weiblichen Knies gleich zum Vergewaltiger würde! Und bis sie sechzehn war, durfte sie abends nicht ausgehen, sogar danach musste sie um Punkt zehn zu Hause sein. Manchmal hatte Katrin sich regelrecht eingesperrt gefühlt.
Nein, vieles aus ihrer Kindheit und Jugend verstand sie immer noch nicht. Warum musste die ganze Familie immer fertig angezogen am Frühstückstisch sitzen? Auch samstags und sonntags hatte ihre Mutter es nicht geduldet, wenn Katrin im Schlafanzug oder Bademantel zum Frühstück erschien. Für sie selbst gab es heute nichts Schöneres als einen langsamen Start ins Wochenende. Und das begann damit, dass Leo zu ihr und Thomas ins Bett kam, dort an seiner Milchflasche nuckelte, während sie beide den ersten Kaffee tranken.
Katrin fuhr am Exil vorbei, an der Diskothek, in der sie ab ihrem achtzehnten Geburtstag viele Nächte durchgetanzt hatte. Was wohl aus den Leuten von früher geworden war? Die meisten ihrer Schulfreunde waren ähnlich wie sie weggezogen, um zu studieren. Nur wenige waren in Münster geblieben. Kurz überlegte sie, ob sie Kontakt zu ihnen aufnehmen sollte, entschied sich aber sofort dagegen. Wenn man sich fast fünfzehn Jahre lang nicht gesehen hat, was soll man sich dann erzählen, dachte sie. Nein, sie würde sich einen neuen Freundeskreis aufbauen, und vielleicht war diese Tanja genau die Richtige dafür . . .
Abgekämpft kam sie mit Leo bei ihren Eltern an. Während sie durch den großen Garten auf das Haus zuging, seufzte sie tief. Alles sah perfekt aus: die Rasenflächen gepflegt, die Bäume gestutzt, die Blumen in den Beeten farblich genau aufeinander abgestimmt. Das war typisch für ihre Mutter. Man musste etwas darstellen nach außen. Das große Einfamilienhaus im Stil der siebziger Jahre mit ungleichmäßig geschrägtem Dach und heller Fassade passte genau dazu; es wirkte kühl und distanziert, gleichzeitig ließ es auf einen gewissen Wohlstand der Bewohner schließen. Nein, dachte Katrin wieder einmal, das ist nicht mein Stil. So möchte ich nicht wohnen. Da wirkt ja sogar mein Durcheinander mit den Umzugskisten gemütlicher.
Ihre Mutter, die gerade erst nach Hause gekommen war, machte Tee. Leo lief sofort in den Garten, um mit Lizzie zu spielen, die ihr Vater vor über zehn Jahren halb tot in einer Mülltonne gefunden und wieder aufgepäppelt hatte. Seit damals waren er und die Katze unzertrennlich. Ihre Mutter musste hart kämpfen, damit Lizzie wenigstens aus dem Schlafzimmer verbannt blieb.
»Schau mal, ob sie wieder da ist!«, rief ihre Mutter Leo hinterher, dann wandte sie sich an Katrin: »Wir haben die alte Streunerin seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Dein Vater ist schon ganz unruhig, du kennst ihn ja.«
»Wo ist Papa eigentlich?«, fragte Katrin.
»Er hält noch Mittagsschlaf. Er wird sicher gleich herunterkommen. « Ihre Mutter stellte Teegeschirr auf den Esstisch. »Du siehst übrigens furchtbar aus, Kind«, sagte sie tadelnd.
Katrin zog die Augenbrauen hoch. Das musste ja kommen! Ihre Mutter sah wie immer perfekt aus: das graublonde Haar zu einemklassischen Pagenkopf frisiert, dunkelblaues Twinset, beigefarbene Hose, die Fingernägel frisch lackiert, dezente Goldkette.
»Danke für das Kompliment, Mama«, antwortete sie müde und gab ihrer Mutter die Plastiktüte.
»Ach, für die Kleiderkammer. Sehr gut«, sagte ihre Mutter. »Und? Sind alle Kisten endlich leer?«
»Noch nicht ganz.«
»Sollen wir dir nicht doch helfen?«
Katrin schüttelte den Kopf. »Nein, nein, wirklich nicht.«
Ihre Mutter war überaus neugierig, sie würde hemmungslos in fremden Sachen herumstöbern, während ihr Vater vermutlich einen Teller nach dem anderen fallen ließ.
»Aber ich sehe doch, dass du überfordert bist.«
Typisch, dachte Katrin. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter sie jemals bestärkt hatte. Immer hieß es nur, Katrin schafft das nicht.
»Ich werde Papa wecken«, sagte Katrin in der Hoffnung, dass das Thema damit beendet war.
»Nicht nötig«, hörte sie ihren Vater sagen.
Katrin drehte sich um. Blass und mit eingefallenem Gesicht stand er auf der dunklen Holztreppe. Er sah richtigkrank aus.
»Alles okay, Papa?«, fragte Katrin.
»Ja, ja, sicher. Mein Kreislauf ist nur ein bisschen schlapp. Alles in Ordnung.«
Katrin musterte ihn besorgt. Ihr Vater war inzwischen einundsiebzig und immer gesund gewesen. Aber seit ein paar Monaten fühlte er sich manchmal unwohl, und Katrin hoffte, dass das kein schlechtes Zeichen war. Sie hatte immer eine besondere Verbindung zu ihrem Vater gehabt. Da er sich grundsätzlich aus der Erziehung herausgehalten hatte, war er ihre Zuflucht gewesen, wenn es mal wieder Streit gegeben hatte mit ihrer Mutter. Er hatte sie getröstet und Verständnis gezeigt.
Ein Schrei riss sie aus ihren Gedanken. Sie zuckte zusammen. Das kam aus dem Garten. Leo!
Sie lief hinaus. Bestimmt hatte er sich das Knie aufgeschlagen! Hoffentlich hatte er sich nichts gebrochen!
Katrin war auf alles vorbereitet, doch das, was sie dann erblickte, war so grauenvoll, dass ihr schwindelig wurde. Sie presste die Hand vor den Mund, um sich nicht zu übergeben.
Vorsichtig schob Charlotte Schneidmann die Bettdecke zur Seite. Sie ärgerte sich, dass sie eingeschlafen war.
Wie hieß er noch? Bernd, Bernard oder Bernhard? Sie wusste es nicht mehr. Und sie wollte es auch gar nicht wissen. Nicht im Traum dachte sie daran, diesen Mann noch einmal wiederzusehen, geschweige denn, noch einmal mit ihm zu schlafen.
Leise, um ihn nicht zu wecken, stand sie auf, sammelte ihre Sachen vom Boden auf und schlich ins Bad. Schnell zog sie sich an, dann verließ sie die Wohnung, ohne noch einen letzten Blick zu werfen auf diesen Bernd oder wie immer er hieß. Im Fahrstuhl lehnte sie sich an die Wand und seufzte. Es war ein toller Abend gewesen und eine noch tollere Nacht. Und trotzdem. Sie hatte sich still und heimlich davongemacht. Warum eigentlich? Der Mann, mit dem sie hemmungslosen Sex gehabt hatte, sah gut aus und war ihr von Anfang an sympathisch gewesen.
Sie kam sich fast ein bisschen schäbig vor, während sie das Mehrfamilienhaus verließ und zum Taxistand eilte, der nicht weit entfernt lag.
»Sebastianstraße 15«, sagte sie, stieg ein und ließ sich müde auf den Rücksitz fallen.
Während das Taxi durch das nächtliche Münster fuhr, dachte Charlotte über den Abend nach. Sie musste lächeln. Dieser Bernd hatte genau gewusst, wo er sie berühren musste, er hatte genau die richtigen Stellen gefunden, damit sie eine ungezügelte Lust empfand, so heftig wie lange nicht mehr. Schon bevor sie in seiner Wohnung gelandet waren, hatte er sich wie ein vollendeter Gentleman verhalten. Nachdem er sie im Sixpack angesprochen hatte, entpuppte er sich als fabelhafter Gesprächspartner, er war witzig und intelligent, und sie hatten sich angeregt unterhalten. Er hatte ihr gut gefallen. Zu gut. Das konnte gefährlich werden.
»Was ist denn bitte gefährlich daran, sich zu verlieben?«, hatte ihre Schwester Ina neulich am Telefon gesagt. Aus ihrer Sicht hatte sie natürlich recht. Aber Charlotte wollte sich nicht verlieben. Und eine Beziehung oder eine Familie wollte sie schon gar nicht. Nicht wie Ina, die seit zwölf Jahren verheiratet war und vier Kinder hatte. Vier Geschwister . . . Genau wie früher, dachte Charlotte. Philipp, Ina, Stefan und sie - eine richtige Rasselbande. Stefan hatte ihr immer besonders nahegestanden, stundenlang hatte sie mit ihrem kleinen Bruder Lego gespielt, und wenn er nachts einen Albtraum hatte, war er immer zu ihr ins Bett gekommen. Dann hatte er sich in ihre Arme gekuschelt und mucksmäuschenstill dagelegen.
Charlotte hatte ihn an sich gedrückt und »Jetzt ist es ja wieder gut« gemurmelt. Eng umschlungen waren die beiden dann eingeschlafen . . . Sie spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog, wie ein Stück Stanniolpapier, das in eine Flamme gerät. Jedes Mal krampfte sich alles in ihr zusammen, wenn sie an Stefan dachte, so sehr schmerzte sie der Gedanke an ihn und an die schrecklichen Ereignisse, obwohl die schon so lange zurücklagen.
Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen, einigermaßen zumindest. Manchmal war auch noch die kleine Ina zu ihnen gekrochen, sodass es in Charlottes Bett ziemlich eng geworden war. Jetzt musste Charlotte sogar ein wenig lächeln.
Und nun hatte Ina selbst einen Haufen Kinder, und die wollten wahrscheinlich dauernd zu ihr ins Bett.
Nein, danke. Charlotte schüttelte den Kopf und starrte in die dunkle Nacht. Manchmal kam ihr Inas Verhalten geradezu dumm vor. Die eigene verkorkste Kindheit noch einmal erleben zu wollen, nur eben in einer heilen und behüteten Welt . . . Nein, das war nicht ihr Weg, mit der Vergangenheit klarzukommen.
Zu Hause nahm sie eine heiße Dusche und machte sich einen Kaffee. Es war noch nicht mal fünf Uhr, aber sie wusste genau, dass sie nicht mehr schlafen konnte. In zwei Stunden müsste sie sowieso aufstehen, da lohnte es sich nicht, noch ins eigene Bett zu gehen.
Ihre kurz geschnittenen dunklen Haare waren schon fast trocken, als sie in ihrem schwarz-weiß karierten Bademantel zum Briefkasten ging, um die Zeitung zu holen. Heute war Freitag, das Wochenende stand vor der Tür. Endlich mal wieder ausgehen und Spaß haben, dachte sie und musste grinsen. Den hatte sie ja eigentlich gerade gehabt. In letzter Zeit ging sie immer öfter auch donnerstags aus. Da sie grundsätzlich keinen Alkohol trank, machten ihr solche Nächte nicht viel aus. Sie hatte noch nie viel Schlaf gebraucht, vier bis fünf Stunden reichten ihr. Sonst würde sie solche nächtlichen Trips auch nicht machen. Für Charlotte war es eine Selbstverständlichkeit, im Dienst fit zu sein. Seit sie nach dem Abschluss ihres Psychologiestudiums bei der Kripo Münster angefangen hatte, hatte sie keinen einzigen Tag gefehlt. So gerne Charlotte auch ausging und das Nachtleben genoss - die Disziplin durfte nicht darunter leiden. Und da sie nie geraucht oder getrunken hatte, sah man ihr auch nicht an, dass sie schon auf die vierzigzuging. Vieleschätzten sie auf Ende zwanzig oder Anfang dreißig, was ihr natürlich sehr schmeichelte, und meistens ließ sie die anderen auch in dem Glauben. Dass sie gerade neununddreißig geworden war, ging schließlich niemanden etwas an.
»Warum musst du dir eigentlich die Nächte um die Ohren schlagen?«, hatte Ina sie schon oft gefragt. »Man könnte meinen, du hast ein Problem damit, allein zu sein.«
»Quatsch«, hatte Charlotte jedes Mal darauf geantwortet, aber natürlich wusste sie, dass etwas dran war an diesem Vorwurf. Es gab Tage, an denen fühlte sie sich wirklich einsam. Da war sie in einem Club oder in einer Kneipe besser aufgehoben als in ihrer Wohnung. Trotzdem wollte sie keine Beziehung und schon gar keine Familie. Das war ein Widerspruch, aber damit konnte sie ganz gut leben.
Charlotte schenkte sich noch einen Kaffee ein und setzte sich an den Küchentisch. Der einfache Holztisch passte zwar nicht zu der weißen Einbauküche, aber das machte ihr nichts aus. Ihre ganze Wohnung war spartanisch eingerichtet, nichts passte richtig zusammen. Charlotte fand es überflüssig, viel Geld für Möbel auszugeben. Sie war ja sowieso nur selten zu Hause.
Sie schlug die Zeitung auf und las wie immer als Erstes die Todesanzeigen. Das hatten ihre Eltern und auch ihre Großeltern schon so gemacht, und sie hatten immer laut vorgelesen, wer wie alt geworden war.
»Die dreißiger Jahrgänge werden immer weniger«, pflegte ihr Großvater zu sagen. Charlotte konnte sich noch gut an diesen Satz erinnern. Als ihr Opa schließlich nach langer, schwerer Krankheit im Alter von nur dreiundsechzig Jahren gestorben war, war er der einzige Dreißiger-Jahrgang in den Todesanzeigen gewesen. Heute war keiner dabei.
Charlotte blätterte den Regionalteil durch, überflog aber nur die Überschriften. Ein Verkehrsunfall mit zwei Schwerverletzten wurde gemeldet, das Geburtshaus von Annette von Droste- Hülshoff sollte restauriert werden, und wieder mal trieb ein widerlicher Tierquäler sein Unwesen.
Kopfschüttelnd blätterte Charlotte weiter. Wie viele psychisch kranke Menschen heutzutage herumliefen . . .
Kapitel 2
»Seit der Sache mit Lizzie ist er total verstört«, sagte Katrin. Sie beobachtete Leo, der schweigsam und wie in sich gekehrt neben Ben im Sandkasten saß.
Tanja sah sie mit großen Augen an. »Lizzie?«
Katrin lächelte müde. »Entschuldige. Die Katze meines Vaters hieß so.«
Tanja nickte mitfühlend. Katrin hatte ihr schon von dem schrecklichen Vorfall erzählt und dass Leo seitdem Schwierigkeiten hatte einzuschlafen und unter Albträumen litt. Sie kannten sich zwar erst seit einer Woche, aber Katrin hatte im Grunde sofort Vertrauen gefasst zu Tanja, und es tat ihr gut, wenn sie sich den Kummer von der Seele reden konnte.
»Der arme Kerl«, sagte Tanja. »Wenn ich mir vorstelle, Ben hätte so etwas erlebt . . . Ich glaube, ich könnte für nichts garantieren. Ich würde diesen Widerling auf eigene Faust suchen und ihm dermaßen eine verpassen, dass er nicht mal mehr seinen Namen aussprechen könnte!«
Katrin zuckte mit den Achseln. »Ich könnte so was nicht«, sagte sie resigniert. »Die Polizei meint, es ist praktisch aussichtslos, den Kerl zu finden. Angeblich kommt es hier in dieser Gegend immer wieder zu Tierquälereien.«
»Schrecklich.« Tanja seufzte. »Wie hast du Leo denn die ganze Sache erklärt?«
»Ich habe ihm erzählt, das blutige Stück Fleisch kommt aus dem Müll. Irgendwer hat es einfach in den Garten geworfen.
Lizzie ist wahrscheinlich nur weggelaufen und taucht bestimmt bald wieder auf. Ich bin dann schnell mit ihm nach Hause gefahren, obwohl ich meine Eltern eigentlich nicht allein lassen wollte«, sagte Katrin. »Meinem Vater hat die ganze Sache sehr zugesetzt. Er hat an der Katze gehangen. Zuerst dachte ich, er kriegt einen Herzinfarkt, so erschrocken war er.«
»Wie geht es ihm jetzt?«, fragte Tanja. »Schlecht?« Sie räusperte sich. »Entschuldige. Ich meine natürlich, hoffentlich geht es ihm inzwischen besser.«
Katrin nickte. »Er muss aber immer noch ein Beruhigungsmittel nehmen.« Sie schüttelte den Kopf. »So habe ich meinen Vater noch nie erlebt. Bisher war er immer gut gelaunt und munter. Ich mache mir große Sorgen um ihn«, sagte sie betrübt. »Was will man machen. Wenn man so alt ist wie wir, sind die eigenen Eltern nun mal nicht mehr die Jüngsten.«
Tanja nickte. »Und damit wachsen die Sorgen.« Sie sah Katrin fragend an. »Ist alles okay? Du siehst ganz schön blass aus.«
»Ja, alles okay«, sagte Katrin schnell.
»Sicher?«
Sie zögerte. »Manchmal wird mir alles ein bisschen viel. Thomas ist nie da, ich musste mich ganz allein um den Umzug und um die Renovierung des Hauses kümmern, der neue Job ist anstrengend, und jetzt noch die Sache mit der Katze . . . Ich könnte eine Auszeit gebrauchen.«
Tanja nickte. »Das Gefühl kenne ich, besonders wenn ich PMS habe. Dann bin ich so mit den Nerven runter, dass ich alles anschreie, was nicht bei fünf auf den Bäumen ist.«
Katrin musste lachen.
»Versklavt von den eigenen Hormonen. Mein Arzt hat mir schon zum PMS-Piccolöchen geraten. Nach dem Motto: Schlechte Laune kann man am besten mit Alkohol bekämpfen. «
Katrin konnte gar nicht aufhören zu lachen. Tanja schaffte es tatsächlich, sie auf andere Gedanken zu bringen.
Eine Weile beobachteten die beiden ihre Söhne, die inzwischen auf einem Klettergerüst herumturnten. Leo schien wieder fröhlicher zu werden, stellte Katrin beruhigt fest.
»So ausgelassen habe ich Leo hier in Münster noch nicht gesehen. Das liegt bestimmt an Ben.«
»Dann lass uns das doch öfter machen«, schlug Tanja vor. »Ihr könnt auch gerne mal zu uns kommen. Im Moment sind zwar noch die Maler im Haus, und es herrscht das reinste Chaos. Aber danach . . .«
Katrin nickte. Das kannte sie nur zu gut. »Wir können uns ja auch bei uns treffen«, sagte sie. »Da stehen zwar auch noch ein paar Kisten rum, aber wenigstens sind die Handwerker nicht mehr da.«
»Gerne! Gleich morgen?«
Katrin überlegte kurz. Irgendwie ging ihr das ein bisschen zu schnell. Aber als sie sah, wie friedlich Leo und Ben miteinander spielten, sagte sie trotzdem zu.
In diesem Augenblick begannen die beiden Jungen, Sand in die Luft zu werfen und so zu tun, als stünden sie unter der Dusche.
»Guck dir die an!« Tanja lachte. »Jetzt bräuchte man eine Kamera!«
»Hallo! Schon mal was vom Handy gehört?« Katrin zog ihres heraus und machte ein Foto von den beiden, wie sie mit strahlendem Gesicht versuchten, Tanja unter ihre Sanddusche zu ziehen.
Als sie mit Leo nach Hause kam, fühlte sie sich wie erschlagen. So müde und erschöpft war sie schon lange nicht mehr gewesen. Sie machte Leo ein Brot mit Käse und einen Kakao und setzte sich zu ihm an den Küchentisch. Sie selbst bekam keinen Bissen herunter. Vor lauter Erschöpfung war ihr ganz flau im Magen. Hoffentlich werde ich nicht krank, dachte sie, während sie wenig später den Sandmann anstellte, ohne den Leo nicht ins Bett gehen wollte.
Plötzlich fiel ihr ein, dass es jemanden gab, dem es bestimmt noch schlechter ging als ihr.
»Lieb, dass du anrufst«, sagte ihr Vater am anderen Ende der Leitung. Seine Stimme klang müde.
»Ich weiß doch, wie sehr du an Lizzie gehangen hast«, sagte Katrin.
»Sie war eine gute Katze«, murmelte er und räusperte sich. »Es gibt so viele Verrückte . . .«
Katrin musste schlucken. »Papa, bist du wirklich in Ordnung? «, fragte sie besorgt. »Du hörst dich nicht gut an. Vielleicht solltest du doch mal zum Arzt gehen . . .«
»Nein, nein. Es ist schon gut. Entschuldige, Schatz. Ich bin ein alter Mann, der um sein Haustier trauert.« Er räusperte sich. »Ich glaube, deine Mutter hat das Essen fertig. Wollen wir ein anderes Mal weitersprechen?«
»Ist wirklich alles okay, Papa?«
»Mach dir keine Sorgen, Schatz. Mir geht es gut. Ich rufe dich morgen an, ja? Ich hab dich lieb, Katrinchen.«
»Ich hab dich auch lieb, Papa.«
Nachdenklich legte sie auf. Katrinchen. So hatte ihr Vater sie seit ihrer Kindheit nicht mehr genannt.
Sie hoffte sehr, dass er sich bald von dem Schock erholte und wieder der Alte war. Und wenn nicht?, dachte sie, während sie Leo seinen heiß geliebten grünen Kermit-der-Frosch-Schlafanzug anzog. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, was auf sie zukommen könnte, wenn ihre Eltern eines Tages nicht mehr allein zurechtkommen würden.
Wie jeden Abend legte sie sich mit Leo zusammen ins neue große Ehebett, extra breit, sodass sie auch bequem zu dritt darin schlafen konnten. Mit der neuen roten Bettwäsche sah es perfekt aus, als stünde es auf der Titelseite der neuesten Schöner Wohnen- Ausgabe, fand Katrin.
Leo kuschelte sich an seine Mutter und trank noch eine Milch, während sie ihm vorlas. Eigentlich las Katrin immer zwei Geschichten vor, bevor sie Leo in sein Zimmer brachte und er noch eine CD hören durfte. Aber seit dem Tod von Lizzie wartete sie, bis er in ihren Armen eingeschlafen war, und trug ihn erst dann ins Kinderzimmer.
Heute schaffte Katrin nicht einmal die erste Geschichte. Leo war schon eingeschlafen, und so legte sie das Buch nach zwei Seiten weg und legte die Arme um ihn. Wenig später schlief auch sie tief und fest.
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln.
Seit ihrem Umzug nach Münster arbeitete Thomas noch mehr als früher. Das lag an seinem neuen Job, für den sie von Köln hierher gezogen waren. Das Unternehmen, das sich auf die Herstellung von Kühlgeräten spezialisiert hatte, expandierte, und so hatte Thomas alle Händevollzutun und kam meisterstspätabends nach Hause. Manchmal hatte Katrin allerdings das Gefühl, dass er ganz froh war, wenn er lange im Büro bleiben konnte. Auf diese Weise entkam er dem Chaos, das zu Hause herrschte. Noch immer standen viele Kisten in den Zimmern und warteten darauf, ausgepackt zu werden. Von der dunkelrot gestrichenen Wand im Schlafzimmer, die sie sich als Kontrast zu den weißen Möbeln gewünscht hatte, konnte man kaum etwas sehen; Unmengen von Kartons stapelten sich davor.
Der ganze Umzug blieb an Katrin hängen. Dabei hatte sie seit einer Woche selbst einen neuen Job, und schließlich war Leo auch noch da. Wie aufs Stichwort stürmte er um die Ecke, in den Händen einen bunten Stoffball.
»Papa, spielen!«, rief er freudestrahlend und hielt den Ball hoch.
Thomas nahm ihn auf den Arm und gab ihm einen Kuss. »Ich kann nicht, Schatz«, sagte er und drückte ihn an sich. »Papa muss zur Arbeit.«
Leo verzog das Gesicht und fing an zu weinen. »Papa spielen! «
»Ach Engel, du kannst doch gleich im Kindergarten toll spielen! « Er strich Leo über die hellblonden Haare und gab ihm noch einen dicken Kuss auf die Wange. »Heute Abend bringe ich dich ins Bett, okay?«
Leo weinte noch lauter. Doch so plötzlich, wie er angefangen hatte, hörte er auch wieder auf. »Mama, Fußball spielen?«, fragte er und schaute seine Mutter mit tränennassen Augen an.
Katrin musste lachen. Sie tappte ihm auf die kleine Stupsnase und schüttelte den Kopf. Jetzt war wirklich keine Zeit zum Ballspielen. »Wir müssen bis neun im Kindergarten sein, sonst kriegen wir Schimpfe«, sagte sie. »Komm, ich helfe dir beim Anziehen. «
Während Thomas das Haus verließ, suchte sie Leos Sachen heraus. Seit Tagen bestand er darauf, jeden Morgen dasselbe Sesamstraßen- T-Shirt anzuziehen, und auch heute gab sie nach, obwohl das T-Shirt schon Flecken hatte. Nachdem sie ihm ein Frühstücksbrot geschmiert hatte, war es schon fast neun Uhr.
»Wie immer zu spät«, murmelte sie und packte eilig ihre Sachen zusammen. Sie nahm eine Sporttasche und eine große Plastiktüte, in der ein paar ausrangierte Kleidungsstücke lagen, die sie nach der Arbeit bei ihren Eltern vorbeibringen wollte. Ihre Mutter engagierte sich in der Kirchengemeinde, in der es auch eine Kleiderkammer gab. Die ehrenamtlichen Helfer dort waren dankbar für jede Spende.
Aber jetzt erst mal schnell zum Kindergarten, dann in die Praxis. Um halb zehn hatte sie schon den ersten Behandlungstermin. Dann einkaufen, Leo abholen und zu ihren Eltern fahren. Dort wollte sie sich auf keinen Fall zu lange aufhalten, damit sie heute wenigstens noch eine Kiste auspacken konnte. Katrin seufzte. Ein langer, hektischer Tag lag vor ihr.
Zehn Minuten später fuhr sie auf den Parkplatz des Kindergartens. Sofort spürte sie, wie Ärger in ihr aufstieg, denn eine Hand voll Mütter stand quatschend in der einzigen freien Parkbucht. Kurz entschlossen parkte sie ihren schwarzen Nissan in der Feuerwehrzufahrt und stieg aus.
»Da ist Halteverbot«, sagte eine der Mütter tadelnd.
»Bin gleich wieder weg«, antwortete Katrin schuldbewusst, ohne die Frau anzusehen.
In diesem Augenblick kam noch ein Auto angefahren, ein BMW - groß, schwarz und teuer. Wie zuvor schon Katrin warf die Frau am Steuer der plaudernden Damenrunde einen bösen Blick zu. Dann ließ sie das Fenster herunter.
»Könnten Sie vielleicht erst den Parkplatz freimachen und danach Ihre Unterhaltung fortsetzen? Danke.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr die Frau das Fenster wieder hoch und setzte den Blinker. Die Mütter murmelten etwas von »Frechheit« und »Was ist das denn für eine?« und verließen langsam die Parkbucht. Die Frau fuhr ihren dunklen BMW hinein, stieg aus und schnallte ihren Sohn vom Kindersitz los.
Beiläufig beobachtete Katrin die Szene, bevor sie die Beifahrertür öffnete und Leos Rucksack herausnahm. Die Frau, die jetzt ausstieg, war ihr auf Anhieb sympathisch. Die dunklen Haare hatte sie hochgesteckt, was ihr hübsches rundes Gesicht betonte. Sie hatte, wie Katrin fand, einige Kilo zu viel auf den Rippen, aber das stand ihr gut. Sie trug eine schwarze Hose und eine weiße Bluse mit grauem Paisleymuster, die unter der Brust lässig geknotet war. Ihr Make-up war angenehm dezent. Das einzig Auffällige waren die knallroten Ohrringe in Erdbeerform, sie passten perfekt zum Lippenstift.
Katrin hob Leo aus dem Auto. Sofort rannte er zu dem anderen Jungen. »Ben, Ben! Fußball spielen?«
Der dunkelhaarige Ben nickte, und schon liefen die beiden Jungen in den Kindergarten.
»Ich wusste gar nicht, dass Leo schon einen Freund gefunden hat«, sagte Katrin, während sie auf die Frau zuging und ihr die Hand gab. »Hallo, ich heiße Katrin Ortrup. Unsere Söhne scheinen sich ja bestens zu verstehen.«
»Hallo, ich bin Tanja Weiler. Ja, Ben hat schon viel von Leo erzählt. Ich bin so froh, dass die beiden sich angefreundet haben. Wir sind noch ziemlich neu hier.«
Katrin sah sie überrascht an. »Wir auch! Wir sind erst vor ein paar Wochen hergezogen. Ich bin zwar in Münsteraufgewachsen, aber nach meiner Ausbildung bin ich sofort weg von hier.«
»Genau wie bei uns«, sagte Tanja. »Umziehen mit Kindern ist ganz schön stressig, oder? Bei uns sind immer noch nicht alle Kisten ausgepackt.«
Katrin winkte lachend ab. »Bei uns auch noch nicht.«
Gemeinsam gingen sie in den Kindergarten, um sich von ihren Söhnen zu verabschieden.
Wenig später standen sie wieder auf dem Parkplatz.
»Hier um die Ecke ist ein neuer Spielplatz«, sagte Tanja Weiler, bevor sie in ihren Wagen stieg. »Wir können die Jungs ja mal spielen lassen, wenn du magst - oh, ich darf doch du sagen, oder?«
»Ich bitte darum«, sagte Katrin und lachte. »Ja, lass uns mal auf den Spielplatz gehen. Das Wetter soll ja so schön bleiben.« Katrin blickte hinauf in den strahlend blauen Himmel, über den nur ein paar kleine weiße Wolken zogen. Sie seufzte. »Im Moment schaffe ich es noch nicht, aber in ein paar Tagen sieht die Welt hoffentlich anders aus, vor allem ordentlicher.«
»Wir sehen uns ja bestimmt hier am Kindergarten«, sagte Tanja. »Dann können wir was ausmachen.«
Katrin nickte und sah ihr nach, wie sie wegfuhr. Zufrieden machte sie sich auf den Weg. Leo hatte einen Freund gefunden, wie schön. Die Mutter von Ben machte einen entspannten Eindruck, und sie schien auch noch nett zu sein, keine von diesen Vorzeigemüttern, mit denen man nur über die richtige Ernährung oder den Fernsehkonsum von Kleinkindern reden konnte. Eine dieser Mütter hatte ihr tatsächlich mal ernsthaft Vorwürfe gemacht, weil Leos Gehirn dauerhaft geschädigt würde, wenn er jeden Abend die paar Minuten den Sandmann sehen dürfe. Als würde das automatisch Gehirnkrebs auslösen! Diese Wir-lesen alle- Ratgeber-Muttis, die grundsätzlich alles richtig machten, konnte Katrin nicht ausstehen.
Umso positiver war ihr Eindruck von Tanja. Sie nahm sich vor, in den nächsten Tagen etwas Zeit freizuschaufeln und mit Tanja einen Termin auszumachen, damit die Jungen spielen und die Mütter sich besser kennenlernen konnten.
Ihre Schritte wurden automatisch langsamer, nachdem sie vom Weg abgebogen war und durch das Unterholz ging. Sie musste an die Vertrautheit denken, die zwischen ihnen geherrscht hatte, und an das Grauen, das sie beide verband. Tieftraurig ließ sie ihre Hände durch das Gestrüpp gleiten, niedergedrückt von der Trauer um die verlorene Freundin.
Was war ihr wohl durch den Kopf gegangen, als sie diesen Weg zum letzten Mal genommen hatte? Was hatte sie gefühlt? Hier hatte sie die letzten Minuten ihres Lebens verbracht, zum letzten Mal die frische Luft geatmet, das Zwitschern der Vögel gehört und das Rascheln ihrer Schritte auf dem Waldboden.
Ob sie das wirklich noch alles wahrgenommen hatte? Oder hatte sie nur das Seil gespürt, das sie in ihren Händen hielt und das sie nur wenige Augenblicke später zu einer Schlinge knüpfen würde, die ihr für immer die Luft zum Atmen nehmen würde?
Was dachte ein Mensch, wenn er zu dem Ort ging, an dem er sterben würde?
Sie wusste es nicht.
Jetzt stand sie unter dem Baum und schaute hoch zu dem Ast, an dem ihre Freundin über sechs Wochen lang gehangen hatte, bevor ein Jäger das fand, was übriggeblieben war von ihr. Ein Skelett in Jeans und Bluse.
Niemand hatte die junge Frau vermisst. Niemand hatte gemerkt, wie sehr sie mit ihrem Leben haderte, mit ihrem Schicksal und mit ihrer Schuld. Nur sie, sie hatte es gemerkt, und sie hatte alles versucht, um ihre einzige Freundin zu retten.
Sie hatte es nicht geschafft.
Müde setzte sie sich an den Fuß des Baumes und betrachtete den Waldboden vor sich. Sie nahm ein bisschen Erde in die Hand und ließ sie gedankenverloren durch die Finger rieseln.
Plötzlich zuckte sie zusammen.
Kaum einen halben Meter von ihr entfernt blitzte etwas Weißes aus dem dunklen Waldboden hervor. Obwohl sie ahnte, was es war, stand sie auf und begann vorsichtig, es mit den Fingern auszugraben.
Kurz darauf hatte sie es in der Hand.
»Dich haben die Bullen nicht gefunden«, sagte sie leise. Sie ging zurück zum Baum und setzte sich wieder. Zärtlich strich sie über die glatte Rundung.
»Die Zeit ist reif. Ab heute wird er büßen.«
Es war schon nach drei, als Katrin den letzten Patienten verabschiedet hatte. Sie liebte ihren Beruf als Physiotherapeutin, aber die Arbeit strengte sie auch an. Die Übungen mit den Patienten waren oft kraftraubend. Sport brauchte Katrin nicht zu treiben. Dank ihres Jobs war sie kräftig und durchtrainiert.
Sie schaffte es nicht mehr, sich umzuziehen, und so stieg sie in ihrem weißen Trainingsanzug ins Auto. Bevor sie losfuhr, kämmte sie sich ihre schulterlangen blonden Haare und band sie zu einem neuen Zopf. Von ihrem Make-up war nicht viel übrig geblieben, wie sie mit einem Blick in den Rückspiegel feststellte. Siewischte die verschmierte Wimperntusche ab und nahm sich fest vor, dass nächste Mal wasserfeste Mascara zu kaufen.
Der Weg von der Praxis zum Kindergarten führte an ihrem alten Gymnasium vorbei. Nichts hatte sich verändert: Der große rote Backsteinbau wirkte immer noch so abweisend wie früher. Ein paar Teenager standen lustlos auf dem Schulhof herum, einige rauchten, die meisten waren mit ihren Handys beschäftigt. Unwillkürlich sah sie sich selbst mit ihren Klassenkameraden auf dem Schulhof stehen. Ohne Handys, aber geraucht hatten sie damals auch, und selbst die Kleidung schien sich nicht groß verändert zu haben. Leggings hatte Katrin Ende der Achtzigerjahre jedenfalls auch getragen.
Ernüchterung machte sich in ihr breit. Nicht wegen der alten, unwiederbringlich vergangenen Zeiten, sondern weil sie wieder an dem Ort war, von dem sie unbedingt weggewollt hatte, und zwar für immer. Münster war zweifelsohne schön, nicht zu groß, trotzdem voller Leben, aber in ihrer Jugend hatte Katrin sich hier immer eingeengt gefühlt, die Beamtenstadt erschien ihr wahnsinnig spießig und kleinbürgerlich. Da ihre Familie schon seit Generationen in Münster wohnte, war sie beinahe stadtbekannt. Wie oft hatte sie sich damals nach ein bisschen Anonymität gesehnt . . . In Köln war es ganz anders gewesen. Der Umzug in die Großstadt war ihr vorgekommen wie ein Befreiungsschlag. Endlich konnte das behütete Einzelkind so leben, wie sie es wollte.
Seit sie selbst Leo hatte, konnte sie die übertriebene Fürsorge ihrer eigenen Mutter zwar besser nachvollziehen, aber manches war ihr auch heute noch unverständlich. So durfte Katrin als Teenager nie Röcke tragen, die oberhalb des Knies endeten. Immer hieß es, damit würde sie die Männer provozieren und womöglich in Gefahr geraten. Als wenn jeder Mann beim Anblick eines weiblichen Knies gleich zum Vergewaltiger würde! Und bis sie sechzehn war, durfte sie abends nicht ausgehen, sogar danach musste sie um Punkt zehn zu Hause sein. Manchmal hatte Katrin sich regelrecht eingesperrt gefühlt.
Nein, vieles aus ihrer Kindheit und Jugend verstand sie immer noch nicht. Warum musste die ganze Familie immer fertig angezogen am Frühstückstisch sitzen? Auch samstags und sonntags hatte ihre Mutter es nicht geduldet, wenn Katrin im Schlafanzug oder Bademantel zum Frühstück erschien. Für sie selbst gab es heute nichts Schöneres als einen langsamen Start ins Wochenende. Und das begann damit, dass Leo zu ihr und Thomas ins Bett kam, dort an seiner Milchflasche nuckelte, während sie beide den ersten Kaffee tranken.
Katrin fuhr am Exil vorbei, an der Diskothek, in der sie ab ihrem achtzehnten Geburtstag viele Nächte durchgetanzt hatte. Was wohl aus den Leuten von früher geworden war? Die meisten ihrer Schulfreunde waren ähnlich wie sie weggezogen, um zu studieren. Nur wenige waren in Münster geblieben. Kurz überlegte sie, ob sie Kontakt zu ihnen aufnehmen sollte, entschied sich aber sofort dagegen. Wenn man sich fast fünfzehn Jahre lang nicht gesehen hat, was soll man sich dann erzählen, dachte sie. Nein, sie würde sich einen neuen Freundeskreis aufbauen, und vielleicht war diese Tanja genau die Richtige dafür . . .
Abgekämpft kam sie mit Leo bei ihren Eltern an. Während sie durch den großen Garten auf das Haus zuging, seufzte sie tief. Alles sah perfekt aus: die Rasenflächen gepflegt, die Bäume gestutzt, die Blumen in den Beeten farblich genau aufeinander abgestimmt. Das war typisch für ihre Mutter. Man musste etwas darstellen nach außen. Das große Einfamilienhaus im Stil der siebziger Jahre mit ungleichmäßig geschrägtem Dach und heller Fassade passte genau dazu; es wirkte kühl und distanziert, gleichzeitig ließ es auf einen gewissen Wohlstand der Bewohner schließen. Nein, dachte Katrin wieder einmal, das ist nicht mein Stil. So möchte ich nicht wohnen. Da wirkt ja sogar mein Durcheinander mit den Umzugskisten gemütlicher.
Ihre Mutter, die gerade erst nach Hause gekommen war, machte Tee. Leo lief sofort in den Garten, um mit Lizzie zu spielen, die ihr Vater vor über zehn Jahren halb tot in einer Mülltonne gefunden und wieder aufgepäppelt hatte. Seit damals waren er und die Katze unzertrennlich. Ihre Mutter musste hart kämpfen, damit Lizzie wenigstens aus dem Schlafzimmer verbannt blieb.
»Schau mal, ob sie wieder da ist!«, rief ihre Mutter Leo hinterher, dann wandte sie sich an Katrin: »Wir haben die alte Streunerin seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Dein Vater ist schon ganz unruhig, du kennst ihn ja.«
»Wo ist Papa eigentlich?«, fragte Katrin.
»Er hält noch Mittagsschlaf. Er wird sicher gleich herunterkommen. « Ihre Mutter stellte Teegeschirr auf den Esstisch. »Du siehst übrigens furchtbar aus, Kind«, sagte sie tadelnd.
Katrin zog die Augenbrauen hoch. Das musste ja kommen! Ihre Mutter sah wie immer perfekt aus: das graublonde Haar zu einemklassischen Pagenkopf frisiert, dunkelblaues Twinset, beigefarbene Hose, die Fingernägel frisch lackiert, dezente Goldkette.
»Danke für das Kompliment, Mama«, antwortete sie müde und gab ihrer Mutter die Plastiktüte.
»Ach, für die Kleiderkammer. Sehr gut«, sagte ihre Mutter. »Und? Sind alle Kisten endlich leer?«
»Noch nicht ganz.«
»Sollen wir dir nicht doch helfen?«
Katrin schüttelte den Kopf. »Nein, nein, wirklich nicht.«
Ihre Mutter war überaus neugierig, sie würde hemmungslos in fremden Sachen herumstöbern, während ihr Vater vermutlich einen Teller nach dem anderen fallen ließ.
»Aber ich sehe doch, dass du überfordert bist.«
Typisch, dachte Katrin. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter sie jemals bestärkt hatte. Immer hieß es nur, Katrin schafft das nicht.
»Ich werde Papa wecken«, sagte Katrin in der Hoffnung, dass das Thema damit beendet war.
»Nicht nötig«, hörte sie ihren Vater sagen.
Katrin drehte sich um. Blass und mit eingefallenem Gesicht stand er auf der dunklen Holztreppe. Er sah richtigkrank aus.
»Alles okay, Papa?«, fragte Katrin.
»Ja, ja, sicher. Mein Kreislauf ist nur ein bisschen schlapp. Alles in Ordnung.«
Katrin musterte ihn besorgt. Ihr Vater war inzwischen einundsiebzig und immer gesund gewesen. Aber seit ein paar Monaten fühlte er sich manchmal unwohl, und Katrin hoffte, dass das kein schlechtes Zeichen war. Sie hatte immer eine besondere Verbindung zu ihrem Vater gehabt. Da er sich grundsätzlich aus der Erziehung herausgehalten hatte, war er ihre Zuflucht gewesen, wenn es mal wieder Streit gegeben hatte mit ihrer Mutter. Er hatte sie getröstet und Verständnis gezeigt.
Ein Schrei riss sie aus ihren Gedanken. Sie zuckte zusammen. Das kam aus dem Garten. Leo!
Sie lief hinaus. Bestimmt hatte er sich das Knie aufgeschlagen! Hoffentlich hatte er sich nichts gebrochen!
Katrin war auf alles vorbereitet, doch das, was sie dann erblickte, war so grauenvoll, dass ihr schwindelig wurde. Sie presste die Hand vor den Mund, um sich nicht zu übergeben.
Vorsichtig schob Charlotte Schneidmann die Bettdecke zur Seite. Sie ärgerte sich, dass sie eingeschlafen war.
Wie hieß er noch? Bernd, Bernard oder Bernhard? Sie wusste es nicht mehr. Und sie wollte es auch gar nicht wissen. Nicht im Traum dachte sie daran, diesen Mann noch einmal wiederzusehen, geschweige denn, noch einmal mit ihm zu schlafen.
Leise, um ihn nicht zu wecken, stand sie auf, sammelte ihre Sachen vom Boden auf und schlich ins Bad. Schnell zog sie sich an, dann verließ sie die Wohnung, ohne noch einen letzten Blick zu werfen auf diesen Bernd oder wie immer er hieß. Im Fahrstuhl lehnte sie sich an die Wand und seufzte. Es war ein toller Abend gewesen und eine noch tollere Nacht. Und trotzdem. Sie hatte sich still und heimlich davongemacht. Warum eigentlich? Der Mann, mit dem sie hemmungslosen Sex gehabt hatte, sah gut aus und war ihr von Anfang an sympathisch gewesen.
Sie kam sich fast ein bisschen schäbig vor, während sie das Mehrfamilienhaus verließ und zum Taxistand eilte, der nicht weit entfernt lag.
»Sebastianstraße 15«, sagte sie, stieg ein und ließ sich müde auf den Rücksitz fallen.
Während das Taxi durch das nächtliche Münster fuhr, dachte Charlotte über den Abend nach. Sie musste lächeln. Dieser Bernd hatte genau gewusst, wo er sie berühren musste, er hatte genau die richtigen Stellen gefunden, damit sie eine ungezügelte Lust empfand, so heftig wie lange nicht mehr. Schon bevor sie in seiner Wohnung gelandet waren, hatte er sich wie ein vollendeter Gentleman verhalten. Nachdem er sie im Sixpack angesprochen hatte, entpuppte er sich als fabelhafter Gesprächspartner, er war witzig und intelligent, und sie hatten sich angeregt unterhalten. Er hatte ihr gut gefallen. Zu gut. Das konnte gefährlich werden.
»Was ist denn bitte gefährlich daran, sich zu verlieben?«, hatte ihre Schwester Ina neulich am Telefon gesagt. Aus ihrer Sicht hatte sie natürlich recht. Aber Charlotte wollte sich nicht verlieben. Und eine Beziehung oder eine Familie wollte sie schon gar nicht. Nicht wie Ina, die seit zwölf Jahren verheiratet war und vier Kinder hatte. Vier Geschwister . . . Genau wie früher, dachte Charlotte. Philipp, Ina, Stefan und sie - eine richtige Rasselbande. Stefan hatte ihr immer besonders nahegestanden, stundenlang hatte sie mit ihrem kleinen Bruder Lego gespielt, und wenn er nachts einen Albtraum hatte, war er immer zu ihr ins Bett gekommen. Dann hatte er sich in ihre Arme gekuschelt und mucksmäuschenstill dagelegen.
Charlotte hatte ihn an sich gedrückt und »Jetzt ist es ja wieder gut« gemurmelt. Eng umschlungen waren die beiden dann eingeschlafen . . . Sie spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog, wie ein Stück Stanniolpapier, das in eine Flamme gerät. Jedes Mal krampfte sich alles in ihr zusammen, wenn sie an Stefan dachte, so sehr schmerzte sie der Gedanke an ihn und an die schrecklichen Ereignisse, obwohl die schon so lange zurücklagen.
Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen, einigermaßen zumindest. Manchmal war auch noch die kleine Ina zu ihnen gekrochen, sodass es in Charlottes Bett ziemlich eng geworden war. Jetzt musste Charlotte sogar ein wenig lächeln.
Und nun hatte Ina selbst einen Haufen Kinder, und die wollten wahrscheinlich dauernd zu ihr ins Bett.
Nein, danke. Charlotte schüttelte den Kopf und starrte in die dunkle Nacht. Manchmal kam ihr Inas Verhalten geradezu dumm vor. Die eigene verkorkste Kindheit noch einmal erleben zu wollen, nur eben in einer heilen und behüteten Welt . . . Nein, das war nicht ihr Weg, mit der Vergangenheit klarzukommen.
Zu Hause nahm sie eine heiße Dusche und machte sich einen Kaffee. Es war noch nicht mal fünf Uhr, aber sie wusste genau, dass sie nicht mehr schlafen konnte. In zwei Stunden müsste sie sowieso aufstehen, da lohnte es sich nicht, noch ins eigene Bett zu gehen.
Ihre kurz geschnittenen dunklen Haare waren schon fast trocken, als sie in ihrem schwarz-weiß karierten Bademantel zum Briefkasten ging, um die Zeitung zu holen. Heute war Freitag, das Wochenende stand vor der Tür. Endlich mal wieder ausgehen und Spaß haben, dachte sie und musste grinsen. Den hatte sie ja eigentlich gerade gehabt. In letzter Zeit ging sie immer öfter auch donnerstags aus. Da sie grundsätzlich keinen Alkohol trank, machten ihr solche Nächte nicht viel aus. Sie hatte noch nie viel Schlaf gebraucht, vier bis fünf Stunden reichten ihr. Sonst würde sie solche nächtlichen Trips auch nicht machen. Für Charlotte war es eine Selbstverständlichkeit, im Dienst fit zu sein. Seit sie nach dem Abschluss ihres Psychologiestudiums bei der Kripo Münster angefangen hatte, hatte sie keinen einzigen Tag gefehlt. So gerne Charlotte auch ausging und das Nachtleben genoss - die Disziplin durfte nicht darunter leiden. Und da sie nie geraucht oder getrunken hatte, sah man ihr auch nicht an, dass sie schon auf die vierzigzuging. Vieleschätzten sie auf Ende zwanzig oder Anfang dreißig, was ihr natürlich sehr schmeichelte, und meistens ließ sie die anderen auch in dem Glauben. Dass sie gerade neununddreißig geworden war, ging schließlich niemanden etwas an.
»Warum musst du dir eigentlich die Nächte um die Ohren schlagen?«, hatte Ina sie schon oft gefragt. »Man könnte meinen, du hast ein Problem damit, allein zu sein.«
»Quatsch«, hatte Charlotte jedes Mal darauf geantwortet, aber natürlich wusste sie, dass etwas dran war an diesem Vorwurf. Es gab Tage, an denen fühlte sie sich wirklich einsam. Da war sie in einem Club oder in einer Kneipe besser aufgehoben als in ihrer Wohnung. Trotzdem wollte sie keine Beziehung und schon gar keine Familie. Das war ein Widerspruch, aber damit konnte sie ganz gut leben.
Charlotte schenkte sich noch einen Kaffee ein und setzte sich an den Küchentisch. Der einfache Holztisch passte zwar nicht zu der weißen Einbauküche, aber das machte ihr nichts aus. Ihre ganze Wohnung war spartanisch eingerichtet, nichts passte richtig zusammen. Charlotte fand es überflüssig, viel Geld für Möbel auszugeben. Sie war ja sowieso nur selten zu Hause.
Sie schlug die Zeitung auf und las wie immer als Erstes die Todesanzeigen. Das hatten ihre Eltern und auch ihre Großeltern schon so gemacht, und sie hatten immer laut vorgelesen, wer wie alt geworden war.
»Die dreißiger Jahrgänge werden immer weniger«, pflegte ihr Großvater zu sagen. Charlotte konnte sich noch gut an diesen Satz erinnern. Als ihr Opa schließlich nach langer, schwerer Krankheit im Alter von nur dreiundsechzig Jahren gestorben war, war er der einzige Dreißiger-Jahrgang in den Todesanzeigen gewesen. Heute war keiner dabei.
Charlotte blätterte den Regionalteil durch, überflog aber nur die Überschriften. Ein Verkehrsunfall mit zwei Schwerverletzten wurde gemeldet, das Geburtshaus von Annette von Droste- Hülshoff sollte restauriert werden, und wieder mal trieb ein widerlicher Tierquäler sein Unwesen.
Kopfschüttelnd blätterte Charlotte weiter. Wie viele psychisch kranke Menschen heutzutage herumliefen . . .
Kapitel 2
»Seit der Sache mit Lizzie ist er total verstört«, sagte Katrin. Sie beobachtete Leo, der schweigsam und wie in sich gekehrt neben Ben im Sandkasten saß.
Tanja sah sie mit großen Augen an. »Lizzie?«
Katrin lächelte müde. »Entschuldige. Die Katze meines Vaters hieß so.«
Tanja nickte mitfühlend. Katrin hatte ihr schon von dem schrecklichen Vorfall erzählt und dass Leo seitdem Schwierigkeiten hatte einzuschlafen und unter Albträumen litt. Sie kannten sich zwar erst seit einer Woche, aber Katrin hatte im Grunde sofort Vertrauen gefasst zu Tanja, und es tat ihr gut, wenn sie sich den Kummer von der Seele reden konnte.
»Der arme Kerl«, sagte Tanja. »Wenn ich mir vorstelle, Ben hätte so etwas erlebt . . . Ich glaube, ich könnte für nichts garantieren. Ich würde diesen Widerling auf eigene Faust suchen und ihm dermaßen eine verpassen, dass er nicht mal mehr seinen Namen aussprechen könnte!«
Katrin zuckte mit den Achseln. »Ich könnte so was nicht«, sagte sie resigniert. »Die Polizei meint, es ist praktisch aussichtslos, den Kerl zu finden. Angeblich kommt es hier in dieser Gegend immer wieder zu Tierquälereien.«
»Schrecklich.« Tanja seufzte. »Wie hast du Leo denn die ganze Sache erklärt?«
»Ich habe ihm erzählt, das blutige Stück Fleisch kommt aus dem Müll. Irgendwer hat es einfach in den Garten geworfen.
Lizzie ist wahrscheinlich nur weggelaufen und taucht bestimmt bald wieder auf. Ich bin dann schnell mit ihm nach Hause gefahren, obwohl ich meine Eltern eigentlich nicht allein lassen wollte«, sagte Katrin. »Meinem Vater hat die ganze Sache sehr zugesetzt. Er hat an der Katze gehangen. Zuerst dachte ich, er kriegt einen Herzinfarkt, so erschrocken war er.«
»Wie geht es ihm jetzt?«, fragte Tanja. »Schlecht?« Sie räusperte sich. »Entschuldige. Ich meine natürlich, hoffentlich geht es ihm inzwischen besser.«
Katrin nickte. »Er muss aber immer noch ein Beruhigungsmittel nehmen.« Sie schüttelte den Kopf. »So habe ich meinen Vater noch nie erlebt. Bisher war er immer gut gelaunt und munter. Ich mache mir große Sorgen um ihn«, sagte sie betrübt. »Was will man machen. Wenn man so alt ist wie wir, sind die eigenen Eltern nun mal nicht mehr die Jüngsten.«
Tanja nickte. »Und damit wachsen die Sorgen.« Sie sah Katrin fragend an. »Ist alles okay? Du siehst ganz schön blass aus.«
»Ja, alles okay«, sagte Katrin schnell.
»Sicher?«
Sie zögerte. »Manchmal wird mir alles ein bisschen viel. Thomas ist nie da, ich musste mich ganz allein um den Umzug und um die Renovierung des Hauses kümmern, der neue Job ist anstrengend, und jetzt noch die Sache mit der Katze . . . Ich könnte eine Auszeit gebrauchen.«
Tanja nickte. »Das Gefühl kenne ich, besonders wenn ich PMS habe. Dann bin ich so mit den Nerven runter, dass ich alles anschreie, was nicht bei fünf auf den Bäumen ist.«
Katrin musste lachen.
»Versklavt von den eigenen Hormonen. Mein Arzt hat mir schon zum PMS-Piccolöchen geraten. Nach dem Motto: Schlechte Laune kann man am besten mit Alkohol bekämpfen. «
Katrin konnte gar nicht aufhören zu lachen. Tanja schaffte es tatsächlich, sie auf andere Gedanken zu bringen.
Eine Weile beobachteten die beiden ihre Söhne, die inzwischen auf einem Klettergerüst herumturnten. Leo schien wieder fröhlicher zu werden, stellte Katrin beruhigt fest.
»So ausgelassen habe ich Leo hier in Münster noch nicht gesehen. Das liegt bestimmt an Ben.«
»Dann lass uns das doch öfter machen«, schlug Tanja vor. »Ihr könnt auch gerne mal zu uns kommen. Im Moment sind zwar noch die Maler im Haus, und es herrscht das reinste Chaos. Aber danach . . .«
Katrin nickte. Das kannte sie nur zu gut. »Wir können uns ja auch bei uns treffen«, sagte sie. »Da stehen zwar auch noch ein paar Kisten rum, aber wenigstens sind die Handwerker nicht mehr da.«
»Gerne! Gleich morgen?«
Katrin überlegte kurz. Irgendwie ging ihr das ein bisschen zu schnell. Aber als sie sah, wie friedlich Leo und Ben miteinander spielten, sagte sie trotzdem zu.
In diesem Augenblick begannen die beiden Jungen, Sand in die Luft zu werfen und so zu tun, als stünden sie unter der Dusche.
»Guck dir die an!« Tanja lachte. »Jetzt bräuchte man eine Kamera!«
»Hallo! Schon mal was vom Handy gehört?« Katrin zog ihres heraus und machte ein Foto von den beiden, wie sie mit strahlendem Gesicht versuchten, Tanja unter ihre Sanddusche zu ziehen.
Als sie mit Leo nach Hause kam, fühlte sie sich wie erschlagen. So müde und erschöpft war sie schon lange nicht mehr gewesen. Sie machte Leo ein Brot mit Käse und einen Kakao und setzte sich zu ihm an den Küchentisch. Sie selbst bekam keinen Bissen herunter. Vor lauter Erschöpfung war ihr ganz flau im Magen. Hoffentlich werde ich nicht krank, dachte sie, während sie wenig später den Sandmann anstellte, ohne den Leo nicht ins Bett gehen wollte.
Plötzlich fiel ihr ein, dass es jemanden gab, dem es bestimmt noch schlechter ging als ihr.
»Lieb, dass du anrufst«, sagte ihr Vater am anderen Ende der Leitung. Seine Stimme klang müde.
»Ich weiß doch, wie sehr du an Lizzie gehangen hast«, sagte Katrin.
»Sie war eine gute Katze«, murmelte er und räusperte sich. »Es gibt so viele Verrückte . . .«
Katrin musste schlucken. »Papa, bist du wirklich in Ordnung? «, fragte sie besorgt. »Du hörst dich nicht gut an. Vielleicht solltest du doch mal zum Arzt gehen . . .«
»Nein, nein. Es ist schon gut. Entschuldige, Schatz. Ich bin ein alter Mann, der um sein Haustier trauert.« Er räusperte sich. »Ich glaube, deine Mutter hat das Essen fertig. Wollen wir ein anderes Mal weitersprechen?«
»Ist wirklich alles okay, Papa?«
»Mach dir keine Sorgen, Schatz. Mir geht es gut. Ich rufe dich morgen an, ja? Ich hab dich lieb, Katrinchen.«
»Ich hab dich auch lieb, Papa.«
Nachdenklich legte sie auf. Katrinchen. So hatte ihr Vater sie seit ihrer Kindheit nicht mehr genannt.
Sie hoffte sehr, dass er sich bald von dem Schock erholte und wieder der Alte war. Und wenn nicht?, dachte sie, während sie Leo seinen heiß geliebten grünen Kermit-der-Frosch-Schlafanzug anzog. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, was auf sie zukommen könnte, wenn ihre Eltern eines Tages nicht mehr allein zurechtkommen würden.
Wie jeden Abend legte sie sich mit Leo zusammen ins neue große Ehebett, extra breit, sodass sie auch bequem zu dritt darin schlafen konnten. Mit der neuen roten Bettwäsche sah es perfekt aus, als stünde es auf der Titelseite der neuesten Schöner Wohnen- Ausgabe, fand Katrin.
Leo kuschelte sich an seine Mutter und trank noch eine Milch, während sie ihm vorlas. Eigentlich las Katrin immer zwei Geschichten vor, bevor sie Leo in sein Zimmer brachte und er noch eine CD hören durfte. Aber seit dem Tod von Lizzie wartete sie, bis er in ihren Armen eingeschlafen war, und trug ihn erst dann ins Kinderzimmer.
Heute schaffte Katrin nicht einmal die erste Geschichte. Leo war schon eingeschlafen, und so legte sie das Buch nach zwei Seiten weg und legte die Arme um ihn. Wenig später schlief auch sie tief und fest.
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Christine Drews
- 2013, 287 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404167465
- ISBN-13: 9783404167463
- Erscheinungsdatum: 14.03.2013
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