Schauen Sie sich mal diese Sauerei an
20 wahre Geschichten vom Lebenretten
Jörg Nießen arbeitet im Rettungsdienst. In seinem Buch erzählt er von bizarren Lappalien, aber auch echten Notfällen aus seinem Arbeitsalltag. Von nackten Musen, die aus Bäumen fallen bis hin zu Herzmassagen mit Kölnisch...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Schauen Sie sich mal diese Sauerei an “
Jörg Nießen arbeitet im Rettungsdienst. In seinem Buch erzählt er von bizarren Lappalien, aber auch echten Notfällen aus seinem Arbeitsalltag. Von nackten Musen, die aus Bäumen fallen bis hin zu Herzmassagen mit Kölnisch Wasser bei einem Verstorbenen.
Schwarzer Humor vom Feinsten!
Klappentext zu „Schauen Sie sich mal diese Sauerei an “
Zusammen mit seinen Kollegen erfährt der Autor in 20 wahren Geschichten am eigenen Leib, wozu der Mensch fähig ist, was alles überlebt, woran letztendlich gestorben wird und wie das bittere Ende tatsächlich ausschaut. Niemand wird geschont, weder Retter noch Patienten noch Angehörige. Jörg Nießen räumt auf mit wirklichkeitsverzerrenden TV-Serien à la Medicopter 117, die manch einen Mitmenschen dazu verleiten, schnell mal die Notrufnummer 112 zu wählen, wenn irgendwo der Schuh drückt. Im Alltag des Notfallretters konkurrieren bizarre Lappalien und haarsträubende Notfälle miteinander, weswegen der Retter sich vor allem die Fähigkeit bewahren muss, dem Schicksal auch mal ins Gesicht lachen zu können.Die Auslöser für die kleinen und großen Dramen klingen alltäglich: Mal ist frischer Kuhdung verantwortlich, mal eine PIN, Künstlerallüren oder auch Billardkugeln in mehr oder weniger geeigneten Körperöffnungen. Das Leben ist überraschend kreativ und schlägt uns immer wieder gern ein Schnippchen.
Lese-Probe zu „Schauen Sie sich mal diese Sauerei an “
Schauen Sie sich mal diese Sauerei an von Jörg Nießen Als Feuerwehrmann oder Rettungsassistent arbeiten zu dürfen, ist ein großes Geschenk. Man darf jede Facette des Lebens und Sterbens kennenlernen, ohne persönlich betroffen zu sein. Meine eigene Rettungsdienstkarriere begann 1995 im Zivildienst und wurde anschließend bei einer großen nordrheinwestfälischen Feuerwehr fortgesetzt. 1997 wurde ich zum »Brandmeister« ernannt, was eine etwas verwirrende Berufsbezeichnung ist. Weder lege ich meisterhaft Brände, noch ist meine Tätigkeit ausschließlich auf die Feuerwehr beschränkt. Knapp die Hälfte meiner Dienstzeit verbringe ich im Rettungsdienst. Die Geschichten in diesem Buch widmen sich auch fast ausschließlich diesem Bereich, wundern Sie sich aber bitte nicht, wenn ich ab und zu einen kleinen Ausflug zur Feuerwehr unternehme.
Mit der Lektüre dieses Buches sind Sie eingeladen, einen realistischen und dennoch unterhaltsamen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Actionserien und Realitysoaps kratzen in der Regel nur an der Oberfläche des ganz normalen Wahnsinns. Lernen Sie Rettungsdienstpersonal und Patienten doch mal etwas besser, etwas persönlicher kennen!
... mehr
Die Tätigkeit im Rahmen von Feuerwehr und Rettungsdienst bringt es mit sich, dass man zu Ausnahmesituationen gerufen wird. Zumindest ist das die Sichtweise der Personen, die irgendwelche Notrufe tätigen. Die große Mehrzahl der Einsätze hat tatsächlich einen ernstzunehmenden, oft sogar dramatischen Hintergrund, aber manchmal eben auch nicht. Wenn Sie einmal mit Blaulicht und Tatütata durch die Stadt gerast sind, um einen Patienten mit starken Unterbauchschmerzen zu retten, und der Ihnen sagt: »Ich hab Magen-Darm-Grippe. Könnten Sie mir mal die Zeitung aufheben, die ist mir runtergefallen«, dann ahnen Sie bereits, welchen Herausforderungen wir gelegentlich gegenüberstehen. Nein, der Gute war nicht gehbehindert, der Hausarzt hatte lediglich Bettruhe verordnet! In einer solchen Situation gibt es nur zwei Möglichkeiten: Sie drohen dem Patienten mit physischer Gewalt, was verboten ist, oder Sie haben Humor und lachen den Abgründen der Gesellschaft ins Gesicht. Die hier erzählten Geschichten beruhen alle auf Tatsachen und wahren Begebenheiten. Natürlich wurde verfremdet, verän dert und stellenweise auch übertrieben, aber das hat aus meiner Sicht nur Vorteile. Der Unterhaltungswert steigt, und die Nachvollziehbarkeit im Hinblick auf Schweigepflicht und Daten schutz sinkt. Die meisten Geschichten habe ich selbst erlebt, andere sind Erzählungen menschlich verrohter, aber dennoch vertrauenswürdiger Kollegen, und vielleicht hat sich auch hin und wieder ein »neues deutsches Märchen« eingeschlichen.
Sollte Sie das Gefühl beschleichen, sich selbst wiederzuerkennen, so muss ich Sie leider enttäuschen! Alle Personen, Orte und Einsatzabläufe sind so verfremdet, dass Übereinstimmungen mit lebenden oder toten Personen rein zufällig sind.
Bevor Sie nun in das Panoptikum des Rettungsdienstes eintauchen, möchte ich Ihnen noch einige handelnde Personen vorstellen. Zunächst ist da Hein. Hein ist nicht ein einziger Kollege, Hein sind viele. Er ist der übergewichtige, stets schlecht gelaunte Rettungsdienstmuffel, der auf jeder Alarmfahrt das Armaturenbrett verprügelt und eigentlich in eine Burn-out-Therapie gehört. Er ist aber auch der hoch motivierte verständnisvolle und einfühlsame Kollege, der sich rührend um jeden Patienten kümmert. Hein ist so vielseitig und abwechslungsreich wie das Leben selbst. Meist ist er ein hilfsbereiter lieber Kerl, von dem man das letzte Hemd bekommt, solange man nicht versucht, ihn zu verarschen. Es ist Ihnen als Leser überlassen, wie Sie sich Hein rein äußerlich vorstellen. Vielleicht hat er braune Locken, vielleicht hat er aber auch schon eine graue Halbglatze. Verpassen Sie ihm einen Oberlippenbart oder von mir aus auch eine Zahnlücke, lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf! Wenn ich eine Bitte äußern dürfte: Basteln Sie sich einen sympathischen Hein - er hat es verdient!
Ich mag Hein, deshalb wurde er auch zu einer zentralen Figur in diesem Buch. Ein paar Ereignisse beziehungsweise Schicksalsschläge wollte ich Hein aber ersparen. So treffen Sie in manchen Geschichten nicht auf Hein, sondern lernen andere Charaktere kennen. In der schönen Geschichte »Jupp« werden Sie Peters Bekanntschaft machen, in der Geschichte »Es gibt Tage, da verliert man« treffen wir auf meinen Dienststellenleiter Leo, und Mathias hat ein kurzes Gastspiel in der Geschichte »Wohin Einsamkeit führen kann«. Falls nötig sind die Figuren in den jeweiligen Passagen kurz charakterlich beschrieben, um das gegenseitige Kennenlernen etwas zu beschleunigen.
Am Ende bin da noch ich. Gemeinsam mit zahlreichen Kollegen durfte ich eine Vielzahl von Rettungsdiensteinsätzen erleben. In 15 Jahren aktiver Tätigkeit ist einiges passiert: Dramatisches, Trauriges und manchmal auch Unfassbares, aber das ist nur eine Seite der Medaille. Rettungsdienst bietet oft auch eine herrliche Situationskomik; manchmal sind die Einsätze einfach nur skurril, absurd oder schlichtweg witzig. Natürlich ist das alles eine Frage des Humors, aber glauben Sie mir, ich habe öfter ein Lächeln auf den Lippen als eine Träne im Augenwinkel.
Bis dann - in irgendeinem Rettungswagen!
NOTFALL
Umgang mit Angehörigen
Ulla ruft an
Die »Dame« lässt sich kaum definieren, aber man weiß, wenn man einer gegenübersteht.
Scheißwetter!«, bemerkte Hein passend, als wir in den Rettungswagen einstiegen. Das automatische Tor der Fahrzeughalle öffnete sich, und wir wurden Teil eines temporären Weltuntergangs. Schwere Regentropfen prasselten unaufhörlich gegen die Windschutzscheibe, die Scheibenwischer leisteten Schwerstarbeit, kamen aber kaum gegen die Wassermassen an. Ein wässriger Blindflug durch den Berufsverkehr stand uns bevor. Hein und ich waren unterwegs zur Fußgängerzone in der Innenstadt. »Männlicher Patient, Reanimation auf der Straße«, wurde der Leitstelle gemeldet, und so kämpften wir uns nun gegen Aquaplaning und überforderte Verkehrsteilnehmer zur Einsatzstelle.
»Wo war die Einsatzstelle noch mal genau?«, brüllte Hein mich fragend an.
»Am Eingang zur Passage, die zum Schlossgarten führt. Aber warum brüllst du so? «, brüllte ich zurück.
» Der Regen ist so laut!«, meinte Hein mit etwas reduzierter Lautstärke. Er hatte recht. Zwischen Martinshorn, Rauschen im Funkgerät und dem Geprassel des Regens war das eigene Wort kaum zu verstehen. Kurz dachte ich über die Lautstärke von Regen nach, bis mir bewusst wurde, dass unser größtes Problem nicht die Geräuschkulisse, sondern die Feuchtigkeit werden würde. Der Regen ließ nicht nach. Falls wir tatsächlich auf der Straße arbeiten müssten, käme dies einem Miss-Wet-TShirt-Contest gleich.
Wir erreichten die Einsatzstelle. Weder Hein noch ich stiegen aus, stattdessen schauten wir auf die Szenerie, die sich uns bot. Es hatte sich eine Menschentraube gebildet, die eine merkwür dige Regenschirmchoreografie darbot. Der äußere Ring der Men schentraube schützte sich weitgehend selbst. Hier und da wurde der Ring von außen durchbrochen. Wenn ein neuer Schaulustiger eintraf, wollte dieser natürlich auch nach ganz vorn. Dort angelangt, wurden die Regenschirme jedoch genutzt, um irgendetwas in der Mitte Befindliches zu schützen. Ein farbenfrohes Meer aus Schirmen wurde über-, unter-, neben- und ineinander verkeilt gehalten. Natürlich wurden diese Schirmträger nass bis auf die Knochen, und so trat hier und da immer mal wieder jemand die Flucht nach hinten an. Dieses sich selbst erfindende Regenschirmchaos hatte in seiner Farbenpracht etwas von Anmut und Eleganz.
Gern hätte ich noch verweilt, um zuzuschauen, doch es half nichts, wir mussten raus in den Regen. »Wahrscheinlich eh schon zu spät, geh du mal alleine gucken, ich hab echt Angst im Wasser, bin ja ein schlechter Schwimmer«, meinte Hein mit skeptischem Gesicht.
»Hoffentlich bist du bald draußen!«, befahl ich schroff, im Wissen, dass Hein nicht immer alles ernst meinte. Wir machten uns klein und hässlich, um dem Regen möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, dennoch merkte ich schnell, dass der Regen umbarmherzig die Schwachstellen meiner Schutzjacke ausnutzte und der Kampf gegen das Nass bald verloren sein würde. Hein versuchte derweil, sich einen Weg durch den Ring aus Menschen und Schirmen zu bahnen. Man hatte uns noch nicht als Rettungsdienst erkannt, und so wurden wir als Konkurrenten um den besten Platz behandelt. Schirmgriffe wurden unauffällig in die Rippen gestoßen, und man konnte froh sein, wenn man sein Augenlicht nicht einer Schirmspitze opfern musste. Hein brüllte: »Feuer, Feuer!« Das war zwar das Letzte, was zu unserer Situation passte, aber es verfehlte nicht seine Wirkung. Sie können rufen, was Sie wollen, zum Beispiel »Hilfe!«, es wird Sie kaum jemand beachten. Rufen Sie »Feuer!«, und Sie haben die Aufmerksamkeit ihres Umfeldes. Klingt komisch, ist aber so.
Zumindest hatten wir die Menge dazu gebracht, uns wahrzunehmen. Mit etwas mehr Bewegungsfreiheit erreichten wir den inneren Schirmhaufen. Der Eindruck war surreal. In einem bunten undichten Zelt, bestehend aus vielen farbigen Halbkugeln, wurde ein Mann von zwei klatschnassen Frauen wiederbelebt. Es sah aus wie ein modernes Schauspiel mit makaberer Inszenierung. »Guten Tag, Rettungsdienst. Reanimieren Sie bitte weiter, wir brauchen noch einen Augenblick, um uns zu organisieren«, sprach ich die Damen an. Die Helferin, die neben unserem Patienten kniete und eine Herzdruckmassage durchführte, hob den Kopf. Angestrengte Augen schauten mich an: »Machen wir, aber bitte beeilt euch, ich kann gleich nicht mehr!«
»Wie lange sind Sie denn schon dran, und was ist überhaupt vorgefallen?«, fragte Hein seelenruhig und schaute dabei interessiert in ein hin und her wippendes Dekolleté. Durch die Bewegungen der Herzdruckmassage kam die Antwort etwas abgehackt:
»Circa fünfzehn Minuten und vorgefallen ist das richtige Wort. Der Kerl ist vor uns durch durch den Regen gelaufen und plötzlich zusammengebrochen. Wir sind Krankenschwestern und haben uns dann gekümmert!«
Gemeinsam mit Hein hielt ich kurzen Kriegsrat: »Willst du auf der Straße vor den Fans arbeiten oder lieber in Ruhe im Auto?«, stellte ich Hein vor die Wahl. »Lieber im Auto, wir können ja die beiden Krankenschwestern ...«
»Denk nicht mal drüber nach!«, unterbrach ich Hein. »Hol du die Trage, ich unterstütze so lange die beiden!«, fuhr ich im Befehlston fort.
Unterstützung für die Damen tat not. Ich öffnete unseren Notfallrucksack und entnahm einen Beatmungsbeutel. »Hier, bitte sehr, das dürfte die Beatmung etwas angenehmer gestalten«, rief ich der Krankenschwester zu, die neben dem Kopf des Patienten kniete. Zutiefst dankbare Augen schauten mich an. Sie griff den Beutel und setzte die Beatmung gekonnt fort. Mund-zu-Mund- oder auch Mund-zu-Nase-Beatmungen sind nicht immer angenehm. Der Rettungsdienst kann aufgrund einiger technischer Hilfsmittel völlig darauf verzichten. Als Ersthelfer sind Sie aber schnell mal in der Situation, eine fremde Nase samt Oberlippenbart im Mund zu haben. Wenn Sie anfangen nachzudenken, wird es eklig. Ist das jetzt mein Speichel oder sein Nasenschnodder? Fragen wie diese möchte sich niemand stellen müssen. Ich empfehle daher auch privat das Mitführen von Beatmungstüchern, die gibt es für ein paar Euro in der Apotheke.
Die Krankenschwester, die die Brust des Patienten bearbeitete, war dem Zusammenbruch nahe. Neben ihr ging ich auf die Knie und löste sie ab. Erschöpft blieb sie neben mir auf der nassen Straße sitzen. Unser Regenschirmschutzschild offenbarte seine Schwächen. Ein Rinnsal, gebildet aus dem ablaufenden Wasser mehrerer Schirme, lief mir zwischen Jacke und Hose über meinen Lendenwirbelbereich unaufhörlich in die Kimme.
Mit nassem Arsch reanimieren macht gar keinen Spaß. Ich hatte das Gefühl, mir würde die Donau durch die Hose laufen. Meine lautstark vorgetragene Bitte, die Schirme doch anders zu positionieren, verhallte ungehört.
Hein, bitte komm zurück, flehte ich in Gedanken, als eine leicht korpulente Frau mich in rheinischem Akzent von hinten fragte: »Stirbt mein Franz hier heute im Regen?« Völlig irritiert drehte ich den Kopf. Wer sprach da zu mir? Die Antwort gab mir die Helferin, die immer noch neben mir saß: »Das ist die Lebensgefährtin des Herrn, den wir gerade versuchen, im Hier und Jetzt zu behalten.«
»Wir kümmern uns gleich um Sie, es gibt ein paar Fragen, die ich Ihnen stellen muss, bitte bleiben Sie in unserer Nähe«, bat ich die Dame.
»Mache ich sowieso, ich brauch ja noch die PIN-Nummer von dem Handy«, war die etwas merkwürdige Antwort. Der Versuch, gedanklich einen Zusammenhang zu irgendeiner PINNummer herzustellen, wurde von Heins Rückkehr unterbrochen.
Wir wuchteten unseren Patienten auf die Trage, bahnten uns einen Weg durch die lebenden Schirmständer und beeilten uns, den Rettungswagen zu erreichen. Hein öffnete die hinteren Flügeltüren, und ich schob die Trage auf die dafür vorgesehene Halterung. Trage rein, Tür zu, ab ins Trockene. Wir bedankten uns bei den Krankenschwestern für ihren aufopferungsvollen Einsatz und die tatkräftige Unterstützung, schlossen die Türen und ließen sie im Regen stehen. Wir hatten genug zu tun, zum Flirten blieb jetzt keine Zeit. Hein fantasierte zwar noch, dass er keine von beiden von der Bettkante schubsen würde; meine verbale Spitze, dass beide ja auch schon ganz feucht wären, kommentierte er aber nicht mehr.
Die Reanimation wurde im Rettungswagen fortgesetzt, und wir trafen Vorbereitungen, unseren Patienten mit Elektroschocks zu traktieren. Franz - den Namen hatten wir ja in der Zwischenzeit erfahren - machte optisch den Eindruck, die Lebenskerze in der Vergangenheit von zwei Seiten angezündet zu haben. Übergewicht, gelbe Nikotinfinger, verschiedene Tattoos und ein Brustwarzenpiercing dominierten sein Äußeres. Die Tattoos waren besonders imposant. Ein historisches Segel schlacht schiff auf der linken Brust sowie der kunstvoll geschwungene Name »Ulla« auf dem Unterarm waren sein Beitrag zur modernen Körperkunst.
Es klopfte an der Seitentür des Rettungswagens. Bevor wir reagieren konnten, wurde die Tür geöffnet. Dr. Jung und sein Assistent sprangen in den Patientenraum. »Sauwetter!«, bemerkte der eintreffende Notarzt zur Begrüßung. »Die reinste Sintflut da draußen, na ja, egal. Erzählt mir was zu unserem Schätzchen - wieso liegt der Typ so gut wie tot in eurem Auto?« Während weitere medizinische Maßnahmen eingeleitet wurden, machte Hein eine kurze Übergabe.
Durch die eingetroffene Verstärkung hatte ich Zeit, mehr über unseren Franz herauszufinden. In seiner Brief tasche fand ich einen Pass, der ihn als Herzklappenpatient und Diabetiker auswies, ich schaute auf sein Geburtsdatum und schluckte. »Der Kerl hat heute Geburtstag. Wird 53 Jahre alt«, bemerkte ich betroffen.
»Schnickschnack. Sentimentaler Quatsch für Angehörige, ein Tag ist so gut zum Sterben wie jeder andere«, stellte Dr. Jung fest.
Der bis dahin eher wortkarge Assistent meldete sich zu Wort: »Wir brauchen mehr Informationen. Gibt es Angehörige, die wir kennen, oder war jemand bei ihm?«
»Draußen wartet irgendwo seine Lebensgefährtin«, sagte Hein in einem eher beiläufigen Tonfall, als hätte er mit alldem hier nichts zu tun. Alle schauten sich wie Unbeteiligte an, weil alle wussten: Einer muss raus in den Regen und Fragen stellen. Die Frau bei laufender Reanimation in den Rettungswagen zu holen, kam nicht in Frage. Der Notarzt erklärte grinsend, er würde ja gern gehen, es täte ihm leid, aber er habe die Pflicht, beim Patienten zu bleiben. Um es kurz zu machen: Der Rest von uns spielte Schnick-Schnack-Schnuck.
Den Kragen meiner Jacke fest in den Nacken ziehend, verließ ich fluchend den Rettungswagen und schaute mich um. Unter dem kleinen Vordach einer als Litfaßsäule getarnten öffentlichen Toilettenanlage fand ich die Frau von eben wieder. »Guten Tag noch mal, ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen«, begann ich unser Gespräch.
»Gerne, was wollen Sie denn wissen?«, erwiderte sie.
»Zunächst wüsste ich gerne Ihren Namen, und in welcher Beziehung stehen Sie zum Opfer, äähhh, Patienten?«, formulierte ich unbeholfen.
»Ulla Schröders, und wir leben in einer sexuell offenen Beziehung«, war ihre viel zu präzise Antwort. Noch innerlich mit der Frage beschäftigt, ob das gerade ein Angebot war, stellte ich die nächste Frage: »Frau Schröders ...« Hier wurde ich bereits unterbrochen. »Mich nennen alle Ulla!«
» Ulla, leidet Ihr Mann an irgendwelchen Vorerkrankungen? «, beendete ich die ursprüngliche Fragestellung.
»Das ist nicht mein Mann, das ist der Franz!«, wurde ich belehrt.
»Gut, leidet Franz an irgendwelchen Vorerkrankungen? «, fragte ich erneut.
»Ja, warten Sie mal ... «, begann Ulla. Es folgte eine lange Aufzählung von Krankheiten, jede für sich schon dramatisch genug: »Also, das Herz ist irgendwo undicht, glaub ich, so habe ich es zumindest verstanden. Zucker hat er, der geht immer hoch, wenn der Franz sich aufregt, oder war das das mit dem Blutdruck? ... nen Schlag hat er mal gehabt. Die Milz fehlt, die haben sie ihm als Kirmesboxer kaputtgeschlagen, und wenn er viel raucht, kriegt er schlecht Luft ... Können Sie den Franz mal kurz nach der PIN-Nummer von dem Handy fragen?«, bat mich Ulla abschließend.
»Äh, Franz kann im Augenblick nicht sprechen, wir kämpfen gerade um sein Leben.«
»Ja, macht ja nix, dann eben später.«
Entweder die Tante ist extrem abgebrüht, oder die hat ein Stück Seife im Kopf, dachte ich mir noch, während ich meine Befragung fortsetzte: »Gibt es sonst noch irgendetwas, das aus medizinischer Sicht für uns interessant wäre?«
»Tripper! Wir zwei gehen ja seit Jahren zusammen in den Swingerclub von dem Rüdiger an der Autobahn, da hat der Franz sich mal was mitgebracht. Aber sonst fällt mir nix mehr ein«, war die unverblümte Replik.
Ulla war schon eine besondere Erscheinung. Nicht nur ihr unorthodoxer Kommunikationsstil, sondern auch ihr äußerlicher Auftritt machte was her. Für geschätzte Ende vierzig wirkte sie etwas zu jugendlich. Gesträhnte Haare, denen man ansah, dass sie etwas zu oft blondiert worden waren, krönten ihre circa 165 Zentimeter Körpergröße. Die leicht korpulente Figur hatte sie in eine Samtkorsage gezwängt, die mit kleinen Strasssteinen besetzt war. Das restliche Outfit bildeten eine weiße Bluse mit tiefem Ausschnitt, Bluejeans und schwarze High Heels. Über allem wölbte sich ein riesiger Regenschirm mit der Aufschrift: »FRISIERBAR - Waschen - Schneiden - Föhnen - Trinken.« Pfiffiges Konzept, dachte ich mir, die Kundschaft säuft sich das eigene Spiegelbild schön, da dürften Beschwerden und Reklamationen die Ausnahme sein.
Ulla machte auf mich den Eindruck einer typischen Kegelschwester. Jedes Klischee erfüllend, besuchte sie bestimmt zweimal im Jahr eine Ballermannimitation im Sauerland, und nach dem vierten Piccolo war dann ohne Zweifel kein Männerarsch mehr sicher. Noch in Gedanken über Ulla gefangen, stellte ich die überflüssigste aller Fragen: »Kegeln Sie?«
»Ja, ich bin seit neun Jahren Mitglied bei den ›Frechen Hexen‹, aber warum interessiert Sie das, was hat das denn mit meinem Franz zu tun?«
»Äh, nichts, entschuldigen Sie die Frage. Für den Augenblick haben Sie uns sehr geholfen, ich muss jetzt zurück zum Rettungswagen. Bleiben Sie doch bitte hier, ich komme gleich wieder und halte Sie auf dem Laufenden.« Mit diesen Worten entzog ich mich der Situation und machte mich auf den Weg durch den Regen.
Im Rettungswagen angekommen, stellte ich fest, dass Franz in der Zwischenzeit das gesamte Repertoire der modernen Notfallmedizin genossen hatte. Künstlich beatmet, an diverse Apparate angeschlossen und mit verschiedenen Medikamenten vollgepumpt, lag Franz auf der Trage. Mit wenigen Sätzen schilderte ich meinen Kollegen, was Ulla mir berichtet hatte.
»Noch fünf Minuten. Wenn er dann nicht wieder anspringt, schwenken wir die schwarzweiß karierte Flagge des Lebens!«, verkündete Dr. Jung, der als eingefleischter Formel-1-Fan gern Rennsportmetaphern verwendet. Die Zeit verging, doch das Herz von Franz machte keinerlei Anstalten, wieder seinen gewohnten Dienst aufzunehmen. Franz hatte sich entschlossen, seinem Schöpfer gegenüberzutreten. Er war tot.
»Todeszeitpunkt 18:37 Uhr, macht den Knaben mal hübsch für die Verabschiedung, und ich hätte gern einen Totenschein, der Schreibkram bleibt ja doch an mir hängen«, gab unser Notarzt letzte Anweisungen.
»Passen Sie aber auf, dass Sie in der Rubrik Todesursache nicht wieder Ihren eigenen Namen eintragen!«, frotzelte Hein, der mit Dr. Jung seit Jahren einen liebgewonnenen verbalen Kleinkrieg führte. Gerade holte Dr. Jung tief Luft, um zu kontern, als sein Funkmeldeempfänger am Gürtel ein lautes Piepen von sich gab. »Tja, Jungs, ich hätte gern noch mit euch geplaudert, aber ihr hört ja: Ich muss weiter - die Bevölkerung braucht mich! Bringt der Lebensgefährtin schonend bei, was passiert ist, die Leiche wie immer ins Kühlhaus.«
Der Notarzt verließ samt Assistent eiligen Schrittes den Rettungswagen.
»Na super, voll ins Klo gegriffen!«, stellte Hein passend fest. Nachrichten über den Tod eines Angehörigen oder einer nahestehenden Person überbringt niemand gern. Man weiß einfach nicht, wie die Menschen reagieren, von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt ist alles möglich. Bei Ulla konnte ich auch nicht mit Bestimmtheit sagen, wie sie reagieren würde. Nach meinem vorherigen Gespräch war mir jedoch klar, dass man mit unkonventionellen Reaktionen rechnen musste. Hein war durch den Regen gelaufen, um Ulla auf dem Weg zur Abschiednahme im Rettungswagen zu begleiten.
Ulla betrat mit ernster Miene den Patientenraum, legte sanft ihre Hand auf die Schulter des Toten und blickte mich ungläubig an.
»Franz hat es leider nicht geschafft, Ihr Lebensgefährte ist tot«, versuchte ich die richtigen Worte zu finden.
»Fünfzig Euro, wenn ihr weitermacht!«, sagte Ulla fordernd. Hein und ich schauten uns verdutzt an.
» 100 Euro! «, erweiterte Ulla ihr unethisches Angebot.
Hein versuchte, die Lage zu erklären: »Franz ist tot, wir können nichts mehr für ihn tun. «
»Man kann immer was machen! 150 Euro«, überbot sich Ulla.
Hein fuhr sie ungehalten an: »Wir sind doch hier nicht auf dem Basar! Hier ist nicht die erste halbe Stunde umsonst, und dann ist Barzahlung angesagt. Ihr Franz hat abgeschaltet!«
»Dann wird er noch mal eingeschaltet. Der Kerl hat die PINNummer von dem Handy von mir! Die brauch ich. Das ist lebenswichtig! 200 Euro.«
Hein verschränkte ablehnend die Arme, um nonverbal zu signalisieren, dass wir keinesfalls irgendeine Leichenfledderei veranstalten würden. »Franz ist tot, wir können nichts mehr für ihn tun«, wiederholte ich mich.
»Es wäre auch nicht mehr der Franz, den Sie kannten, wenn er irgendwann aus der Klinik entlassen werden würde«, fügte Hein in tröstendem Tonfall hinzu.
»Der braucht mir auch nicht mehr nach Haus zu kommen, der hat heute Geburtstag und lässt mich auf den ganzen Vorbereitungen und auf den Gästen alleine sitzen. Außerdem hat der die PIN-Nummer von dem Handy«, lamentierte Ulla lauthals, holte aus und gab dem toten Franz eine schallende Ohrfeige.
»Meinen Sie, ich kann die Geburtstagsparty heute Abend mit dem Beerdigungs kaffeekränzchen verbinden?«
»Über Pietät lässt sich streiten«, stammelte Hein, der wie ich von der Ohrfeige noch etwas konsterniert war.
»Mich am eigenen Geburtstag alleine zu lassen. Was werden die Nachbarn sich das Maul zerreißen!«, zeterte Ulla weiter.
Mit meiner Frage versuchte ich, die Situation wieder ins Lot zu bringen: »Wollen Sie lieber einen Moment mit Franz alleine sein und sich in Ruhe verabschieden, bevor wir den Leichnam leider abtransportieren müssen?«
»Sie werden mich nach Hause transportieren, dem Franz tun Sie keinen Gefallen mehr!«, stellte Ulla mit Bestimmtheit fest, als hätte ich selbst draufkommen müssen.
»Das geht leider nicht. Wir sind verpflichtet, Patienten, die im Rettungswagen verstorben sind, ins Kühlhaus des Städtischen Friedhofs zu bringen.«
»So, so, der Knochensack wird gefahren, und ich darf jetzt alleine durch den Regen laufen - ich habe verstanden!« Mit diesen Worten verließ Ulla entrüstet den Rettungswagen, knallte die Tür zu und verschwand im immer noch strömenden Regen.
Wir frühstückten ein paar Tage später gemütlich auf der Wache, als das Telefon klingelte. Hein schlug gerade sein wachsweiches Frühstücksei auf, um anschließend einen Spritzer Maggi zu injizieren, und ich trennte Lachsscheiben voneinander, um sie kunstvoll mit Remoulade zu verzieren, als Jochen, unser Dienststellenleiter vom Tage, den Raum betrat. »Hier, für euch!«, sagte er, legte das schnurlose Telefon der Wache auf unsere morgendliche Festtafel und verschwand.
»Hallo, hallo!«, krächzte es aus dem Hörer des Telefons. Hein nahm das Gerät auf und nuschelte mit Brötchenresten im Mund: »Guten Morgen, Rettungswache Süd, was kann ich für Sie tun?«
» Sie erinnern sich bestimmt nicht mehr an mich, hier spricht Ulla«, begrüßte Frau Schröders den armen Hein.
»Doch, doch!«, antwortete Hein und schaltete gleichzeitig den Lautsprecher zu, sodass ich mithören konnte.
»Sie haben den Franz ja bearbeitet vor zwei Tagen, ich wollte nur noch mal fragen, ob der nicht doch noch kurz vor seinem Abgang irgendwas von meiner PIN-Nummer erzählt hat. «
»Nein! Aber jetzt hab ich mal ne Frage: Woher haben Sie diese Telefonnummer?«, konterte Hein.
Ulla überhörte die Gegenfrage und vergewisserte sich stattdessen: »Sind Sie sicher?«
Heins Gesichtsfarbe veränderte sich, und er legte los: »Wissen Sie was? Sie gehen mir mit Ihrer beschissenen PIN-Nummer auf den Sack! Was ist denn so Wichtiges in Ihrem Handy gespeichert? Die Nummer vom Nagelstudio vielleicht, oder ist es der Hundefriseur? Wissen Sie was? Schauen Sie einfach in irgendein verschissenes Telefonverzeichnis!« Hein legte auf.
Es vergingen nur Sekunden, bis das Telefon erneut läutete. Hein stand auf, kratzte sich das Geschlecht und sagte nur: »Ich muss aufs Klo! « Weg war er, das Telefon läutete immer noch, anscheinend war ich jetzt an der Reihe. »Ja, bitte?«, fragte ich knapp.
»Ah, Sie sind es, ich erkenne Sie an der Stimme wieder. Hier spricht Ulla. Vielleicht erinnern Sie sich. Ich sprach schon mit Ihrem Kollegen, aber der konnte mir nicht weiterhelfen ... «
»Stopp!«, unterbrach ich Ulla barsch. »Ihre PIN-Nummer kenne ich nicht, und Franz, Gott hab ihn selig, hat auch keinen Ton davon erzählt. Es ist Ihnen vielleicht nicht aufgefallen, aber Franz war bei unserer Ankunft schon so gut wie tot. Da erzählt keine Sau mehr was von PIN-Nummern. Haben Sie verstanden, was ich sage?«
»Ja, sicher!«, antwortete Ulla mit völliger Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig holte sie auch schon tief Luft, um fortzufahren: »Es gibt noch ne Sache, die wir zwei dringend besprechen müssen!« Hein war in der Zwischenzeit zurückgekommen und hörte nun seinerseits mit. »Also, es geht um das Brustwarzenpiercing von dem Franz«, begann Ulla. Mir entglitten schon jetzt alle Gesichtszüge.
»Das Ding ist aus echtem Silber, jede Menge Karat, und der Franz wird ja angezündet, der kommt ja in den Ofen, und dann schmilzt das Silber ja. Das wäre doch schade, man muss dem Totengräber ja nix schenken! Können Sie nicht das Piercing besorgen, dann machen wir halbe-halbe!«
Zwischen Fassungslosigkeit und einer abstrakten Belustigung gefangen, legte ich wortlos auf. »Die Alte hat doch einen Pfeil im Kopf!«, kommentierte Hein mein Telefonat mit Ulla, bevor wir weiter frühstückten.
Es vergingen zwei Tage, wir desinfizierten gerade unseren Rettungswagen, als Jochen wieder mit dem schnurlosen Telefon bewaffnet die Fahrzeughalle betrat. »Eine Frau Ulla Schröders für einen von euch beiden. Sie sagt, es sei sehr wichtig.«
»Ich kenne keine PIN-Nummer!«, brüllte Hein und lief in Richtung Toilette, um sich dort einzuschließen. Mit dem sicheren Gefühl, das Falsche zu tun, nahm ich das Telefon entgegen. Es hatte eh keinen Sinn, sich verleugnen zu lassen oder gleich aufzulegen. Ulla würde so lange anrufen, bis sie ihren geistigen Durchfall an den Mann gebracht hatte.
»Was kann ich denn heute für Sie tun?«, fragte ich mit bewusstem Desinteresse in der Stimme.
Ulla legte los: »Ich würde Sie und Ihren Kollegen gerne einladen. Sie waren ja quasi die letzten Menschen, die Franz lebend gesehen haben, na ja, mehr oder weniger. Auf jeden Fall ist der Franz ja jetzt im Ofen gewesen. Zu Hause hinstellen darf ich den Aschenbecher nicht. Das hat die Stadtverwaltung mir verboten. Deshalb ist am Freitagnachmittag um 14:00 Uhr die Strafbestattung. Da wollte ich jetzt mal fragen, ob Sie kommen, wegen dem Kaffee und Kuchen danach, verstehen Sie?«
»Ich verstehe im Augenblick gar nichts. Was um Himmels willen ist eine Strafbestattung?«, fragte ich, allerdings ohne Hoffnung auf eine vernünftige Antwort.
»Der Franz war ja nicht mehr ganz frisch, wenn Sie wissen, was ich meine. Das ganze Geld versoffen und verfickt, na ja, ich will nix sagen, ich hab ja auch noch mitgemacht. Auf jeden Fall, wenn Sie die Beerdigung nicht bezahlen können, wird strafbestattet. Ein Stück Rasen und ne Schieferplatte, das war es! « Ulla hatte es wieder mal geschafft: Ich war sprachlos. Die Einladung zur »Strafbestattung« lehnte ich höflich, aber unverblümt ab.
Nach einer Viertelstunde gab Hein sein selbst gewähltes Gefängnis auf. »Ja, Hein, so ist das! Es gibt solche und solche«, stellte ich vielsagend fest.
»Und es gibt noch die anderen«, ergänzte Hein mit universeller Weisheit.
© SCHWARZKOPF & SCHWARZKOPF
Die Tätigkeit im Rahmen von Feuerwehr und Rettungsdienst bringt es mit sich, dass man zu Ausnahmesituationen gerufen wird. Zumindest ist das die Sichtweise der Personen, die irgendwelche Notrufe tätigen. Die große Mehrzahl der Einsätze hat tatsächlich einen ernstzunehmenden, oft sogar dramatischen Hintergrund, aber manchmal eben auch nicht. Wenn Sie einmal mit Blaulicht und Tatütata durch die Stadt gerast sind, um einen Patienten mit starken Unterbauchschmerzen zu retten, und der Ihnen sagt: »Ich hab Magen-Darm-Grippe. Könnten Sie mir mal die Zeitung aufheben, die ist mir runtergefallen«, dann ahnen Sie bereits, welchen Herausforderungen wir gelegentlich gegenüberstehen. Nein, der Gute war nicht gehbehindert, der Hausarzt hatte lediglich Bettruhe verordnet! In einer solchen Situation gibt es nur zwei Möglichkeiten: Sie drohen dem Patienten mit physischer Gewalt, was verboten ist, oder Sie haben Humor und lachen den Abgründen der Gesellschaft ins Gesicht. Die hier erzählten Geschichten beruhen alle auf Tatsachen und wahren Begebenheiten. Natürlich wurde verfremdet, verän dert und stellenweise auch übertrieben, aber das hat aus meiner Sicht nur Vorteile. Der Unterhaltungswert steigt, und die Nachvollziehbarkeit im Hinblick auf Schweigepflicht und Daten schutz sinkt. Die meisten Geschichten habe ich selbst erlebt, andere sind Erzählungen menschlich verrohter, aber dennoch vertrauenswürdiger Kollegen, und vielleicht hat sich auch hin und wieder ein »neues deutsches Märchen« eingeschlichen.
Sollte Sie das Gefühl beschleichen, sich selbst wiederzuerkennen, so muss ich Sie leider enttäuschen! Alle Personen, Orte und Einsatzabläufe sind so verfremdet, dass Übereinstimmungen mit lebenden oder toten Personen rein zufällig sind.
Bevor Sie nun in das Panoptikum des Rettungsdienstes eintauchen, möchte ich Ihnen noch einige handelnde Personen vorstellen. Zunächst ist da Hein. Hein ist nicht ein einziger Kollege, Hein sind viele. Er ist der übergewichtige, stets schlecht gelaunte Rettungsdienstmuffel, der auf jeder Alarmfahrt das Armaturenbrett verprügelt und eigentlich in eine Burn-out-Therapie gehört. Er ist aber auch der hoch motivierte verständnisvolle und einfühlsame Kollege, der sich rührend um jeden Patienten kümmert. Hein ist so vielseitig und abwechslungsreich wie das Leben selbst. Meist ist er ein hilfsbereiter lieber Kerl, von dem man das letzte Hemd bekommt, solange man nicht versucht, ihn zu verarschen. Es ist Ihnen als Leser überlassen, wie Sie sich Hein rein äußerlich vorstellen. Vielleicht hat er braune Locken, vielleicht hat er aber auch schon eine graue Halbglatze. Verpassen Sie ihm einen Oberlippenbart oder von mir aus auch eine Zahnlücke, lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf! Wenn ich eine Bitte äußern dürfte: Basteln Sie sich einen sympathischen Hein - er hat es verdient!
Ich mag Hein, deshalb wurde er auch zu einer zentralen Figur in diesem Buch. Ein paar Ereignisse beziehungsweise Schicksalsschläge wollte ich Hein aber ersparen. So treffen Sie in manchen Geschichten nicht auf Hein, sondern lernen andere Charaktere kennen. In der schönen Geschichte »Jupp« werden Sie Peters Bekanntschaft machen, in der Geschichte »Es gibt Tage, da verliert man« treffen wir auf meinen Dienststellenleiter Leo, und Mathias hat ein kurzes Gastspiel in der Geschichte »Wohin Einsamkeit führen kann«. Falls nötig sind die Figuren in den jeweiligen Passagen kurz charakterlich beschrieben, um das gegenseitige Kennenlernen etwas zu beschleunigen.
Am Ende bin da noch ich. Gemeinsam mit zahlreichen Kollegen durfte ich eine Vielzahl von Rettungsdiensteinsätzen erleben. In 15 Jahren aktiver Tätigkeit ist einiges passiert: Dramatisches, Trauriges und manchmal auch Unfassbares, aber das ist nur eine Seite der Medaille. Rettungsdienst bietet oft auch eine herrliche Situationskomik; manchmal sind die Einsätze einfach nur skurril, absurd oder schlichtweg witzig. Natürlich ist das alles eine Frage des Humors, aber glauben Sie mir, ich habe öfter ein Lächeln auf den Lippen als eine Träne im Augenwinkel.
Bis dann - in irgendeinem Rettungswagen!
NOTFALL
Umgang mit Angehörigen
Ulla ruft an
Die »Dame« lässt sich kaum definieren, aber man weiß, wenn man einer gegenübersteht.
Scheißwetter!«, bemerkte Hein passend, als wir in den Rettungswagen einstiegen. Das automatische Tor der Fahrzeughalle öffnete sich, und wir wurden Teil eines temporären Weltuntergangs. Schwere Regentropfen prasselten unaufhörlich gegen die Windschutzscheibe, die Scheibenwischer leisteten Schwerstarbeit, kamen aber kaum gegen die Wassermassen an. Ein wässriger Blindflug durch den Berufsverkehr stand uns bevor. Hein und ich waren unterwegs zur Fußgängerzone in der Innenstadt. »Männlicher Patient, Reanimation auf der Straße«, wurde der Leitstelle gemeldet, und so kämpften wir uns nun gegen Aquaplaning und überforderte Verkehrsteilnehmer zur Einsatzstelle.
»Wo war die Einsatzstelle noch mal genau?«, brüllte Hein mich fragend an.
»Am Eingang zur Passage, die zum Schlossgarten führt. Aber warum brüllst du so? «, brüllte ich zurück.
» Der Regen ist so laut!«, meinte Hein mit etwas reduzierter Lautstärke. Er hatte recht. Zwischen Martinshorn, Rauschen im Funkgerät und dem Geprassel des Regens war das eigene Wort kaum zu verstehen. Kurz dachte ich über die Lautstärke von Regen nach, bis mir bewusst wurde, dass unser größtes Problem nicht die Geräuschkulisse, sondern die Feuchtigkeit werden würde. Der Regen ließ nicht nach. Falls wir tatsächlich auf der Straße arbeiten müssten, käme dies einem Miss-Wet-TShirt-Contest gleich.
Wir erreichten die Einsatzstelle. Weder Hein noch ich stiegen aus, stattdessen schauten wir auf die Szenerie, die sich uns bot. Es hatte sich eine Menschentraube gebildet, die eine merkwür dige Regenschirmchoreografie darbot. Der äußere Ring der Men schentraube schützte sich weitgehend selbst. Hier und da wurde der Ring von außen durchbrochen. Wenn ein neuer Schaulustiger eintraf, wollte dieser natürlich auch nach ganz vorn. Dort angelangt, wurden die Regenschirme jedoch genutzt, um irgendetwas in der Mitte Befindliches zu schützen. Ein farbenfrohes Meer aus Schirmen wurde über-, unter-, neben- und ineinander verkeilt gehalten. Natürlich wurden diese Schirmträger nass bis auf die Knochen, und so trat hier und da immer mal wieder jemand die Flucht nach hinten an. Dieses sich selbst erfindende Regenschirmchaos hatte in seiner Farbenpracht etwas von Anmut und Eleganz.
Gern hätte ich noch verweilt, um zuzuschauen, doch es half nichts, wir mussten raus in den Regen. »Wahrscheinlich eh schon zu spät, geh du mal alleine gucken, ich hab echt Angst im Wasser, bin ja ein schlechter Schwimmer«, meinte Hein mit skeptischem Gesicht.
»Hoffentlich bist du bald draußen!«, befahl ich schroff, im Wissen, dass Hein nicht immer alles ernst meinte. Wir machten uns klein und hässlich, um dem Regen möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, dennoch merkte ich schnell, dass der Regen umbarmherzig die Schwachstellen meiner Schutzjacke ausnutzte und der Kampf gegen das Nass bald verloren sein würde. Hein versuchte derweil, sich einen Weg durch den Ring aus Menschen und Schirmen zu bahnen. Man hatte uns noch nicht als Rettungsdienst erkannt, und so wurden wir als Konkurrenten um den besten Platz behandelt. Schirmgriffe wurden unauffällig in die Rippen gestoßen, und man konnte froh sein, wenn man sein Augenlicht nicht einer Schirmspitze opfern musste. Hein brüllte: »Feuer, Feuer!« Das war zwar das Letzte, was zu unserer Situation passte, aber es verfehlte nicht seine Wirkung. Sie können rufen, was Sie wollen, zum Beispiel »Hilfe!«, es wird Sie kaum jemand beachten. Rufen Sie »Feuer!«, und Sie haben die Aufmerksamkeit ihres Umfeldes. Klingt komisch, ist aber so.
Zumindest hatten wir die Menge dazu gebracht, uns wahrzunehmen. Mit etwas mehr Bewegungsfreiheit erreichten wir den inneren Schirmhaufen. Der Eindruck war surreal. In einem bunten undichten Zelt, bestehend aus vielen farbigen Halbkugeln, wurde ein Mann von zwei klatschnassen Frauen wiederbelebt. Es sah aus wie ein modernes Schauspiel mit makaberer Inszenierung. »Guten Tag, Rettungsdienst. Reanimieren Sie bitte weiter, wir brauchen noch einen Augenblick, um uns zu organisieren«, sprach ich die Damen an. Die Helferin, die neben unserem Patienten kniete und eine Herzdruckmassage durchführte, hob den Kopf. Angestrengte Augen schauten mich an: »Machen wir, aber bitte beeilt euch, ich kann gleich nicht mehr!«
»Wie lange sind Sie denn schon dran, und was ist überhaupt vorgefallen?«, fragte Hein seelenruhig und schaute dabei interessiert in ein hin und her wippendes Dekolleté. Durch die Bewegungen der Herzdruckmassage kam die Antwort etwas abgehackt:
»Circa fünfzehn Minuten und vorgefallen ist das richtige Wort. Der Kerl ist vor uns durch durch den Regen gelaufen und plötzlich zusammengebrochen. Wir sind Krankenschwestern und haben uns dann gekümmert!«
Gemeinsam mit Hein hielt ich kurzen Kriegsrat: »Willst du auf der Straße vor den Fans arbeiten oder lieber in Ruhe im Auto?«, stellte ich Hein vor die Wahl. »Lieber im Auto, wir können ja die beiden Krankenschwestern ...«
»Denk nicht mal drüber nach!«, unterbrach ich Hein. »Hol du die Trage, ich unterstütze so lange die beiden!«, fuhr ich im Befehlston fort.
Unterstützung für die Damen tat not. Ich öffnete unseren Notfallrucksack und entnahm einen Beatmungsbeutel. »Hier, bitte sehr, das dürfte die Beatmung etwas angenehmer gestalten«, rief ich der Krankenschwester zu, die neben dem Kopf des Patienten kniete. Zutiefst dankbare Augen schauten mich an. Sie griff den Beutel und setzte die Beatmung gekonnt fort. Mund-zu-Mund- oder auch Mund-zu-Nase-Beatmungen sind nicht immer angenehm. Der Rettungsdienst kann aufgrund einiger technischer Hilfsmittel völlig darauf verzichten. Als Ersthelfer sind Sie aber schnell mal in der Situation, eine fremde Nase samt Oberlippenbart im Mund zu haben. Wenn Sie anfangen nachzudenken, wird es eklig. Ist das jetzt mein Speichel oder sein Nasenschnodder? Fragen wie diese möchte sich niemand stellen müssen. Ich empfehle daher auch privat das Mitführen von Beatmungstüchern, die gibt es für ein paar Euro in der Apotheke.
Die Krankenschwester, die die Brust des Patienten bearbeitete, war dem Zusammenbruch nahe. Neben ihr ging ich auf die Knie und löste sie ab. Erschöpft blieb sie neben mir auf der nassen Straße sitzen. Unser Regenschirmschutzschild offenbarte seine Schwächen. Ein Rinnsal, gebildet aus dem ablaufenden Wasser mehrerer Schirme, lief mir zwischen Jacke und Hose über meinen Lendenwirbelbereich unaufhörlich in die Kimme.
Mit nassem Arsch reanimieren macht gar keinen Spaß. Ich hatte das Gefühl, mir würde die Donau durch die Hose laufen. Meine lautstark vorgetragene Bitte, die Schirme doch anders zu positionieren, verhallte ungehört.
Hein, bitte komm zurück, flehte ich in Gedanken, als eine leicht korpulente Frau mich in rheinischem Akzent von hinten fragte: »Stirbt mein Franz hier heute im Regen?« Völlig irritiert drehte ich den Kopf. Wer sprach da zu mir? Die Antwort gab mir die Helferin, die immer noch neben mir saß: »Das ist die Lebensgefährtin des Herrn, den wir gerade versuchen, im Hier und Jetzt zu behalten.«
»Wir kümmern uns gleich um Sie, es gibt ein paar Fragen, die ich Ihnen stellen muss, bitte bleiben Sie in unserer Nähe«, bat ich die Dame.
»Mache ich sowieso, ich brauch ja noch die PIN-Nummer von dem Handy«, war die etwas merkwürdige Antwort. Der Versuch, gedanklich einen Zusammenhang zu irgendeiner PINNummer herzustellen, wurde von Heins Rückkehr unterbrochen.
Wir wuchteten unseren Patienten auf die Trage, bahnten uns einen Weg durch die lebenden Schirmständer und beeilten uns, den Rettungswagen zu erreichen. Hein öffnete die hinteren Flügeltüren, und ich schob die Trage auf die dafür vorgesehene Halterung. Trage rein, Tür zu, ab ins Trockene. Wir bedankten uns bei den Krankenschwestern für ihren aufopferungsvollen Einsatz und die tatkräftige Unterstützung, schlossen die Türen und ließen sie im Regen stehen. Wir hatten genug zu tun, zum Flirten blieb jetzt keine Zeit. Hein fantasierte zwar noch, dass er keine von beiden von der Bettkante schubsen würde; meine verbale Spitze, dass beide ja auch schon ganz feucht wären, kommentierte er aber nicht mehr.
Die Reanimation wurde im Rettungswagen fortgesetzt, und wir trafen Vorbereitungen, unseren Patienten mit Elektroschocks zu traktieren. Franz - den Namen hatten wir ja in der Zwischenzeit erfahren - machte optisch den Eindruck, die Lebenskerze in der Vergangenheit von zwei Seiten angezündet zu haben. Übergewicht, gelbe Nikotinfinger, verschiedene Tattoos und ein Brustwarzenpiercing dominierten sein Äußeres. Die Tattoos waren besonders imposant. Ein historisches Segel schlacht schiff auf der linken Brust sowie der kunstvoll geschwungene Name »Ulla« auf dem Unterarm waren sein Beitrag zur modernen Körperkunst.
Es klopfte an der Seitentür des Rettungswagens. Bevor wir reagieren konnten, wurde die Tür geöffnet. Dr. Jung und sein Assistent sprangen in den Patientenraum. »Sauwetter!«, bemerkte der eintreffende Notarzt zur Begrüßung. »Die reinste Sintflut da draußen, na ja, egal. Erzählt mir was zu unserem Schätzchen - wieso liegt der Typ so gut wie tot in eurem Auto?« Während weitere medizinische Maßnahmen eingeleitet wurden, machte Hein eine kurze Übergabe.
Durch die eingetroffene Verstärkung hatte ich Zeit, mehr über unseren Franz herauszufinden. In seiner Brief tasche fand ich einen Pass, der ihn als Herzklappenpatient und Diabetiker auswies, ich schaute auf sein Geburtsdatum und schluckte. »Der Kerl hat heute Geburtstag. Wird 53 Jahre alt«, bemerkte ich betroffen.
»Schnickschnack. Sentimentaler Quatsch für Angehörige, ein Tag ist so gut zum Sterben wie jeder andere«, stellte Dr. Jung fest.
Der bis dahin eher wortkarge Assistent meldete sich zu Wort: »Wir brauchen mehr Informationen. Gibt es Angehörige, die wir kennen, oder war jemand bei ihm?«
»Draußen wartet irgendwo seine Lebensgefährtin«, sagte Hein in einem eher beiläufigen Tonfall, als hätte er mit alldem hier nichts zu tun. Alle schauten sich wie Unbeteiligte an, weil alle wussten: Einer muss raus in den Regen und Fragen stellen. Die Frau bei laufender Reanimation in den Rettungswagen zu holen, kam nicht in Frage. Der Notarzt erklärte grinsend, er würde ja gern gehen, es täte ihm leid, aber er habe die Pflicht, beim Patienten zu bleiben. Um es kurz zu machen: Der Rest von uns spielte Schnick-Schnack-Schnuck.
Den Kragen meiner Jacke fest in den Nacken ziehend, verließ ich fluchend den Rettungswagen und schaute mich um. Unter dem kleinen Vordach einer als Litfaßsäule getarnten öffentlichen Toilettenanlage fand ich die Frau von eben wieder. »Guten Tag noch mal, ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen«, begann ich unser Gespräch.
»Gerne, was wollen Sie denn wissen?«, erwiderte sie.
»Zunächst wüsste ich gerne Ihren Namen, und in welcher Beziehung stehen Sie zum Opfer, äähhh, Patienten?«, formulierte ich unbeholfen.
»Ulla Schröders, und wir leben in einer sexuell offenen Beziehung«, war ihre viel zu präzise Antwort. Noch innerlich mit der Frage beschäftigt, ob das gerade ein Angebot war, stellte ich die nächste Frage: »Frau Schröders ...« Hier wurde ich bereits unterbrochen. »Mich nennen alle Ulla!«
» Ulla, leidet Ihr Mann an irgendwelchen Vorerkrankungen? «, beendete ich die ursprüngliche Fragestellung.
»Das ist nicht mein Mann, das ist der Franz!«, wurde ich belehrt.
»Gut, leidet Franz an irgendwelchen Vorerkrankungen? «, fragte ich erneut.
»Ja, warten Sie mal ... «, begann Ulla. Es folgte eine lange Aufzählung von Krankheiten, jede für sich schon dramatisch genug: »Also, das Herz ist irgendwo undicht, glaub ich, so habe ich es zumindest verstanden. Zucker hat er, der geht immer hoch, wenn der Franz sich aufregt, oder war das das mit dem Blutdruck? ... nen Schlag hat er mal gehabt. Die Milz fehlt, die haben sie ihm als Kirmesboxer kaputtgeschlagen, und wenn er viel raucht, kriegt er schlecht Luft ... Können Sie den Franz mal kurz nach der PIN-Nummer von dem Handy fragen?«, bat mich Ulla abschließend.
»Äh, Franz kann im Augenblick nicht sprechen, wir kämpfen gerade um sein Leben.«
»Ja, macht ja nix, dann eben später.«
Entweder die Tante ist extrem abgebrüht, oder die hat ein Stück Seife im Kopf, dachte ich mir noch, während ich meine Befragung fortsetzte: »Gibt es sonst noch irgendetwas, das aus medizinischer Sicht für uns interessant wäre?«
»Tripper! Wir zwei gehen ja seit Jahren zusammen in den Swingerclub von dem Rüdiger an der Autobahn, da hat der Franz sich mal was mitgebracht. Aber sonst fällt mir nix mehr ein«, war die unverblümte Replik.
Ulla war schon eine besondere Erscheinung. Nicht nur ihr unorthodoxer Kommunikationsstil, sondern auch ihr äußerlicher Auftritt machte was her. Für geschätzte Ende vierzig wirkte sie etwas zu jugendlich. Gesträhnte Haare, denen man ansah, dass sie etwas zu oft blondiert worden waren, krönten ihre circa 165 Zentimeter Körpergröße. Die leicht korpulente Figur hatte sie in eine Samtkorsage gezwängt, die mit kleinen Strasssteinen besetzt war. Das restliche Outfit bildeten eine weiße Bluse mit tiefem Ausschnitt, Bluejeans und schwarze High Heels. Über allem wölbte sich ein riesiger Regenschirm mit der Aufschrift: »FRISIERBAR - Waschen - Schneiden - Föhnen - Trinken.« Pfiffiges Konzept, dachte ich mir, die Kundschaft säuft sich das eigene Spiegelbild schön, da dürften Beschwerden und Reklamationen die Ausnahme sein.
Ulla machte auf mich den Eindruck einer typischen Kegelschwester. Jedes Klischee erfüllend, besuchte sie bestimmt zweimal im Jahr eine Ballermannimitation im Sauerland, und nach dem vierten Piccolo war dann ohne Zweifel kein Männerarsch mehr sicher. Noch in Gedanken über Ulla gefangen, stellte ich die überflüssigste aller Fragen: »Kegeln Sie?«
»Ja, ich bin seit neun Jahren Mitglied bei den ›Frechen Hexen‹, aber warum interessiert Sie das, was hat das denn mit meinem Franz zu tun?«
»Äh, nichts, entschuldigen Sie die Frage. Für den Augenblick haben Sie uns sehr geholfen, ich muss jetzt zurück zum Rettungswagen. Bleiben Sie doch bitte hier, ich komme gleich wieder und halte Sie auf dem Laufenden.« Mit diesen Worten entzog ich mich der Situation und machte mich auf den Weg durch den Regen.
Im Rettungswagen angekommen, stellte ich fest, dass Franz in der Zwischenzeit das gesamte Repertoire der modernen Notfallmedizin genossen hatte. Künstlich beatmet, an diverse Apparate angeschlossen und mit verschiedenen Medikamenten vollgepumpt, lag Franz auf der Trage. Mit wenigen Sätzen schilderte ich meinen Kollegen, was Ulla mir berichtet hatte.
»Noch fünf Minuten. Wenn er dann nicht wieder anspringt, schwenken wir die schwarzweiß karierte Flagge des Lebens!«, verkündete Dr. Jung, der als eingefleischter Formel-1-Fan gern Rennsportmetaphern verwendet. Die Zeit verging, doch das Herz von Franz machte keinerlei Anstalten, wieder seinen gewohnten Dienst aufzunehmen. Franz hatte sich entschlossen, seinem Schöpfer gegenüberzutreten. Er war tot.
»Todeszeitpunkt 18:37 Uhr, macht den Knaben mal hübsch für die Verabschiedung, und ich hätte gern einen Totenschein, der Schreibkram bleibt ja doch an mir hängen«, gab unser Notarzt letzte Anweisungen.
»Passen Sie aber auf, dass Sie in der Rubrik Todesursache nicht wieder Ihren eigenen Namen eintragen!«, frotzelte Hein, der mit Dr. Jung seit Jahren einen liebgewonnenen verbalen Kleinkrieg führte. Gerade holte Dr. Jung tief Luft, um zu kontern, als sein Funkmeldeempfänger am Gürtel ein lautes Piepen von sich gab. »Tja, Jungs, ich hätte gern noch mit euch geplaudert, aber ihr hört ja: Ich muss weiter - die Bevölkerung braucht mich! Bringt der Lebensgefährtin schonend bei, was passiert ist, die Leiche wie immer ins Kühlhaus.«
Der Notarzt verließ samt Assistent eiligen Schrittes den Rettungswagen.
»Na super, voll ins Klo gegriffen!«, stellte Hein passend fest. Nachrichten über den Tod eines Angehörigen oder einer nahestehenden Person überbringt niemand gern. Man weiß einfach nicht, wie die Menschen reagieren, von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt ist alles möglich. Bei Ulla konnte ich auch nicht mit Bestimmtheit sagen, wie sie reagieren würde. Nach meinem vorherigen Gespräch war mir jedoch klar, dass man mit unkonventionellen Reaktionen rechnen musste. Hein war durch den Regen gelaufen, um Ulla auf dem Weg zur Abschiednahme im Rettungswagen zu begleiten.
Ulla betrat mit ernster Miene den Patientenraum, legte sanft ihre Hand auf die Schulter des Toten und blickte mich ungläubig an.
»Franz hat es leider nicht geschafft, Ihr Lebensgefährte ist tot«, versuchte ich die richtigen Worte zu finden.
»Fünfzig Euro, wenn ihr weitermacht!«, sagte Ulla fordernd. Hein und ich schauten uns verdutzt an.
» 100 Euro! «, erweiterte Ulla ihr unethisches Angebot.
Hein versuchte, die Lage zu erklären: »Franz ist tot, wir können nichts mehr für ihn tun. «
»Man kann immer was machen! 150 Euro«, überbot sich Ulla.
Hein fuhr sie ungehalten an: »Wir sind doch hier nicht auf dem Basar! Hier ist nicht die erste halbe Stunde umsonst, und dann ist Barzahlung angesagt. Ihr Franz hat abgeschaltet!«
»Dann wird er noch mal eingeschaltet. Der Kerl hat die PINNummer von dem Handy von mir! Die brauch ich. Das ist lebenswichtig! 200 Euro.«
Hein verschränkte ablehnend die Arme, um nonverbal zu signalisieren, dass wir keinesfalls irgendeine Leichenfledderei veranstalten würden. »Franz ist tot, wir können nichts mehr für ihn tun«, wiederholte ich mich.
»Es wäre auch nicht mehr der Franz, den Sie kannten, wenn er irgendwann aus der Klinik entlassen werden würde«, fügte Hein in tröstendem Tonfall hinzu.
»Der braucht mir auch nicht mehr nach Haus zu kommen, der hat heute Geburtstag und lässt mich auf den ganzen Vorbereitungen und auf den Gästen alleine sitzen. Außerdem hat der die PIN-Nummer von dem Handy«, lamentierte Ulla lauthals, holte aus und gab dem toten Franz eine schallende Ohrfeige.
»Meinen Sie, ich kann die Geburtstagsparty heute Abend mit dem Beerdigungs kaffeekränzchen verbinden?«
»Über Pietät lässt sich streiten«, stammelte Hein, der wie ich von der Ohrfeige noch etwas konsterniert war.
»Mich am eigenen Geburtstag alleine zu lassen. Was werden die Nachbarn sich das Maul zerreißen!«, zeterte Ulla weiter.
Mit meiner Frage versuchte ich, die Situation wieder ins Lot zu bringen: »Wollen Sie lieber einen Moment mit Franz alleine sein und sich in Ruhe verabschieden, bevor wir den Leichnam leider abtransportieren müssen?«
»Sie werden mich nach Hause transportieren, dem Franz tun Sie keinen Gefallen mehr!«, stellte Ulla mit Bestimmtheit fest, als hätte ich selbst draufkommen müssen.
»Das geht leider nicht. Wir sind verpflichtet, Patienten, die im Rettungswagen verstorben sind, ins Kühlhaus des Städtischen Friedhofs zu bringen.«
»So, so, der Knochensack wird gefahren, und ich darf jetzt alleine durch den Regen laufen - ich habe verstanden!« Mit diesen Worten verließ Ulla entrüstet den Rettungswagen, knallte die Tür zu und verschwand im immer noch strömenden Regen.
Wir frühstückten ein paar Tage später gemütlich auf der Wache, als das Telefon klingelte. Hein schlug gerade sein wachsweiches Frühstücksei auf, um anschließend einen Spritzer Maggi zu injizieren, und ich trennte Lachsscheiben voneinander, um sie kunstvoll mit Remoulade zu verzieren, als Jochen, unser Dienststellenleiter vom Tage, den Raum betrat. »Hier, für euch!«, sagte er, legte das schnurlose Telefon der Wache auf unsere morgendliche Festtafel und verschwand.
»Hallo, hallo!«, krächzte es aus dem Hörer des Telefons. Hein nahm das Gerät auf und nuschelte mit Brötchenresten im Mund: »Guten Morgen, Rettungswache Süd, was kann ich für Sie tun?«
» Sie erinnern sich bestimmt nicht mehr an mich, hier spricht Ulla«, begrüßte Frau Schröders den armen Hein.
»Doch, doch!«, antwortete Hein und schaltete gleichzeitig den Lautsprecher zu, sodass ich mithören konnte.
»Sie haben den Franz ja bearbeitet vor zwei Tagen, ich wollte nur noch mal fragen, ob der nicht doch noch kurz vor seinem Abgang irgendwas von meiner PIN-Nummer erzählt hat. «
»Nein! Aber jetzt hab ich mal ne Frage: Woher haben Sie diese Telefonnummer?«, konterte Hein.
Ulla überhörte die Gegenfrage und vergewisserte sich stattdessen: »Sind Sie sicher?«
Heins Gesichtsfarbe veränderte sich, und er legte los: »Wissen Sie was? Sie gehen mir mit Ihrer beschissenen PIN-Nummer auf den Sack! Was ist denn so Wichtiges in Ihrem Handy gespeichert? Die Nummer vom Nagelstudio vielleicht, oder ist es der Hundefriseur? Wissen Sie was? Schauen Sie einfach in irgendein verschissenes Telefonverzeichnis!« Hein legte auf.
Es vergingen nur Sekunden, bis das Telefon erneut läutete. Hein stand auf, kratzte sich das Geschlecht und sagte nur: »Ich muss aufs Klo! « Weg war er, das Telefon läutete immer noch, anscheinend war ich jetzt an der Reihe. »Ja, bitte?«, fragte ich knapp.
»Ah, Sie sind es, ich erkenne Sie an der Stimme wieder. Hier spricht Ulla. Vielleicht erinnern Sie sich. Ich sprach schon mit Ihrem Kollegen, aber der konnte mir nicht weiterhelfen ... «
»Stopp!«, unterbrach ich Ulla barsch. »Ihre PIN-Nummer kenne ich nicht, und Franz, Gott hab ihn selig, hat auch keinen Ton davon erzählt. Es ist Ihnen vielleicht nicht aufgefallen, aber Franz war bei unserer Ankunft schon so gut wie tot. Da erzählt keine Sau mehr was von PIN-Nummern. Haben Sie verstanden, was ich sage?«
»Ja, sicher!«, antwortete Ulla mit völliger Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig holte sie auch schon tief Luft, um fortzufahren: »Es gibt noch ne Sache, die wir zwei dringend besprechen müssen!« Hein war in der Zwischenzeit zurückgekommen und hörte nun seinerseits mit. »Also, es geht um das Brustwarzenpiercing von dem Franz«, begann Ulla. Mir entglitten schon jetzt alle Gesichtszüge.
»Das Ding ist aus echtem Silber, jede Menge Karat, und der Franz wird ja angezündet, der kommt ja in den Ofen, und dann schmilzt das Silber ja. Das wäre doch schade, man muss dem Totengräber ja nix schenken! Können Sie nicht das Piercing besorgen, dann machen wir halbe-halbe!«
Zwischen Fassungslosigkeit und einer abstrakten Belustigung gefangen, legte ich wortlos auf. »Die Alte hat doch einen Pfeil im Kopf!«, kommentierte Hein mein Telefonat mit Ulla, bevor wir weiter frühstückten.
Es vergingen zwei Tage, wir desinfizierten gerade unseren Rettungswagen, als Jochen wieder mit dem schnurlosen Telefon bewaffnet die Fahrzeughalle betrat. »Eine Frau Ulla Schröders für einen von euch beiden. Sie sagt, es sei sehr wichtig.«
»Ich kenne keine PIN-Nummer!«, brüllte Hein und lief in Richtung Toilette, um sich dort einzuschließen. Mit dem sicheren Gefühl, das Falsche zu tun, nahm ich das Telefon entgegen. Es hatte eh keinen Sinn, sich verleugnen zu lassen oder gleich aufzulegen. Ulla würde so lange anrufen, bis sie ihren geistigen Durchfall an den Mann gebracht hatte.
»Was kann ich denn heute für Sie tun?«, fragte ich mit bewusstem Desinteresse in der Stimme.
Ulla legte los: »Ich würde Sie und Ihren Kollegen gerne einladen. Sie waren ja quasi die letzten Menschen, die Franz lebend gesehen haben, na ja, mehr oder weniger. Auf jeden Fall ist der Franz ja jetzt im Ofen gewesen. Zu Hause hinstellen darf ich den Aschenbecher nicht. Das hat die Stadtverwaltung mir verboten. Deshalb ist am Freitagnachmittag um 14:00 Uhr die Strafbestattung. Da wollte ich jetzt mal fragen, ob Sie kommen, wegen dem Kaffee und Kuchen danach, verstehen Sie?«
»Ich verstehe im Augenblick gar nichts. Was um Himmels willen ist eine Strafbestattung?«, fragte ich, allerdings ohne Hoffnung auf eine vernünftige Antwort.
»Der Franz war ja nicht mehr ganz frisch, wenn Sie wissen, was ich meine. Das ganze Geld versoffen und verfickt, na ja, ich will nix sagen, ich hab ja auch noch mitgemacht. Auf jeden Fall, wenn Sie die Beerdigung nicht bezahlen können, wird strafbestattet. Ein Stück Rasen und ne Schieferplatte, das war es! « Ulla hatte es wieder mal geschafft: Ich war sprachlos. Die Einladung zur »Strafbestattung« lehnte ich höflich, aber unverblümt ab.
Nach einer Viertelstunde gab Hein sein selbst gewähltes Gefängnis auf. »Ja, Hein, so ist das! Es gibt solche und solche«, stellte ich vielsagend fest.
»Und es gibt noch die anderen«, ergänzte Hein mit universeller Weisheit.
© SCHWARZKOPF & SCHWARZKOPF
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Autoren-Porträt von Jörg Nießen
Nießen, JörgJörg Nießen wurde 1975 im Rheinland geboren. Zum Rettungsdienst kam er als Zivildienstleistender. Danach wurde er Berufsfeuerwehrmann in einer nordrhein-westfälischen Großstadt und lernte dadurch jede Facette des Lebens und Sterbens persönlich kennen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jörg Nießen
- 2010, 224 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Schwarzkopf & Schwarzkopf
- ISBN-10: 3896029916
- ISBN-13: 9783896029911
- Erscheinungsdatum: 15.09.2010
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