Der Rache süßer Klang
Sue und ihr verstörter Sohn suchen Zuflucht im Frauenhaus. Bei ihrem Anblick hat die Leiterin Dana Dupinski keinen Zweifel an der Geschichte vom gewalttätigen Ehemann.
Sie ahnt nicht, dass sie damit dem Tod die Türe öffnet. Denn...
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Produktinformationen zu „Der Rache süßer Klang “
Sue und ihr verstörter Sohn suchen Zuflucht im Frauenhaus. Bei ihrem Anblick hat die Leiterin Dana Dupinski keinen Zweifel an der Geschichte vom gewalttätigen Ehemann.
Sie ahnt nicht, dass sie damit dem Tod die Türe öffnet. Denn Sue ist in Wahrheit eine psychopathische Killerin.
Lese-Probe zu „Der Rache süßer Klang “
Der Rache süßer Klang von Karen RoseProlog
Western Florida
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5. Juni, 14.30 Uhr
Es war eine traditionelle Beerdigung gewesen. Ein
paar Trauergäste trugen grüne Golfhosen aus Polyester,
aber die meisten hatten sich trotz der feuchten Hitze
Floridas schwarz gekleidet.
Von ihrem Beobachtungsposten aus fünf Grabsteinen Entfernung
konnte Sue Conway den Geistlichen das übliche
»Asche zu Asche, Staub zu Staub« intonieren hören. Sie
blickte auf die Blumen herab, die sie auf das ihr unbekannte
Grab gelegt hatte, und zog die Brauen zusammen. Die
verdammte Beerdigung war beinahe vorüber, ohne dass
die eine Person aufgetaucht war, die sie zu sehen gehofft
hatte.
Der Geistliche trat zurück, damit die Trauernden Abschied
nehmen konnten. Die Leute waren noch immer wie betäubt,
wie man dem ungläubigen Gemurmel entnehmen
konnte, das Sue durch das kleine Knopfmikro in ihrem
Ohr vernahm.
»Und ich habe mich hier einmal sicher gefühlt«, sagte
jemand.
»Unsere Gegend wird nie wieder dieselbe sein«, sagte ein
anderer.
»Ich habe früher meine Tür nie verriegelt. Ihr könnt sicher
sein, dass ich das jetzt tue.«
Es war das erste Mal, dass jemand aus ihrem Kreis ermordet
worden war. Und dass es so grausam geschehen war,
ging über das Begreifen hinaus.
Dieser Mord war nicht ihr erster gewesen, aber er hatte ihr
mehr Vergnügen bereitet als jeder andere. Das Stöhnen,
das Knirschen der Knochen unter ihren Händen. Das
sprudelnde Blut, wenn sie schnitt, immer nur ein wenig.
Sie hatte noch lange danach davon geträumt, von jedem
Aufschrei, jedem Schnitt in Fleisch und Knochen, von
jedem Blutstropfen. Es war ein reines, unverdorbenes Vergnügen
gewesen. Etwas, an das sie sich klammern konnte,
während sie ihre Suche fortsetzte.
Denn selbst unter der Folter hatte ihr Opfer ihr nicht das
gegeben, wonach sie verlangt hatte. Sie musste also weitersuchen,
und wenn sie gefunden hatte, was sie wirklich
haben wollte ... dann würde dieser Mord in der Rückschau
wie ein Spaziergang wirken. Sie hatte viele Jahre
aufzu holen, so viele Fantasien aufgestaut, hatte so unfassbar
viel zurückzuzahlen. Aber sie konnte das Stück nicht
beginnen, bevor nicht alle Teilnehmer auf der Bühne standen.
Denn wenn sie erst einmal angefangen hatte, gab es kein Zurück.
Sie kniete nieder und tat, als ob sie betete, während der
Gottesdienst endete und die Leute sich zerstreuten. Einige
Minuten verstrichen, dann hörte sie die heisere Stimme des
Friedhofdirektors.
»Lasst ihn runter, Jungs.«
Sue zog rasch das Mikro aus dem Ohr, bevor das Rumpeln
des Sargs, der in die Erde hinabgelassen wurde, ihr Trommelfell
beschädigte. Sie seufzte. Die Show war vorbei, und
der Ehrengast war nicht erschienen. Sie stand auf, klopfte
sich die Erde vom Rock und machte sich auf den Weg zu
ihrem Wagen, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung
bemerkte, die sie innehalten ließ.
Sie trat hinter eine große Grabanlage und beobachtete, wie
ein kleiner Wagen mit Avis-Aufkleber auf die Zufahrt zu
diesem Teil des Friedhofs bog. Der Wagen hielt, und die
Person, die gefahren war, stieg aus.
Sues Herz begann zu hämmern. Hundert verschiedene
Gedanken rasten durch ihren Kopf. Endlich war das Wort,
das alle anderen schließlich überlagerte. Nur mit Mühe
gelang es ihr, einen triumphierenden Schrei zu unterdrücken.
Der Ehrengast war also endlich gekommen. Nun konnte
das Spiel der Vergeltung beginnen. Aber sie musste behutsam
vorgehen und sich an ihren Plan halten, denn es war
wichtig, dass alle Puzzleteile am richtigen Platz lagen.
Nun hielt sie die Karten in der Hand. Nun hatte sie die
Macht.
Fürchte dich. Ich komme.
1
Wight's Landing, Isle of Wight Bay, Maryland
Mittwoch, 28. Juli, 2.00 Uhr
Autsch. Das tut weh. Das war sein erster Gedanke, als
sich die Finger in seine Schulter gruben und ihn
schüttelten. Fest. Es tat wirklich weh. Hör auf.
Wieder wurde er geschüttelt, aber er schlug die Augen
nicht auf. Es konnte noch nicht Morgen sein. Er holte Luft
und roch ihr Parfum. Das war nicht fair. Sie hatte versprochen,
dass er die ganze Woche frei haben würde. Keine
Lektionen. Keine Lernkarten. Keine blöden Wortspiele,
keine Sprachtherapie. Nur Sonne, Strand und Spaß. Angeln,
Krebse fangen. Auf den Wellen reiten. Den ganzen
Abend Videospiele. Schlafen, solange er wollte. Aber nun
rüttelte sie ihn einfach wach.
Sie würde ihr Versprechen brechen. Das taten sie früher
oder später alle. Also würde er die Sache eben einfach aussitzen,
wie er es bei den anderen Sprachtherapeuten auch
gemacht hat. Sie würde aufgeben und verschwinden, wie
alle anderen auch. Cheryl hatte allerdings länger bei ihm
ausgehalten als die meisten anderen. Das musste er ihr
lassen.
Er schlug nach ihrer Hand und versuchte, sich auf die Seite
zu rollen, aber sie packte ihn und zog ihn am T-Shirt hoch.
Ihre Hand verschloss seinen Mund, als er endlich die Augen
aufriss. Und in ihr Gesicht blickte, das im Mondlicht
geisterhaft weiß aussah. Ihre dunklen Augen waren riesig
und ängstlich. Nein, nicht einfach ängstlich. Cheryl war in
Panik, und augenblicklich packte auch ihn die Furcht. Er
hörte auf, sich zu wehren.
»Kein Wort«, formulierte sie lautlos mit den Lippen. Er
nickte. Sie nahm die Hand von seinem Mund, zog ihn vom
Bett und drückte ihm den Signalprozessor in die Hand.
Normalerweise mochte er das Hörgerät für vollständig
Taube nicht anlegen, wehrte sich dagegen, solange er
konnte, aber nicht jetzt. Nun schob er ihn ohne Protest
hinters Ohr.
Und fuhr zusammen, als das Dröhnen einsetzte. Als der
Prozessor »seine Ohren einschaltete«, wie Cheryl sagen
würde. Mit einem Schlag war die ruhige, stille Welt seiner
Taubheit zu einer lauten, schmerzhaften Kakophonie geworden.
Er konzentrierte sich. Um zu hören, was in diesem
Getöse für ihn bedeutend war. Aber sie sagte nichts,
sondern zog ihn nur durch das Zimmer zum Schrank.
Sie schob ihn hinein und drückte ihn zu Boden. Hockte
sich hin, um ihm in die Augen zu sehen.
»Da unten ist jemand.« Sie flüsterte und machte gleichzeitig
die Zeichen, und er sah, dass ihre Hand zitterte. Ihr
ganzer Körper zitterte. »Paul sieht nach. Komm nicht
raus, bevor ich dich hole.« Sie packte sein Kinn. »Hast du
verstanden? Bleib hier. Und keinen Mucks.«
Er nickte, und sie richtete sich hastig auf und riss den Stapel
Schwimmwesten, den sein Vater hier verstaut hatte,
aus dem Regalfach. Muffiger Geruch hüllte ihn ein, als sie
ihn damit bedeckte. Und dann schloss sich die Tür, und er
war allein in der Dunkelheit.
Er versteckte sich. Wie ein Feigling.
Wut keimte in ihm auf und mischte sich mit der Angst. Er
war kein Feigling. Er würde bald dreizehn sein, um Himmels
willen. Und sie hatte ihn wie ein Kleinkind in den
Schrank gesteckt. Hatte ihn unter einem Haufen Schwimmwesten
vergraben, während Paul nachsah. Behutsam schob
er die Westen zur Seite, bis er etwas sehen konnte, und
starrte auf die Schranktür. Was sollte er tun? Ganz gewiss
nicht hier ausharren, während irgendein Kerl ins Haus
einbrach. Ganz gewiss nicht zulassen, dass Paul nachher
für seinen ach so mutigen Einsatz gelobt wurde.
Ein Lichtschein drang durch den Türspalt, und sein Mut
löste sich in nichts auf. Da war jemand ins Zimmer
gekommen. Er rutschte zurück in die Schrankecke und
spürte sein Herz hämmern. Seine Nackenhaare richteten
sich auf, und er schauderte unwillkürlich. Nein. Ich muss
etwas tun!
Durch den tosenden Lärm drang plötzlich ein Schrei.
Cheryl! Ich muss ihr helfen!
Aber sein Körper war erstarrt. Erstarrt zu einem nutzlosen
Gewicht unter einem Haufen Schwimmwesten. Er konzentrierte
sich, lauschte. Sperrte das Dröhnen aus, wie
Cheryl es ihm beigebracht hatte. Und lauschte.
Nichts. Nichts war zu hören. Sie waren fort. Er sollte aufstehen.
Sollte er.
Dann ein Krachen, so laut, dass es ihm wehtat. Sein Kopf
fuhr zurück, knallte gegen die Schrankwand, und ein heftiger
Schmerz durchfuhr ihn.
Eine Waffe! Sie hatten eine Waffe. Jemand hatte geschossen.
Cheryl! Sie hatten sie erschossen.
Und sie würden auch ihn erschießen. Oder Schlimmeres
machen. Tu was. Tu endlich was!
Was?
Er wusste es nicht. Er wusste nicht, was er tun sollte. Dad!
Was würde sein Vater tun?
Er spürte einen scharfen Schmerz in der Brust. Er war zu
alt, um nach seinen Eltern zu weinen, aber er wünschte sich
so sehr, dass sie hier wären. Wünschte, sie wären nicht ausgerechnet
heute nach Annapolis gefahren. Sie hatten Hochzeitstag.
Wollten tanzen gehen. Sie würden nach Hause
kommen und seine Leiche finden. Mom würde weinen.
Er blinzelte und bemerkte, dass sein Gesicht nass war. Er
versteckte sich im Schrank und heulte, während sie Cheryl
umbrachten. Und er konnte sich nicht regen!
Er fuhr zusammen, als der zweite Schuss ertönte, gedämpfter
diesmal. Und Schreie.
Sie schrie. Dann lebte sie noch. Schreien. Der Lärm drang
ihm wie Messer ins Hirn. Er konnte es hören, spüren. Millionen
Messer, die zustachen. Mit hämmerndem Herzen
und bebenden Fingern riss er den Prozessor vom Ohr.
Und es war still. Minuten verstrichen in atemloser Stille.
Dann öffnete sich die Schranktür.
Er drängte sich in den hintersten Winkel, kniff die Augen
zusammen, presste die Lippen aufeinander. Versuchte,
kein Geräusch zu machen. Eine Schwimmweste wurde
fortgezogen. Dann noch eine. Und noch eine. Der muffi ge
Geruch war weg, und er spürte frische Luft auf dem
Gesicht.
Er zwang sich, die Augen zu öffnen. Ein Wimmern steckte
in seinem Hals, als er aufblickte.
Sie war groß, größer als Cheryl. Massiger. Ihre Haare eine
wilde Mähne.
Ihre Augen verrückt. Weiß. Sie hat weiße Augen.
Ihre Lippen waren zu einem Lächeln verzogen, einem
grausamen Lächeln, und er wollte schreien.
Aber er tat es nicht. Denn ihr T-Shirt war voller Blut, und
die Pistole in der Hand war auf ihn gerichtet.
Eastern West Virginia
Donnerstag, 29. Juli, 3.30 Uhr
Das schrille Klingeln ihres Handys ließ sie augenblicklich
erwachen. Sie hatte einen leichten Schlaf. Das war nicht immer
so gewesen, aber das Gefängnis veränderte einen nachhaltig.
Und obwohl sie schon sechs Monate draußen war,
war dies eine lästige Angewohnheit, die geblieben war. Obwohl
sie schon sechs Monate draußen war, dachte sie beim
Aufwachen noch immer als Erstes ans Gefängnis.
Und allein dafür musste jemand bezahlen.
Nur ihr Bruder Bryce kannte ihre Handynummer, und
doch blieb sie misstrauisch. »Ja?«
»Ich bin's.«
Sie setzte sich auf und verfluchte ihren steifen Nacken. Die
Rückbank eines Kleinwagens war nicht gerade komfortabel,
aber sie hatte schon in schlechteren Betten geschlafen.
»Sind sie zu Hause?« Ihr Herzschlag beschleunigte sich,
ihre Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Die
Vaughns waren zurück. Hatten das Chaos in ihrem Haus
entdeckt. Das leere Bett. Den Zettel auf dem Kopfkissen.
Das Geschenk im Schuppen. Sie würden sich entsetzlich
fürchten. Sie würden weinen. Sie würden machtlos sein.
Machtlos. Das war nicht annähernd genug, aber es war ein
verdammt guter Anfang.
»Ich b-bin n-nicht s-sicher«, stotterte Bryce furchtsam.
Ihr Triumph löste sich rasch auf. »Was soll das heißen?«,
fragte sie mit beherrschter Stimme. Wenn er die Sache verdorben
hatte, würde er weit mehr Grund haben, sich zu
fürchten. »Wo bist du?«
»Im Gefängnis.« Sie schloss die Augen. Rief sich in Erinnerung,
dass das Prepaid-Handy, das sie in Maryland gekauft
hatte, nicht zurückzuverfolgen war. Dennoch brachte
sie der Gedanke, dass er sie aus dem Gefängnis anrief,
zum Kochen. »Die haben mich verhaftet, weil ich einen
Laden ausgeraubt habe. Du musst mich hier rausholen.«
Ihr Lachen war kalt. Sie standen kurz davor, Millionen zu
verdienen, und er raubte einen gottverdammten Laden aus.
»Du willst, dass ich dich raushole? Du machst Witze.«
»Verdammt noch mal«, zischte er. »Ich hab dich angerufen,
weil ... du weißt schon. Ich hätte auch Earl anrufen
k-können.«
Er hatte sie angerufen, weil er nicht länger auf seinem Posten
war. Weil er nicht länger das Haus der Vaughns beobachtete,
um ihr Bericht zu erstatten. Weil er ihr nicht mehr
sagen konnte, ob sie nach Hause gekommen waren und ob
sie die verdammten Bullen gerufen hatten.
»Du bist erst siebzehn. Die hauen dir auf die Finger und
stecken dich in die Jugend.«
»Nein!« Bryces Flüstern war voller Angst. »Sie haben gesagt,
die wollen mich wie einen Erwachsenen behandeln.
Ich komme in den Knast. B-bitte«, flehte er. »Hol mich
doch hier raus.«
Dass sie und Bryce dasselbe Erbgut hatten, kam ihr unmöglich
vor. Und selbst die Tatsache, dass dem so war,
würde sie nicht dazu bringen, jetzt den Kopf für ihn hinzuhalten.
Aber sie musste ihn aus dem Gefängnis herausholen,
bevor irgendein windiger Anwalt ihn dazu veranlasste,
alles auszuspucken. Dass Bryce seine stotternde Klappe
halten würde, war nicht zu hoffen; er würde auch unter
überaus zivilisierten Verhörmethoden plappern wie eine
alte Klatschtante. Bei Onkel Earl aufzuwachsen hatte sein
Hirn zersetzt. Bei Tante Lucy aufzuwachsen hatte seinen
Willen zersetzt. Es war eine Schande, dass sie sich nicht
selbst um seine Erziehung hatte kümmern können, aber
sie war ... indisponiert gewesen. Inhaftiert. Und nun war
auch Bryce auf dem Weg dorthin. Ihr Vater musste im
Grab rotieren wie ein Hähnchen am Spieß.
»Ich rufe Earl an«, sagte sie barsch. »Ich behaupte, ich sei
eine Angestellte im Gefängnis.« Dass ihr Onkel ihre Stimme
erkennen würde, war unwahrscheinlich, da sie seit Jahren
nicht miteinander gesprochen hatten. »Wo bist du?«
»O-Ocean City.«
Wenigstens war er schlau genug gewesen, es nicht in diesem
elenden Kaff namens Wight's Landing zu tun. Ocean City
war eine Stunde Fahrt entfernt. Niemand würde die zwei
Ereignisse miteinander in Verbindung bringen, selbst wenn
die Vaughns die Bullen riefen. »Ich melde mich bei Earl. Du
hältst den Mund und die Augen offen.« Sie grinste. »Und
wenn jemand die Seife fallen lässt, bück dich nicht, um sie
aufzuheben.«
»D-das ist nicht l-lustig, Sue.«
Als sie ihn ihren Namen nennen hörte, schwand das Grinsen
augenblicklich. »Nein, ist es nicht. Und dass du mich
aus dem Knast anrufst, auch nicht.« Sie brach die Verbindung
ab und starrte aus dem Rückfenster in den dunklen
Wald, in dem sie geparkt hatte, um ein wenig zu schlafen.
Sie war weit weg von allen größeren Straßen, und das
schon, seit sie am Morgen zuvor die Ostküste Marylands
verlassen hatte.
Sie war nur langsam vorangekommen, weil sie alle paar
Stunden anhalten musste, um dem Kind im Kofferraum zu
trinken zu geben, damit es nicht dehydrierte, aber es war
besser, die großen Straßen zu meiden. Sie war nicht sicher,
wann die Vaughns wieder zu Hause eintreffen würden,
und obwohl sie sie gewarnt hatte, nicht die Polizei zu informieren,
konnten sie es dennoch tun. Aber sie würden
sie nicht kriegen. Zu viel stand auf dem Spiel. Der Preis,
der auf sie wartete, war zu wertvoll.
Sie stieg aus dem Wagen und machte den Kofferraum auf.
Betrachtete die zwei Gestalten darin, die sich wie Föten
zusammengerollt hatten. Sie waren noch da, sie waren
noch gefesselt.
Ihr Preis. Ihre Rache.
Alexander Quentin Vaughn. Ein großer Name für ein so
schmächtiges Kind. Er war zwölf, sah aber nicht älter als
zehn aus. Bryce hatte es hübsch treffend ausgedrückt, als
sie den Bengel, der sich im Schrank des Strandhauses versteckt
hatte, gesehen hatten. »Sieht nicht aus, als ob er 'ne
Million wert ist.« Aber wörtlich genommen hatte er Recht.
Der Junge war fünfmal so viel wert.
Aber Geld war nicht alles.
Manchmal war die Rache bedeutender.
Und wenn man beides gleichzeitig bekommen konnte ...
war das ausgleichende Gerechtigkeit.
Alexander Quentin Vaughn und seine Sprachtherapeutin,
die sich gewehrt hatte wie eine Löwin. Cheryl Rickman
hätte in Zukunft ein Leibwächter-Gehalt verdienen können,
falls sie denn eine Zukunft gehabt hätte, was natürlich
nicht der Fall war. Und der entsetzte Ausdruck ihrer Augen
belegte, dass sie das auch wusste. Sue hatte Rickman
nur deshalb bisher am Leben gelassen, weil sie mit dem
Jungen kommunizieren konnte.
Der Junge versuchte gerade, seine Tränen zurückzudrängen.
Versuchte zurückzuweichen, bis sein magerer Körper
gegen Rickmans stieß. Ihn zu fesseln war wahrscheinlich
unnötig gewesen. Triefend nass konnte er nicht mehr als
achtzig Pfund wiegen, und er kämpfte wie eine Gummipuppe.
Der Knebel war wahrscheinlich auch überfl üssig,
aber Sue war sich nicht sicher, ob er nicht schreien konnte.
Taubstumm zu sein bedeutete nicht, keine Laute aus stoßen
zu können.
Seine Behinderung hatte Sue anfangs ein wenig durcheinandergebracht.
Sie hatte eindeutig eine gute und eine
schlechte Seite. Er konnte den Leuten, die sie auf dem Weg
trafen, zwar nichts verraten, aber er konnte auch seine
Eltern nicht herzerweichend anflehen, das Lösegeld zu
bezahlen. Sehr schade. Sie hatte sich auf dieses Flehen so
gefreut. Aber so musste man eben umdisponieren.
Annehmen, anpassen, verbessern. Ein guter Leitsatz. Witzigerweise
der ihres alten Herrn. Wenn sie nicht die Stimme
des Kindes verwenden konnte, würde sie eben sein
Gesicht nehmen. Ein Foto sagte mehr als tausend Worte.
Sie blickte hinab auf ihre Geisel, auf ihren Gewinn, und
spürte, wie sie die Kontrolle zurückerlangte. Bryces Verhaftung
hatte im Grunde nur wenig geändert. Solange sie
ihn da herausholte, bevor er einem übereifrigen Rechtsverdreher
irgendetwas erzählen konnte, hatte sie nur einen
Beobachtungsposten eingebüßt. Und es wäre zwar schön
gewesen, von Bryce zu hören, wie entsetzt die Vaughns
gewesen waren, aber letztendlich spielte es keine Rolle.
Sicher hätte es ihr genützt zu wissen, ob Streifenwagen vor
dem Strandhaus standen, aber auch die Bullen würden sie
nicht kriegen. Sie würde schon weit, weit weg sein und
sich in Earls Haus verstecken. Das musste sich nicht
ändern. Es war sogar noch einfacher, wenn Earl und Lucy
unterwegs waren, um Bryce aus dem Knast zu holen. So
würde Sue das Haus noch ein paar Tage für sich haben.
Und wenn sie aus Maryland zurückkehrten, würden Earl
und Lucy und sie Wiedersehen feiern. Ein Wiedersehen,
das sie mit Begeisterung geplant hatte. Sie nahm ihr Telefon
und wählte Earls Nummer. Er würde noch schlafen
und benebelt abnehmen. Keine Chance, dass er ihre Stimme
erkannte.
Beim ersten Klingeln wurde abgehoben. »Ja?«, erklang
eine tiefe Stimme.
Sue erstarrte, jeder Muskel bis zum äußersten angespannt.
Die Stimme war nicht schläfrig oder benebelt. Die Stimme
war auch nicht Earls. Sie sagte nichts, brachte kein Wort
heraus. Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte
leise.
»Bist du's, Bryce?« James. Sue gefror das Blut in den
Adern. Unmöglich. James war tot. Sie selbst hatte ihm die
Kehle aufgeschlitzt. Aber offensichtlich nicht gründlich
genug.
»Nicht Bryce?«, sagte er freundlich. »Dann musst du Sue
sein. Sue, wie geht's dir denn so?« Seine Stimme verhärtete
sich. »Ein Rat von mir und ganz umsonst. Wenn du
jemanden umbringen willst, dann vergewissere dich, dass
er wirklich tot ist. Und? Willst du mit deinem Onkel Earl
reden?« Ein Stöhnen drang durch das Telefon. »Tja, leider
kann er gerade nicht rangehen.«
Sue knirschte mit den Zähnen. »Du Dreckschwein. Finger
weg von ihnen.«
»Na, na, liebe Sue, du als brave kleine Nichte. Ich bin
wirklich schockiert.« So klang er nun wirklich. Schockiert.
»Du willst Onkel und Tante, die du verabscheust, beschützen?
«
»Nicht beschützen, du Arschloch«, zischte sie. Finger weg,
weil sie mir gehören. Um sie zu töten. Um sie weinen und
schluchzen und stöhnen zu hören. Sie hatte Pläne mit ihnen.
Dieser Mistkerl.
James unterdrückte ein Lachen. »Du wolltest Onkel und
Tante umbringen, so wie du die Frau in Florida umgebracht
hast. Aber diesmal bin ich dir zuvorgekommen.
Ach, Sue, du bist köstlich.«
Er wusste von dem Mord in Florida. James Lorenzano
wusste zu viel. Sie hätte sich tatsächlich vergewissern müssen,
dass er tot war, aber jemand war gekommen, und sie
hatte rasch verschwinden müssen. Und jetzt war er gewarnt.
Verdammt! Sie musste ihm aus dem Weg gehen.
»Danke.«
»Gern geschehen. Und vergiss nie, dass ich viel mehr über
dich weiß als du über mich. Ich finde dich, Sue. Du weißt
es. Und wenn es so weit ist, bist du tot.«
Ein kalter Schauder schüttelte sie. Ja, er konnte sie fi nden.
James wusste, wie man Leute aufstöberte. Deshalb hatte
sie ihn ja engagiert. Dann richtete sie sich entschlossen auf.
»Nein, du wirst mich nicht fi nden.«
Sie unterbrach die Verbindung und atmete ein paar Mal
tief durch, um sich zu beruhigen. James lebte. Das war
nicht leicht zu verdauen. Und er war bei Earl und Lucy.
Was bedeutete, dass sie nicht nur darauf verzichten musste,
die beiden sich vor Schmerzen winden zu sehen. Sie
brauchte jetzt auch einen neuen Unterschlupf.
Annehmen, anpassen, verbessern. Sie würde ihr Ziel nicht
ändern. Es musste Chicago sein. Keine andere Stadt konnte
diese ersetzen. Kein anderer Ort bedeutete Rache.
Also musste sie sich dort ein Versteck suchen. Nur lange
genug, bis sie ihr Geld und ihre Rache hatte. Mit dem Geld
konnte sie das Land verlassen und James entkommen.
Die Rache ... nun, die war unerlässlich. Ohne sie gab es
wenig Grund, am Leben zu bleiben.
Sie musste sich irgendwo verstecken, wo James sie niemals
suchen würde. In einer Hinsicht hatte er nur allzu Recht.
Er wusste mehr von ihr als sie von ihm. Er würde all ihre
ehemaligen Bekannten aufsuchen, von denen die meisten
ihre eigene Mutter für ein paar lächerliche Kröten verkaufen
würden, also konnte sie niemanden anrufen. Noch
nicht jedenfalls. Sie musste den Jungen verstecken, denn
ohne ihn würde der ganze Plan in sich zusammenfallen.
Sie blickte auf ihre Geisel herab und zwang ihren Verstand
zu arbeiten. Und wie immer formierte sich in ihren
Gedanken ein neuer Plan.
Zum Glück wusste James nicht alles.
Im schwachen Licht des Kofferraums sah sie auf die Uhr.
Sie hatte einiges zu tun. Mit beiden Händen packte sie
Rickmans Hemd und zerrte sie ohne Probleme aus dem
Wagen. Die steinharten Muskeln waren ungefähr das einzig
Gute, was sie aus dem Hillsboro Frauengefängnis mitgebracht
hatte. Nun, das stimmte so auch nicht ganz. Wäre
sie nicht in Hillsboro gewesen, hätte sie niemals Tammy
kennen gelernt, von der James eindeutig nichts wissen
konnte.
Sie schleifte Rickman vom Weg und in den Wald hinein,
während sie an ihre Zellengenossin dachte. Fünfundzwanzig
Jahre hatte man Tammy dafür aufgebrummt, dass sie
ihren brutalen Ehemann umgebracht hatte, und in den
fünf Jahren, die sie beide eine Zelle geteilt hatten, hatte Sue
jede Nacht ihrem Geheule lauschen müssen. Aber um fair
zu bleiben, musste sie zugeben, dass sie ohne Tammy
nichts von dem Zufluchtsort wissen würde, in dem sie sich
die nächsten Wochen würde verstecken können. Ein geheimes
Haus in Chicago, dessen Tür stets für Frauen in
Not offen war. Sue grinste. Ich bin eine Frau. Und dass sie
in Not war, stand außer Frage.
Annehmen, anpassen, verbessern. Ein gutes Motto. Ein
Plan war nur effektiv, wenn er flexibel war. Sue zog ihre
Pistole aus dem hinteren Hosenbund und jagte eine Kugel
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel
»Nothing to Fear« bei Warner Books, New York.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2005 by Karen Rose Hafer
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2007 bei Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Übersetzung: Kerstin Winter
Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Getty Images, München (© DreamPictures)
Gesamtherstellung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-330-7
5. Juni, 14.30 Uhr
Es war eine traditionelle Beerdigung gewesen. Ein
paar Trauergäste trugen grüne Golfhosen aus Polyester,
aber die meisten hatten sich trotz der feuchten Hitze
Floridas schwarz gekleidet.
Von ihrem Beobachtungsposten aus fünf Grabsteinen Entfernung
konnte Sue Conway den Geistlichen das übliche
»Asche zu Asche, Staub zu Staub« intonieren hören. Sie
blickte auf die Blumen herab, die sie auf das ihr unbekannte
Grab gelegt hatte, und zog die Brauen zusammen. Die
verdammte Beerdigung war beinahe vorüber, ohne dass
die eine Person aufgetaucht war, die sie zu sehen gehofft
hatte.
Der Geistliche trat zurück, damit die Trauernden Abschied
nehmen konnten. Die Leute waren noch immer wie betäubt,
wie man dem ungläubigen Gemurmel entnehmen
konnte, das Sue durch das kleine Knopfmikro in ihrem
Ohr vernahm.
»Und ich habe mich hier einmal sicher gefühlt«, sagte
jemand.
»Unsere Gegend wird nie wieder dieselbe sein«, sagte ein
anderer.
»Ich habe früher meine Tür nie verriegelt. Ihr könnt sicher
sein, dass ich das jetzt tue.«
Es war das erste Mal, dass jemand aus ihrem Kreis ermordet
worden war. Und dass es so grausam geschehen war,
ging über das Begreifen hinaus.
Dieser Mord war nicht ihr erster gewesen, aber er hatte ihr
mehr Vergnügen bereitet als jeder andere. Das Stöhnen,
das Knirschen der Knochen unter ihren Händen. Das
sprudelnde Blut, wenn sie schnitt, immer nur ein wenig.
Sie hatte noch lange danach davon geträumt, von jedem
Aufschrei, jedem Schnitt in Fleisch und Knochen, von
jedem Blutstropfen. Es war ein reines, unverdorbenes Vergnügen
gewesen. Etwas, an das sie sich klammern konnte,
während sie ihre Suche fortsetzte.
Denn selbst unter der Folter hatte ihr Opfer ihr nicht das
gegeben, wonach sie verlangt hatte. Sie musste also weitersuchen,
und wenn sie gefunden hatte, was sie wirklich
haben wollte ... dann würde dieser Mord in der Rückschau
wie ein Spaziergang wirken. Sie hatte viele Jahre
aufzu holen, so viele Fantasien aufgestaut, hatte so unfassbar
viel zurückzuzahlen. Aber sie konnte das Stück nicht
beginnen, bevor nicht alle Teilnehmer auf der Bühne standen.
Denn wenn sie erst einmal angefangen hatte, gab es kein Zurück.
Sie kniete nieder und tat, als ob sie betete, während der
Gottesdienst endete und die Leute sich zerstreuten. Einige
Minuten verstrichen, dann hörte sie die heisere Stimme des
Friedhofdirektors.
»Lasst ihn runter, Jungs.«
Sue zog rasch das Mikro aus dem Ohr, bevor das Rumpeln
des Sargs, der in die Erde hinabgelassen wurde, ihr Trommelfell
beschädigte. Sie seufzte. Die Show war vorbei, und
der Ehrengast war nicht erschienen. Sie stand auf, klopfte
sich die Erde vom Rock und machte sich auf den Weg zu
ihrem Wagen, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung
bemerkte, die sie innehalten ließ.
Sie trat hinter eine große Grabanlage und beobachtete, wie
ein kleiner Wagen mit Avis-Aufkleber auf die Zufahrt zu
diesem Teil des Friedhofs bog. Der Wagen hielt, und die
Person, die gefahren war, stieg aus.
Sues Herz begann zu hämmern. Hundert verschiedene
Gedanken rasten durch ihren Kopf. Endlich war das Wort,
das alle anderen schließlich überlagerte. Nur mit Mühe
gelang es ihr, einen triumphierenden Schrei zu unterdrücken.
Der Ehrengast war also endlich gekommen. Nun konnte
das Spiel der Vergeltung beginnen. Aber sie musste behutsam
vorgehen und sich an ihren Plan halten, denn es war
wichtig, dass alle Puzzleteile am richtigen Platz lagen.
Nun hielt sie die Karten in der Hand. Nun hatte sie die
Macht.
Fürchte dich. Ich komme.
1
Wight's Landing, Isle of Wight Bay, Maryland
Mittwoch, 28. Juli, 2.00 Uhr
Autsch. Das tut weh. Das war sein erster Gedanke, als
sich die Finger in seine Schulter gruben und ihn
schüttelten. Fest. Es tat wirklich weh. Hör auf.
Wieder wurde er geschüttelt, aber er schlug die Augen
nicht auf. Es konnte noch nicht Morgen sein. Er holte Luft
und roch ihr Parfum. Das war nicht fair. Sie hatte versprochen,
dass er die ganze Woche frei haben würde. Keine
Lektionen. Keine Lernkarten. Keine blöden Wortspiele,
keine Sprachtherapie. Nur Sonne, Strand und Spaß. Angeln,
Krebse fangen. Auf den Wellen reiten. Den ganzen
Abend Videospiele. Schlafen, solange er wollte. Aber nun
rüttelte sie ihn einfach wach.
Sie würde ihr Versprechen brechen. Das taten sie früher
oder später alle. Also würde er die Sache eben einfach aussitzen,
wie er es bei den anderen Sprachtherapeuten auch
gemacht hat. Sie würde aufgeben und verschwinden, wie
alle anderen auch. Cheryl hatte allerdings länger bei ihm
ausgehalten als die meisten anderen. Das musste er ihr
lassen.
Er schlug nach ihrer Hand und versuchte, sich auf die Seite
zu rollen, aber sie packte ihn und zog ihn am T-Shirt hoch.
Ihre Hand verschloss seinen Mund, als er endlich die Augen
aufriss. Und in ihr Gesicht blickte, das im Mondlicht
geisterhaft weiß aussah. Ihre dunklen Augen waren riesig
und ängstlich. Nein, nicht einfach ängstlich. Cheryl war in
Panik, und augenblicklich packte auch ihn die Furcht. Er
hörte auf, sich zu wehren.
»Kein Wort«, formulierte sie lautlos mit den Lippen. Er
nickte. Sie nahm die Hand von seinem Mund, zog ihn vom
Bett und drückte ihm den Signalprozessor in die Hand.
Normalerweise mochte er das Hörgerät für vollständig
Taube nicht anlegen, wehrte sich dagegen, solange er
konnte, aber nicht jetzt. Nun schob er ihn ohne Protest
hinters Ohr.
Und fuhr zusammen, als das Dröhnen einsetzte. Als der
Prozessor »seine Ohren einschaltete«, wie Cheryl sagen
würde. Mit einem Schlag war die ruhige, stille Welt seiner
Taubheit zu einer lauten, schmerzhaften Kakophonie geworden.
Er konzentrierte sich. Um zu hören, was in diesem
Getöse für ihn bedeutend war. Aber sie sagte nichts,
sondern zog ihn nur durch das Zimmer zum Schrank.
Sie schob ihn hinein und drückte ihn zu Boden. Hockte
sich hin, um ihm in die Augen zu sehen.
»Da unten ist jemand.« Sie flüsterte und machte gleichzeitig
die Zeichen, und er sah, dass ihre Hand zitterte. Ihr
ganzer Körper zitterte. »Paul sieht nach. Komm nicht
raus, bevor ich dich hole.« Sie packte sein Kinn. »Hast du
verstanden? Bleib hier. Und keinen Mucks.«
Er nickte, und sie richtete sich hastig auf und riss den Stapel
Schwimmwesten, den sein Vater hier verstaut hatte,
aus dem Regalfach. Muffiger Geruch hüllte ihn ein, als sie
ihn damit bedeckte. Und dann schloss sich die Tür, und er
war allein in der Dunkelheit.
Er versteckte sich. Wie ein Feigling.
Wut keimte in ihm auf und mischte sich mit der Angst. Er
war kein Feigling. Er würde bald dreizehn sein, um Himmels
willen. Und sie hatte ihn wie ein Kleinkind in den
Schrank gesteckt. Hatte ihn unter einem Haufen Schwimmwesten
vergraben, während Paul nachsah. Behutsam schob
er die Westen zur Seite, bis er etwas sehen konnte, und
starrte auf die Schranktür. Was sollte er tun? Ganz gewiss
nicht hier ausharren, während irgendein Kerl ins Haus
einbrach. Ganz gewiss nicht zulassen, dass Paul nachher
für seinen ach so mutigen Einsatz gelobt wurde.
Ein Lichtschein drang durch den Türspalt, und sein Mut
löste sich in nichts auf. Da war jemand ins Zimmer
gekommen. Er rutschte zurück in die Schrankecke und
spürte sein Herz hämmern. Seine Nackenhaare richteten
sich auf, und er schauderte unwillkürlich. Nein. Ich muss
etwas tun!
Durch den tosenden Lärm drang plötzlich ein Schrei.
Cheryl! Ich muss ihr helfen!
Aber sein Körper war erstarrt. Erstarrt zu einem nutzlosen
Gewicht unter einem Haufen Schwimmwesten. Er konzentrierte
sich, lauschte. Sperrte das Dröhnen aus, wie
Cheryl es ihm beigebracht hatte. Und lauschte.
Nichts. Nichts war zu hören. Sie waren fort. Er sollte aufstehen.
Sollte er.
Dann ein Krachen, so laut, dass es ihm wehtat. Sein Kopf
fuhr zurück, knallte gegen die Schrankwand, und ein heftiger
Schmerz durchfuhr ihn.
Eine Waffe! Sie hatten eine Waffe. Jemand hatte geschossen.
Cheryl! Sie hatten sie erschossen.
Und sie würden auch ihn erschießen. Oder Schlimmeres
machen. Tu was. Tu endlich was!
Was?
Er wusste es nicht. Er wusste nicht, was er tun sollte. Dad!
Was würde sein Vater tun?
Er spürte einen scharfen Schmerz in der Brust. Er war zu
alt, um nach seinen Eltern zu weinen, aber er wünschte sich
so sehr, dass sie hier wären. Wünschte, sie wären nicht ausgerechnet
heute nach Annapolis gefahren. Sie hatten Hochzeitstag.
Wollten tanzen gehen. Sie würden nach Hause
kommen und seine Leiche finden. Mom würde weinen.
Er blinzelte und bemerkte, dass sein Gesicht nass war. Er
versteckte sich im Schrank und heulte, während sie Cheryl
umbrachten. Und er konnte sich nicht regen!
Er fuhr zusammen, als der zweite Schuss ertönte, gedämpfter
diesmal. Und Schreie.
Sie schrie. Dann lebte sie noch. Schreien. Der Lärm drang
ihm wie Messer ins Hirn. Er konnte es hören, spüren. Millionen
Messer, die zustachen. Mit hämmerndem Herzen
und bebenden Fingern riss er den Prozessor vom Ohr.
Und es war still. Minuten verstrichen in atemloser Stille.
Dann öffnete sich die Schranktür.
Er drängte sich in den hintersten Winkel, kniff die Augen
zusammen, presste die Lippen aufeinander. Versuchte,
kein Geräusch zu machen. Eine Schwimmweste wurde
fortgezogen. Dann noch eine. Und noch eine. Der muffi ge
Geruch war weg, und er spürte frische Luft auf dem
Gesicht.
Er zwang sich, die Augen zu öffnen. Ein Wimmern steckte
in seinem Hals, als er aufblickte.
Sie war groß, größer als Cheryl. Massiger. Ihre Haare eine
wilde Mähne.
Ihre Augen verrückt. Weiß. Sie hat weiße Augen.
Ihre Lippen waren zu einem Lächeln verzogen, einem
grausamen Lächeln, und er wollte schreien.
Aber er tat es nicht. Denn ihr T-Shirt war voller Blut, und
die Pistole in der Hand war auf ihn gerichtet.
Eastern West Virginia
Donnerstag, 29. Juli, 3.30 Uhr
Das schrille Klingeln ihres Handys ließ sie augenblicklich
erwachen. Sie hatte einen leichten Schlaf. Das war nicht immer
so gewesen, aber das Gefängnis veränderte einen nachhaltig.
Und obwohl sie schon sechs Monate draußen war,
war dies eine lästige Angewohnheit, die geblieben war. Obwohl
sie schon sechs Monate draußen war, dachte sie beim
Aufwachen noch immer als Erstes ans Gefängnis.
Und allein dafür musste jemand bezahlen.
Nur ihr Bruder Bryce kannte ihre Handynummer, und
doch blieb sie misstrauisch. »Ja?«
»Ich bin's.«
Sie setzte sich auf und verfluchte ihren steifen Nacken. Die
Rückbank eines Kleinwagens war nicht gerade komfortabel,
aber sie hatte schon in schlechteren Betten geschlafen.
»Sind sie zu Hause?« Ihr Herzschlag beschleunigte sich,
ihre Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Die
Vaughns waren zurück. Hatten das Chaos in ihrem Haus
entdeckt. Das leere Bett. Den Zettel auf dem Kopfkissen.
Das Geschenk im Schuppen. Sie würden sich entsetzlich
fürchten. Sie würden weinen. Sie würden machtlos sein.
Machtlos. Das war nicht annähernd genug, aber es war ein
verdammt guter Anfang.
»Ich b-bin n-nicht s-sicher«, stotterte Bryce furchtsam.
Ihr Triumph löste sich rasch auf. »Was soll das heißen?«,
fragte sie mit beherrschter Stimme. Wenn er die Sache verdorben
hatte, würde er weit mehr Grund haben, sich zu
fürchten. »Wo bist du?«
»Im Gefängnis.« Sie schloss die Augen. Rief sich in Erinnerung,
dass das Prepaid-Handy, das sie in Maryland gekauft
hatte, nicht zurückzuverfolgen war. Dennoch brachte
sie der Gedanke, dass er sie aus dem Gefängnis anrief,
zum Kochen. »Die haben mich verhaftet, weil ich einen
Laden ausgeraubt habe. Du musst mich hier rausholen.«
Ihr Lachen war kalt. Sie standen kurz davor, Millionen zu
verdienen, und er raubte einen gottverdammten Laden aus.
»Du willst, dass ich dich raushole? Du machst Witze.«
»Verdammt noch mal«, zischte er. »Ich hab dich angerufen,
weil ... du weißt schon. Ich hätte auch Earl anrufen
k-können.«
Er hatte sie angerufen, weil er nicht länger auf seinem Posten
war. Weil er nicht länger das Haus der Vaughns beobachtete,
um ihr Bericht zu erstatten. Weil er ihr nicht mehr
sagen konnte, ob sie nach Hause gekommen waren und ob
sie die verdammten Bullen gerufen hatten.
»Du bist erst siebzehn. Die hauen dir auf die Finger und
stecken dich in die Jugend.«
»Nein!« Bryces Flüstern war voller Angst. »Sie haben gesagt,
die wollen mich wie einen Erwachsenen behandeln.
Ich komme in den Knast. B-bitte«, flehte er. »Hol mich
doch hier raus.«
Dass sie und Bryce dasselbe Erbgut hatten, kam ihr unmöglich
vor. Und selbst die Tatsache, dass dem so war,
würde sie nicht dazu bringen, jetzt den Kopf für ihn hinzuhalten.
Aber sie musste ihn aus dem Gefängnis herausholen,
bevor irgendein windiger Anwalt ihn dazu veranlasste,
alles auszuspucken. Dass Bryce seine stotternde Klappe
halten würde, war nicht zu hoffen; er würde auch unter
überaus zivilisierten Verhörmethoden plappern wie eine
alte Klatschtante. Bei Onkel Earl aufzuwachsen hatte sein
Hirn zersetzt. Bei Tante Lucy aufzuwachsen hatte seinen
Willen zersetzt. Es war eine Schande, dass sie sich nicht
selbst um seine Erziehung hatte kümmern können, aber
sie war ... indisponiert gewesen. Inhaftiert. Und nun war
auch Bryce auf dem Weg dorthin. Ihr Vater musste im
Grab rotieren wie ein Hähnchen am Spieß.
»Ich rufe Earl an«, sagte sie barsch. »Ich behaupte, ich sei
eine Angestellte im Gefängnis.« Dass ihr Onkel ihre Stimme
erkennen würde, war unwahrscheinlich, da sie seit Jahren
nicht miteinander gesprochen hatten. »Wo bist du?«
»O-Ocean City.«
Wenigstens war er schlau genug gewesen, es nicht in diesem
elenden Kaff namens Wight's Landing zu tun. Ocean City
war eine Stunde Fahrt entfernt. Niemand würde die zwei
Ereignisse miteinander in Verbindung bringen, selbst wenn
die Vaughns die Bullen riefen. »Ich melde mich bei Earl. Du
hältst den Mund und die Augen offen.« Sie grinste. »Und
wenn jemand die Seife fallen lässt, bück dich nicht, um sie
aufzuheben.«
»D-das ist nicht l-lustig, Sue.«
Als sie ihn ihren Namen nennen hörte, schwand das Grinsen
augenblicklich. »Nein, ist es nicht. Und dass du mich
aus dem Knast anrufst, auch nicht.« Sie brach die Verbindung
ab und starrte aus dem Rückfenster in den dunklen
Wald, in dem sie geparkt hatte, um ein wenig zu schlafen.
Sie war weit weg von allen größeren Straßen, und das
schon, seit sie am Morgen zuvor die Ostküste Marylands
verlassen hatte.
Sie war nur langsam vorangekommen, weil sie alle paar
Stunden anhalten musste, um dem Kind im Kofferraum zu
trinken zu geben, damit es nicht dehydrierte, aber es war
besser, die großen Straßen zu meiden. Sie war nicht sicher,
wann die Vaughns wieder zu Hause eintreffen würden,
und obwohl sie sie gewarnt hatte, nicht die Polizei zu informieren,
konnten sie es dennoch tun. Aber sie würden
sie nicht kriegen. Zu viel stand auf dem Spiel. Der Preis,
der auf sie wartete, war zu wertvoll.
Sie stieg aus dem Wagen und machte den Kofferraum auf.
Betrachtete die zwei Gestalten darin, die sich wie Föten
zusammengerollt hatten. Sie waren noch da, sie waren
noch gefesselt.
Ihr Preis. Ihre Rache.
Alexander Quentin Vaughn. Ein großer Name für ein so
schmächtiges Kind. Er war zwölf, sah aber nicht älter als
zehn aus. Bryce hatte es hübsch treffend ausgedrückt, als
sie den Bengel, der sich im Schrank des Strandhauses versteckt
hatte, gesehen hatten. »Sieht nicht aus, als ob er 'ne
Million wert ist.« Aber wörtlich genommen hatte er Recht.
Der Junge war fünfmal so viel wert.
Aber Geld war nicht alles.
Manchmal war die Rache bedeutender.
Und wenn man beides gleichzeitig bekommen konnte ...
war das ausgleichende Gerechtigkeit.
Alexander Quentin Vaughn und seine Sprachtherapeutin,
die sich gewehrt hatte wie eine Löwin. Cheryl Rickman
hätte in Zukunft ein Leibwächter-Gehalt verdienen können,
falls sie denn eine Zukunft gehabt hätte, was natürlich
nicht der Fall war. Und der entsetzte Ausdruck ihrer Augen
belegte, dass sie das auch wusste. Sue hatte Rickman
nur deshalb bisher am Leben gelassen, weil sie mit dem
Jungen kommunizieren konnte.
Der Junge versuchte gerade, seine Tränen zurückzudrängen.
Versuchte zurückzuweichen, bis sein magerer Körper
gegen Rickmans stieß. Ihn zu fesseln war wahrscheinlich
unnötig gewesen. Triefend nass konnte er nicht mehr als
achtzig Pfund wiegen, und er kämpfte wie eine Gummipuppe.
Der Knebel war wahrscheinlich auch überfl üssig,
aber Sue war sich nicht sicher, ob er nicht schreien konnte.
Taubstumm zu sein bedeutete nicht, keine Laute aus stoßen
zu können.
Seine Behinderung hatte Sue anfangs ein wenig durcheinandergebracht.
Sie hatte eindeutig eine gute und eine
schlechte Seite. Er konnte den Leuten, die sie auf dem Weg
trafen, zwar nichts verraten, aber er konnte auch seine
Eltern nicht herzerweichend anflehen, das Lösegeld zu
bezahlen. Sehr schade. Sie hatte sich auf dieses Flehen so
gefreut. Aber so musste man eben umdisponieren.
Annehmen, anpassen, verbessern. Ein guter Leitsatz. Witzigerweise
der ihres alten Herrn. Wenn sie nicht die Stimme
des Kindes verwenden konnte, würde sie eben sein
Gesicht nehmen. Ein Foto sagte mehr als tausend Worte.
Sie blickte hinab auf ihre Geisel, auf ihren Gewinn, und
spürte, wie sie die Kontrolle zurückerlangte. Bryces Verhaftung
hatte im Grunde nur wenig geändert. Solange sie
ihn da herausholte, bevor er einem übereifrigen Rechtsverdreher
irgendetwas erzählen konnte, hatte sie nur einen
Beobachtungsposten eingebüßt. Und es wäre zwar schön
gewesen, von Bryce zu hören, wie entsetzt die Vaughns
gewesen waren, aber letztendlich spielte es keine Rolle.
Sicher hätte es ihr genützt zu wissen, ob Streifenwagen vor
dem Strandhaus standen, aber auch die Bullen würden sie
nicht kriegen. Sie würde schon weit, weit weg sein und
sich in Earls Haus verstecken. Das musste sich nicht
ändern. Es war sogar noch einfacher, wenn Earl und Lucy
unterwegs waren, um Bryce aus dem Knast zu holen. So
würde Sue das Haus noch ein paar Tage für sich haben.
Und wenn sie aus Maryland zurückkehrten, würden Earl
und Lucy und sie Wiedersehen feiern. Ein Wiedersehen,
das sie mit Begeisterung geplant hatte. Sie nahm ihr Telefon
und wählte Earls Nummer. Er würde noch schlafen
und benebelt abnehmen. Keine Chance, dass er ihre Stimme
erkannte.
Beim ersten Klingeln wurde abgehoben. »Ja?«, erklang
eine tiefe Stimme.
Sue erstarrte, jeder Muskel bis zum äußersten angespannt.
Die Stimme war nicht schläfrig oder benebelt. Die Stimme
war auch nicht Earls. Sie sagte nichts, brachte kein Wort
heraus. Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte
leise.
»Bist du's, Bryce?« James. Sue gefror das Blut in den
Adern. Unmöglich. James war tot. Sie selbst hatte ihm die
Kehle aufgeschlitzt. Aber offensichtlich nicht gründlich
genug.
»Nicht Bryce?«, sagte er freundlich. »Dann musst du Sue
sein. Sue, wie geht's dir denn so?« Seine Stimme verhärtete
sich. »Ein Rat von mir und ganz umsonst. Wenn du
jemanden umbringen willst, dann vergewissere dich, dass
er wirklich tot ist. Und? Willst du mit deinem Onkel Earl
reden?« Ein Stöhnen drang durch das Telefon. »Tja, leider
kann er gerade nicht rangehen.«
Sue knirschte mit den Zähnen. »Du Dreckschwein. Finger
weg von ihnen.«
»Na, na, liebe Sue, du als brave kleine Nichte. Ich bin
wirklich schockiert.« So klang er nun wirklich. Schockiert.
»Du willst Onkel und Tante, die du verabscheust, beschützen?
«
»Nicht beschützen, du Arschloch«, zischte sie. Finger weg,
weil sie mir gehören. Um sie zu töten. Um sie weinen und
schluchzen und stöhnen zu hören. Sie hatte Pläne mit ihnen.
Dieser Mistkerl.
James unterdrückte ein Lachen. »Du wolltest Onkel und
Tante umbringen, so wie du die Frau in Florida umgebracht
hast. Aber diesmal bin ich dir zuvorgekommen.
Ach, Sue, du bist köstlich.«
Er wusste von dem Mord in Florida. James Lorenzano
wusste zu viel. Sie hätte sich tatsächlich vergewissern müssen,
dass er tot war, aber jemand war gekommen, und sie
hatte rasch verschwinden müssen. Und jetzt war er gewarnt.
Verdammt! Sie musste ihm aus dem Weg gehen.
»Danke.«
»Gern geschehen. Und vergiss nie, dass ich viel mehr über
dich weiß als du über mich. Ich finde dich, Sue. Du weißt
es. Und wenn es so weit ist, bist du tot.«
Ein kalter Schauder schüttelte sie. Ja, er konnte sie fi nden.
James wusste, wie man Leute aufstöberte. Deshalb hatte
sie ihn ja engagiert. Dann richtete sie sich entschlossen auf.
»Nein, du wirst mich nicht fi nden.«
Sie unterbrach die Verbindung und atmete ein paar Mal
tief durch, um sich zu beruhigen. James lebte. Das war
nicht leicht zu verdauen. Und er war bei Earl und Lucy.
Was bedeutete, dass sie nicht nur darauf verzichten musste,
die beiden sich vor Schmerzen winden zu sehen. Sie
brauchte jetzt auch einen neuen Unterschlupf.
Annehmen, anpassen, verbessern. Sie würde ihr Ziel nicht
ändern. Es musste Chicago sein. Keine andere Stadt konnte
diese ersetzen. Kein anderer Ort bedeutete Rache.
Also musste sie sich dort ein Versteck suchen. Nur lange
genug, bis sie ihr Geld und ihre Rache hatte. Mit dem Geld
konnte sie das Land verlassen und James entkommen.
Die Rache ... nun, die war unerlässlich. Ohne sie gab es
wenig Grund, am Leben zu bleiben.
Sie musste sich irgendwo verstecken, wo James sie niemals
suchen würde. In einer Hinsicht hatte er nur allzu Recht.
Er wusste mehr von ihr als sie von ihm. Er würde all ihre
ehemaligen Bekannten aufsuchen, von denen die meisten
ihre eigene Mutter für ein paar lächerliche Kröten verkaufen
würden, also konnte sie niemanden anrufen. Noch
nicht jedenfalls. Sie musste den Jungen verstecken, denn
ohne ihn würde der ganze Plan in sich zusammenfallen.
Sie blickte auf ihre Geisel herab und zwang ihren Verstand
zu arbeiten. Und wie immer formierte sich in ihren
Gedanken ein neuer Plan.
Zum Glück wusste James nicht alles.
Im schwachen Licht des Kofferraums sah sie auf die Uhr.
Sie hatte einiges zu tun. Mit beiden Händen packte sie
Rickmans Hemd und zerrte sie ohne Probleme aus dem
Wagen. Die steinharten Muskeln waren ungefähr das einzig
Gute, was sie aus dem Hillsboro Frauengefängnis mitgebracht
hatte. Nun, das stimmte so auch nicht ganz. Wäre
sie nicht in Hillsboro gewesen, hätte sie niemals Tammy
kennen gelernt, von der James eindeutig nichts wissen
konnte.
Sie schleifte Rickman vom Weg und in den Wald hinein,
während sie an ihre Zellengenossin dachte. Fünfundzwanzig
Jahre hatte man Tammy dafür aufgebrummt, dass sie
ihren brutalen Ehemann umgebracht hatte, und in den
fünf Jahren, die sie beide eine Zelle geteilt hatten, hatte Sue
jede Nacht ihrem Geheule lauschen müssen. Aber um fair
zu bleiben, musste sie zugeben, dass sie ohne Tammy
nichts von dem Zufluchtsort wissen würde, in dem sie sich
die nächsten Wochen würde verstecken können. Ein geheimes
Haus in Chicago, dessen Tür stets für Frauen in
Not offen war. Sue grinste. Ich bin eine Frau. Und dass sie
in Not war, stand außer Frage.
Annehmen, anpassen, verbessern. Ein gutes Motto. Ein
Plan war nur effektiv, wenn er flexibel war. Sue zog ihre
Pistole aus dem hinteren Hosenbund und jagte eine Kugel
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel
»Nothing to Fear« bei Warner Books, New York.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2005 by Karen Rose Hafer
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2007 bei Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Übersetzung: Kerstin Winter
Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Getty Images, München (© DreamPictures)
Gesamtherstellung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-330-7
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Autoren-Porträt von Karen Rose
Autoren-Porträt von Karen RoseWie wird aus einer Lebensmittel-Ingenieurin eine Krimiautorin? Ganz einfach: Karen Rose erzählt, dass sie aus ihrem Hobby einfach einen Beruf machen musste, weil sie so viele Szenen und Charaktere im Kopf hatte, dass diese sich immer wieder vor ihren Berufsalltag schoben. Also widmete sie ihnen ihre professionelle Aufmerksamkeit und schrieb 2003 ihr erstes Buch "Eiskalt ist die Zärtlichkeit". Schnell folgten weitere wie "Das Lächeln eines Mörders" (Bestseller auf der USA-Today-Liste) oder "Des Todes liebste Beute", für das sie den RITA-Award für den besten Ladythriller des Jahres 2005 bekam. Von Beginn an erfolgsverwöhnt, schreibt Rose heute Bestseller auf Bestseller und viele ihrer Bücher wurden für begehrte Preise nominiert - und haben diese nicht selten auch gewonnen.
Prinzipiell lässt Karen Rose ihre Geschichten gut ausgehen. Aus eigener Erfahrung - ihr Mann war an Krebs erkrankt - weiß sie, dass Bücher in schwierigen Lebenssituationen Zuflucht bieten können, und "happy endings" sollen dabei helfen. Karen Rose geht aber noch weiter: Auf ihrer Website hat sie LIFE LINKS eingerichtet, wo verzweifelten Menschen Hilfe angeboten wird. Jeder kann sich einklinken und berichten, wie und wo er Hilfe bekommen hat.
Karen Rose lebt mit ihrem Mann, einem Psychologen, und zwei Töchtern in Florida; zu ihren Hobbies zählen Skifahren, Reisen und Karate.
Bibliographische Angaben
- Autor: Karen Rose
- 2010, 1, 639 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868003304
- ISBN-13: 9783868003307
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