Die Stunde, in der ich zu glauben begann
voller Menschlichkeit.
voller Menschlichkeit.
Die Stunde, in der ich zu glauben begann von Wally Lamb
An dem Abend schoben die beiden ihre letzte Schicht im Blackjack Pizza, was jedoch außer ihnen niemand wusste. Eins musste man ihnen lassen: Sie waren gut im Hüten von Geheimnissen. Geduldige Planer. Sie hatten alles seit einem Jahr vorbereitet und ihre Absichten vor aller Augen auf Papier, auf Videokassetten und im Internet verborgen. Am Ende des letzten Schuljahrs hatte einer ins Jahrbuch des anderen geschrieben: »Gott, ich kann’s gar nicht erwarten, dass sie sterben. Ich schmecke schon ihr Blut.« Und der andere hatte sich revanchiert mit dem Spruch: »Unsere Feinde töten, alles in die Luft jagen, Cops abschlachten! Mein Zorn wird wie der Zorn Gottes sein!«
Mein Zorn wird wie der Zorn Gottes sein: Vielleicht ist das ein Anhaltspunkt. Vielleicht war ihre Fähigkeit, alle hinters Licht zu führen, die Berechtigung zu ihrem Handeln. Wenn wir uns zum Narren halten ließen, dann waren wir auch Narren; sie konnten sich überlegen fühlen, in der Lage, Chaos zu stiften. Aber ich weiß es nicht. Ich bin bloß einer von vielen Chaostheoretikern, der sich ebenso wenig im Labyrinth zurechtfindet wie alle anderen.
Es war noch früh. Der Freitagabendansturm auf die Pizzaläden hatte noch nicht begonnen. Er stand an der Kasse, die Ellbogen auf den Tresen gestützt, und unterhielt sich mit einem jungen Mädchen in einem Frisörkittel. Das heißt, viel geredet wurde nicht. Auf dem Tresen lag ein Handy, das er immer wieder mit dem Zeigefinger anstieß, sodass es sich drehte, er starrte das kreiselnde Handy an und nicht das Mädchen. Ich weiß noch, dass ich mich fragte, ob ich gerade ein Liebespaar beim Streit gestört hatte. »Ich muss los«, sagte die junge Frau. »Bis morgen dann.« Auf ihrem Kittel stand »Great Clips«, woraus ich schloss, dass sie im Laden nebenan arbeitete, zu dem Maureen immer ging.
»Zum Abschlussball verabredet?«, fragte ich. Das große Ereignis sollte am folgenden Abend im Design Center in Denver statt finden. Von dort würden anschließend alle zusammen zur Schule zurückfahren, wo die Party danach steigen sollte, für die ich als Aufsicht eingeteilt war.
»Zu so einer verlogenen Veranstaltung gehe ich nicht«, antwortete er. Dann rief er über die Schulter: »Wann ist die Champignon-Hackfleisch-Pizza fertig?« Sein Kumpel öffnete die Ofentür und lugte hinein. Dann drehte er sich um und reckte den Daumen hoch.
»Und?«, fragte ich. »Habt ihr mal wieder eine von euren berühmten Mehlschlachten veranstaltet?«
Er grinste. »Sie erinnern sich daran?«
»Klar. Der beste Aufsatz, den du im ganzen Halbjahr geschrieben hast.«
Ich hatte ihn im Jahr zuvor, in der elften Klasse, im Englischunterricht gehabt. Ein ehrgeiziger, systematisch arbeitender Schüler, der lieber Vokabeln und Shakespeare-Verse auswendig lernte, als sich mit kreativen Dingen zu beschäftigen. Aber sein Aufsatz über die Mehlschlachten im Blackjack Pizza, den er als eine Art Kriegssatire verfasst hatte, war das Lebendigste, was er im ganzen Schuljahr abgeliefert hatte. Ich erinnere mich noch, dass ich unter seinen Aufsatz geschrieben hatte: Du solltest im nächsten Jahr »Kreatives Schreiben« als Wahlfach nehmen. Und das hatte er sogar getan. Er war in Rhonda Baxters Kurs. Aber Rhonda mochte ihn nicht – sie fand ihn überheblich. Es ging ihr auf die Nerven, wie er über die Kommentare seiner Mitschüler die Augen verdrehte. Rhonda und ich hatten eine gemeinsame Freistunde, und wir tauschten uns häufig über unsere Schüler aus. Ich für meinen Teil konnte weder sagen, dass ich ihn besonders mochte, noch, dass ich ihn nicht ausstehen konnte. Er hatte mich einmal gebeten, ihm einen Empfehlungsbrief zu schreiben; wofür er ihn brauchte, weiß ich schon gar nicht mehr. Aber ich erinnere mich noch gut daran, wie ich dasaß und mir den Kopf zerbrach, was ich schreiben sollte.
Er tippte den Betrag für meine Bestellung ein, und ich reichte ihm das Geld. »Was ist denn für nächstes Jahr geplant?«, fragte ich. »Hast du von den Unis, an denen du dich beworben hast, schon was gehört?«
»Ich gehe zu den Marines«, sagte er.
»Wirklich? Tja, ich hab gehört, dass die immer gute Leute suchen.« Er nickte, ohne zu lächeln, und gab mir mein Wechselgeld.
Sein Kumpel kam mit der Pizzaschachtel. Er wirkte nicht mehr so jungenhaft, wie ich ihn von vor einigen Jahren in Erinnerung hatte, sondern war zu einem schlaksigen jungen Mann herangewachsen. Er hatte eine Hakennase und ein ausgeprägtes Kinn wie Jay Leno und trug das Haar zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden. »Und wie sehen deine Pläne fürs kommende Jahr aus?«, fragte ich ihn.
»University of Arizona.«
»Klingt gut«, sagte ich. Mit einer Kopfbewegung deutete ich auf die Red-Sox-Mütze, die er trug. »Auf den Spuren der Sox?«
»Sozusagen. In meinem Fantasy-Team bin ich grade für Garciaparra eingesprungen.«
»Guter Schachzug«, sagte ich. »Als ich auf dem College war, hab ich mir jedes Spiel der Sox angesehen. Boston University. Fenway war nur fünf Minuten entfernt.«
»Cool«, meinte er.
»Vielleicht ist das ihr Glücksjahr?«
»Kann sein.« Es klang nicht so, als würde es ihn wirklich interessieren.
Auch er war in Rhondas Kurs für Kreatives Schreiben. Einmal war sie ganz aufgebracht ins Lehrerzimmer gekommen. »Lies das mal«, sagte sie. »Das ist doch krank, oder?« Er hatte eine zweiseitige Geschichte über einen geheimnisvollen Rächer in einem schwarzen, mit Nieten besetzten Trenchcoat geschrieben. Als ein paar Sportfans und »College-Kids« gerade eine volle Kneipe verlassen, nimmt der Held Pistolen und Sprengstoff aus seiner Sporttasche, bringt sie alle um und geht grinsend von dannen. »Meinst du, ich sollte mal seine Eltern anrufen?«, hatte Rhonda gefragt.
Ich hatte die Achseln gezuckt. »Viele Jungs schreiben so einen Mist. Zu viele Videospiele, zu viel Testosteron. Ich würde mir keine Gedanken darüber machen. Wahrscheinlich braucht er einfach eine Freundin.« Aber sie hatte sich trotzdem Gedanken gemacht und die Eltern um ein Gespräch gebeten. Eine Woche später hatte sie das Treffen als »reine Zeitverschwendung« beschrieben.
Die Tür wurde aufgerissen, und fünf oder sechs Jugendliche kamen grölend ins Blackjack. »Also, bis dann«, sagte ich.
»Bis dann«, sagte er. Ich weiß noch, wie ich dachte, er würde einen guten Marine abgeben. Ernst, gewissenhaft, das gebügelte T-Shirt in die mit Bügelfalte versehenen Shorts gesteckt. Ein paar Jahre, dachte ich, und er würde die Offizierslaufbahn einschlagen können.
Beim Abendessen schlug Maureen vor, ins Kino zu gehen, aber ich redete mich mit der Begründung heraus, ich hätte eine anstrengende Arbeitswoche hinter mir. Sie spülte, ich fütterte die Hunde, dann zogen wir uns an unseren jeweiligen Fernseher zurück. Um zehn saß ich, den Bauch voll mit Pizza, in meinem Sessel und sah mir Homicide mit Untertiteln an. Für die Werbepausen lag eine aufgeschlagene Newsweek auf meinem Schoß, zwischen die Schenkel hatte ich mir eine Dose Bier geklemmt, und aus meinem Kopfhörer dröhnte Van Morrisons Astral Weeks von 1968, dem Jahr, in dem ich siebzehn geworden war.
An jenem Freitagabend war ich siebenundvierzig. In einem Musik-Chatroom, den ich seit einer Weile besuchte, hatte vor einem Monat jemand gefragt: »Welche sind die zehn Meisterwerke der Rock-¯Ära?« Daraufhin hatten wir alle angefangen, unsere Platten durchzugehen, vorläufige Listen ins Netz zu stellen und uns gegenseitig wegen unserer Auswahl zu beschimpfen. (Ich stellte mir meine Cyber-rockenden Brüder als einen einzigen Fettwanst mit Halbglatze und in einem Batik-T-Shirt Größe XL vor, der eigentlich eins in Größe XXL gebraucht hätte.) Meine Zusammenstellung der Meisterwerke war genauso widersprüchlich wie die aller anderen. Zum Beispiel zog ich den Zorn mehrerer Cyberkumpel auf mich, als ich Nebraska von Springsteen auf meine Liste setzte, Born to Run und Born in the USA dagegen nicht. »Hey, Alter! Als Sprecher der WAHREN Springsteen-Fans«, schrieb mir ein Ingenieur für Recyclingtechnik aus Michigan, »muss ich dir leider mitteilen, dass dein Gehirn noch aufgeweichter ist als ein Brot in der Suppe!« Natürlich habe auch ich nach Kräften ausgeteilt, wenn auch nicht immer erfolgreich. Ein Professor für Mediävistik fühlte sich tödlich beleidigt, als ich behauptete, dass der Stammbaum der Backstreet Boys sich bis zu jener anderen, ebenso geistlosen, völlig überschätzten Boygroup namens Beach Boys zurück verfolgen lasse. Der Gelehrte fragte, ob er mir privat etwas zukommen lassen könne, und ich gab ihm meine Adresse. Eine Woche später erhielt ich einen Fed-Ex-Briefumschlag, Porto bezahlt von der Princeton University, der eine elfseitige, profunde (wenn auch nicht überzeugende) Verteidigungsschrift des Albums Pet Sounds enthielt.
Wochenlang war ich mit kaum etwas anderem beschäftigt, als Platten hören und Listen zusammenstellen. Sergeant Pepper oder Songs in the Key of Life? Aretha oder Etta James? Den zehnten Platz auf meiner Liste hatte ich für den unorthodoxen, aber immer interessanten Van Morrison reserviert, konnte mich jedoch nicht so recht entscheiden zwischen dem eleganten Moondance und dem emotionaleren, wilderen Astral Weeks. Deswegen hatte ich an jenem Freitagabend die Kopfhörer auf.
Aber heute ist mir klar, dass dies alles ein Schutzpanzer war: der Fernseher, die aufgeschlagene Zeitschrift, der akustische Rückblick auf mein Leben, das Klappern der Tastatur. Ich hatte mich hinter einem multimedialen Kettenhemd verschanzt, um mich gegen emotionale Attacken von Maureen zu schützen.
Ein Schatten huschte über den Teppichboden, und ich hob den Blick. »Caelum?«, sah ich sie fragen. Sie hielt ein Korbtablett mit zwei Gläsern Rotwein und einer brennenden Kerze. Ich beobachtete, wie der Wein in den Gläsern schwappte, während sie auf eine Antwort wartete. Die Kerze duftete nach irgendeinem Gewürz. Damals stand sie auf Enya und Aromatherapie.
Ich hob meinen Kopfhörer an. »Ja, in ein paar Minuten«, sagte ich. »Ich lasse die Hunde raus und seh mir noch kurz die Nachrichten an, dann komme ich rauf.«
Enttäuscht und mit hängenden Schultern drehte sich Maureen mitsamt dem Weintablett um und ging die Treppe hoch. Selbst von hinten konnte ich sehen, was in Mo vorging, aber sehen und reagieren ist zweierlei. »Starrt nicht bloß auf die Buchseiten«, ermahnte ich meine Schüler immer wieder. »Versetzt euch in die Figuren hinein. Lebt in dem Buch.« Und sie hockten da und glotzten mich an wie ein außerirdisches Wesen vom Planeten Belanglosigkeit.
Maureen ist meine dritte Ehefrau, mein letzter Versuch und, soweit ich weiß, die einzige der drei, die mich je betrogen hat. Diese brennende Kerze auf dem Tablett war eins der Zeichen, die wir uns damals in Connecticut ausgedacht hatten, 1994, während der demütigenden Paartherapie – sieben Sitzungen, die wir uns verschrieben hatten, nachdem Maureens Fickorgien mit Paul Hay im Courtyard Marriott ans Licht gekommen waren.
Paul Hay, der Mann, dem ich ein paarmal auf ihren Betriebsfeiern begegnet war. Dessen Nummer in unserem Rolodex stand. Wenn ich’s mir recht überlege, stand unsere Nummer wahrscheinlich auch in seinem Rolodex.
- Autor: Wally Lamb
- 2009, 2, 752 Seiten, Maße: 14,7 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Charlotte Breuer u. Norbert Möllemann
- Übersetzer: Charlotte Breuer, Norbert Möllemann
- Verlag: Pendo
- ISBN-10: 3866122063
- ISBN-13: 9783866122062
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