Brief an meine Mutter
Der Hilferuf einer verlorenen Tochter - und die ergreifende Schilderung einer schwierigen Versöhnung. Als Waris Dirie ihre Mutter für eine lebensrettende Operation nach Europa holt, schlägt die anfängliche Freude über das Wiedersehen bald um in eine...
Der Hilferuf einer verlorenen Tochter - und die ergreifende Schilderung einer schwierigen Versöhnung. Als Waris Dirie ihre Mutter für eine lebensrettende Operation nach Europa holt, schlägt die anfängliche Freude über das Wiedersehen bald um in eine Atmosphäre gegenseitiger Vorwürfe. In einem langen, emotionalen Brief an ihre Mutter spricht Waris, selbst Beschneidungsopfer, offen über seelische Wunden, die nicht heilen wollen, über Schattenseiten ihrer Modelkarriere, in denen sexueller Missbrauch, Drogen- und Alkoholprobleme eine Rolle spielten, und über ihre Sehnsucht, der eigenen Mutter endlich verzeihen zu können. Das Schreiben wird für sie zu einer schmerzvollen, aber überlebenswichtigen Erfahrung.
Brief an meine Mutter von Waris Dirie
LESEPROBE
Einschwieriger Anfang
Liebe Mama,
ich trage dieses Bild bei mir, woimmer ich auch bin. Es zeigt dich in der somalischen Wüste. Du hast ein weitesafrikanisches Kleid an, das bis zum Boden reicht. Es ist bunt und grell, zeigtalle Farben der Welt. Um deinen Hals baumeln unzählige Ketten aus Gold, dieFinger sind voll mit Ringen. Ich weiß, dass du es so magst. Du siehst stolz ausund erhaben, dein Gesicht ist glatt wie das eines Mädchens. Dein Blick istunergründlich wie die See, und vielleicht ist es auch das, was ich an dem Bildam meisten liebe.
Als wir uns vor einigen Monaten in Wien das letzte Mal sahen, hattenwir einen riesigen Streit. Wir haben beide geschrien,getobt und geweint vor lauter Wut, Enttäuschung und auch aus Schmerz. Wir habenuns Worte an den Kopf geworfen, die besser ungesagt geblieben wären. Wir sindschließlich auseinandergegangen wie zwei Streithähne,ermattet nach einem stundenlangen Kampf.
Ich sitze nun hier in meinem kleinen Häuschen in Südafrika, das zumeinem neuen Refugium geworden ist. Dein Bild steht vor mir auf demSchreibtisch, und ich kann deinem Blick nur selten entgehen. Ich schaue auf dasMeer hinaus, auf die Wellen, auf die kleinen Fischerboote, die vor der Küstetreiben.
Es ist später Nachmittag. Die Sonne zeigt sich glutrot und ist amHorizont schon halb ins Meer abgetaucht. Sie geht hier in Afrika anders unterals in Europa, unsagbar langsam.
Ich habe nicht viel geschlafen die letzten Nächte. Ich war aufgewühlt unddurcheinander. Ein Feuer loderte in mir. Ich suchte nach einer Möglichkeit, dirnahezukommen, aber mir fiel nichts ein. Ich wälztemich im Bett hin und her. Ich habe dir noch so viel zu sagen, aber ich weißnicht, wie. Ich muss dir einiges beichten, aber ich finde keinen Weg. DieWahrheit ist oft wie eine Rose. Wer nach ihr greift, muss damit rechnen, gestochenzu werden. Es tut weh, unsagbar weh, dass ich mir eingestehen muss: »Waris, du hast in deinem Leben viel geschafft, aber einZiel nie erreicht: in das Herz deiner Mutter zu gelangen.«
Ich wollte immer, dass du stolz auf mich bist, dass du daheim erzählstvon deiner Tochter in der fremden Welt. Dass du dabei Bewunderung empfindestfür die starrköpfige, dickköpfige, trotzköpfige Waris,die sich durchgeboxt hat in ihrem neuen Leben. Ich weiß: Vieles von dem, wasich tue und sage, verstehst du nicht oder kannst du nicht gutheißen, weil dirdeine Tradition etwas anderes vorschreibt. Du lebst im alten Afrika, gefangenin all seinen Riten und Sitten. Ich trage mein Afrika in mir. Es ist einmodernes Afrika, eine kraftvolle Mischung aus Tradition und Erneuerung. LiebeMama, alles, was ich von dir möchte, ist, dass du versuchst, mich zu verstehen.Wenn man das, was im Leben scheinbar wichtig ist, mit der Hand einfachwegschieben könnte, was bliebe dennoch immer so, wie es war? Die Liebe einerTochter zu ihrer Mutter. Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Nichts auf derWelt ist so stark wie dieses Band.
Es sind sehr intime Zeilen, Mama. Vieles von dem, was ich dir schreibe,habe ich noch nie jemandem erzählt. Nicht einmal meinen besten Freunden. Mehrals einmal musste ich mich überwinden, dir die nackte Wahrheit zu schildern.Aber die Zeit ist gekommen, um Zeugnis abzulegen. Die Wahrheit zu sagen und nichtsals die Wahrheit.
Ich will, dass du verstehst, warum ich so bin, wie ich bin. Vielleichtschaffe ich es so, dir nahezukommen. Wir sind Mutterund Tochter, blutsverwandt, aber doch grundverschieden. Wir sind TausendeKilometer voneinander getrennt, aber unsere Ansichten liegen oft so weitvoneinander entfernt, als würden wir auf unterschiedlichen Planeten leben. Ichhabe oft die Hand zur Versöhnung ausgestreckt, aber du hast sie immerausgeschlagen. Egal, ob wir über Religion, Tradition, Familie gesprochen haben- wir fanden nie zueinander. Da war kein Verständnis für die Sichtweise des anderen.Dabei wünsche ich mir nichts sehnlicher in meinem Leben, als von dir verstandenzu werden.
Ich bin und bleibe Waris, deine Wüstenblume.Geboren in deinem Schoß in der Wüste Somalias, halb totgeprügeltvom jähzornigen Vater, genital verstümmelt einer grausigen Tradition wegen. Ichlief weg mit nichts als den Kleidern auf dem Leib. Eine gnädige Welle spültemich nach London, eine günstige Woge trug mich nach oben. Aus Waris, der Wüstenblume, wurde Warisdas Topmodel, die UN-Sonderbotschafterin, die Kämpferin gegen das Unrecht derGenitalverstümmelung, die Erfolgsautorin. Viele Millionen Menschen haben dieBücher über mein Leben gelesen.
Aber Mama, das ist nicht die ganze Geschichte. Denn seit vielen Jahrentrage ich ein Geheimnis in mir. Ich habe noch nie darüber gesprochen. Nachaußen hin bin ich die starke Waris, die Kämpfernatur,immer schön, immer lächelnd. Innen aber bin ich verletzlich, unsicher, nach wievor fremd in dieser großen, bunten Welt. Schuld daran ist ein Dämon, der übermeinem Leben schwebt. Manchmal glaube ich, dass er verschwunden ist oder dassich ihn besiegt habe. Aber dann taucht er plötzlich wieder auf, und das miteiner Wucht und Brutalität, dass es mich umreißt und in die Dunkelheit zerrt.
Dieser Dämon hat die Befehlsgewalt über mein Leben. Er bestimmt, wasich fühle, was ich im Leben schaffe, ob es mir gut geht oder schlecht.Vielleicht kannst du mir helfen, ihn zu besiegen, Mama. Gemeinsam sind wirstark, Mutter und Tochter.
Mama, mit diesem Brief treteich vor dich hin und bitte dich um deine Hilfe und um deine Liebe.
Deine Waris, deine Wüstenblume, deineTochter.
© UllsteinBuchverlage
Interview mit Waris Dirie
In Deutschland war"Wüstenblume" über 100 Wochen auf den Bestseller-Listen. Aber IhrBuch war mehr als ein Bestseller. Es hat die Menschen, die es gelesen haben,verändert. Hat es auch Sie verändert, während Sie daran gearbeitet haben?
Ja, dieArbeit an meinem Buch hat mich verändert. Ich habe immer stärker gefühlt, dasses meine Mission ist, gegen das schreiende Unrecht der weiblichenGenitalverstümmelung zu kämpfen.
Sie haben einige Zeit gebraucht fürdie Entscheidung, Ihre Erlebnisse niederzuschreiben. Gab es einen besonderenMoment oder ein bestimmtes Ereignis, wo Sie gedacht haben: "So jetzt macheich den Mund auf!"?
Ich habeoft daran gedacht, über mein Leben und über das, was mir als Kind angetanwurde, zu sprechen oder zu schreiben. Oft wollte ich es herausschreien, aberich konnte nicht. Eines Tages war ich bereit, über alles zu reden und meinerstes Buch zu schreiben.
Als Sonderbotschafterin derVereinten Nationen kämpfen Sie gegen die weibliche Genitalverstümmelung.Glauben Sie, dass sich durch Ihre Arbeit und Ihre Popularität als Autorin dieSituation wenigstens ein bisschen verändert hat?
MeineBücher und meine Arbeit in den letzten sieben Jahren haben einiges verändert.In 14 Staaten, in denen die Genitalverstümmelung praktiziert wird (insgesamt28), wurde diese auf internationalen Druck per Gesetz verboten. Alle großenOrganisationen von UNO, UNESCO, UNICEF, ROTES KREUZ etc. haben mittlerweilezahlreiche Projekte gegen weibliche Genitalverstümmelung ins Leben gerufen. Esist allerdings noch ein langer Weg bevor alle Mädchen aus den betroffenenLändern vor diesem Verbrechen an Körper und Seele geschützt sein werden.
Mit gerade mal 13 Jahren haben Siealles hinter sich gelassen, weil Sie nicht den Mann heiraten wollten, den IhrVater für Sie ausgesucht hatte. Selbst in Ländern wie Deutschland ist es nichtungewöhnlich, dass zum Beispiel türkische Mädchen von ihren Eltern verheiratetwerden. Warum, glauben Sie, ist diese Tradition immer noch so stark?
Alle dieseTraditionen dienen doch nur zur Unterdrückung der Frauen - verschleiern, zwangsverheiraten, verkaufen, verstümmeln, versklaven.Durch die Immigration werden den Menschen in Europa diese Probleme erst richtigbewusst gemacht. Nun sind alle Menschen und die Politiker gefordert, durchsensible Aufklärungsarbeit die Rechte der Frauen zu stärken.
Leben Sie noch in New York? Undwürden Sie diese Stadt Ihr Zuhause nennen?
Ich lebenicht mehr in New York, sondern seit einiger Zeit in Wien, wo auch der Sitzmeiner Waris Dirie Foundation ist (Info: www.waris-dirie-foundation.com). AlsNomadin ist mein Zuhause immer dort, wo ich mich wohl fühle.
Die Fragen stellte Roland GroßeHoltforth, literaturtest.de.
- Autor: Waris Dirie
- 2007, 212 Seiten, 8 farbige Abbildungen, Maße: 14,1 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Aufgez. v. Christian Nusser
- Verlag: Ullstein HC
- ISBN-10: 3550078765
- ISBN-13: 9783550078767
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