Der Geist der Bücher
Romeo wird ermordet, Don Quijote ist verschwunden und wer droht Kapitän Ahab? Die berühmte Schriftstellerin Lynn aus New York kann nicht länger die Augen davor verschließen, dass die Welt der Literatur in Gefahr ist. Gondars Schergen meucheln Helden, zerstören Schauplätze und löschen die Erinnerung an ferne Zeiten. Nur wer ist dieser Gondar? Lynn muss die Welt retten, die ihr so viel bedeutet. Ihr fünfzehnjähriger Neffe Ben folgt ihr, denn schließlich ist sie seine letzte Verwandte und Vertraute. Mit Hilfe eines Amuletts nimmt er ihre Spur auf und gelangt so in das Verona Romeo und Julias. In letzter Sekunde rettet er Julia vor den Häschern Gondars. Mit ihr und Romeos Freund Mercutio an der Seite setzt er seine Reise durch die aufregende Welt der literarischen Abenteuer fort immer auf der Suche nach seiner Tante und dem Rätsel der Zerstörung dieser Welt. Dann nimmt Gondar auch ihn und seine Freunde ins Visier.
Der Geist der Bücher von Christoph Wortberg und Manfred Theisen
LESEPROBE
3
»TanteLynn?« Er lief die Eingangstreppe zum Haus hinauf. So ein Unsinn! Wie solltesie ihn von hier aus hören? Er klingelte, zog gleichzeitig seinen Schlüssel ausder Tasche, versuchte aufzuschließen. Jetzt mach schon! Endlich war die Türoffen. Stille empfing ihn, bleiern und schwer.
»Ich bin s,Ben!«
KeineAntwort. Nur drückende Lautlosigkeit. Und das Klopfen seines Herzens - pamm, pamm, pamm!Schweiß lief ihm über Stirn und Brauen, tropfte von der Nasenwurzel, ließ seineAugen brennen. Plötzlich ein Poltern. Er hob den Kopf. Das Poltern wurdelauter. Es kam von oben, aus der Bibliothek. Jemand schrie. Seine Tante, keinZweifel. Dann ein weiterer Schrei, aber unterdrückter als der erste. Wiegewaltsam erstickt.
Er nahmdrei Stufen auf einmal, erreichte mit letzter Anstrengung den Treppenabsatz vorder Bibliothek, rutschte auf dem Perser aus und knallte gegen die Tür.Verzweifelt schnappte er nach Luft, lauschte. Bis auf das Röcheln in seinemBrustkorb war alles ruhig.
Er streckteden Arm nach dem Türgriff aus, glitt mit seinen schweißnassen Fingern von demMessingknauf ab, musste zweimal nachfassen, ehe die Tür endlich aufsprang.
»TanteLynn!«
Nichts zusehen von ihr. Dafür nahm er einen merkwürdigen Gestank wahr. Vom Schreibtischher roch es verbrannt. Wie Feuer nach einer Schlacht, schoss es ihm in denSinn, das Verbrennen der Gefallenen nach der Niederlage So ein Quatsch! Wersollte sich hier schon bekriegt haben. Doch der Gestank war greifbar und echt,genau wie das Gepolter und die Schreie, die er eben gehört hatte.
Er riefnoch einmal nach seiner Tante, aber er spürte, dass es zu spät war. Ein Gefühlvon Einsamkeit überkam ihn. Als wäre er eingesperrt, allein mit sich selbst.Das letzte Mal hatte er sich nach dem Verlust seiner Eltern so gefühlt. Was,wenn er Tante Lynn nie wiedersehen würde? Der alteFleck an der Wand. Wie gelähmt starrte er auf das eingetrocknete Blut, das seineigenes war. Er kam sich genauso hilflos vor wie damals.
Plötzlichvernahm er ein Knacken aus einer der hinteren Regalreihen, dann ein Rascheln.Vorsichtig ging er auf das Regal zu. Noch sechs Schritte, noch fünf. Vielleichtwar Tante Lynn ja nur gestürzt, hatte beim Herausholen eines Buchs aus denoberen Regalreihen das Gleichgewicht verloren, war von der Bücherleiter gefallenund beim Aufprall unglücklich mit dem Fuß umgeknickt Noch vier Schritte, nochdrei Er würde einfach einen Krankenwagen rufen, man würde sie ins Mount SinaiMedical Center fahren oder ins LenoxHill Hospital Noch zwei Schritte, noch einer Bitte, lass es so sein!
Ererreichte die Rückseite des Regals. Vor ihm auf dem Boden lag ein StapelBücher, der von einem der Borde gefallen war. Griechische Philosophen.Aristoteles, Sokrates, Platon. Entweder jemand war gegen das Regal gestoßenoder die Bücher waren gewaltsam herausgerissen worden.
DerBücherhaufen bewegte sich. Unter einer in Leder gebundenen Ausgabe von Thomasvon Aquins Summa Theologica schälte sich TanteLynns rot getigerter Kater Mr Oz hervor. Ben nahm ihnhoch. »Wo ist sie, Ozzie?«
Mr Ozgähnte herzhaft und schmiegte sich dann schnurrend an seine Brust. Ben setzte ihnauf das Chesterfield-Sofa. Sofort rollte sich der Kater zusammen und schlossdie Augen. Ben beneidete ihn. Einfach schlafen, um dann irgendwann aufzuwachen,als ob nichts passiert wäre. Aber etwas war passiert, etwas Schlimmes!
Er ginghinüber zum Schreibtisch. Auf dem Monitor lief der Bildschirmschoner, den erfür Tante Lynn aus dem Internet heruntergeladen hatte.Langsam wanderte die Erde über die Bildschirmfläche.
Sein Blickfiel auf die Schale aus afrikanischem Ebenholz mit den Bleistiften und Radiergummis.Tante Lynns Notizblock mit den handschriftlichen, hieroglyphengleichenAnmerkungen zu ihrem neuen Roman. Die staubgraue Tastatur des Computers unddavor dunkle Stellen im Filz der Schreibtischauflage, dort, wo ihre Handballenlagen, wenn sie schrieb.
Dann sah erden Zettel, herausgerissen aus ihrem Block. Er lugte unter der Tastatur hervor.Als ob sie ihn dort versteckt hätte, damit er ihn fände. Er zog ihn heraus,glättete ihn, las, was da in hastig hingeworfenen Lettern geschrieben stand:Jetzt weißt du hoffentlich, was ich meinte. Bin in seiner Gewalt DieSchrift brach ab. Er spürte, wie seine Hände zitterten.
»Lynn!«, rief er, und noch einmal: »Lynn!«
Woher kamdieser üble Geruch? Wenn er die Augen schloss, sah er Leichenfeuer, die denHimmel über einem Schlachtfeld röteten, hörte das verzweifelte StöhnenVerwundeter und die Schreie von Krähen, die den Leichen ihre Augäpfelherausrissen. Und noch etwas sah er: eine Burg, in die Erde hineingebaut, und inder Burg sich selbst, eine Treppe hinuntersteigend, sich herabtastend inunergründliche Finsternis
Ein dumpferSchlag holte ihn zurück. Aus dem Regal mit den Lieblingsbüchern seiner Tantewar ein Buch gefallen. Er musste es nicht aufheben, um zu erkennen, dass essich um jene Ausgabe von Shakespeares Romeo und Julia handelte, aus dersie ihm vorgelesen hatte. Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu.Wie konnte ein Buch von selbst aus einem Regal fallen? Er wollte eszurückstellen, als er die rote Flüssigkeit bemerkte, die zwischen den Seitenherausdrang und sich auf dem Boden verteilte. Was war das? Er schlug das Buchauf. Zwischen den Seiten lag Lynns Amulett. Es war zerbrochen, die untereHälfte fehlte. Die Bruchkanten waren deutlich zu erkennen. Aus den Kanten tropftedie rote Flüssigkeit, rann über die Buchseiten und fiel auf seine Hand. Ertauchte einen Finger hinein, roch, schmeckte - und erschrak: Blut!
Zum erstenMal seit dem Tod seiner Eltern wurde Ben von wirklichem Grauen erfasst. Ohnedass er wusste, warum, griff er nach dem Amulett. Er legte sich das lederneBand mit dem Oktagon um den Hals. »Hilf mir bitte«,flüsterte er, »wie auch immer du kannst!«
Er schlossdie Augen. Um ihn herum war nur noch Rauschen. Etwas riss an ihm. Etwas, dasgrößer war als er. Es packte ihn und zog ihn mit sich fort
© UllsteinBuchverlage
- Autoren: Christoph Wortberg , Manfred Theisen
- 2007, 298 Seiten, Maße: 14,3 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: List Hardcover
- ISBN-10: 3471789480
- ISBN-13: 9783471789483
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