Wind über dem Fluss
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KAPITEL1
TheatreRoyal, Adelaide
Sams tag, 22. November 1889
Roxy Bellueholte tief Luft und teilte die schweren pflaumenblauen Vorhänge. Nur einenwinzigen Spalt, durch den sie spähen konnte, ohne von den Leuten gesehen zuwerden, die schon in dem schwach beleuchteten Zuschauerraum saßen. Das üblichePremierenvolk, dachte sie, als sie die Menge, die sich durch den Eingangdrängte, und die Platzanweiser beobachtete, die hektisch hin und her liefen unddie Gäste zu ihren Sitzen führten. Stattliche Matronen, deren Busen die glänzendenBrokatstoffe ihrer Kleider zu sprengen drohten, plauderten und lächelten dieHerren an, die sehr distinguiert aussahen in ihren dunklen Anzügen. Junge, tollpatschigeMädchen schauten sich eifrig um und betrachteten voller Staunen die imDämmerlicht glitzernde Relieftapete, die mit Samt bezogenen Sitze und die Plüschteppiche.Ein paar Kinder waren auch da, aber ihre besorgten Eltern hielten sie im Zaum.Aus dem Orchestergraben tönte eine Kakofonie vonViolinen- und Flötenklängen - es klang wie Katzengeheul in variierendenDissonanzen.
Roxys Blick wanderte vom Eingang zurersten Reihe, in der ihre Eltern saßen. Ihr Anblick wärmte ihr das Herz. MajorJohn Bellue - mit ordentlich gekämmten dunklen Haarenund gewichstem Schnurrbart - saß aufrecht da und studierte konzentriert dasProgramm. Neben ihm wirkte ihre Mutter Felicitezierlich und sehr elegant in dem dunkelgrünen Taftkleid und dem passenden, mitwinzigen Federn geschmückten Hütchen, das kess auf denrabenschwarzen Locken saß. Sie war fast vierzig, sah aber zehn Jahre jüngeraus, zumindest in Roxys Augen. Ihre Mutter schautelächelnd zu ihrem Vater auf und legte die Hand Besitz ergreifend auf seinenArm - eine liebevolle Geste.
Roxy seufzte glücklich und ließ denBlick weiterschweifen, als sich ihre Mutter nach rechts wandte und sich angeregtmit einem jungen Mann unterhielt. Roxy schätzte ihn auf Anfang zwanzig; er sahgut aus und hatte dichtes sandfarbenes Haar, das ihm in die Stirn fiel. Erbeugte sich vor, lächelte und reichte ihrem Vater die Hand. Offensichtlichhatte er sich gerade vorgestellt.
Hinter Roxy hasteten dieSchauspieler auf ihre Positionen. Roxy spürte, dass jemand sie am Armberührte.
»Komm«, zischte Bert, derInspizient, »alle warten.«
Vorsichtig ließ Roxy den Vorhangfallen, als das Licht im Zuschauerraum gedämpft wurde und das Orchester dieersten Töne spielte.
Alle standen herum, schütteltenHände und sprachen Glückwünsche aus. Felicite Bellue schlang überschwänglich die Arme um ihre Tochterund drückte sie an sich. »Es war wundervoll, Liebling. War sie nicht einegroßartige Portia, John?«
»Das ist mein Mädchen«, sagte John Bellue und steckte einen Finger unter die Krawatte, um sieein bisschen zu lockern. Es war heiß im Saal, und Roxy merkte, dass ihr Vaterjetzt, da die Vorstellung vorbei war, so schnell wie möglich fortwollte. Alskönnte er ihre Gedanken lesen, nahm er seine Uhr aus der Tasche und sah nachder Zeit. Wie er schon vorher kundgetan hatte, musste er wegen der Parade beiden Kasernen im Morgengrauen früh schlafen gehen. Und auch wenn er stolz aufsie war, wusste Roxy, dass er gesellschaftliche Anlässe, die vielen Menschenund die seichte Konversation verabscheute. Nur weil sich seine Tochterentschieden hatte, die weibliche Hauptrolle in William Shakespeares Kaufmannvon Venedig zu spielen, hatte er sich gezwungen gefühlt, an der Premierenfeierteilzunehmen.
Roxys Blick fiel auf einen der großenkunstvoll gerahmten Spiegel hinter der aufrechten, würdevollen Gestalt ihresVaters und entdeckte sich selbst. Sie war nicht groß, reichte ihrem Vater kaumbis zur Schulter, und obschon der Spiegel so weit weg war, dass sie das Grünihrer Augen und die Sommersprossen auf der Nase nicht erkennen konnte, sahsie, dass ihre Wangen in dem blassen Gesicht vor Aufregung gerötet waren.Einige blonde Haarsträhnen hatten sich aus der hastig hochgesteckten Frisurgelöst und umrahmten ihren Kopf wie ein Heiligenschein.
Es war ein eigenartiges Gefühl, dieSzene im Spiegel zu verfolgen; sie kam sich vor, als spionierte sie sich und alleanderen aus. Und für den Bruchteil einer Sekunde sah sie sich nicht als Roxy Bellue, Schauspielerin und Tochter, sondern als dieReflexion einer Fremden. Sie wandte sich ab und schüttelte den Kopf, um ihreGedanken der Realität zuzuwenden und sich wieder mit dem Theater und derAufregung zu beschäftigen.
Bert schlenderte strahlend auf siezu. »Großartige Vorstellung, Roxy. Sieh zu, dass du heute Nacht gut schläfst; wirsehen uns dann morgen zur Matinee.«
Als Roxy zusammen mit ihren Elterndas Foyer durchquerte, entdeckte sie den jungen Mann, der während der Aufführungneben ihrer Mutter gesessen hatte. Er lehnte an dem geschnitzten Geländer undbeobachtete sie. Jetzt sah sie, dass er nicht wie diemeisten anderen Herren bei dieser Premierenvorstellung einen dunklen Abendanzugmit weißem Hemd, Krawatte und Handschuhen trug, sondern eine weiße - augenscheinlichneue - Moleskinhose und ein Tweedjackett. In der Hand hielt er einen braunenFilzhut.
Als Roxy an ihm vorbeiging,begegnete sie seinem Blick. Es schien ihm nicht im Geringsten peinlich zu sein,dass sie ihn dabei ertappt hatte, wie er sie anstarrte. Stattdessen schaute ersie leicht spöttisch und verwirrt zugleich an. Plötzlich lächelte er und zeigteseine strahlend weißen Zähne.
Am Fuß der Treppe öffnete ihnen einTürsteher die große Glastür, die ins Freie führte. Die warme Luft schlug ihnenentgegen, und Roxy spürte sie im Gesicht. Felicite nahmihren Arm und dirigierte sie zu der wartenden Kutsche. Roxy setzte sich ansFenster und drückte das Gesicht gegen die Scheibe, als die Pferde antrabten.
Während die leichte Kutsche durchdie fast menschenleeren Straßen fuhr, dachte sie über die Ereignisse des Abendsnach, der, wie sie fand, ungeheuer erfolgreich verlaufen war. Sie hatte nichtein einziges Mal ihren Text vergessen, war nie irgendwie unsicher geworden.Das Stück war abgelaufen wie ein Uhrwerk, und sie wusste, dass sie gut gewesenwar. Roxy seufzte glücklich und dachte wieder an den Fremden im Foyer. DieWärme seines lakonischen Lächelns hatte sie auf unerwartete Weise berührt undein Glücksgefühl in ihr ausgelöst.
© Verlagsgruppe Lübbe
Übersetzung: Ursula Walther
- Autor: Robyn Lee Burrows
- 2005, 634 Seiten, Maße: 12,6 x 18,8 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Walther, Ursula
- Übersetzer: Ursula Walther
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404154045
- ISBN-13: 9783404154043
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