Die weiteren Aussichten
Roman
Inmitten der Leere der Provinz, an Rand einer kaum befahrenen Landstraße: Hier führt Herbert Szevko mit seiner Mutter eine alte Tankstelle. Eines Tages taucht im Hitzeflimmern der Straße eine lebenshungrige junge Frau auf. Sie heißt Hilde, putzt im...
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Buch (Gebunden)
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Produktinformationen zu „Die weiteren Aussichten “
Inmitten der Leere der Provinz, an Rand einer kaum befahrenen Landstraße: Hier führt Herbert Szevko mit seiner Mutter eine alte Tankstelle. Eines Tages taucht im Hitzeflimmern der Straße eine lebenshungrige junge Frau auf. Sie heißt Hilde, putzt im örtlichen Hallenbad und lächelt sich in Herberts Herz. Das Leben in der Tankstelle gerät bald aus den Fugen. Dann stürzt sich Herbert als Nichtschwimmer vom Fünfmeterbrett: hinein in einen Wirbel aus Stolz, Verzweiflung und Liebe... »Seethaler erzählt mit trockenem Humor,
liebevoll und ganz dicht dran an seinen Figuren.« (NDR)
liebevoll und ganz dicht dran an seinen Figuren.« (NDR)
Klappentext zu „Die weiteren Aussichten “
Inmitten der Provinzleere, am Rande einer kaum frequentierten Landstraße, führt Herbert Szevko gemeinsam mit seiner resoluten Mutter und unter Beobachtung des kleinen Zierfisches Georg eine alte Tankstelle. Eines Tages taucht im Hitzeflimmern der Straße eine lebenshungrige junge Frau auf. Sie heißt Hilde, spricht wenig, hat eine Stelle als Putzfrau im dörflichen Hallenbad und lächelt sich in Herberts Herz.Das Leben auf der Tankstelle und der dörfliche Alltag geraten aus den Fugen. Herbert bricht von zu Hause auf, stürzt sich als Nichtschwimmer vom Fünfmeterbrett und dann hinein in einen verrückten Wirbel aus Stolz, Verzweiflung und etwas ihm bisher völlig Unbekanntem: Liebe.
Lese-Probe zu „Die weiteren Aussichten “
Die weiteren Aussichten von Robert Seethaler Herbert steht auf. Und zwar schwungvoll. Wenn die Entschlossenheit in einem wühlt, ist nämlich oft sogar die Schwerkraft kein Thema mehr. Mit einer runden Bewegung öffnet er den Ärmelknoten vor dem Bauch und lässt sein Hemd auf die Liege gleiten. Fast ein bisschen verächtlich. Und dann geht er los. Dass er statt einer gehörigen Badehose seine Unterhose anhat, stört Herbert nicht. Vielleicht hat er es aber einfach vergessen. Das ist jetzt auch egal. Herbert interessiert sich jetzt nicht für solche Dinge. Er interessiert sich einzig und alleine für den Sprungturm. Und für die Aufmerksamkeit, die er, so denkt er sich, je nachdem mit einem eleganten oder einem gewagten Sprung ins Wasser bei der Reinigungskraft erringen wird können.
Und da ist er schon, steigt die Leiter hoch, spürt das kühle, gerippte Metall unter den Fußsohlen und die Kraft der Hoffnung zwischen den Rippen. Noch nie hat sich Herberts eigentlich recht verdrückter Brustkorb so groß, so weit und so frei angefühlt. Jeder Atemzug ein Wachstumsschub. Vorbei geht es am Einmeterbrett, vorbei auch am Dreimeterbrett und weiter und höher und aus.
In den frühen Siebzigerjahren sind ja die diversen Wirtschaftsprognosen den Dörflern von den geschäftigen Männern mit Hut geradezu euphorisch um die Ohren gebrüllt worden. Für ein Zehnmeterbrett haben diese Prognosen aber dann doch nicht ausgereicht.
... mehr
Jetzt, so viele Jahre später, ist Herbert darüber eigentlich ganz froh. Der steht nämlich mittlerweile ganz oben am Turm, krampft die Finger um die Geländerstangen und schaut auf das hellgrüne Fünfmeterbrett, das da vor ihm in den Raum hineinragt. Noch ist nichts passiert, denkt er sich, noch könnte er möglichst unauffällig oder auch möglichst auffällig, dafür aber wie selbstverständlich und mit gelangweilter Miene wieder hinuntersteigen und es sich auf der weißen Plastikliege gemütlich machen. Aber auf einmal, während Herbert da oben am Geländer hängt und so vor sich hindenkt, auf einmal ist der Stolz wieder da. Und weil der Stolz bekanntlich wenig nachdenkt, eigentlich meistens sogar ganz ohne Hirn auskommt, schaut der auch nicht zurück. Und Herbert schon gar nicht. Das ist vorbei, denkt er sich. Dann löst er den Fingerkrampf am Geländer und geht los.
Entfernung ist relativ. Den Computern heutzutage sind zum Beispiel die Kilometer zwischen Afrika und, sagen wir, Finnland ziemlich egal; Wüste und Eismeer sind für die praktisch Nachbarn. Für Herbert Szevko aber wiederum sind die zwei Meter Brettlänge, die da jetzt vor ihm liegen, eine fast unendlich weite Wegstrecke. Kalt ist ihm. Macht er eben einen kleinen Schritt. Gänsehaut an den Oberarmen. Noch ein kleiner Schritt. Gänsehaut jetzt überall. Noch ein Schritt. Plötzlich spürt Herbert die Schürfwunde an der Hüfte. Die brennt; rosig, wahrscheinlich weithin sichtbar, zwei Fingerbreit unterhalb der weißen Unterhose. Vielleicht war das mit der Unterhose übrigens sowieso nicht die beste Lösung. Noch ein Schrittchen. Weil der Unterhosengummi schon so ausgeleiert ist. Eigentlich sogar sehr ausgeleiert. Überhaupt ist die ganze Unterhose nicht mehr so richtig in Form. Einen winzigen Schritt noch. Herbert hört diesen Hallenbadmotor dröhnen, außerdem hört er es rauschen, vielleicht irgendwo in der Wand aus irgendwelchen Röhren. Oder nur in den eigenen Ohren, das lässt sich schwer sagen. Ein Schrittchen noch. Und das Herz. Das hört Herbert jetzt auch. Das rennt da drinnen mit sich selber um die Wette. Ein letzter Schritt links. Das Brett wackelt. Oder zittert. Vielleicht ist das Brett aber auch aus Beton und das Wackeln nur eine Einbildung. Jedenfalls wackelt und zittert Herbert. Trotzdem ein letzter, tastender, halber Schritt rechts. Und aus.
Herbert spürt, wie sich die Sprungbrettkante in die vorderen Fußballen hineindrückt. Und plötzlich spürt er auch die Zugluft zwischen den Zehen.
Tief atmet er ein. Tief, aber doch auch ein bisschen gehalten und vorsichtig. Damit nichts passiert. Und dann schaut er sich um. Komisch, wie klein so ein Schwimmbecken im Grunde genommen ist. Ein paar Kacheln am Schwimmbeckenboden sind ausgebrochen, schwarze Quadrate liegen stattdessen da und dort herum. An der Wasseroberfläche kringeln sich ein paar verlorene Sonnenstrahlen und blitzen ihm genau in die Augen. Auch an den hohen, grünlichen und bläulichen Wänden schaukeln sich die hellen Sonnenflecken träge hin und her. Die beiden Krötendamen sitzen am Tisch, haben immer noch die Blütenhauben auf und blättern in ihren Zeitschriften herum. Die Gläser vor ihnen sind leer. Die junge Frau im weißen Kittel hat mittlerweile den Mob gegen die Wand gelehnt und wischt mit einem Schwamm an den Kacheln herum. Bei denen mit den weißen Schiffchen macht sie das besonders gründlich und gewissenhaft. Ganz nah beugt sie sich hin und wischt und reibt. Natürlich, denkt sich Herbert, das ist ja auch ihre Arbeit und, denkt er sich weiter, natürlich hat sie da keinen Blick für irgendeinen dahergelaufenen Badegast in ausgeleierter Unterhose und mit Sprungambitionen, natürlich nicht. Und dann räuspert er sich ziemlich laut, geht ein bisschen in die Knie und streckt die Arme in die Höhe. Wie eine Übung soll das aussehen, eine Sprung- oder Turnübung oder so. Geschickt und sportlich jedenfalls. Aber niemand schaut. Die Kröten nicht und die junge Frau sowieso nicht.
Herbert schaut zur Decke hoch. Dreckig ist die, da kommt keine Reinigungskraft hin. Ganz genau sieht er, wie da oben der Lurch aus Staub und Spinnweben sanft zittert in der leichten Zugluft. Auch Herbert zittert. Kalt ist ihm. Ganz fein gepunktet ist sein dünner Körper. Tief unten glitzert das Wasser und von noch tiefer unten starren die schwarzen Quadrate zu ihm hoch. Der Stolz ist weg. Der hat sich gemeinsam mit der Körperwärme unbemerkt verabschiedet. Herberts Unterlippe bibbert ein bisschen. Einmal schaut er noch zur jungen Frau, sieht, wie sie nicht schaut. Dann dreht er sich um und geht.
Oder will gehen. Weil oft ist es ja so: Genau dann, wenn du am allerwenigsten damit rechnest oder wenn du sogar mit überhaupt gar nichts mehr rechnest, genau dann steht plötzlich das Schicksal vor dir, spuckt dir vor die Füße und schaut breit lachend zu, wie es dich zerlegt.
Zum Beispiel jetzt: Ob dieser feuchte Fleck am Sprungbrett wirklich die Spucke vom Schicksal ist oder doch nur eine kleine Kondenswasserpfütze, lässt sich natürlich schwer sagen. Jedenfalls aber steigt Herbert da hinein, rutscht aus, greift um sich, versucht sich sinnlos irgendwo an der Luft festzuhalten, reißt ein Bein hoch, knickt mit dem anderen ein, macht eine unfreiwillige Pirouette und stürzt vom Brett. Unglücklicherweise stürzt er aber nicht einfach so daran vorbei, sondern kracht mit dem Hinterkopf noch ordentlich an die Brettkante. Wie ein heller Blitz nur aus Schmerz, so fühlt sich das an. Die Sturzluft ist kalt. Die Haare flattern. Der Deckendreck entfernt sich. Dann klatscht es laut, der Bauch brennt, alles ist ganz dunkel, es sprudelt, alles ist ganz hell, es rauscht, alles ist grünlich gekachelt, es gurgelt, die Augen brennen, ein schwarzes Quadrat taucht auf, knapp vor dem Gesicht, Luftblasen tollen herum, alles dreht sich, und von hoch oben her kommt ein weißer Engel mit weit ausgebreiteten Flügeln auf Herbert zugeflogen.
Das war nämlich so: Fast alle im Hallenbad haben den ungesunden Kracher von Herberts Hinterkopf auf der Brettkante gehört. Nur Frau Horvath und der Bademeister nicht. Frau Horvath war zu weit weg und zu beschäftigt; der Bademeister war in seinem Bademeisterkämmerchen und zu besoffen. Alle anderen aber haben gar nicht vorbeihören können am Kracher. Die Kröten sind zusammengezuckt, haben aufgehört in ihren Journalen zu blättern, haben sich recht pikiert umgeschaut und sich nicht ausgekannt. Die junge Reinigungskraft ist auch zusammengezuckt. Aber ausgekannt hat sie sich sofort. Hat gleich gesehen, dass das dieser junge lange Mann ist, der da wahrscheinlich gerade mit seinem Kopf die Brettkante touchiert hat, jetzt ziemlich verdreht vom Fünfmeterbrett herunterfällt, mit dem Bauch voran ins Wasser platscht und nicht mehr auftaucht. Und da hat sie gar nicht lange weiter herumüberlegt, hat stattdessen ihren Putzschwamm ins Eck geschmissen, ist losgerannt und schließlich mitsamt ihrer kompletten Berufsbekleidung und einem energischen Gesichtsausdruck ins Wasser geköpfelt. Weil dabei wegen der unvorhergesehenen Bauchspannung alle drei vorderen Knöpfe abgesprungen sind, hat sich der Kittel weit geöffnet und ist links und rechts neben der prallen Frau dahergeflattert. Wie weit ausgebreitete weiße Flügel hat das ausgesehen, von unten, vom Schwimmbeckenboden aus betrachtet, wie ein weißer Engel.
Darum war Herbert auch gar nicht verwundert, als dieser Engel plötzlich in einem dumpf klatschenden Schwall von weißer Gischt und wild wirbelnden Blasen verschwunden, gleich darauf aber wieder erschienen und auf ihn zugeflogen gekommen ist. Ein bisschen hat Herbert sogar lächeln müssen, als dieser Engel dann ganz nah bei ihm war und ihm pausbäckig direkt ins Gesicht geschaut hat. Braune Haare hat der gehabt, braune Haare ohne Frisur. Wie Algen sind die um den runden Kopf herumgeschwebt. Wegen dem Lächeln hat Herbert dann nicht aufgepasst und ordentlich Wasser geschluckt, ganz genau hat er dem scharfen Chlor nachgeschmeckt. Er hat dann husten müssen, etwas hat gestochen in der Brust, das hat kurz wehgetan, dann war alles angenehm und er hat noch bemerkt, wie ihn der Engel an den Haaren packt, an den Schultern, an der Unterhose oder sonst wo, und dann war alles schwarz, und Herbert war weg.
© Kein & Aber
Entfernung ist relativ. Den Computern heutzutage sind zum Beispiel die Kilometer zwischen Afrika und, sagen wir, Finnland ziemlich egal; Wüste und Eismeer sind für die praktisch Nachbarn. Für Herbert Szevko aber wiederum sind die zwei Meter Brettlänge, die da jetzt vor ihm liegen, eine fast unendlich weite Wegstrecke. Kalt ist ihm. Macht er eben einen kleinen Schritt. Gänsehaut an den Oberarmen. Noch ein kleiner Schritt. Gänsehaut jetzt überall. Noch ein Schritt. Plötzlich spürt Herbert die Schürfwunde an der Hüfte. Die brennt; rosig, wahrscheinlich weithin sichtbar, zwei Fingerbreit unterhalb der weißen Unterhose. Vielleicht war das mit der Unterhose übrigens sowieso nicht die beste Lösung. Noch ein Schrittchen. Weil der Unterhosengummi schon so ausgeleiert ist. Eigentlich sogar sehr ausgeleiert. Überhaupt ist die ganze Unterhose nicht mehr so richtig in Form. Einen winzigen Schritt noch. Herbert hört diesen Hallenbadmotor dröhnen, außerdem hört er es rauschen, vielleicht irgendwo in der Wand aus irgendwelchen Röhren. Oder nur in den eigenen Ohren, das lässt sich schwer sagen. Ein Schrittchen noch. Und das Herz. Das hört Herbert jetzt auch. Das rennt da drinnen mit sich selber um die Wette. Ein letzter Schritt links. Das Brett wackelt. Oder zittert. Vielleicht ist das Brett aber auch aus Beton und das Wackeln nur eine Einbildung. Jedenfalls wackelt und zittert Herbert. Trotzdem ein letzter, tastender, halber Schritt rechts. Und aus.
Herbert spürt, wie sich die Sprungbrettkante in die vorderen Fußballen hineindrückt. Und plötzlich spürt er auch die Zugluft zwischen den Zehen.
Tief atmet er ein. Tief, aber doch auch ein bisschen gehalten und vorsichtig. Damit nichts passiert. Und dann schaut er sich um. Komisch, wie klein so ein Schwimmbecken im Grunde genommen ist. Ein paar Kacheln am Schwimmbeckenboden sind ausgebrochen, schwarze Quadrate liegen stattdessen da und dort herum. An der Wasseroberfläche kringeln sich ein paar verlorene Sonnenstrahlen und blitzen ihm genau in die Augen. Auch an den hohen, grünlichen und bläulichen Wänden schaukeln sich die hellen Sonnenflecken träge hin und her. Die beiden Krötendamen sitzen am Tisch, haben immer noch die Blütenhauben auf und blättern in ihren Zeitschriften herum. Die Gläser vor ihnen sind leer. Die junge Frau im weißen Kittel hat mittlerweile den Mob gegen die Wand gelehnt und wischt mit einem Schwamm an den Kacheln herum. Bei denen mit den weißen Schiffchen macht sie das besonders gründlich und gewissenhaft. Ganz nah beugt sie sich hin und wischt und reibt. Natürlich, denkt sich Herbert, das ist ja auch ihre Arbeit und, denkt er sich weiter, natürlich hat sie da keinen Blick für irgendeinen dahergelaufenen Badegast in ausgeleierter Unterhose und mit Sprungambitionen, natürlich nicht. Und dann räuspert er sich ziemlich laut, geht ein bisschen in die Knie und streckt die Arme in die Höhe. Wie eine Übung soll das aussehen, eine Sprung- oder Turnübung oder so. Geschickt und sportlich jedenfalls. Aber niemand schaut. Die Kröten nicht und die junge Frau sowieso nicht.
Herbert schaut zur Decke hoch. Dreckig ist die, da kommt keine Reinigungskraft hin. Ganz genau sieht er, wie da oben der Lurch aus Staub und Spinnweben sanft zittert in der leichten Zugluft. Auch Herbert zittert. Kalt ist ihm. Ganz fein gepunktet ist sein dünner Körper. Tief unten glitzert das Wasser und von noch tiefer unten starren die schwarzen Quadrate zu ihm hoch. Der Stolz ist weg. Der hat sich gemeinsam mit der Körperwärme unbemerkt verabschiedet. Herberts Unterlippe bibbert ein bisschen. Einmal schaut er noch zur jungen Frau, sieht, wie sie nicht schaut. Dann dreht er sich um und geht.
Oder will gehen. Weil oft ist es ja so: Genau dann, wenn du am allerwenigsten damit rechnest oder wenn du sogar mit überhaupt gar nichts mehr rechnest, genau dann steht plötzlich das Schicksal vor dir, spuckt dir vor die Füße und schaut breit lachend zu, wie es dich zerlegt.
Zum Beispiel jetzt: Ob dieser feuchte Fleck am Sprungbrett wirklich die Spucke vom Schicksal ist oder doch nur eine kleine Kondenswasserpfütze, lässt sich natürlich schwer sagen. Jedenfalls aber steigt Herbert da hinein, rutscht aus, greift um sich, versucht sich sinnlos irgendwo an der Luft festzuhalten, reißt ein Bein hoch, knickt mit dem anderen ein, macht eine unfreiwillige Pirouette und stürzt vom Brett. Unglücklicherweise stürzt er aber nicht einfach so daran vorbei, sondern kracht mit dem Hinterkopf noch ordentlich an die Brettkante. Wie ein heller Blitz nur aus Schmerz, so fühlt sich das an. Die Sturzluft ist kalt. Die Haare flattern. Der Deckendreck entfernt sich. Dann klatscht es laut, der Bauch brennt, alles ist ganz dunkel, es sprudelt, alles ist ganz hell, es rauscht, alles ist grünlich gekachelt, es gurgelt, die Augen brennen, ein schwarzes Quadrat taucht auf, knapp vor dem Gesicht, Luftblasen tollen herum, alles dreht sich, und von hoch oben her kommt ein weißer Engel mit weit ausgebreiteten Flügeln auf Herbert zugeflogen.
Das war nämlich so: Fast alle im Hallenbad haben den ungesunden Kracher von Herberts Hinterkopf auf der Brettkante gehört. Nur Frau Horvath und der Bademeister nicht. Frau Horvath war zu weit weg und zu beschäftigt; der Bademeister war in seinem Bademeisterkämmerchen und zu besoffen. Alle anderen aber haben gar nicht vorbeihören können am Kracher. Die Kröten sind zusammengezuckt, haben aufgehört in ihren Journalen zu blättern, haben sich recht pikiert umgeschaut und sich nicht ausgekannt. Die junge Reinigungskraft ist auch zusammengezuckt. Aber ausgekannt hat sie sich sofort. Hat gleich gesehen, dass das dieser junge lange Mann ist, der da wahrscheinlich gerade mit seinem Kopf die Brettkante touchiert hat, jetzt ziemlich verdreht vom Fünfmeterbrett herunterfällt, mit dem Bauch voran ins Wasser platscht und nicht mehr auftaucht. Und da hat sie gar nicht lange weiter herumüberlegt, hat stattdessen ihren Putzschwamm ins Eck geschmissen, ist losgerannt und schließlich mitsamt ihrer kompletten Berufsbekleidung und einem energischen Gesichtsausdruck ins Wasser geköpfelt. Weil dabei wegen der unvorhergesehenen Bauchspannung alle drei vorderen Knöpfe abgesprungen sind, hat sich der Kittel weit geöffnet und ist links und rechts neben der prallen Frau dahergeflattert. Wie weit ausgebreitete weiße Flügel hat das ausgesehen, von unten, vom Schwimmbeckenboden aus betrachtet, wie ein weißer Engel.
Darum war Herbert auch gar nicht verwundert, als dieser Engel plötzlich in einem dumpf klatschenden Schwall von weißer Gischt und wild wirbelnden Blasen verschwunden, gleich darauf aber wieder erschienen und auf ihn zugeflogen gekommen ist. Ein bisschen hat Herbert sogar lächeln müssen, als dieser Engel dann ganz nah bei ihm war und ihm pausbäckig direkt ins Gesicht geschaut hat. Braune Haare hat der gehabt, braune Haare ohne Frisur. Wie Algen sind die um den runden Kopf herumgeschwebt. Wegen dem Lächeln hat Herbert dann nicht aufgepasst und ordentlich Wasser geschluckt, ganz genau hat er dem scharfen Chlor nachgeschmeckt. Er hat dann husten müssen, etwas hat gestochen in der Brust, das hat kurz wehgetan, dann war alles angenehm und er hat noch bemerkt, wie ihn der Engel an den Haaren packt, an den Schultern, an der Unterhose oder sonst wo, und dann war alles schwarz, und Herbert war weg.
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Autoren-Porträt von Robert Seethaler
Robert Seethaler, 1966 in Wien geboren, wurde 2007 für seinen Roman »Die Biene und der Kurt« mit dem Debütpreis des Buddenbrookhauses ausgezeichnet. Er erhielt zahlreiche Stipendien, darunter das Alfred-Döblin Stipendium der Akademie der Künste. Der Film nach seinem Drehbuch »Die zweite Frau« wurde mehrfach ausgezeichnet und lief auf verschiedenen internationalen Filmfestivals. 2008 erschien sein zweiter Roman »Die weiteren Aussichten«. »Jetzt wirds ernst« wurde 2010 veröffentlicht, darauf folgte 2012 der Bestseller »Der Trafikant«. Robert Seethaler lebt und schreibt in Wien und Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Robert Seethaler
- 2008, 3. Aufl., 320 Seiten, Maße: 12,2 x 19,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kein & Aber
- ISBN-10: 3036955259
- ISBN-13: 9783036955254
- Erscheinungsdatum: 25.07.2008
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