Wo deine Schreie verhallen
Es ist ihr erster Mordfall und sie ist das Opfer. Ein Serienmörder zieht seine blutige Spur durch Chicago. Doch was hat er noch alles vor? Fieberhaft versucht Detective Emily Thompson seine teuflischen Pläne zu durchschauen. Doch mit jedem Indiz...
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Produktinformationen zu „Wo deine Schreie verhallen “
Es ist ihr erster Mordfall und sie ist das Opfer. Ein Serienmörder zieht seine blutige Spur durch Chicago. Doch was hat er noch alles vor? Fieberhaft versucht Detective Emily Thompson seine teuflischen Pläne zu durchschauen. Doch mit jedem Indiz wird klarer: Der Killer hat es auf sie selbst abgesehen. Er spielt ein grauenvolles Spiel mit Emily - und ihr bleiben nur noch wenige Stunden, um es zu gewinnen.
Lese-Probe zu „Wo deine Schreie verhallen “
Wo deine Schreie verhallen von Shane Gericke Montag, 6:00 Uhr morgens.
72 Stunden bis zu Emilys Geburtstag
Emily sprang von ihrer Veranda und freute sich auf ihr Training. In den vergangenen drei Wochen hatte sie etliche Überstunden ableisten müssen, weil die Grippewelle einen Kollegen nach dem anderen erwischt hatte. Deshalb hatte sie ihr übliches Pensum vernachlässigt.
Ihr war bewusst, wie dumm das war - ihre täglichen sechs Meilen halfen ihr, einen klaren Kopf zu behalten, und das war wichtig für ihren Job. Und außerdem war es gut für ihre Oberschenkel!
Wenn sie unter Druck stand, neigte sie jedoch dazu, sich von den vier apokalyptischen Reitern verführen zu lassen - zu viel Koffein, Zucker, Fett und zu wenig Bewegung. Am Abend zuvor hatte sie sich geschworen, das zu ändern; deshalb lief sie jetzt in der frühen Morgendämmerung los.
... mehr
Ihr Kriegsgeheul scheuchte die ersten Rotkehlchen in diesem Frühling auf, als sie den steilen Abhang zum DuPage River hinunterrannte. Wie eine olympische Hürdenläuferin setzte sie zuerst über den Entwässerungsgraben, der genau 29 Schritte von ihrer Veranda entfernt lag, und dann, nach 42 weiteren Schritten, über den langen, niedrigen Stapel Feuerholz. Sie genoss das Brennen in ihren muskulösen Waden. Die feuchte Luft, die vom Fluss herüberzog, ließ ihren Adrenalinspiegel ansteigen, und sie sprang begeistert in die Höhe, als einige Kanadagänse so tief über sie hinwegflogen, dass sie beinahe ihre elfenbeinfarbenen Bäuche hätte berühren können. Am Fuß des Hügels bog sie in einen schmalen, von Bäumen und hohem Gras gesäumten Feldweg ein und erreichte kurz darauf den mit roten Ziegeln gepflasterten Wanderweg, der am Fluss entlangführte.
»Mist! Das glaube ich nicht«, schimpfte Emily, als etwas warm an ihren Beinen hochspritzte. Sie warf einen Blick zum Himmel und drohte mit dem Finger. »Hey! Gönnst du mir keinen einzigen Tag ohne Schlammpfützen?« Anscheinend nicht. Wären ihre neuen Nikes schwarz oder dunkelblau gewesen, dann hätte man den Schmutz erst nach einigen Monaten gesehen. Leider hatte es die Schuhe nur in Weiß gegeben.
Seufzend schlüpfte sie aus dem linken Schuh, zog die Socke aus und wrang sie aus wie einen Spüllappen. Dann überlegte sie, wie es überhaupt möglich sein konnte, dass sie in eine Pfütze getreten war. Es hatte seit März nicht mehr geregnet, und heute war der 28. April.
In der Gegend um Chicago war es höchst ungewöhnlich, dass es im Frühling nicht regnete. Die Nachrichtensprecher im Fernsehen sprachen bereits von einer Dürreperiode. Verwirrt betrachtete sie ihre Socke.
Die Flecken waren rosafarben.
Sie richtete ihren Blick auf die Pfütze.
Sie war rot.
Ihr Puls beschleunigte sich. Sie ging in die Knie und schnüffelte. Es roch nach Kupfer, wie alte Münzen. Sie tauchte zwei Finger in die Pfütze und rieb sie aneinander. Es war dickflüssig, klebrig.Blut.
»Verdammt, was hat das zu bedeuten?«, flüsterte Emily. Sie strich sich das kastanienbraune Haar aus der Stirn und lauschte. Das Plätschern des Flusses. Mücken, die an ihrem Ohr vorbeischwirrten. Ein leises Rascheln im Unterholz. Ein Waschbär? Ein Biber? Nein, ein größeres Tier. Vielleicht ein Reh. In der Ferne Autohupen, quakende Enten, gurrende Tauben, umherhuschende Eichhörnchen, flügelschlagende
Gänse. Dann verstummten alle Geräusche, und sie hörte nur noch ihren eigenen Atem.
Sie richtete sich auf und drehte sich um. Alles schien in Ordnung zu sein. Vor ihr floss der DuPage, der Fluss, dessen hüfttiefes Wasser Naperville in einen Nord- und einen Südteil zerschnitt. Zu ihrer Linken befand sich das Stadtzentrum, und zu ihrer Rechten ein baumbestandener Park. Und hinter ihr, am Nordufer des Flusses, der hier eine Biegung machte, lag das zweistöckige Blockhaus, das ihr Mann Jack ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Von der Rückseite des Hauses hatte man Blick auf den Fluss, und die Vorderseite ging auf die Jackson Avenue hinaus, die direkt vor ihrer Auffahrt begann, am DuPage entlang zur Stadtmitte führte und in der Washington Street, der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Hauptverkehrsstraße von Chicagos größtem Vorort, endete.
Sie drehte sich wieder zum Fluss und beobachtete, wie eine Gänseschar in V-Formation in dem vollendeten Anflugwinkel auf den Schaumkronen landete, den Mutter Natur in Millionen Jahren perfektioniert hatte. Sie schüttelte den Kopf. Außer der Blutlache war nichts Ungewöhnliches an diesem Bild ...Halt!
Sechs Meter vor ihr. Am Rand der rotbraunen Pflasterziegel.
Zwei Klumpen.
Zuerst hatte sie sie für Laubhaufen gehalten, aber jetzt ... Mit einem mulmigen Gefühl im Magen ging sie darauf zu. Es waren nicht zwei, sondern drei Klumpen. Ein großer und zwei kleinere. Ihre Farbe war undefinierbar, aber sie strahlten etwas aus, das sie traf wie ein Schlag. Waren es tote Babys?
Emily schnappte nach Luft und griff unter ihr T-Shirt nach ihrer Waffe, einer Neun-Millimeter-Glock. Der gewaltige Adrenalinschub ließ ihre Hände zittern. Vorsichtig näherte sie sich den Klumpen und versuchte, dabei ihre Umgebung im Auge zu behalten. Falls der Täter dich beobachtet, wird er dich vielleicht ebenfalls töten wollen, machte sie sich bewusst. Du darfst den Kopf nicht stillhalten und den Finger nicht vom Abzug nehmen.
Dann senkte sie die Arme und verdrehte die Augen. Glücklicherweise war niemand in der Nähe, der das peinliche Schauspiel beobachtet hatte. Diese Klumpen waren keine menschlichen Körper.
Bei dem großen handelte es sich um eine Gans, und bei den beiden kleineren um Enten. Sie dampften noch, also mussten sie vor Kurzem noch gelebt haben.
»Idiotin«, schalt Emily sich selbst, als ihr Herzschlag sich wieder beruhigt hatte. »Das sind Tiere!« Sie versuchte, sich die letzte Aktennotiz über Raubtiere am Flussufer ins Gedächtnis zu rufen. Hier gab es Füchse. Und Eulen. Kojoten und streunende Hunde. Hin und wieder tauchte ein Luchs auf, den die Ausbreitung der Stadt aus seinem natürlichen Lebensraum getrieben hatte. Alle diese Tiere konnten die Vögel getötet haben.
Sie hob einen mit Reif überzogenen Kiefernzweig auf und drehte damit den ersten Vogel um. Vielleicht konnte sie anhand der Bissspuren Rückschlüsse auf den Räuber ziehen. Sie starrte eine Weile darauf und drehte dann auch die anderen um. »Die Köpfe fehlen«, murmelte sie. Sie waren fein säuberlich an den grazilen Nacken abgetrennt worden. Mit einem Messer. Einer Axt. Oder vielleicht mit einer Machete oder einer Heckenschere? Könnte das nicht ein Tier, sondern ein Mensch getan haben?
»Auf keinen Fall.« Rasch verwarf sie diesen Gedanken. »Niemand geht hier am Fluss mit einem Rasenmäher spazieren. Ein Kojote hat diese Gänse getötet, so einfach ist das!«
Das ist nicht ganz richtig, Prinzessin, flüsterte ihr die vertraute Stimme ihres Mannes ins Ohr. Es sind eine Gans und zwei Enten!
»Oh, Jack«, murmelte sie. »Warum hast du mich nur verlassen?«
Sie verdrängte den Gedanken an Jack und schob die Tierleichen ins Unterholz, damit später die Mütter mit ihren Kinderwagen sie nicht sehen würden. Dann atmete sie tief durch und lief weiter in Richtung Innenstadt. Unwillkürlich lächelte sie, als der Geruch des Flusses stärker wurde. Dem Helden von Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hatte der Geschmack von Madeleines längst vergangene Zeiten ins Gedächtnis zurückgerufen. Ihr passierte das, wenn sie Moos roch - sie verband diesen Geruch nach nassem Hund mit den herrlichen Erinnerungen an ihre Kindheit im Südwesten Chicagos. Vor allem dachte sie dabei an den feuchten Keller ihres Bungalows aus gelben Ziegeln, wo ihre Eltern die Brettspiele aufbewahrt hatten, die jeden Samstagabend bei den Thompsons zum »Spiele- und Eiscremefest« herausgeholt worden waren.
Sie rannte weiter und umrundete den alten Kalksteinbruch, der Naperville als städtischer Badestrand diente. Einige Minuten später trabte sie mit ihren blutbefleckten Turnschuhen rhythmisch unter die Main Street Bridge, wo ihre Schritte auf dem Beton ein hohles Echo erzeugten.
Sie schloss die Augen und stellte sich vor, zwei Jahrhunderte zuvor an diesem Ort gewesen zu sein, als eine gewaltige Flutwelle über die neu erbaute Stadt hinweggerollt war. Sie lächelte. Ihr Mann Jack Child hatte sich sehr für die regionale Geschichte interessiert und sie auf vielen Rundgängen immer auf die alten Geister der Stadt hingewiesen. »Hier ist das PreEmption House!«, rief er einmal, als sie schnellen Schrittes durch die Innenstadt marschierten. »Die älteste Taverne westlich der Allegheny Mountains! Dort hat Abe Lincoln Bier getrunken, und Grover Cleveland hat in dem Haus übernachtet.« Er hatte an das nördliche Ende der Main Street gedeutet. »Dort drüben liegt die Stenger Brauerei, die 1848 erbaut und 1956 dem Erdboden gleichgemacht wurde! Die Kühltunnel existieren immer noch, sie liegen tief unter der Erde.«
Ebenso wie Jack ...
Meine Güte, woher kommen plötzlich diese melancholischen Erinnerungen? »Ihr dummen Vögel«, zischte sie. »Das ist eure Schuld.« Sie verließ die Uferpromenade und sprintete die Washington Street in Richtung Süden entlang. Ihr nächstes Ziel war der Friedhof von Naperville. Er lag auf der Hälfte ihrer Laufstrecke von Jack zu Jack.
Seit zehn Jahren startete sie vor dem Haus, das Jack gebaut hatte, und lief zu dem Ort, an dem er seine letzte Ruhe gefunden hatte, und sie hatte noch keinen Grund gefunden, damit aufzuhören.
»Hallo, Schatz«, keuchte sie, als sie sein Grab erreicht hatte. Der Rasen hier war struppig, und die Grashalme erwachten nur langsam aus ihrem langen Winterschlaf. »Wie geht es dir heute?« Sie bückte sich, um die Rosen mit dem Schleierkraut zurechtzurücken, die sie am Freitag mitgebracht hatte. Dann fuhr sie mit den Fingern über die Inschrift auf dem Grabstein und bestaunte die tief ausgemeißelten Buchstaben, die den Elementen trotzten. Heute war Montag, und die Blumen waren bereits zerrupft - zweifellos hatten sich die Krähen daran zu schaffen gemacht. Sie lehnte sich gegen den kühlen Stein und erzählte Jack von den Vögeln, den Kojoten und der Blutlache.
Das schrille Klingeln an ihrem Bauch ließ sie zusammenzucken. Sie richtete sich auf und löste den Piepser des Departments vom Pistolenhalfter an ihrer Hüfte.555-7428.911
Das war Captain Hercules Branch, der Hauptkommissar der Polizeidirektion von Naperville. >911< bedeutete, dass sie sich sofort melden sollte. Sie hatte sonst immer ihr Handy bei sich, nur nicht, wenn sie hierher lief - sie hasste es, wenn sie bei ihren Gesprächen mit Jack unterbrochen wurde. Das Büro der Friedhofsverwaltung öffnete erst um neun Uhr, und sie
befand sich südlich des Geschäftsviertels. Dann wollen wir
mal sehen, wer so früh schon wach ist. Genau 622 Schritte weiter - sie zählte immer beim Laufen,
das war eine gute Übung für die Distanzschätzungen bei Verkehrsunfällen - zeigte Emily ihre Polizeimarke an der Notaufnahme des Edward Hospital vor. »Ich bin Polizeibeamtin«,
keuchte sie. »Ich wurde gerade angepiepst Kann ich Ihr Telefon benutzen?«
»Natürlich«, erwiderte die Rezeptionistin. »Für unsere Freunde und Helfer in Uniform tun wir doch alles! Und natürlich auch für unsere Freundinnen! Hier entlang.« Eine Minute später war Emily ungestört, nachdem sie ihre Begleitung höflich weggescheucht hatte. Sie tippte Branchs
Nummer. In der Mitte des dritten Signaltons hörte sie einige Knackgeräusche und dann eine weiche männliche Stimme. »Bambi!« Emily warf einen zornigen Blick auf das Telefon. »Kann ich
das jemals irgendwie abstellen?« »Nicht, wenn ich es verhindern kann«, erwiderte Branch.
»Aus deiner Verspätung schließe ich, dass du wieder joggst« »Ja, Mama«, entgegnete sie. »Du kannst jetzt aufhören, an mir herumzunörgeln.«
»Hey, es hat doch Wirkung gezeigt, oder? Wo bist du?«
»Im Edward Hospital. Das war das nächste erreichbare Telefon in der Nähe des Friedhofs. Was ist los?«
»Kennst du den Vermont-Friedhof?« »Ja.«
»Gut. Komm hierher.«
»Jetzt?« Emily runzelte die Stirn. Wenn sie jetzt dort hin und wieder zurückführe, käme sie auf jeden Fall zu spät zur Arbeit, und das war ihr so angenehm wie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Polizeichef Kendall Cross hatte sie ohnehin bereits auf dem Kieker. Ständig mäkelte er an ihr
herum und kritisierte sie. »Entwickeln Sie sich weiter, oder verlassen Sie die Mannschaft«, hatte er ihr schon oft zu verstehen gegeben. Selbst mit einer einzigen Sekunde Verspätung würde sie erneut seinen Zorn auf sich ziehen. »Brauch, ich habe nicht genug Zeit, um ...«
»Ich habe schon mit Ken gesprochen«, unterbrach Brauch sie. »Er weiß, dass du später kommen wirst, und wird dir deshalb keinen Ärger machen.«
Was? Dann musste es sich um etwas Wichtiges handeln! Rasch
überschlug sie die Zeit. »Ich laufe nach Hause, dusche und fahre dann gleich los«, erklärte sie. »In ungefähr einer Stunde bin ich da.«
» 20 Minuten«, befahl Brauch. »Und vergiss die Dusche. Für das hier musst du nicht gut riechen.«
Montag, 7:00 Uhr
71 Stunden bis zu Emilys Geburtstag
Emily fuhr so schnell sie konnte, während die Morgendämmerung langsam dem Tageslicht wich. Der VermontFriedhof lag in einer ländlichen Gegend südwestlich von Naperville, und ihr war klar, dass die Fahrt länger als die ihr von Brauch zugestandenen 20 Minuten dauern würde. Aber sie versuchte es zumindest und nutzte jede Verkehrslücke. Schließlich sah sie die blinkenden Lichter, die den Tatort eines schwerwiegenden Verbrechens ankündigten. An der Abzweigung zur Normantown Road, der geteerten Straße, die in Nord-Süd-Richtung am Friedhof vorbeiführte, bremste sie ab.
»Captain Brauch hat mich hierherbeordert«, erklärte sie dem Beamten an der Straßensperre und zeigte ihm ihre Dienstmarke.
Der Deputy des Sheriffs deutete auf eine Stelle in dem angrenzenden Kornfeld. »Parken Sie dort. Ihren Boss finden Sie 30 Meter weiter die Straße entlang.«
Emily schloss ihren Wagen ab und machte sich auf den Weg. Um einen silberfarbenen Porsche Cabrio innerhalb des Maschendrahtzauns um den Friedhof standen etliche Deputys. Der Wagen war ein Wrack und hing an einem Grabstein fest. Einer der Deputys beugte sich auf der Beifahrerseite so weit in das Auto, dass nur noch seine Hüften und seine Beine zu sehen waren. Ein anderer schoss Fotos, und ein dritter machte sich Notizen. Ihre Aufregung wuchs.
»Du brauchst meine Hilfe bei einem Verkehrsunfall?«, fragte sie, während sie auf Brauch zuging.
Branch grinste und schaute betont auffällig auf seine Armbanduhr, eine Guy, Special mir riesiger Einfassung und diversen Drehknöpfen. »Was hat dich aufgehalten?«, erkundigte er sich. »Ist dir Bambis Mutter über den Weg gelaufen?«
Emily verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. An dem Tag, an dem sie ihre Prüfung in der Polizeischule abgelegt hatte, hatte sie sich eines dieser roten rotierenden Warnblinklichter gekauft, die Polizisten im Fernsehen bei einem Einsatz auf dem Dach ihres Wagens anbrachten. Auch wenn sie nicht im Dienst war, hörte sie den Polizeifunk ab, in der Hoffnung, irgendwelche interessanten Gespräche aufzuschnappen. Einige Wochen später kam ihre Chance: ein Bankraub nähe des Einkaufszentrums Fox Valley- Mall. Sie drückte das >KojakBlinklicht< auf ihr Autodach, trat das Gaspedal durch - und prallte gegen einen Rehbock, der aus der am Straßenrand im Schatten liegenden Baumreihe gesprungen war. Der Aufprall bedeutete das Ende sowohl für das Reh als auch für ihren dunkelgrünen Saturn. Emi1v kam dank der Airbags mit dem Schrecken davon.
Als sie über die Notrufnummer 911 die Polizei verständigte, kam ein Streifenpolizist aus Joliet, den sie kannte und sehr nett fand. Er überprüfte zuerst, ob sie sich verletzt hatte und drohte dann dem Reh mit dem Finger. »Das nächste Mal gehst du aus dem Weg, wenn du Sirenen hörst und ein Warnblinklicht siehst, Kumpel.«
»Sehr witzig!«, rief Emily, laut, um sich trotz der Sirenen der sich nähernden Feuerwehrwagen verständlich zu machen. »Bitte erzähl das nicht den Kollegen von meinem Revier, okay? Sonst muss ich mir das ewig anhören.«
»Natürlich«, versicherte ihr der Streifenpolizist. »Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.«
Als sie am nächsten Abend vor Dienstantritt zur Vorbesprechung der Schicht in das Polizeirevier kam, fand sie auf ihrem Stuhl ein Rehgeweih, das an einer Stoßstange vom
Autofriedhof befestigt war. An den Geweihspitzen steckten Bilder von Bambi und Klopfer aus einem Malbuch für Kinder. »O nein!«, kreischte Emily, als sie das Geweih anfasste, das >Blut<, an ihren Fingern sah, und ihr Gesicht die gleiche Farbe annahm wie das Rostschutzmittel. »Dafür wird er büßen, egal wie lange ich dafür brauchen werde!« Ihre grinsenden Kollegen sprangen auf und skandierten, angeführt von dem Schichtleiter: »Bambi! Bambi! Bambi!« Ihre Freundin Annie Bates, eine Streifenpolizistin und die beste Scharfschützin im Team des Spezialeinsatzkommandos des Departments, setzte am folgenden Tag durch, dass sie damit aufhörten, »Weil ich das erbärmlich finde«, antwortete sie auf Emilys Frage, warum sie das getan hatte. »Tiermörder? Wildtöter? Coole Spitznamen. Aber Bambi?«,Annie schüttelte angewidert den Kopf. »Ich habe den Jungs gesagt, sie sollen das bleiben lassen, sonst würde ich ihnen zeigen, was Klopfer alles kann.« Brauch hatte jedoch immer noch Spaß daran, sie damit aufzuziehen.
Emily ließ sich jedoch nichts gefallen und konterte scharf. »Ich mag ja eine eiskalte Killerin sein, Captain, aber zumindest laufe ich nicht ungepflegt durch die Gegend.«
Brauch kratzte sich in seinen grau melierten Bartstoppeln. »Ich war auch gerade beim joggen, als Marty anrief«, erklärte er und kramte in seiner Gürteltasche. Er zog eine lange, an beiden Enden ausgefranste Zigarre heraus. »Alles Gute zum Geburtstag«, sagte er und warf sie ihr zu.
Emily fing sie in der Luft auf und sah ihn verwundert an. Brauch wusste, dass ihr Geburtstag - der mit der großen Vier davor - erst in drei Tagen war. Und er wusste auch, dass sie Zigarren verabscheute.
»Der Zigarrenstummel ist nur eines deiner Geschenke. Das andere ist ein Mord, bei dessen Aufklärung wir Marty helfen werden. Die Leiche befindet sich im Wagen.„
Emilys Beine schienen zu Eis zu erstarren, aber gleichzeitig war sie aufgeregt. »Ein Mord? Wow!«
Weltbild Buchverlag-Originalausgabe-
Deutsche Erstausgabe 2009
Copyright © 2006 by Shane Gericke
Published by Arrangement with KENSINGTON PUBLISHING CORP.,
New York, NY, USA
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
Verlagsgruppe Weltbild GmbH
Steinerne Furt, 86150 Augsburg
Übersetzung: »Ulrike Laszlo«
»Mist! Das glaube ich nicht«, schimpfte Emily, als etwas warm an ihren Beinen hochspritzte. Sie warf einen Blick zum Himmel und drohte mit dem Finger. »Hey! Gönnst du mir keinen einzigen Tag ohne Schlammpfützen?« Anscheinend nicht. Wären ihre neuen Nikes schwarz oder dunkelblau gewesen, dann hätte man den Schmutz erst nach einigen Monaten gesehen. Leider hatte es die Schuhe nur in Weiß gegeben.
Seufzend schlüpfte sie aus dem linken Schuh, zog die Socke aus und wrang sie aus wie einen Spüllappen. Dann überlegte sie, wie es überhaupt möglich sein konnte, dass sie in eine Pfütze getreten war. Es hatte seit März nicht mehr geregnet, und heute war der 28. April.
In der Gegend um Chicago war es höchst ungewöhnlich, dass es im Frühling nicht regnete. Die Nachrichtensprecher im Fernsehen sprachen bereits von einer Dürreperiode. Verwirrt betrachtete sie ihre Socke.
Die Flecken waren rosafarben.
Sie richtete ihren Blick auf die Pfütze.
Sie war rot.
Ihr Puls beschleunigte sich. Sie ging in die Knie und schnüffelte. Es roch nach Kupfer, wie alte Münzen. Sie tauchte zwei Finger in die Pfütze und rieb sie aneinander. Es war dickflüssig, klebrig.Blut.
»Verdammt, was hat das zu bedeuten?«, flüsterte Emily. Sie strich sich das kastanienbraune Haar aus der Stirn und lauschte. Das Plätschern des Flusses. Mücken, die an ihrem Ohr vorbeischwirrten. Ein leises Rascheln im Unterholz. Ein Waschbär? Ein Biber? Nein, ein größeres Tier. Vielleicht ein Reh. In der Ferne Autohupen, quakende Enten, gurrende Tauben, umherhuschende Eichhörnchen, flügelschlagende
Gänse. Dann verstummten alle Geräusche, und sie hörte nur noch ihren eigenen Atem.
Sie richtete sich auf und drehte sich um. Alles schien in Ordnung zu sein. Vor ihr floss der DuPage, der Fluss, dessen hüfttiefes Wasser Naperville in einen Nord- und einen Südteil zerschnitt. Zu ihrer Linken befand sich das Stadtzentrum, und zu ihrer Rechten ein baumbestandener Park. Und hinter ihr, am Nordufer des Flusses, der hier eine Biegung machte, lag das zweistöckige Blockhaus, das ihr Mann Jack ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Von der Rückseite des Hauses hatte man Blick auf den Fluss, und die Vorderseite ging auf die Jackson Avenue hinaus, die direkt vor ihrer Auffahrt begann, am DuPage entlang zur Stadtmitte führte und in der Washington Street, der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Hauptverkehrsstraße von Chicagos größtem Vorort, endete.
Sie drehte sich wieder zum Fluss und beobachtete, wie eine Gänseschar in V-Formation in dem vollendeten Anflugwinkel auf den Schaumkronen landete, den Mutter Natur in Millionen Jahren perfektioniert hatte. Sie schüttelte den Kopf. Außer der Blutlache war nichts Ungewöhnliches an diesem Bild ...Halt!
Sechs Meter vor ihr. Am Rand der rotbraunen Pflasterziegel.
Zwei Klumpen.
Zuerst hatte sie sie für Laubhaufen gehalten, aber jetzt ... Mit einem mulmigen Gefühl im Magen ging sie darauf zu. Es waren nicht zwei, sondern drei Klumpen. Ein großer und zwei kleinere. Ihre Farbe war undefinierbar, aber sie strahlten etwas aus, das sie traf wie ein Schlag. Waren es tote Babys?
Emily schnappte nach Luft und griff unter ihr T-Shirt nach ihrer Waffe, einer Neun-Millimeter-Glock. Der gewaltige Adrenalinschub ließ ihre Hände zittern. Vorsichtig näherte sie sich den Klumpen und versuchte, dabei ihre Umgebung im Auge zu behalten. Falls der Täter dich beobachtet, wird er dich vielleicht ebenfalls töten wollen, machte sie sich bewusst. Du darfst den Kopf nicht stillhalten und den Finger nicht vom Abzug nehmen.
Dann senkte sie die Arme und verdrehte die Augen. Glücklicherweise war niemand in der Nähe, der das peinliche Schauspiel beobachtet hatte. Diese Klumpen waren keine menschlichen Körper.
Bei dem großen handelte es sich um eine Gans, und bei den beiden kleineren um Enten. Sie dampften noch, also mussten sie vor Kurzem noch gelebt haben.
»Idiotin«, schalt Emily sich selbst, als ihr Herzschlag sich wieder beruhigt hatte. »Das sind Tiere!« Sie versuchte, sich die letzte Aktennotiz über Raubtiere am Flussufer ins Gedächtnis zu rufen. Hier gab es Füchse. Und Eulen. Kojoten und streunende Hunde. Hin und wieder tauchte ein Luchs auf, den die Ausbreitung der Stadt aus seinem natürlichen Lebensraum getrieben hatte. Alle diese Tiere konnten die Vögel getötet haben.
Sie hob einen mit Reif überzogenen Kiefernzweig auf und drehte damit den ersten Vogel um. Vielleicht konnte sie anhand der Bissspuren Rückschlüsse auf den Räuber ziehen. Sie starrte eine Weile darauf und drehte dann auch die anderen um. »Die Köpfe fehlen«, murmelte sie. Sie waren fein säuberlich an den grazilen Nacken abgetrennt worden. Mit einem Messer. Einer Axt. Oder vielleicht mit einer Machete oder einer Heckenschere? Könnte das nicht ein Tier, sondern ein Mensch getan haben?
»Auf keinen Fall.« Rasch verwarf sie diesen Gedanken. »Niemand geht hier am Fluss mit einem Rasenmäher spazieren. Ein Kojote hat diese Gänse getötet, so einfach ist das!«
Das ist nicht ganz richtig, Prinzessin, flüsterte ihr die vertraute Stimme ihres Mannes ins Ohr. Es sind eine Gans und zwei Enten!
»Oh, Jack«, murmelte sie. »Warum hast du mich nur verlassen?«
Sie verdrängte den Gedanken an Jack und schob die Tierleichen ins Unterholz, damit später die Mütter mit ihren Kinderwagen sie nicht sehen würden. Dann atmete sie tief durch und lief weiter in Richtung Innenstadt. Unwillkürlich lächelte sie, als der Geruch des Flusses stärker wurde. Dem Helden von Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hatte der Geschmack von Madeleines längst vergangene Zeiten ins Gedächtnis zurückgerufen. Ihr passierte das, wenn sie Moos roch - sie verband diesen Geruch nach nassem Hund mit den herrlichen Erinnerungen an ihre Kindheit im Südwesten Chicagos. Vor allem dachte sie dabei an den feuchten Keller ihres Bungalows aus gelben Ziegeln, wo ihre Eltern die Brettspiele aufbewahrt hatten, die jeden Samstagabend bei den Thompsons zum »Spiele- und Eiscremefest« herausgeholt worden waren.
Sie rannte weiter und umrundete den alten Kalksteinbruch, der Naperville als städtischer Badestrand diente. Einige Minuten später trabte sie mit ihren blutbefleckten Turnschuhen rhythmisch unter die Main Street Bridge, wo ihre Schritte auf dem Beton ein hohles Echo erzeugten.
Sie schloss die Augen und stellte sich vor, zwei Jahrhunderte zuvor an diesem Ort gewesen zu sein, als eine gewaltige Flutwelle über die neu erbaute Stadt hinweggerollt war. Sie lächelte. Ihr Mann Jack Child hatte sich sehr für die regionale Geschichte interessiert und sie auf vielen Rundgängen immer auf die alten Geister der Stadt hingewiesen. »Hier ist das PreEmption House!«, rief er einmal, als sie schnellen Schrittes durch die Innenstadt marschierten. »Die älteste Taverne westlich der Allegheny Mountains! Dort hat Abe Lincoln Bier getrunken, und Grover Cleveland hat in dem Haus übernachtet.« Er hatte an das nördliche Ende der Main Street gedeutet. »Dort drüben liegt die Stenger Brauerei, die 1848 erbaut und 1956 dem Erdboden gleichgemacht wurde! Die Kühltunnel existieren immer noch, sie liegen tief unter der Erde.«
Ebenso wie Jack ...
Meine Güte, woher kommen plötzlich diese melancholischen Erinnerungen? »Ihr dummen Vögel«, zischte sie. »Das ist eure Schuld.« Sie verließ die Uferpromenade und sprintete die Washington Street in Richtung Süden entlang. Ihr nächstes Ziel war der Friedhof von Naperville. Er lag auf der Hälfte ihrer Laufstrecke von Jack zu Jack.
Seit zehn Jahren startete sie vor dem Haus, das Jack gebaut hatte, und lief zu dem Ort, an dem er seine letzte Ruhe gefunden hatte, und sie hatte noch keinen Grund gefunden, damit aufzuhören.
»Hallo, Schatz«, keuchte sie, als sie sein Grab erreicht hatte. Der Rasen hier war struppig, und die Grashalme erwachten nur langsam aus ihrem langen Winterschlaf. »Wie geht es dir heute?« Sie bückte sich, um die Rosen mit dem Schleierkraut zurechtzurücken, die sie am Freitag mitgebracht hatte. Dann fuhr sie mit den Fingern über die Inschrift auf dem Grabstein und bestaunte die tief ausgemeißelten Buchstaben, die den Elementen trotzten. Heute war Montag, und die Blumen waren bereits zerrupft - zweifellos hatten sich die Krähen daran zu schaffen gemacht. Sie lehnte sich gegen den kühlen Stein und erzählte Jack von den Vögeln, den Kojoten und der Blutlache.
Das schrille Klingeln an ihrem Bauch ließ sie zusammenzucken. Sie richtete sich auf und löste den Piepser des Departments vom Pistolenhalfter an ihrer Hüfte.555-7428.911
Das war Captain Hercules Branch, der Hauptkommissar der Polizeidirektion von Naperville. >911< bedeutete, dass sie sich sofort melden sollte. Sie hatte sonst immer ihr Handy bei sich, nur nicht, wenn sie hierher lief - sie hasste es, wenn sie bei ihren Gesprächen mit Jack unterbrochen wurde. Das Büro der Friedhofsverwaltung öffnete erst um neun Uhr, und sie
befand sich südlich des Geschäftsviertels. Dann wollen wir
mal sehen, wer so früh schon wach ist. Genau 622 Schritte weiter - sie zählte immer beim Laufen,
das war eine gute Übung für die Distanzschätzungen bei Verkehrsunfällen - zeigte Emily ihre Polizeimarke an der Notaufnahme des Edward Hospital vor. »Ich bin Polizeibeamtin«,
keuchte sie. »Ich wurde gerade angepiepst Kann ich Ihr Telefon benutzen?«
»Natürlich«, erwiderte die Rezeptionistin. »Für unsere Freunde und Helfer in Uniform tun wir doch alles! Und natürlich auch für unsere Freundinnen! Hier entlang.« Eine Minute später war Emily ungestört, nachdem sie ihre Begleitung höflich weggescheucht hatte. Sie tippte Branchs
Nummer. In der Mitte des dritten Signaltons hörte sie einige Knackgeräusche und dann eine weiche männliche Stimme. »Bambi!« Emily warf einen zornigen Blick auf das Telefon. »Kann ich
das jemals irgendwie abstellen?« »Nicht, wenn ich es verhindern kann«, erwiderte Branch.
»Aus deiner Verspätung schließe ich, dass du wieder joggst« »Ja, Mama«, entgegnete sie. »Du kannst jetzt aufhören, an mir herumzunörgeln.«
»Hey, es hat doch Wirkung gezeigt, oder? Wo bist du?«
»Im Edward Hospital. Das war das nächste erreichbare Telefon in der Nähe des Friedhofs. Was ist los?«
»Kennst du den Vermont-Friedhof?« »Ja.«
»Gut. Komm hierher.«
»Jetzt?« Emily runzelte die Stirn. Wenn sie jetzt dort hin und wieder zurückführe, käme sie auf jeden Fall zu spät zur Arbeit, und das war ihr so angenehm wie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Polizeichef Kendall Cross hatte sie ohnehin bereits auf dem Kieker. Ständig mäkelte er an ihr
herum und kritisierte sie. »Entwickeln Sie sich weiter, oder verlassen Sie die Mannschaft«, hatte er ihr schon oft zu verstehen gegeben. Selbst mit einer einzigen Sekunde Verspätung würde sie erneut seinen Zorn auf sich ziehen. »Brauch, ich habe nicht genug Zeit, um ...«
»Ich habe schon mit Ken gesprochen«, unterbrach Brauch sie. »Er weiß, dass du später kommen wirst, und wird dir deshalb keinen Ärger machen.«
Was? Dann musste es sich um etwas Wichtiges handeln! Rasch
überschlug sie die Zeit. »Ich laufe nach Hause, dusche und fahre dann gleich los«, erklärte sie. »In ungefähr einer Stunde bin ich da.«
» 20 Minuten«, befahl Brauch. »Und vergiss die Dusche. Für das hier musst du nicht gut riechen.«
Montag, 7:00 Uhr
71 Stunden bis zu Emilys Geburtstag
Emily fuhr so schnell sie konnte, während die Morgendämmerung langsam dem Tageslicht wich. Der VermontFriedhof lag in einer ländlichen Gegend südwestlich von Naperville, und ihr war klar, dass die Fahrt länger als die ihr von Brauch zugestandenen 20 Minuten dauern würde. Aber sie versuchte es zumindest und nutzte jede Verkehrslücke. Schließlich sah sie die blinkenden Lichter, die den Tatort eines schwerwiegenden Verbrechens ankündigten. An der Abzweigung zur Normantown Road, der geteerten Straße, die in Nord-Süd-Richtung am Friedhof vorbeiführte, bremste sie ab.
»Captain Brauch hat mich hierherbeordert«, erklärte sie dem Beamten an der Straßensperre und zeigte ihm ihre Dienstmarke.
Der Deputy des Sheriffs deutete auf eine Stelle in dem angrenzenden Kornfeld. »Parken Sie dort. Ihren Boss finden Sie 30 Meter weiter die Straße entlang.«
Emily schloss ihren Wagen ab und machte sich auf den Weg. Um einen silberfarbenen Porsche Cabrio innerhalb des Maschendrahtzauns um den Friedhof standen etliche Deputys. Der Wagen war ein Wrack und hing an einem Grabstein fest. Einer der Deputys beugte sich auf der Beifahrerseite so weit in das Auto, dass nur noch seine Hüften und seine Beine zu sehen waren. Ein anderer schoss Fotos, und ein dritter machte sich Notizen. Ihre Aufregung wuchs.
»Du brauchst meine Hilfe bei einem Verkehrsunfall?«, fragte sie, während sie auf Brauch zuging.
Branch grinste und schaute betont auffällig auf seine Armbanduhr, eine Guy, Special mir riesiger Einfassung und diversen Drehknöpfen. »Was hat dich aufgehalten?«, erkundigte er sich. »Ist dir Bambis Mutter über den Weg gelaufen?«
Emily verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. An dem Tag, an dem sie ihre Prüfung in der Polizeischule abgelegt hatte, hatte sie sich eines dieser roten rotierenden Warnblinklichter gekauft, die Polizisten im Fernsehen bei einem Einsatz auf dem Dach ihres Wagens anbrachten. Auch wenn sie nicht im Dienst war, hörte sie den Polizeifunk ab, in der Hoffnung, irgendwelche interessanten Gespräche aufzuschnappen. Einige Wochen später kam ihre Chance: ein Bankraub nähe des Einkaufszentrums Fox Valley- Mall. Sie drückte das >KojakBlinklicht< auf ihr Autodach, trat das Gaspedal durch - und prallte gegen einen Rehbock, der aus der am Straßenrand im Schatten liegenden Baumreihe gesprungen war. Der Aufprall bedeutete das Ende sowohl für das Reh als auch für ihren dunkelgrünen Saturn. Emi1v kam dank der Airbags mit dem Schrecken davon.
Als sie über die Notrufnummer 911 die Polizei verständigte, kam ein Streifenpolizist aus Joliet, den sie kannte und sehr nett fand. Er überprüfte zuerst, ob sie sich verletzt hatte und drohte dann dem Reh mit dem Finger. »Das nächste Mal gehst du aus dem Weg, wenn du Sirenen hörst und ein Warnblinklicht siehst, Kumpel.«
»Sehr witzig!«, rief Emily, laut, um sich trotz der Sirenen der sich nähernden Feuerwehrwagen verständlich zu machen. »Bitte erzähl das nicht den Kollegen von meinem Revier, okay? Sonst muss ich mir das ewig anhören.«
»Natürlich«, versicherte ihr der Streifenpolizist. »Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.«
Als sie am nächsten Abend vor Dienstantritt zur Vorbesprechung der Schicht in das Polizeirevier kam, fand sie auf ihrem Stuhl ein Rehgeweih, das an einer Stoßstange vom
Autofriedhof befestigt war. An den Geweihspitzen steckten Bilder von Bambi und Klopfer aus einem Malbuch für Kinder. »O nein!«, kreischte Emily, als sie das Geweih anfasste, das >Blut<, an ihren Fingern sah, und ihr Gesicht die gleiche Farbe annahm wie das Rostschutzmittel. »Dafür wird er büßen, egal wie lange ich dafür brauchen werde!« Ihre grinsenden Kollegen sprangen auf und skandierten, angeführt von dem Schichtleiter: »Bambi! Bambi! Bambi!« Ihre Freundin Annie Bates, eine Streifenpolizistin und die beste Scharfschützin im Team des Spezialeinsatzkommandos des Departments, setzte am folgenden Tag durch, dass sie damit aufhörten, »Weil ich das erbärmlich finde«, antwortete sie auf Emilys Frage, warum sie das getan hatte. »Tiermörder? Wildtöter? Coole Spitznamen. Aber Bambi?«,Annie schüttelte angewidert den Kopf. »Ich habe den Jungs gesagt, sie sollen das bleiben lassen, sonst würde ich ihnen zeigen, was Klopfer alles kann.« Brauch hatte jedoch immer noch Spaß daran, sie damit aufzuziehen.
Emily ließ sich jedoch nichts gefallen und konterte scharf. »Ich mag ja eine eiskalte Killerin sein, Captain, aber zumindest laufe ich nicht ungepflegt durch die Gegend.«
Brauch kratzte sich in seinen grau melierten Bartstoppeln. »Ich war auch gerade beim joggen, als Marty anrief«, erklärte er und kramte in seiner Gürteltasche. Er zog eine lange, an beiden Enden ausgefranste Zigarre heraus. »Alles Gute zum Geburtstag«, sagte er und warf sie ihr zu.
Emily fing sie in der Luft auf und sah ihn verwundert an. Brauch wusste, dass ihr Geburtstag - der mit der großen Vier davor - erst in drei Tagen war. Und er wusste auch, dass sie Zigarren verabscheute.
»Der Zigarrenstummel ist nur eines deiner Geschenke. Das andere ist ein Mord, bei dessen Aufklärung wir Marty helfen werden. Die Leiche befindet sich im Wagen.„
Emilys Beine schienen zu Eis zu erstarren, aber gleichzeitig war sie aufgeregt. »Ein Mord? Wow!«
Weltbild Buchverlag-Originalausgabe-
Deutsche Erstausgabe 2009
Copyright © 2006 by Shane Gericke
Published by Arrangement with KENSINGTON PUBLISHING CORP.,
New York, NY, USA
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
Verlagsgruppe Weltbild GmbH
Steinerne Furt, 86150 Augsburg
Übersetzung: »Ulrike Laszlo«
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Bibliographische Angaben
- Autor: Shane Gericke
- 2009, 1, 383 Seiten, Maße: 12,4 x 18,2 cm, Kartoniert (TB)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868001336
- ISBN-13: 9783868001334
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