"Magiermacht", "Magierschwur", "Magierkrieg" und "Magierlicht"
Über 1.300 Seiten!
Magiermacht: In einer kalten Winternacht findet der Wurrling Tipperton Thistledown einen verwundeten Mann, der ihm mit letzter Kraft ein geheimnisvolles Artefakt überreicht. Gemeinsam mit seinem...
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Produktinformationen zu „"Magiermacht", "Magierschwur", "Magierkrieg" und "Magierlicht" “
Über 1.300 Seiten!
Magiermacht: In einer kalten Winternacht findet der Wurrling Tipperton Thistledown einen verwundeten Mann, der ihm mit letzter Kraft ein geheimnisvolles Artefakt überreicht. Gemeinsam mit seinem Freund Beau Darby begibt er sich auf eine gefahrvolle Reise durch Mithgars gewaltige Wälder, um das Artefakt seinem rechtmäßigen Besitzer zu überbringen.
Magierschwur: In Mithgar müssen zwei unbedarfte Helden gegen dunkle Mächte antreten. Sie vertrauen dabei auf die Hilfe mächtiger Magier.
Magierkrieg: Steinriesen, Zwerge und Wölfe bevölkern die Wälder Mithgars, die zwei unerschrockene Helden auf ihrer Reise ans Ende der Welt durchqueren. Um ein magisches Artefakt seinem rechtmäßigen Besitzer zu überbringen, müssen die beiden eine geheimnisvolle Prophezeiung entschlüsseln. Doch die Gilde der Magier, deren Hilfe sie benötigen, kämpft ihren eigenen erbitterten Krieg.
Magierlicht: Der Schwarzmagier Modru zwingt alle Völker in einen Krieg. Um sich zu schützen, müssen sich die Menschen mit Elfen verbünden.
Lese-Probe zu „"Magiermacht", "Magierschwur", "Magierkrieg" und "Magierlicht" “
Magiermacht von Dennis L. McKiernan1. Kapitel
Tipperton schrak in der eisigen Dunkelheit hoch. Was war das? Er blieb regungslos liegen und lauschte, versuchte durch das Murmeln des Baches, der unter dem Eis dahinströmte, ein Geräusch auszumachen. Ich dachte, ich hätte etwas gehört ...
Tsching.
Da! Da ist es wieder!
Tsching Tschang ... Tschang!
Metall auf Metall, aber weit entfernt. Was zum ...?
Tipperton schwang seine Füße über die Bettkante und stolperte in dem eisigen Dämmerlicht über den kalten Holzboden. »Autsch!« Er stieß sich das Schienbein an einer Bank, die mitten im Weg stand. Erneut klirrte Metall auf Metall, lauter diesmal, als würde sich die Quelle des Geräusches nähern. Tipperton tastete auf dem Tisch nach der Laterne und fegte dabei Töpfe und Pfannen zu Boden, während das metallische Klirren immer lauter wurde. Jetzt konnte er dazwischen sogar gutturale Schreie und laute Schritte ausmachen. Schließlich fand er zwischen den Töpfen die Laterne. Während er vergeblich versuchte, einen Feuerspan zu entzünden, ertönte ein schriller Schrei, und etwas Schweres stürzte mit einem Knall draußen vor der Tür zu Boden.
Tipperton riss den Feuerspan erneut an, und diesmal fing der Docht der Laterne Feuer. Er schob den Glaszylinder zurück und gelbliches Licht erfüllte die Mühlkammer. Es fiel über die massiven Dachbalken, beleuchtete die Zahnräder mit den hölzernen Zähnen, welche die gewaltigen Mühlsteine antrieben. Jetzt jedoch stand das Mahlwerk still, denn das Wehr war geschlossen, und weder durch die Mühlrinne noch über das Mühlrad floss Wasser.
Das Klirren und Scheppern wurde lauter. Tipperton trat zur Tür, schob den Querbalken zurück und riss das Portal weit auf. Im selben Moment prallte etwas oder jemand gegen die
... mehr
Mauer der Mühle. Das ganze Gebäude erzitterte unter der Wucht des Schlages, und durch die Lücken zwischen den Zedernholzbalken rieselte Getreidemehl herunter.
Nur mit seinem Nachthemd bekleidet und mit der Laterne in der erhobenen Hand trat Tipperton auf die Veranda heraus. »Heda, was soll dieser Lärm?« In der Dunkelheit außerhalb des Lichtkegels der Laterne sah er, wie sich schwarze Schatten bewegten.
»Verschwinde, du Narr!«, schrie jemand. Im selben Augenblick löste sich einer der Schatten aus dem Tumult und stürmte auf Tipperton zu.
Der Bokker sprang hastig zurück, schlug die Tür zu und warf den Querbalken in die Halterung, als die Person, die sich auf ihn gestürzt hatte, auch schon gegen das Holz prallte.
Auf der Veranda ertönte der Klang schwerer Schritte. Im nächsten Moment zerbarst ein Fenster, und die Glassplitter flogen nach innen. Tipperton rannte durch den Raum und riss seinen Bogen von seinem Platz über dem Kaminsims. Mitten in dem Kampfgetöse spannte der Bokker hastig den Bogen. Dann schnappte er sich den Köcher mit den Pfeilen, ließ die Laterne stehen und kletterte schnell die Leiter zur Galerie empor. Er rannte zu einer Schiebetür in der Wand und riss sie auf. Im kalten Licht der funkelnden Sterne am Winterhimmel und dem frostigen Strahlen des Viertelmondes, der hoch am südöstlichen Himmel stand, kletterte er auf die schneebedeckte Rinne der hölzernen Schleuse, deren Rand von einer dünnen Eisschicht überzogen war.
In dem Moment hörte er einen Schrei, einen schweren Sturz und ... in der schlagartig eingekehrten Stille nahm Tipperton nur seinen eigenen hämmernden Herzschlag, sein angestrengtes Atmen und das leise Murmeln des Wassers unter dem Eis wahr. Tipperton ließ den Pfeil auf der gespannten Sehne liegen, duckte sich und kroch weiter, bis er die Vorderseite der Mühle überblicken konnte. Dunkle Gestalten lagen im Schnee. Sie rührten sich nicht. Zwei oder drei lagen zusammengesunken auf der Veranda. Vorsichtig kroch Tipperton zu einer Stelle über einem Strebepfeiler der Mühlrinne und lauschte in die Nacht. Der Bokker zitterte in der eisigen Kälte, denn er stand mit nackten Füßen im Schnee auf der Eisschicht und trug nach wie vor nur sein dünnes Nachthemd. Er wartete eine Weile, aber nichts passierte. Alles blieb ruhig. Schließlich kletterte er die Leiter hinunter, hielt den Bogen vorsichtshalber schussbereit gespannt und ignorierte seine Füße, die allmählich vor Kälte gefühllos wurden, während er durch den Schnee auf eine der reglosen Gestalten am Boden stapfte. Es war ein Rukh. Ein toter Rukh. Er war von einer Klinge förmlich zerstückelt worden. Die glasigen, reptilienartigen Augen starrten blicklos in den Himmel.
Tipperton ging weiter durch den zertretenen Schnee, und bittere Galle stieg ihm die Kehlte hoch, als er an einem toten, ausgeweideten Pferd vorbeikam, von dessen Kadaver noch warmer Dampf in die kalte Luft emporstieg. Dahinter lagen noch mehr tote Rukhs. Die o-beinigen Gestalten mit ihren spitzen Fledermausohren und der dunklen Haut trugen Lederharnische. Ihr dunkles Blut sickerte langsam in den Schnee. Ihre Waffen, Krummsäbel und Keulen, lagen überall verstreut. Die meisten Toten waren einer Klinge zum Opfer gefallen, einigen wenigen war jedoch auch der Schädel eingeschlagen worden. Aus ihren klaffenden Wunden stieg Dampf auf.
Den Pfeil immer noch schussbereit haltend, näherte sich Tipperton der Veranda. Ein toter Rukh lag mit dem Oberkörper auf den Holzbohlen, die Beine im Schnee. Links neben der Tür lehnten zwei Leichen. Die eine war ein Hlök. Er ähnelte einem Rukh, war jedoch größer, und seine Glieder waren weniger gekrümmt. Er war von einem Schwert durchbohrt worden, das seine toten Finger noch immer umklammerten. In der anderen Hand hielt er noch im Tod einen blutigen Krummsäbel. Die andere Leiche, die unter ihm lag ...
... stöhnte!
Tippertons Herz machte vor Schreck einen Satz, er sprang zurück, spannte den Bogen und ...
Warte! Das ist ein Mensch! Bei Adon, sieh dir bloß das viele Blut an!
Tipperton legte den Bogen zur Seite und zerrte den toten Hlök von dem Menschen herunter.
Der Mann schlug die Augen auf, als Tipperton ihn bewegte, schloss sie jedoch sofort wieder.
Du musst ihn hineinschaffen! Tipperton legte den Bogen ab, hob den Riegel an und stieß gegen die Tür. Sie gab nicht nach. Nitwit! Sie ist verbarrikadiert! ... Moment, das Fenster!
Rasch trat Tipperton um den Mann herum und an die Fensteröffnung. Er brach die restlichen Glasscherben heraus, kletterte hindurch und verletzte sich den Fuß, als er in die Glassplitter trat, die hinter dem Fenster auf dem Boden lagen. Zweimal Nitwit!
Er humpelte zur Tür und hob den Querbalken an. Die Tür schwang auf, als das Gewicht des Mannes nicht mehr von dem Balken gehalten wurde. Er fiel nach vorne in die Kammer. Tipperton gelang es mit viel Mühe, ihn gänzlich herein zu ziehen. Als der Bokker wieder hinaustrat, Bogen und Pfeile vom Boden aufklaubte und sich draußen umsah, pochte sein Herz vor Aufregung. Nichts. Er trat wieder in die Mühle und zog die Tür hinter sich zu.
Im Licht der Laterne, die noch auf dem Ofen stand, nahm Tipperton dem Mann den Helm ab. Darunter kam kurz geschorenes, dunkles Haar zum Vorschein. Er schob ihm ein Kissen unter den Kopf. Der Mensch war schlank, muskulös, und schien Mitte zwanzig zu sein. Aber bei einem Menschen kann ich das nicht gut einschätzen. Tipperton riss ein Tuch in Fetzen, um die Wunden seines Gastes zu verbinden. »Hör zu, mein Freund«, sagte er dabei laut. »Ich würde dich ja gern aus deiner Rüstung schälen, um deine Wunden zu versorgen. Aber ich fürchte, dass die Wunden nur stärker bluten, wenn ich dich herumschubse. Deshalb trenne ich nur dort die Stellen an deinem Lederwams weiter auf, wo es ohnehin schon durchlöchert ist.« Der Mann öffnete weder die Augen, noch antwortete er. Vermutlich war er bewusstlos. Der Bokker versorgte die Verletzungen, so gut er konnte. Er schnitt die Ärmel und die Hosenbeine auf, löste die Bänder an der Front des Lederharnischs, öffnete das Wams darunter und verband die Wunden. Die Verbände färbten sich rot, noch während er die nächste Wunde versorgte. Jetzt schlug der Mensch die Augen auf. Sie waren von einem derartig hellen Blau, dass sie fast weiß wirkten. Ihr Blick richtete sich auf Tipperton. »Läufer.«
»Was ... Was?«
»Mein ... Pferd.«
Tipperton widmete sich angelegentlich der nächsten Wunde. »Tut mir leid«, erwiderte er leise. »Das Pferd ist tot.«
Der Mann seufzte und schloss seine unheimlichen, hellen Augen.
Rasch bandagierte Tipperton die letzten Verletzungen und zog anschließend eine Decke über den Mann. Dann streifte er sein Nachthemd ab, das mittlerweile blutgetränkt war, und zog sich hastig an. »Ich hole Hilfe. Einen Heiler. Er wohnt ganz in der Nähe.« Als der Bokker seinen verletzten Fuß in einen Stiefel zwängte und seinen Mantel überwarf, schlug der Mann erneut die Augen auf, hob schwach eine Hand und winkte ihn zu sich. Tipperton kniete sich neben den Verwundeten. Der Mann starrte in Tippertons blaue Augen, die wie Saphire funkelten, und schien einen Entschluss zu fassen. Er bemühte sich, seinen ledernen Halsschutz zu öffnen. Mit Tippertons Hilfe gelang es ihm schließlich, die Schnüre zu lösen. Anschließend zog der Fremde ein Lederband aus dem Ausschnitt, an dem ein Anhänger hing. »Osten«, flüsterte er, als er dem Bokker den Anhänger, eine einfache, mattgraue Münze mit einem Loch in der Mitte, in die Hand drückte.
»Geh nach Osten ... Warne sie ... Bring das zu ... Agron.«
Tipperton runzelte verwirrt die Stirn.
»Agron? Wer ...? Nein, warte. Du kannst es mir später erklären.« Er streifte sich das Lederband über den Kopf und schob die Münze in sein Hemd. »Erst hole ich den Heiler.«
»Pass auf, Waerling.« Der Mann hatte seine hellblauen Augen wieder geschlossen. »Da draußen ... lauern noch mehr.«
Tipperton holte tief Luft. »Ich nehme meinen Bogen mit.«
Der Fremde antwortete nicht.
Der Wurrling erhob sich zu seiner stattlichen Größe von fast einem Meter und schaute auf den Menschen herab. Dann griff er nach Bogen und Pfeile und blies die Laterne aus. Ich kann kein Leuchtfeuer gebrauchen, das den Rukh den Weg zeigt. Er schlich aus der Tür und zog sie leise hinter sich zu. Rasch glitt er zur Seite, drückte sich an die Wand und suchte die Dunkelheit nach Feinden ab. Da er niemanden sah, ging er den Hang hinauf und verschwand zwischen den Bäumen. Er mied den zweispurigen Karrenweg und hielt sich lieber im Schutz des Waldes. Nach wenigen Schritten fiel er in einen raschen Trott. Sein schwarzes Haar wehte hinter ihm her, während seine Füße über den Schnee zu fliegen schienen. Tipperton Thistledown eilte vollkommen lautlos durch den Wald, so wie es nur ein Wurrling vermochte.
2. Kapitel
Bumm, Bumm.
»Beau! Beau, wach auf!« Erneut hämmerte jemand an die Tür der Kate und rüttelte am Riegel. »Beau! Verdammt noch mal!« Beau Darby wachte mit einem Stöhnen auf. Es war eiskalt und finster. Bumm!
»He ...!«, krächzte Beau. »Moment mal! Wollt Ihr vielleicht die Toten zum Leben erwecken?« Mit einem leisen Fluchen schlich der Bokker über die kalten Holzbohlen zur Tür. Rumms! »Beau ...« Der ungebetene Gast setzte gerade zu einem neuerlichen Fluch an, als Beau den knarrenden Riegel zurückschob und die Tür aufriss. Ein eisiger Windhauch fegte herein. »Da bist du ja endlich, Beau! Zieh dich an und schnapp dir deinen Ranzen! Es hat Ärger gegeben. In meiner Mühle liegt ein Verwundeter!«
Im Licht der Sterne und des Mondes erkannte Beau seinen Freund Tipperton. Er war der einzige andere Wurrling, der in der Nähe von Gabelhain lebte. Er stand mit dem Bogen in der Hand auf der Schwelle seiner Kate. Die beiden Bokker waren fast gleich alt. Tipperton war ein Jungbokker von dreiundzwanzig Jahren, Beau war zweiundzwanzig. Dennoch wurden sie in Gabelhain wegen ihrer geringen Körpergröße häufig wie kleine Kinder behandelt.
»Was hast du gesagt, Tip?«
»Ich habe gesagt, in meiner Mühle liegt ein verwundeter Mensch!«
»Verwundet?«
»Ja. Rukhs und Hlöks haben ihn angegriffen. Er blutet aus vielen Wunden.«
»Er blutet?«
»Sag ich doch, Wurro, er blutet!« Tipperton drängte sich an Beau vorbei in die Kate und suchte humpelnd nach einer Laterne.
»Sie haben sein Pferd umgebracht. Und ihn wollten sie auch töten. Einer hat sich sogar auf mich gestürzt. Aber der Mensch hat sie alle erwischt. Direkt vor meiner Mühle. Sieben, acht Rukhs und einen Hlök.«
Endlich fand Tipperton die Laterne und zündete sie an. In ihrem flackernden Schein schaute er Beau an. Der Wurrling stand immer noch an der Tür, mit leicht offenem Mund und wie vom Donner gerührt. »Nun komm endlich, Beau. Wir dürfen keine Zeit verlieren!«
Endlich reagierte Beau. Er klappte den Mund zu und schloss die Tür. Er lief durch das Zimmer und zog sich dabei das Nachthemd über den Kopf. »Rukhs und anderes Gezücht? Hier in der Wildnis? Ganz in der Nähe von Gabelhain? Und sie haben an der Mühle gekämpft?«
Er warf das Hemd auf das zerwühlte Bett und sah Tipperton aus staunend aufgerissenen, bernsteinfarbenen Augen an. »Was wollten sie denn überhaupt dort? Und überhaupt, wie geht es dir? Humpelst du etwa?«
»Ich habe mir einen Glassplitter in den Fuß getreten. War meine eigene Schuld. Darum kannst du dich kümmern, wenn wir den Menschen versorgt haben. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was sie an der Mühle wollten. Ich nehme an, es war reiner Zufall.«
Beau zog seine Hose an. »Warum sollten die Rukhs einen Menschen verfolgen?«
Tipperton zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Vielleicht war es ja auch anders herum. Ich meine, dass er sie verfolgt hat. Aber eines kann ich dir sagen: Ganz gleich, wer hinter wem her war, sie sind alle tot, alle bis auf ihn. Hoffe ich jedenfalls. Er hat noch gelebt, als ich ihn verlassen habe, aber er hat so schlimm geblutet, meiner Treu! Er hat viele Wunden davongetragen. Immerhin waren es verdammt viele Rukhs. Ich habe ihn so gut verbunden, wie ich konnte.«
Tipperton lief ungeduldig im Raum herum, während Beau das Wams über sein schulterlanges, braunes Haar zog und die Hände in die Ärmel schob.
»Mach dir keine Sorgen, Tip. Wenn du seine Wunden ordentlich verbunden hast, bringen wir ihn schon durch.«
»Und wenn nun die Klingen der Rukhs vergiftet waren? Ich habe gehört, dass sie oft ein tödliches Gift auf ihre Schwerter schmieren.«
Beau steckte die Füße in die Stiefel und stand auf.
»Umso mehr Grund haben wir, uns zu beeilen.« Er warf seinen Mantel über, schnappte sich den Ranzen mit seinen Arzneien und drehte sich zu seinem Freund herum.
»Ich bin fertig. Gehen wir.«
Tipperton hob seinen Bogen auf.
»Mach das Licht aus, und lass die Laterne im Haus. Der Mann hat gesagt, es wären noch mehr Rukhs und dergleichen unterwegs.« Beau sah ihn erschrocken an, nickte dann jedoch und blies die Laterne aus. Im Dunkeln trat Tipperton an die Tür und spähte hinaus.
»Die Luft ist rein!«, zischte er, schlüpfte nach draußen und durch den Schatten über die Lichtung zwischen die Bäume. Beau folgte ihm auf den Fersen. Lautlos huschten die beiden Wurrlinge im Licht der Sterne durch den Wald.
»Warte, ein Moment!«, flüsterte Tipperton. »Irgendwas stimmt da nicht.«
Die beiden Wurrlinge kauerten sich zwischen die Bäume am Waldrand und spähten über die Lichtung zu der dunklen Mühle. Das aufziehende Morgengrauen schwächte das Licht der Sterne und des Mondes ab. Beau atmete mehrmals tief durch, um seinen rasenden Puls unter Kontrolle zu bringen. »Was ist denn? Ich kann nichts sehen.«
»Ich habe die Tür hinter mir zugezogen. Aber jetzt steht sie weit offen.«
»Meiner Treu!« Sie blieben im Dämmerschatten der Bäume hocken. »Könnte der Mann«, fragte Beau schließlich, »die Tür vielleicht selbst aufgemacht haben? Möglicherweise ist er ja verschwunden.« »Das könnte natürlich sein, aber ich halte es eher für unwahrscheinlich. Er war viel zu schwach dazu.« Sie starrten noch eine Weile auf die Mühle. Nichts rührte sich.
»Wenn wir noch länger warten«, meinte Tipperton schließlich, »dann verblutet der Mann vermutlich. Warte hier, Beau. Ich sehe nach, was da los ist. Wenn ich pfeife, komm schnell. Wenn ich schreie, renn um dein Leben.«
Bevor Beau antworten konnte, huschte Tipperton davon und schlug sich nach links in die Büsche. Die Augenblicke verrannen so langsam wie träges Wasser. Es wurde hell. Schließlich glaubte Beau, einen Schatten auf der Veranda zu sehen. Nach einigen Augenblicken leuchtete das gelbliche Licht der Laterne in der Mühle auf, und Tipperton trat erneut vor die Tür. Er pfiff leise und verschwand dann wieder im Inneren des Mühlhauses. Beau schnappte sich seinen Ranzen und trottete über die Lichtung, vorbei an dem toten Pferd und den niedergemetzelten Rukhs. Als er durch die Tür in die Mühle trat, deutete Tipperton mit einem schmerzlichen Gesichtsausdruck auf den Mann. »Ich fürchte, du kannst nichts mehr für ihn tun, Beau. Jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten.« Der Fremde lag in einer Blutlache, seine toten Augen starrten an die Decke, und sein Hals war fast ganz durchtrennt. Man hatte ihm die Lederrüstung ausgezogen und seine Sachen achtlos zu Boden geworfen. Helm, Stiefel und der Kettenpanzer waren verschwunden, und der Mühlraum selbst war offenbar durchwühlt worden. Der Tisch war umgefallen, das Bettzeug war zerfetzt, sämtliche Schubladen waren aus der Kommode gerissen und ihr Inhalt auf dem Boden verstreut worden. Beau ging an Tipperton vorbei, kniete sich neben den Mann auf den Boden und seufzte, während er dem Toten die Augen schloss.
»Du hast recht, Tip. Niemand außer Adon kann jetzt noch etwas für ihn tun. Was ist deiner Meinung nach hier geschehen?« Tippertons Kiefer mahlten. »Dieser Mensch hat gesagt, es würden noch mehr Rukhs da draußen herumschleichen. Vermutlich sind sie gekommen, als er wehrlos war, und haben ihn einfach abgeschlachtet.«
Tip schlug seine rechte Faust in die linke Handfläche. »Diese verdammten Rukhs!«
Beau nickte. »Damals in den Waldsenken«, sagte er nachdenklich, »hat meine Tante Rose, gesegnet sei ihr Andenken, behauptet, dass alle Rukhs, und genau genommen alle Lebewesen aus der Neddra, mit einem Geburtsfehler behaftet wären: Ihnen fehle ein Herz. Ihrer Meinung nach dächten diese Wesen nur an sich selbst. Sie nannte sie >Gyphons Gezücht<. Sie glaubte, dass er sie absichtlich so erschaffen hätte, ohne Mitleid, Mitgefühl oder einem Gewissen. Dass sie diesem hilflosen Menschen die Kehle durchgeschnitten haben, hätte sie nicht überrascht.«
Plötzlich schien Beau aus seinen Gedanken hochzuschrecken. Seine Augen wurden groß, als er Tipperton ansah, und dann warf er einen furchtsamen Blick zur Tür. »Meine Güte, Tip, glaubst du, dass da draußen noch mehr herumschleichen? In dem Fall ...«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2007 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Nur mit seinem Nachthemd bekleidet und mit der Laterne in der erhobenen Hand trat Tipperton auf die Veranda heraus. »Heda, was soll dieser Lärm?« In der Dunkelheit außerhalb des Lichtkegels der Laterne sah er, wie sich schwarze Schatten bewegten.
»Verschwinde, du Narr!«, schrie jemand. Im selben Augenblick löste sich einer der Schatten aus dem Tumult und stürmte auf Tipperton zu.
Der Bokker sprang hastig zurück, schlug die Tür zu und warf den Querbalken in die Halterung, als die Person, die sich auf ihn gestürzt hatte, auch schon gegen das Holz prallte.
Auf der Veranda ertönte der Klang schwerer Schritte. Im nächsten Moment zerbarst ein Fenster, und die Glassplitter flogen nach innen. Tipperton rannte durch den Raum und riss seinen Bogen von seinem Platz über dem Kaminsims. Mitten in dem Kampfgetöse spannte der Bokker hastig den Bogen. Dann schnappte er sich den Köcher mit den Pfeilen, ließ die Laterne stehen und kletterte schnell die Leiter zur Galerie empor. Er rannte zu einer Schiebetür in der Wand und riss sie auf. Im kalten Licht der funkelnden Sterne am Winterhimmel und dem frostigen Strahlen des Viertelmondes, der hoch am südöstlichen Himmel stand, kletterte er auf die schneebedeckte Rinne der hölzernen Schleuse, deren Rand von einer dünnen Eisschicht überzogen war.
In dem Moment hörte er einen Schrei, einen schweren Sturz und ... in der schlagartig eingekehrten Stille nahm Tipperton nur seinen eigenen hämmernden Herzschlag, sein angestrengtes Atmen und das leise Murmeln des Wassers unter dem Eis wahr. Tipperton ließ den Pfeil auf der gespannten Sehne liegen, duckte sich und kroch weiter, bis er die Vorderseite der Mühle überblicken konnte. Dunkle Gestalten lagen im Schnee. Sie rührten sich nicht. Zwei oder drei lagen zusammengesunken auf der Veranda. Vorsichtig kroch Tipperton zu einer Stelle über einem Strebepfeiler der Mühlrinne und lauschte in die Nacht. Der Bokker zitterte in der eisigen Kälte, denn er stand mit nackten Füßen im Schnee auf der Eisschicht und trug nach wie vor nur sein dünnes Nachthemd. Er wartete eine Weile, aber nichts passierte. Alles blieb ruhig. Schließlich kletterte er die Leiter hinunter, hielt den Bogen vorsichtshalber schussbereit gespannt und ignorierte seine Füße, die allmählich vor Kälte gefühllos wurden, während er durch den Schnee auf eine der reglosen Gestalten am Boden stapfte. Es war ein Rukh. Ein toter Rukh. Er war von einer Klinge förmlich zerstückelt worden. Die glasigen, reptilienartigen Augen starrten blicklos in den Himmel.
Tipperton ging weiter durch den zertretenen Schnee, und bittere Galle stieg ihm die Kehlte hoch, als er an einem toten, ausgeweideten Pferd vorbeikam, von dessen Kadaver noch warmer Dampf in die kalte Luft emporstieg. Dahinter lagen noch mehr tote Rukhs. Die o-beinigen Gestalten mit ihren spitzen Fledermausohren und der dunklen Haut trugen Lederharnische. Ihr dunkles Blut sickerte langsam in den Schnee. Ihre Waffen, Krummsäbel und Keulen, lagen überall verstreut. Die meisten Toten waren einer Klinge zum Opfer gefallen, einigen wenigen war jedoch auch der Schädel eingeschlagen worden. Aus ihren klaffenden Wunden stieg Dampf auf.
Den Pfeil immer noch schussbereit haltend, näherte sich Tipperton der Veranda. Ein toter Rukh lag mit dem Oberkörper auf den Holzbohlen, die Beine im Schnee. Links neben der Tür lehnten zwei Leichen. Die eine war ein Hlök. Er ähnelte einem Rukh, war jedoch größer, und seine Glieder waren weniger gekrümmt. Er war von einem Schwert durchbohrt worden, das seine toten Finger noch immer umklammerten. In der anderen Hand hielt er noch im Tod einen blutigen Krummsäbel. Die andere Leiche, die unter ihm lag ...
... stöhnte!
Tippertons Herz machte vor Schreck einen Satz, er sprang zurück, spannte den Bogen und ...
Warte! Das ist ein Mensch! Bei Adon, sieh dir bloß das viele Blut an!
Tipperton legte den Bogen zur Seite und zerrte den toten Hlök von dem Menschen herunter.
Der Mann schlug die Augen auf, als Tipperton ihn bewegte, schloss sie jedoch sofort wieder.
Du musst ihn hineinschaffen! Tipperton legte den Bogen ab, hob den Riegel an und stieß gegen die Tür. Sie gab nicht nach. Nitwit! Sie ist verbarrikadiert! ... Moment, das Fenster!
Rasch trat Tipperton um den Mann herum und an die Fensteröffnung. Er brach die restlichen Glasscherben heraus, kletterte hindurch und verletzte sich den Fuß, als er in die Glassplitter trat, die hinter dem Fenster auf dem Boden lagen. Zweimal Nitwit!
Er humpelte zur Tür und hob den Querbalken an. Die Tür schwang auf, als das Gewicht des Mannes nicht mehr von dem Balken gehalten wurde. Er fiel nach vorne in die Kammer. Tipperton gelang es mit viel Mühe, ihn gänzlich herein zu ziehen. Als der Bokker wieder hinaustrat, Bogen und Pfeile vom Boden aufklaubte und sich draußen umsah, pochte sein Herz vor Aufregung. Nichts. Er trat wieder in die Mühle und zog die Tür hinter sich zu.
Im Licht der Laterne, die noch auf dem Ofen stand, nahm Tipperton dem Mann den Helm ab. Darunter kam kurz geschorenes, dunkles Haar zum Vorschein. Er schob ihm ein Kissen unter den Kopf. Der Mensch war schlank, muskulös, und schien Mitte zwanzig zu sein. Aber bei einem Menschen kann ich das nicht gut einschätzen. Tipperton riss ein Tuch in Fetzen, um die Wunden seines Gastes zu verbinden. »Hör zu, mein Freund«, sagte er dabei laut. »Ich würde dich ja gern aus deiner Rüstung schälen, um deine Wunden zu versorgen. Aber ich fürchte, dass die Wunden nur stärker bluten, wenn ich dich herumschubse. Deshalb trenne ich nur dort die Stellen an deinem Lederwams weiter auf, wo es ohnehin schon durchlöchert ist.« Der Mann öffnete weder die Augen, noch antwortete er. Vermutlich war er bewusstlos. Der Bokker versorgte die Verletzungen, so gut er konnte. Er schnitt die Ärmel und die Hosenbeine auf, löste die Bänder an der Front des Lederharnischs, öffnete das Wams darunter und verband die Wunden. Die Verbände färbten sich rot, noch während er die nächste Wunde versorgte. Jetzt schlug der Mensch die Augen auf. Sie waren von einem derartig hellen Blau, dass sie fast weiß wirkten. Ihr Blick richtete sich auf Tipperton. »Läufer.«
»Was ... Was?«
»Mein ... Pferd.«
Tipperton widmete sich angelegentlich der nächsten Wunde. »Tut mir leid«, erwiderte er leise. »Das Pferd ist tot.«
Der Mann seufzte und schloss seine unheimlichen, hellen Augen.
Rasch bandagierte Tipperton die letzten Verletzungen und zog anschließend eine Decke über den Mann. Dann streifte er sein Nachthemd ab, das mittlerweile blutgetränkt war, und zog sich hastig an. »Ich hole Hilfe. Einen Heiler. Er wohnt ganz in der Nähe.« Als der Bokker seinen verletzten Fuß in einen Stiefel zwängte und seinen Mantel überwarf, schlug der Mann erneut die Augen auf, hob schwach eine Hand und winkte ihn zu sich. Tipperton kniete sich neben den Verwundeten. Der Mann starrte in Tippertons blaue Augen, die wie Saphire funkelten, und schien einen Entschluss zu fassen. Er bemühte sich, seinen ledernen Halsschutz zu öffnen. Mit Tippertons Hilfe gelang es ihm schließlich, die Schnüre zu lösen. Anschließend zog der Fremde ein Lederband aus dem Ausschnitt, an dem ein Anhänger hing. »Osten«, flüsterte er, als er dem Bokker den Anhänger, eine einfache, mattgraue Münze mit einem Loch in der Mitte, in die Hand drückte.
»Geh nach Osten ... Warne sie ... Bring das zu ... Agron.«
Tipperton runzelte verwirrt die Stirn.
»Agron? Wer ...? Nein, warte. Du kannst es mir später erklären.« Er streifte sich das Lederband über den Kopf und schob die Münze in sein Hemd. »Erst hole ich den Heiler.«
»Pass auf, Waerling.« Der Mann hatte seine hellblauen Augen wieder geschlossen. »Da draußen ... lauern noch mehr.«
Tipperton holte tief Luft. »Ich nehme meinen Bogen mit.«
Der Fremde antwortete nicht.
Der Wurrling erhob sich zu seiner stattlichen Größe von fast einem Meter und schaute auf den Menschen herab. Dann griff er nach Bogen und Pfeile und blies die Laterne aus. Ich kann kein Leuchtfeuer gebrauchen, das den Rukh den Weg zeigt. Er schlich aus der Tür und zog sie leise hinter sich zu. Rasch glitt er zur Seite, drückte sich an die Wand und suchte die Dunkelheit nach Feinden ab. Da er niemanden sah, ging er den Hang hinauf und verschwand zwischen den Bäumen. Er mied den zweispurigen Karrenweg und hielt sich lieber im Schutz des Waldes. Nach wenigen Schritten fiel er in einen raschen Trott. Sein schwarzes Haar wehte hinter ihm her, während seine Füße über den Schnee zu fliegen schienen. Tipperton Thistledown eilte vollkommen lautlos durch den Wald, so wie es nur ein Wurrling vermochte.
2. Kapitel
Bumm, Bumm.
»Beau! Beau, wach auf!« Erneut hämmerte jemand an die Tür der Kate und rüttelte am Riegel. »Beau! Verdammt noch mal!« Beau Darby wachte mit einem Stöhnen auf. Es war eiskalt und finster. Bumm!
»He ...!«, krächzte Beau. »Moment mal! Wollt Ihr vielleicht die Toten zum Leben erwecken?« Mit einem leisen Fluchen schlich der Bokker über die kalten Holzbohlen zur Tür. Rumms! »Beau ...« Der ungebetene Gast setzte gerade zu einem neuerlichen Fluch an, als Beau den knarrenden Riegel zurückschob und die Tür aufriss. Ein eisiger Windhauch fegte herein. »Da bist du ja endlich, Beau! Zieh dich an und schnapp dir deinen Ranzen! Es hat Ärger gegeben. In meiner Mühle liegt ein Verwundeter!«
Im Licht der Sterne und des Mondes erkannte Beau seinen Freund Tipperton. Er war der einzige andere Wurrling, der in der Nähe von Gabelhain lebte. Er stand mit dem Bogen in der Hand auf der Schwelle seiner Kate. Die beiden Bokker waren fast gleich alt. Tipperton war ein Jungbokker von dreiundzwanzig Jahren, Beau war zweiundzwanzig. Dennoch wurden sie in Gabelhain wegen ihrer geringen Körpergröße häufig wie kleine Kinder behandelt.
»Was hast du gesagt, Tip?«
»Ich habe gesagt, in meiner Mühle liegt ein verwundeter Mensch!«
»Verwundet?«
»Ja. Rukhs und Hlöks haben ihn angegriffen. Er blutet aus vielen Wunden.«
»Er blutet?«
»Sag ich doch, Wurro, er blutet!« Tipperton drängte sich an Beau vorbei in die Kate und suchte humpelnd nach einer Laterne.
»Sie haben sein Pferd umgebracht. Und ihn wollten sie auch töten. Einer hat sich sogar auf mich gestürzt. Aber der Mensch hat sie alle erwischt. Direkt vor meiner Mühle. Sieben, acht Rukhs und einen Hlök.«
Endlich fand Tipperton die Laterne und zündete sie an. In ihrem flackernden Schein schaute er Beau an. Der Wurrling stand immer noch an der Tür, mit leicht offenem Mund und wie vom Donner gerührt. »Nun komm endlich, Beau. Wir dürfen keine Zeit verlieren!«
Endlich reagierte Beau. Er klappte den Mund zu und schloss die Tür. Er lief durch das Zimmer und zog sich dabei das Nachthemd über den Kopf. »Rukhs und anderes Gezücht? Hier in der Wildnis? Ganz in der Nähe von Gabelhain? Und sie haben an der Mühle gekämpft?«
Er warf das Hemd auf das zerwühlte Bett und sah Tipperton aus staunend aufgerissenen, bernsteinfarbenen Augen an. »Was wollten sie denn überhaupt dort? Und überhaupt, wie geht es dir? Humpelst du etwa?«
»Ich habe mir einen Glassplitter in den Fuß getreten. War meine eigene Schuld. Darum kannst du dich kümmern, wenn wir den Menschen versorgt haben. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was sie an der Mühle wollten. Ich nehme an, es war reiner Zufall.«
Beau zog seine Hose an. »Warum sollten die Rukhs einen Menschen verfolgen?«
Tipperton zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Vielleicht war es ja auch anders herum. Ich meine, dass er sie verfolgt hat. Aber eines kann ich dir sagen: Ganz gleich, wer hinter wem her war, sie sind alle tot, alle bis auf ihn. Hoffe ich jedenfalls. Er hat noch gelebt, als ich ihn verlassen habe, aber er hat so schlimm geblutet, meiner Treu! Er hat viele Wunden davongetragen. Immerhin waren es verdammt viele Rukhs. Ich habe ihn so gut verbunden, wie ich konnte.«
Tipperton lief ungeduldig im Raum herum, während Beau das Wams über sein schulterlanges, braunes Haar zog und die Hände in die Ärmel schob.
»Mach dir keine Sorgen, Tip. Wenn du seine Wunden ordentlich verbunden hast, bringen wir ihn schon durch.«
»Und wenn nun die Klingen der Rukhs vergiftet waren? Ich habe gehört, dass sie oft ein tödliches Gift auf ihre Schwerter schmieren.«
Beau steckte die Füße in die Stiefel und stand auf.
»Umso mehr Grund haben wir, uns zu beeilen.« Er warf seinen Mantel über, schnappte sich den Ranzen mit seinen Arzneien und drehte sich zu seinem Freund herum.
»Ich bin fertig. Gehen wir.«
Tipperton hob seinen Bogen auf.
»Mach das Licht aus, und lass die Laterne im Haus. Der Mann hat gesagt, es wären noch mehr Rukhs und dergleichen unterwegs.« Beau sah ihn erschrocken an, nickte dann jedoch und blies die Laterne aus. Im Dunkeln trat Tipperton an die Tür und spähte hinaus.
»Die Luft ist rein!«, zischte er, schlüpfte nach draußen und durch den Schatten über die Lichtung zwischen die Bäume. Beau folgte ihm auf den Fersen. Lautlos huschten die beiden Wurrlinge im Licht der Sterne durch den Wald.
»Warte, ein Moment!«, flüsterte Tipperton. »Irgendwas stimmt da nicht.«
Die beiden Wurrlinge kauerten sich zwischen die Bäume am Waldrand und spähten über die Lichtung zu der dunklen Mühle. Das aufziehende Morgengrauen schwächte das Licht der Sterne und des Mondes ab. Beau atmete mehrmals tief durch, um seinen rasenden Puls unter Kontrolle zu bringen. »Was ist denn? Ich kann nichts sehen.«
»Ich habe die Tür hinter mir zugezogen. Aber jetzt steht sie weit offen.«
»Meiner Treu!« Sie blieben im Dämmerschatten der Bäume hocken. »Könnte der Mann«, fragte Beau schließlich, »die Tür vielleicht selbst aufgemacht haben? Möglicherweise ist er ja verschwunden.« »Das könnte natürlich sein, aber ich halte es eher für unwahrscheinlich. Er war viel zu schwach dazu.« Sie starrten noch eine Weile auf die Mühle. Nichts rührte sich.
»Wenn wir noch länger warten«, meinte Tipperton schließlich, »dann verblutet der Mann vermutlich. Warte hier, Beau. Ich sehe nach, was da los ist. Wenn ich pfeife, komm schnell. Wenn ich schreie, renn um dein Leben.«
Bevor Beau antworten konnte, huschte Tipperton davon und schlug sich nach links in die Büsche. Die Augenblicke verrannen so langsam wie träges Wasser. Es wurde hell. Schließlich glaubte Beau, einen Schatten auf der Veranda zu sehen. Nach einigen Augenblicken leuchtete das gelbliche Licht der Laterne in der Mühle auf, und Tipperton trat erneut vor die Tür. Er pfiff leise und verschwand dann wieder im Inneren des Mühlhauses. Beau schnappte sich seinen Ranzen und trottete über die Lichtung, vorbei an dem toten Pferd und den niedergemetzelten Rukhs. Als er durch die Tür in die Mühle trat, deutete Tipperton mit einem schmerzlichen Gesichtsausdruck auf den Mann. »Ich fürchte, du kannst nichts mehr für ihn tun, Beau. Jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten.« Der Fremde lag in einer Blutlache, seine toten Augen starrten an die Decke, und sein Hals war fast ganz durchtrennt. Man hatte ihm die Lederrüstung ausgezogen und seine Sachen achtlos zu Boden geworfen. Helm, Stiefel und der Kettenpanzer waren verschwunden, und der Mühlraum selbst war offenbar durchwühlt worden. Der Tisch war umgefallen, das Bettzeug war zerfetzt, sämtliche Schubladen waren aus der Kommode gerissen und ihr Inhalt auf dem Boden verstreut worden. Beau ging an Tipperton vorbei, kniete sich neben den Mann auf den Boden und seufzte, während er dem Toten die Augen schloss.
»Du hast recht, Tip. Niemand außer Adon kann jetzt noch etwas für ihn tun. Was ist deiner Meinung nach hier geschehen?« Tippertons Kiefer mahlten. »Dieser Mensch hat gesagt, es würden noch mehr Rukhs da draußen herumschleichen. Vermutlich sind sie gekommen, als er wehrlos war, und haben ihn einfach abgeschlachtet.«
Tip schlug seine rechte Faust in die linke Handfläche. »Diese verdammten Rukhs!«
Beau nickte. »Damals in den Waldsenken«, sagte er nachdenklich, »hat meine Tante Rose, gesegnet sei ihr Andenken, behauptet, dass alle Rukhs, und genau genommen alle Lebewesen aus der Neddra, mit einem Geburtsfehler behaftet wären: Ihnen fehle ein Herz. Ihrer Meinung nach dächten diese Wesen nur an sich selbst. Sie nannte sie >Gyphons Gezücht<. Sie glaubte, dass er sie absichtlich so erschaffen hätte, ohne Mitleid, Mitgefühl oder einem Gewissen. Dass sie diesem hilflosen Menschen die Kehle durchgeschnitten haben, hätte sie nicht überrascht.«
Plötzlich schien Beau aus seinen Gedanken hochzuschrecken. Seine Augen wurden groß, als er Tipperton ansah, und dann warf er einen furchtsamen Blick zur Tür. »Meine Güte, Tip, glaubst du, dass da draußen noch mehr herumschleichen? In dem Fall ...«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2007 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Dennis L. McKiernan
Dennis L. McKiernan wurde am 4. April 1932 in Missouri geboren. Im Alter von 18 Jahren trat er in die Air Force ein und kämpfte vier Jahre als Soldat im Korea-Krieg. Nach seiner Militärzeit studierte McKiernan Elektrotechnik. 31 Jahre lang arbeitete er als Ingenieur im Rüstungsbereich, bevor er sich entschloss, das Schreiben zum Beruf zu machen. Sein erstes Buch schrieb er 1977, während er sich von einem Autounfall erholte. Seitdem hat Dennis L. McKiernan über zwanzig Fantasy-Romane verfasst. Er lebt mit seiner Frau in Tuscon, Arizona und ist ein leidenschaftlicher Taucher und Motorradfahrer.
Bibliographische Angaben
- Autor: Dennis L. McKiernan
- 1369 Seiten, Maße: 13,2 x 19,2 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828997597
- ISBN-13: 9783828997592
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