Open
Das Selbstporträt
Vom Wunderkind über den "Paradiesvogel" auf dem Centre-Court zum Top-Sportler und Familienvater
Andre Agassi ist bis heute eine Tennis-Legende. Der Amerikaner aus Las Vegas gewann in seiner Karriere acht...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Open “
Vom Wunderkind über den "Paradiesvogel" auf dem Centre-Court zum Top-Sportler und Familienvater
Andre Agassi ist bis heute eine Tennis-Legende. Der Amerikaner aus Las Vegas gewann in seiner Karriere acht Grand-Slam-Turniere und als einziger Spieler bisher den Golden Slam. Er stand 101 Wochen auf Platz 1 der Weltrangliste. Doch Andre zahlte einen hohen Preis für den Erfolg. Sein Vater trieb ihn zum Tennis und das "Wunderkind" musste spielen. Das Tennis-Ass wurde zum rebellischen Superstar auf dem Centre Court.
In diesem packenden Selbstporträt erzählt Agassi die Geschichte seines Lebens: Ein Leben im Widerstreit zwischen Selbstzerfleischung und dem Drang nach Perfektion.
Klappentext zu „Open “
Zum Wunderkind erkoren, zum Tennis getrieben, wurde aus Andre Agassi der rebellische Superstar auf dem Centre Court, eine Pop-Ikone der Achtziger. Kaum stand er ganz oben auf der Weltrangliste, stürzte er ab und fiel tief. Sein spektakuläres Comeback und seine Liebe zu Stefanie Graf machten ihn zu der überragenden Persönlichkeit, die er heute ist. Er fördert die Schulbildung benachteiligter Kinder und kann ihnen das geben, was sein Triumph ihn selbst gekostet hat.Das sensationelle Selbstporträt eines begnadeten Tennisspielers, der über sich selbst hinausgewachsen ist.
Lese-Probe zu „Open “
Open – Das Selbstportrait von André AgassiDas Ende
Ich öffne die Augen und weiß nicht, wo und wer ich bin.
Nichts Ungewöhnliches – mein halbes Leben lang habe ich das nicht gewusst. Trotzdem fühlt es sich diesmal anders an.
Die Verwirrung ist beängstigender. Fast total.
Ich blicke auf. Ich liege auf dem Boden neben dem Bett. Jetzt erinnere ich mich wieder. Ich bin während der Nacht vom Bett auf den Fußboden umgezogen. Das tue ich meistens. Ist besser für meinen Rücken. Zu viele Stunden auf einer weichen Matratze führen zu höllischen Schmerzen. Ich zähle bis drei, dann beginne ich mit dem langen, schwierigen Prozess des Aufstehens. Hustend und stöhnend drehe ich mich auf die Seite und rolle mich wie ein Fötus zusammen. Dann drehe ich mich auf den Bauch und warte darauf, dass das Blut zu zirkulieren beginnt.
Ich bin ein junger Mann, relativ jung zumindest. Sechsunddreißig.
Aber nach dem Aufwachen fühle ich mich, als wäre ich sechsundneunzig. Nach drei Jahrzehnten des Rennens und Abstoppens, des Hochspringens, nach unzähligen Sprüngen und harten Landungen fühlt mein Körper sich nicht mehr so an, als gehörte er mir, vor allem am frühen Morgen. Folglich fühlt sich auch mein Kopf nicht so an, als würde er mir gehören. Wenn ich die Augen öffne, bin ich mir selbst fremd, und obwohl ich auch daran gewöhnt bin, ist dieses Gefühl am frühen Morgen besonders stark. Schnell gehe ich die wesentlichen Fakten durch. Mein Name ist Andre Agassi. Meine Frau heißt Stefanie Graf. Wir haben zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, fünf und drei. Wir leben in Las Vegas, Nevada, wohnen jedoch derzeit in einer Suite im Hotel Four Seasons in New York, weil ich bei den US Open 2006 spiele. Mein letzter Auftritt bei den US Open. Mein letztes Turnier überhaupt. Ich
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verdiene meinen Lebensunterhalt mit Tennis, obwohl ich Tennis verabscheue, obwohl ich diesen Sport mit dunkler, heimlicher Leidenschaft hasse, ihn immer gehasst habe.
Nachdem dieses letzte Puzzleteil meiner Identität seinen Platz gefunden hat, gleite ich auf die Knie und warte. Leise flüstere ich vor mich hin: Hoffentlich ist das alles bald vorbei. Dann: Ich kann mich noch nicht damit abfinden, dass es vorbei ist.
Aus dem Nebenzimmer höre ich Stefanie und die Kinder.
Sie lachen und plaudern beim Frühstück. Mein überwältigendes Bedürfnis, sie zu sehen und zu berühren, und mein heftiges Verlangen nach Koffein geben mir die Kraft, die ich brauche, um mich endgültig aufzurichten. Der Hass zwingt mich auf die Knie, die Liebe bringt mich wieder auf die Füße. Ich werfe einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch. Halb acht. Stefanie hat mich ausschlafen lassen. In den letzten Tagen ist die Müdigkeit überwältigend. Zu der körperlichen Anstrengung kommt noch die Gefühlsflut, die mein bevorstehender Rückzug aus dem Profisport mit sich bringt. Jetzt, wo die Müdigkeit nachlässt, kommt die erste Schmerzwelle. Ich fasse mir an den Rücken. Mein Rücken packt mich. Ich fühle mich, als hätte sich über Nacht jemand hereingeschlichen und so eine Lenkradkralle an meinem Rückgrat befestigt. Wie soll ich bei den US Open antreten mit einer Lenkradkralle im Rücken? Wird das letzte Match meiner Karriere mit einer Niederlage enden?
Ich wurde mit Olisthesis geboren, einem Wirbelgleiten, was bedeutet, dass sich ein Wirbel im unteren Teil meiner Wirbelsäule selbständig macht, dass er rebelliert. (Das ist der Hauptgrund für meinen Watschelgang.) Wegen dieses einen rebellischen Wirbels haben die Nerven in meiner Wirbelsäule kaum Bewegungsfreiheit. Bei der kleinsten Bewegung fühlen meine Nerven sich sofort beengt. Dazu zwei Bandscheibenvorfälle und ein Wirbelkörper, dessen knöchernes Wachstum immer wieder provoziert wird, um diesen Bereich der Wirbelsäule zu schützen, so dass meine Nerven regelrecht Platzangst kriegen.
Wenn sie dann anfangen, gegen die Enge zu protestieren, wenn sie Stresssignale aussenden, fährt mir ein Schmerz ins Bein, der mir den Atem raubt und unverständliche Worte entlockt. In solchen Situationen kann ich mich nur noch hinlegen und abwarten. Manchmal allerdings passiert es mitten in einem Match. Dann kann ich mir nur helfen, indem ich meine Spieltechnik ändere, anders schlage, anders laufe, alles anders mache. Und dann verkrampfen sich meine Muskeln. Niemand mag Veränderung, Muskeln am allerwenigsten. Wenn ich von meinen Muskeln verlange, dass sie etwas anderes tun, verbünden sie sich mit den aufständischen Nerven in meinem Rückgrat, und schon liegt mein ganzer Körper im Krieg gegen sich selbst.
Gil, mein Fitnesstrainer, mein Freund, mein Ersatzvater, erklärt mir das so: Dein Körper sagt dir, dass er nicht mehr weitermachen will.
Das sagt mein Körper mir schon ziemlich lange, antworte ich ihm dann. Fast so lange, wie ich es sage. Aber seit Januar schreit mein Körper, er will nicht mehr.
Mein Körper hat nicht vor, sich nicht aus dem Profisport zurückzuziehen – er hat es längst getan. Mein Körper ist nach Florida gezogen und hat sich eine Wohnung und weiße Schuhe gekauft. Ich verhandle also mit meinem Körper und bitte ihn immer wieder, für ein paar Stunden ins aktive Sportlerleben zurückzukehren. Diese Verhandlungen drehen sich meistens um die Spritze, eine Kortisoninjektion, die den Schmerz vorübergehend betäubt. Bis die Spritze wirkt, verursacht sie jedoch erst einmal Qualen.
Ich habe gestern eine bekommen, damit ich heute Abend spielen kann. Es war die dritte Spritze in diesem Jahr, die dreizehnte während meiner gesamten Laufbahn als Profisportler und bei weitem die schmerzhafteste. Diesmal hat mich ein anderer Arzt behandelt. Als Erstes bat er mich auf seine Liege. Ich legte mich auf den Bauch, und die Arzthelferin zog mir die Unterhose runter. Der Arzt erklärte mir, er müsse mit der zwanzig Zentimeter langen Nadel so nah wie möglich an die entzündeten Nerven herankommen. Er konnte jedoch nicht direkt mit der Nadel eindringen, weil meine verrutschten Bandscheiben und der Dorn meines Knochens im Weg waren. Seine Versuche, die Hindernisse zu umgehen, raubten mir fast den Verstand. Zuerst führte er die Nadel ein. Dann brachte er ein großes Röntgengerät über meinem Rücken in Position, um zu sehen, wie nah er mit der Nadel an den Nerv gekommen war. Er musste bis dicht an den Nerv heran, erklärte er mir, und dabei höllisch aufpassen, dass er ihn nicht direkt traf. Wenn die Nadel den Nerv in irgendeiner Weise berührte, würde der Schmerz mich nicht nur für das Turnier außer Gefecht setzen, sondern könnte mein ganzes Leben verändern, sagte er. Und er bohrte und rührte mit der Nadel, bis mir die Tränen kamen.
Endlich fand er die richtige Stelle. Bingo, murmelte er.
Jetzt injizierte er das Kortison. Es brannte so heftig, dass ich mir auf die Lippe biss. Dann kam der Druck. Es war, als würde ich einbalsamiert. Da die Flüssigkeit keinen Raum fand, um sich auszubreiten, hatte ich das Gefühl, als würde die winzige Stelle in meinem Rückgrat, wo die Nerven sich befinden, vakuumverpackt.
Der Druck wurde immer stärker, bis ich dachte, mein Rücken würde explodieren.
An dem Druck merkt man, dass es funktioniert, bemerkte der Arzt.
Dein Wort in Gottes Ohr, Doc.
Doch dann fühlte der Schmerz sich herrlich an, beinahe köstlich, weil es die Art von Schmerz war, die der Erleichterung vorausgeht. Andererseits gilt das eigentlich für jede Art von Schmerz.
Meine Familie wird immer lauter. Ich humple ins Wohnzimmer unserer Suite. Als meine Kinder mich sehen, fangen sie an zu kreischen: Daddy, Daddy! Sie springen auf und kommen auf mich zugestürmt. Ich straffe mich und baue mich vor ihnen auf wie ein Schauspieler, der einen winterkahlen Baum darstellt. Aber sie werfen sich nicht auf mich, denn sie wissen, dass Daddy im Moment sehr empfindlich ist. Dass Daddy zerbricht, wenn sie ihn zu hart anpacken. Ich tätschle ihnen die Wangen und setze mich zu ihnen an den Frühstückstisch. Jaden will wissen, ob heute der große Tag ist.
Ja.
Spielst du?
Ja.
Und dann bist du ab morgen in Ruhestan?
Ein neues Wort, das die Kinder gelernt haben: Ruhestand.
Wenn sie es aussprechen, lassen sie immer den letzten Buchstaben weg. Für sie ist Ruhestan ein Ort, der Ruhe und Entspannung bedeutet oder so was. Vielleicht wissen sie etwas, das ich nicht weiß.
Nicht, wenn ich gewinne, Jaden. Wenn ich heute Abend gewinne, spiele ich weiter.
Aber wenn du verlierst – kriegen wir dann einen Hund?
Die Kinder setzen Ruhestand mit Hund gleich. Stefanie und ich haben ihnen versprochen, einen Hund anzuschaffen, wenn ich nicht mehr trainieren muss und wir nicht mehr durch die Weltgeschichte reisen müssen. Vielleicht nennen wir ihn ja Kortison.
Ja, Kumpel, wenn ich verliere, kaufen wir einen Hund.
Er lächelt. Hofft, dass Daddy verliert, hofft, dass Daddy die größte aller Enttäuschungen erlebt. Er versteht nicht – und wie soll ich es ihm auch begreiflich machen –, welchen Schmerz es bedeutet zu verlieren, welchen Schmerz das Spielen verursacht.
Ich habe fast dreißig Jahre gebraucht, um das zu kapieren, um meine Psyche zu analysieren.
Ich frage Jaden, was er heute vorhat.
Er will sich die Knochen ansehen.
Ich schaue Stefanie an. Sie erinnert mich daran, dass sie den Kindern versprochen hat, mit ihnen ins Naturkundemuseum zu gehen. Dinosaurier. Ich muss an meine verkorkste Wirbelsäule denken. Stelle mir vor, wie mein Skelett zwischen all den Dinosauriern ausgestellt wird. Tennis-aurus Rex.
Jaz reißt mich aus meinen Gedanken. Sie reicht mir ihren Muffin. Ich muss die Blaubeeren herausklauben, damit sie ihn essen kann. Unser morgendliches Ritual. Jede einzelne Blaubeere muss herausoperiert werden, und das erfordert Präzision und Konzentration. Das Messer hineinstecken, umdrehen, sich an die Blaubeere ranarbeiten, ohne sie zu berühren.
Es ist eine Erleichterung, sich mit etwas zu beschäftigen, das nichts mit Tennis zu tun hat. Aber als ich ihr den Muffi n zurückgebe, fühlt er sich unwillkürlich an wie ein Tennisball, und ich spüre, wie meine Rückenmuskeln erwartungsvoll zucken.
Die Stunde naht.
Nach dem Frühstück, nachdem Stefanie und die Kinder mir einen Abschiedskuss gegeben haben und zum Museum aufgebrochen sind, sitze ich still am Tisch und schaue mich in der Suite um. Sie sieht genauso aus wie jede Hotelsuite, in der ich je gewohnt habe, nur noch typischer. Sauber, elegant, komfortabel – es ist das Hotel Four Seasons, und die lassen sich nicht lumpen, aber dennoch ist es nur eine weitere Version dessen, was ich Nicht-Zuhause nenne. Der Nicht-Ort, an dem wir Sportler leben. Ich schließe die Augen und versuche an den bevorstehenden Abend zu denken, aber meine Gedanken wandern in die Vergangenheit. Meine Gedanken wollen an den Anfang zurück, weil ich so kurz vor dem Ende stehe. Aber das darf ich nicht zulassen. Noch nicht. Ich kann es mir nicht leisten, mir Gedanken über die Vergangenheit zu machen. Ich stehe auf und gehe um den Tisch herum, teste meinen Gleichgewichtssinn. Als ich mich einigermaßen stabil fühle, gehe ich vorsichtig ins Bad, um zu duschen.
Ich stöhne und schreie unter dem heißen Wasserstrahl.
Langsam beuge ich mich vor, stütze mich auf die Oberschenkel.
Meine Muskeln beginnen sich zu entspannen. Meine Haut kribbelt. Meine Poren öffnen sich. Warmes Blut pulsiert durch meine Adern. Etwas regt sich in mir – Hoffnung, Leben, die letzten Spuren von Jugend. Trotzdem meide ich vorerst jede plötzliche oder ausladende Bewegung. Ich will nichts tun, was meinem Rückgrat einen Schrecken einjagen könnte. Ich lasse mein Rückgrat ausschlafen.
Während ich mich vor dem Badezimmerspiegel abtrockne, betrachte ich mein Gesicht. Gerötete Augen, graue Bartstoppeln – ein ganz anderes Gesicht als das, mit dem ich angefangen habe. Aber auch ein anderes als dasjenige, das ich vor einem Jahr hier in demselben Spiegel gesehen habe. Wer immer ich auch sein mag, ich bin nicht der Junge, der zu dieser Odyssee aufgebrochen ist, und ich bin nicht einmal der Mann, der vor drei Monaten verkündet hat, dass er seine Odyssee beenden würde. Ich bin wie ein Tennisschläger, dessen Griff ich viermal und dessen Bespannung ich siebenmal ausgewechselt habe – kann man dann noch behaupten, dass es sich um denselben Schläger handelt? Irgendwo in diesen Augen kann ich immer noch den Jungen sehen, der eigentlich nie Tennis spielen wollte, den Jungen, der aufhören wollte, der viele Male nicht aufgehört hat. Ich sehe den goldblonden Jungen, der Tennis nicht ausstehen konnte, und ich frage mich, was er wohl von dem glatzköpfigen Mann halten würde, der Tennis nach wie vor hasst und dennoch weiterspielt. Wäre er schockiert? Amüsiert? Stolz? Die Frage macht mich müde und apathisch, dabei ist es erst Mittag.
Hoffentlich ist es bald vorbei.
Ich kann mich noch nicht damit abfinden, dass es vorbei ist.
Die Ziellinie am Ende der Karriere ist genauso wie die Ziellinie am Ende eines Matchs. Es kommt darauf an, in Reichweite dieser Ziellinie zu gelangen, denn sie besitzt eine magnetische Anziehungskraft. Wenn man in die Nähe der Ziellinie gelangt, zieht diese Kraft einen vorwärts, und man kann sie sich zunutze machen, um die Linie zu überqueren. Aber kurz bevor man in das Magnetfeld dieser Kraft gerät – oder kurz danach –, spürt man plötzlich noch eine andere, gleich starke Kraft, die einen abstößt. Sie sind unerklärlich und rätselhaft, diese Kräfte – diese gegenläufigen Energien –, aber sie existieren beide. Ich weiß das, weil ich zeit meines Lebens nach der einen suche und gegen die andere ankämpfe, und manchmal bleibe ich zwischen beiden hängen und fühle mich zwischen ihnen hin- und hergeworfen wie ein Tennisball.
Ich ermahne mich, dass ich heute eiserne Disziplin brauchen werde, um mit diesen Kräften und mit all dem umzugehen, was womöglich an diesem Abend sonst noch auf mich zukommt. Rückenschmerzen, qualvolle Spritzen, schlechtes Wetter, Selbstverachtung. Diese Ermahnung ist meine Art, mich zu beunruhigen, aber sie ist auch eine Art Meditation. In den neunundzwanzig Jahren, seit ich Tennis spiele, habe ich eins gelernt: Das Leben wirft einem jeden Knüppel zwischen die Beine, dessen es habhaft werden kann. Und unsere Aufgabe besteht darin, diesen Knüppeln auszuweichen. Wenn man sich von ihnen aufhalten oder ablenken lässt, erfüllt man seine Aufgabe nicht richtig, und die Reue über diesen Fehler lähmt einen mehr als die schlimmsten Rückenschmerzen.
Ich hole mir ein Glas Wasser, lege mich aufs Bett und lese.
Als meine Augen müde werden, schalte ich den Fernseher ein.
Heute Abend zweite Runde der US Open! Wird das Andre Agassis Abschiedsauftritt? Mein Gesicht erscheint auf dem Bildschirm. Ein anderes als das im Spiegel. Mein Turniergesicht.
Ich mustere dieses Gesicht, dieses Bild von mir im Zerrspiegel des Fernsehers, und meine Beklemmung nimmt um ein oder zwei Grad zu. War das der letzte Werbespot? Das letzte Mal, dass CBS ein Match von mir sendet? Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich sterben werde. Es ist kein Zufall, denke ich, dass im Tennis die Sprache des Lebens gebraucht wird: Advantage, Service, Fault, Break, Love. Die grundsätzlichen Elemente im Tennis entsprechen denen des täglichen Lebens, denn jedes Match ist ein Leben in Miniaturausgabe. Selbst die Struktur des Tennis, die Art, wie die einzelnen Teile ineinander passen wie bei einer russischen Puppe, spiegelt die Struktur unseres Alltags wider. Aus Punkten werden Sätze, werden Matches, werden Turniere, und alles ist so eng miteinander verbunden, dass jeder Punkt zu einem Wendepunkt werden kann. Es erinnert mich daran, wie Sekunden zu Minuten, Minuten zu Stunden werden und wie jede Stunde unsere beste sein kann. Oder die finsterste. Die Entscheidung liegt bei uns.
Aber wenn Tennis das Leben ist, dann muss das, was auf das Tennis folgt, die unergründliche Leere sein. Der Gedanke lässt mich frösteln.
Stefanie und die Kinder stürmen zur Tür herein. Sie werfen sich aufs Bett, und mein Sohn fragt mich, wie ich mich fühle. Gut, ausgezeichnet. Wie waren die alten Knochen? Super!
Stefanie macht ihnen Sandwiches und gibt ihnen Saft zu trinken, dann scheucht sie sie wieder aus der Tür. Sie haben eine Verabredung zum Spielen, sagt sie.
Haben wir das nicht alle?
Jetzt kann ich mir einen Mittagsschlaf gönnen. Mit sechsunddreißig kann ich ein Match, das gut bis nach Mitternacht dauern kann, nur durchhalten, wenn ich vorher einen Mittagsschlaf mache. Und nachdem ich halbwegs weiß, wer ich bin, habe ich das Bedürfnis, die Augen zu schließen und mich vor dieser Erkenntnis zu verstecken. Als ich die Augen wieder öffne, ist eine Stunde vergangen. Ich sage laut: Es wird Zeit.
Schluss mit dem Verstecken. Ich gehe noch einmal unter die Dusche. Aber diesmal ist es anders als am Morgen. Die Nachmittagsdusche dauert immer mehr oder weniger zwanzig Minuten, und sie dient nicht zum Aufwachen oder Säubern. Die Nachmittagsdusche dient dazu, mir Mut zu machen, mich auf das Spiel einzustellen.
Tennis, der Sport der Selbstgespräche. Kein Sportler redet so viel mit sich selbst wie ein Tennisspieler. Klar, auch Baseballspieler, Golfer, Torwarte murmeln vor sich hin, aber Tennisspieler reden mit sich selbst – und geben sich sogar Antworten.
Während eines Matchs wirkt ein Tennisspieler wie ein Verrückter auf einem öffentlichen Platz, der schreit und tobt und mit seinem Alter Ego hitzige Debatten führt. Warum?
Weil Tennis ein so verdammt einsamer Sport ist. Nur ein Boxer kann die Einsamkeit des Tennisspielers nachvollziehen – aber ein Boxer hat immerhin seine Betreuer und Trainer in der Ringecke. Selbst sein Gegner leistet ihm in gewisser Weise Gesellschaft, er kann ihn packen und ihm Beschimpfungen ins Ohr flüstern. Beim Tennis steht man dem Feind Auge in Auge gegenüber, man tauscht Schläge aus, aber man kann weder ihn noch sonst jemanden berühren oder ansprechen. Die Regeln verbieten es einem Tennisspieler sogar, sich während des Spiels mit seinem Trainer auszutauschen.
Häufig wird ein Langstreckenläufer als einsam bezeichnet, aber darüber kann ich nur lachen. Der Läufer kann seine Gegner wenigstens spüren und riechen. Beim Tennis dagegen befindet man sich auf einer einsamen Insel. Von allen Spielen, in denen Männer oder Frauen gegeneinander antreten, kommt Tennis einer Einzelhaft am nächsten, was notwendigerweise zu Selbstgesprächen führt, und für mich fangen die Selbstgespräche unter der Dusche an. Hier fange ich an, mir Dinge zu sagen, verrücktes Zeug, immer und immer wieder, bis ich es glaube. Zum Beispiel, dass ein halber Krüppel in der Lage ist, bei den US Open anzutreten. Dass ein Sechsunddreißigjähriger einen Gegner schlagen kann, für den gerade seine besten Jahre anfangen. Ich habe im Lauf meiner Karriere 869 Spiele gewonnen, ich bin der fünftbeste Spieler aller Zeiten, und viele meiner Siege habe ich nachmittags unter der Dusche errungen.
Während das Wasser in meinen Ohren rauscht – was sich so ähnlich anhört wie der Lärm von zwanzigtausend Fans –, rufe ich mir ganz bestimmte Siege in Erinnerung. Keine Siege, die den Fans im Gedächtnis haften geblieben sind, sondern solche, die mich immer noch nachts aus dem Schlaf schrecken lassen.
Squillari in Paris. Blake in New York. Pete in Australien. Dann gehe ich ein paar Niederlagen durch. Schüttle den Kopf über die Enttäuschungen. Ich sage mir, dass mir diesmal ein Examen bevorsteht, für das ich neunundzwanzig Jahre lang gepaukt habe. Was auch immer am Abend passiert, ich habe es schon mindestens einmal erlebt. Egal, ob es eine körperliche oder eine mentale Prüfung ist, es ist nichts Neues.
Hoffentlich ist es bald vorbei.
Ich will nicht, dass es vorbei ist.
Ich fange an zu weinen. Ich lehne mich gegen die Wand in der Dusche und lasse alles raus.
Übersetzung: Charlotte Breuer und Norbert Möllemann
Copyright © 2009 der deutschsprachigen Ausgabe bei Droemer Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Nachdem dieses letzte Puzzleteil meiner Identität seinen Platz gefunden hat, gleite ich auf die Knie und warte. Leise flüstere ich vor mich hin: Hoffentlich ist das alles bald vorbei. Dann: Ich kann mich noch nicht damit abfinden, dass es vorbei ist.
Aus dem Nebenzimmer höre ich Stefanie und die Kinder.
Sie lachen und plaudern beim Frühstück. Mein überwältigendes Bedürfnis, sie zu sehen und zu berühren, und mein heftiges Verlangen nach Koffein geben mir die Kraft, die ich brauche, um mich endgültig aufzurichten. Der Hass zwingt mich auf die Knie, die Liebe bringt mich wieder auf die Füße. Ich werfe einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch. Halb acht. Stefanie hat mich ausschlafen lassen. In den letzten Tagen ist die Müdigkeit überwältigend. Zu der körperlichen Anstrengung kommt noch die Gefühlsflut, die mein bevorstehender Rückzug aus dem Profisport mit sich bringt. Jetzt, wo die Müdigkeit nachlässt, kommt die erste Schmerzwelle. Ich fasse mir an den Rücken. Mein Rücken packt mich. Ich fühle mich, als hätte sich über Nacht jemand hereingeschlichen und so eine Lenkradkralle an meinem Rückgrat befestigt. Wie soll ich bei den US Open antreten mit einer Lenkradkralle im Rücken? Wird das letzte Match meiner Karriere mit einer Niederlage enden?
Ich wurde mit Olisthesis geboren, einem Wirbelgleiten, was bedeutet, dass sich ein Wirbel im unteren Teil meiner Wirbelsäule selbständig macht, dass er rebelliert. (Das ist der Hauptgrund für meinen Watschelgang.) Wegen dieses einen rebellischen Wirbels haben die Nerven in meiner Wirbelsäule kaum Bewegungsfreiheit. Bei der kleinsten Bewegung fühlen meine Nerven sich sofort beengt. Dazu zwei Bandscheibenvorfälle und ein Wirbelkörper, dessen knöchernes Wachstum immer wieder provoziert wird, um diesen Bereich der Wirbelsäule zu schützen, so dass meine Nerven regelrecht Platzangst kriegen.
Wenn sie dann anfangen, gegen die Enge zu protestieren, wenn sie Stresssignale aussenden, fährt mir ein Schmerz ins Bein, der mir den Atem raubt und unverständliche Worte entlockt. In solchen Situationen kann ich mich nur noch hinlegen und abwarten. Manchmal allerdings passiert es mitten in einem Match. Dann kann ich mir nur helfen, indem ich meine Spieltechnik ändere, anders schlage, anders laufe, alles anders mache. Und dann verkrampfen sich meine Muskeln. Niemand mag Veränderung, Muskeln am allerwenigsten. Wenn ich von meinen Muskeln verlange, dass sie etwas anderes tun, verbünden sie sich mit den aufständischen Nerven in meinem Rückgrat, und schon liegt mein ganzer Körper im Krieg gegen sich selbst.
Gil, mein Fitnesstrainer, mein Freund, mein Ersatzvater, erklärt mir das so: Dein Körper sagt dir, dass er nicht mehr weitermachen will.
Das sagt mein Körper mir schon ziemlich lange, antworte ich ihm dann. Fast so lange, wie ich es sage. Aber seit Januar schreit mein Körper, er will nicht mehr.
Mein Körper hat nicht vor, sich nicht aus dem Profisport zurückzuziehen – er hat es längst getan. Mein Körper ist nach Florida gezogen und hat sich eine Wohnung und weiße Schuhe gekauft. Ich verhandle also mit meinem Körper und bitte ihn immer wieder, für ein paar Stunden ins aktive Sportlerleben zurückzukehren. Diese Verhandlungen drehen sich meistens um die Spritze, eine Kortisoninjektion, die den Schmerz vorübergehend betäubt. Bis die Spritze wirkt, verursacht sie jedoch erst einmal Qualen.
Ich habe gestern eine bekommen, damit ich heute Abend spielen kann. Es war die dritte Spritze in diesem Jahr, die dreizehnte während meiner gesamten Laufbahn als Profisportler und bei weitem die schmerzhafteste. Diesmal hat mich ein anderer Arzt behandelt. Als Erstes bat er mich auf seine Liege. Ich legte mich auf den Bauch, und die Arzthelferin zog mir die Unterhose runter. Der Arzt erklärte mir, er müsse mit der zwanzig Zentimeter langen Nadel so nah wie möglich an die entzündeten Nerven herankommen. Er konnte jedoch nicht direkt mit der Nadel eindringen, weil meine verrutschten Bandscheiben und der Dorn meines Knochens im Weg waren. Seine Versuche, die Hindernisse zu umgehen, raubten mir fast den Verstand. Zuerst führte er die Nadel ein. Dann brachte er ein großes Röntgengerät über meinem Rücken in Position, um zu sehen, wie nah er mit der Nadel an den Nerv gekommen war. Er musste bis dicht an den Nerv heran, erklärte er mir, und dabei höllisch aufpassen, dass er ihn nicht direkt traf. Wenn die Nadel den Nerv in irgendeiner Weise berührte, würde der Schmerz mich nicht nur für das Turnier außer Gefecht setzen, sondern könnte mein ganzes Leben verändern, sagte er. Und er bohrte und rührte mit der Nadel, bis mir die Tränen kamen.
Endlich fand er die richtige Stelle. Bingo, murmelte er.
Jetzt injizierte er das Kortison. Es brannte so heftig, dass ich mir auf die Lippe biss. Dann kam der Druck. Es war, als würde ich einbalsamiert. Da die Flüssigkeit keinen Raum fand, um sich auszubreiten, hatte ich das Gefühl, als würde die winzige Stelle in meinem Rückgrat, wo die Nerven sich befinden, vakuumverpackt.
Der Druck wurde immer stärker, bis ich dachte, mein Rücken würde explodieren.
An dem Druck merkt man, dass es funktioniert, bemerkte der Arzt.
Dein Wort in Gottes Ohr, Doc.
Doch dann fühlte der Schmerz sich herrlich an, beinahe köstlich, weil es die Art von Schmerz war, die der Erleichterung vorausgeht. Andererseits gilt das eigentlich für jede Art von Schmerz.
Meine Familie wird immer lauter. Ich humple ins Wohnzimmer unserer Suite. Als meine Kinder mich sehen, fangen sie an zu kreischen: Daddy, Daddy! Sie springen auf und kommen auf mich zugestürmt. Ich straffe mich und baue mich vor ihnen auf wie ein Schauspieler, der einen winterkahlen Baum darstellt. Aber sie werfen sich nicht auf mich, denn sie wissen, dass Daddy im Moment sehr empfindlich ist. Dass Daddy zerbricht, wenn sie ihn zu hart anpacken. Ich tätschle ihnen die Wangen und setze mich zu ihnen an den Frühstückstisch. Jaden will wissen, ob heute der große Tag ist.
Ja.
Spielst du?
Ja.
Und dann bist du ab morgen in Ruhestan?
Ein neues Wort, das die Kinder gelernt haben: Ruhestand.
Wenn sie es aussprechen, lassen sie immer den letzten Buchstaben weg. Für sie ist Ruhestan ein Ort, der Ruhe und Entspannung bedeutet oder so was. Vielleicht wissen sie etwas, das ich nicht weiß.
Nicht, wenn ich gewinne, Jaden. Wenn ich heute Abend gewinne, spiele ich weiter.
Aber wenn du verlierst – kriegen wir dann einen Hund?
Die Kinder setzen Ruhestand mit Hund gleich. Stefanie und ich haben ihnen versprochen, einen Hund anzuschaffen, wenn ich nicht mehr trainieren muss und wir nicht mehr durch die Weltgeschichte reisen müssen. Vielleicht nennen wir ihn ja Kortison.
Ja, Kumpel, wenn ich verliere, kaufen wir einen Hund.
Er lächelt. Hofft, dass Daddy verliert, hofft, dass Daddy die größte aller Enttäuschungen erlebt. Er versteht nicht – und wie soll ich es ihm auch begreiflich machen –, welchen Schmerz es bedeutet zu verlieren, welchen Schmerz das Spielen verursacht.
Ich habe fast dreißig Jahre gebraucht, um das zu kapieren, um meine Psyche zu analysieren.
Ich frage Jaden, was er heute vorhat.
Er will sich die Knochen ansehen.
Ich schaue Stefanie an. Sie erinnert mich daran, dass sie den Kindern versprochen hat, mit ihnen ins Naturkundemuseum zu gehen. Dinosaurier. Ich muss an meine verkorkste Wirbelsäule denken. Stelle mir vor, wie mein Skelett zwischen all den Dinosauriern ausgestellt wird. Tennis-aurus Rex.
Jaz reißt mich aus meinen Gedanken. Sie reicht mir ihren Muffin. Ich muss die Blaubeeren herausklauben, damit sie ihn essen kann. Unser morgendliches Ritual. Jede einzelne Blaubeere muss herausoperiert werden, und das erfordert Präzision und Konzentration. Das Messer hineinstecken, umdrehen, sich an die Blaubeere ranarbeiten, ohne sie zu berühren.
Es ist eine Erleichterung, sich mit etwas zu beschäftigen, das nichts mit Tennis zu tun hat. Aber als ich ihr den Muffi n zurückgebe, fühlt er sich unwillkürlich an wie ein Tennisball, und ich spüre, wie meine Rückenmuskeln erwartungsvoll zucken.
Die Stunde naht.
Nach dem Frühstück, nachdem Stefanie und die Kinder mir einen Abschiedskuss gegeben haben und zum Museum aufgebrochen sind, sitze ich still am Tisch und schaue mich in der Suite um. Sie sieht genauso aus wie jede Hotelsuite, in der ich je gewohnt habe, nur noch typischer. Sauber, elegant, komfortabel – es ist das Hotel Four Seasons, und die lassen sich nicht lumpen, aber dennoch ist es nur eine weitere Version dessen, was ich Nicht-Zuhause nenne. Der Nicht-Ort, an dem wir Sportler leben. Ich schließe die Augen und versuche an den bevorstehenden Abend zu denken, aber meine Gedanken wandern in die Vergangenheit. Meine Gedanken wollen an den Anfang zurück, weil ich so kurz vor dem Ende stehe. Aber das darf ich nicht zulassen. Noch nicht. Ich kann es mir nicht leisten, mir Gedanken über die Vergangenheit zu machen. Ich stehe auf und gehe um den Tisch herum, teste meinen Gleichgewichtssinn. Als ich mich einigermaßen stabil fühle, gehe ich vorsichtig ins Bad, um zu duschen.
Ich stöhne und schreie unter dem heißen Wasserstrahl.
Langsam beuge ich mich vor, stütze mich auf die Oberschenkel.
Meine Muskeln beginnen sich zu entspannen. Meine Haut kribbelt. Meine Poren öffnen sich. Warmes Blut pulsiert durch meine Adern. Etwas regt sich in mir – Hoffnung, Leben, die letzten Spuren von Jugend. Trotzdem meide ich vorerst jede plötzliche oder ausladende Bewegung. Ich will nichts tun, was meinem Rückgrat einen Schrecken einjagen könnte. Ich lasse mein Rückgrat ausschlafen.
Während ich mich vor dem Badezimmerspiegel abtrockne, betrachte ich mein Gesicht. Gerötete Augen, graue Bartstoppeln – ein ganz anderes Gesicht als das, mit dem ich angefangen habe. Aber auch ein anderes als dasjenige, das ich vor einem Jahr hier in demselben Spiegel gesehen habe. Wer immer ich auch sein mag, ich bin nicht der Junge, der zu dieser Odyssee aufgebrochen ist, und ich bin nicht einmal der Mann, der vor drei Monaten verkündet hat, dass er seine Odyssee beenden würde. Ich bin wie ein Tennisschläger, dessen Griff ich viermal und dessen Bespannung ich siebenmal ausgewechselt habe – kann man dann noch behaupten, dass es sich um denselben Schläger handelt? Irgendwo in diesen Augen kann ich immer noch den Jungen sehen, der eigentlich nie Tennis spielen wollte, den Jungen, der aufhören wollte, der viele Male nicht aufgehört hat. Ich sehe den goldblonden Jungen, der Tennis nicht ausstehen konnte, und ich frage mich, was er wohl von dem glatzköpfigen Mann halten würde, der Tennis nach wie vor hasst und dennoch weiterspielt. Wäre er schockiert? Amüsiert? Stolz? Die Frage macht mich müde und apathisch, dabei ist es erst Mittag.
Hoffentlich ist es bald vorbei.
Ich kann mich noch nicht damit abfinden, dass es vorbei ist.
Die Ziellinie am Ende der Karriere ist genauso wie die Ziellinie am Ende eines Matchs. Es kommt darauf an, in Reichweite dieser Ziellinie zu gelangen, denn sie besitzt eine magnetische Anziehungskraft. Wenn man in die Nähe der Ziellinie gelangt, zieht diese Kraft einen vorwärts, und man kann sie sich zunutze machen, um die Linie zu überqueren. Aber kurz bevor man in das Magnetfeld dieser Kraft gerät – oder kurz danach –, spürt man plötzlich noch eine andere, gleich starke Kraft, die einen abstößt. Sie sind unerklärlich und rätselhaft, diese Kräfte – diese gegenläufigen Energien –, aber sie existieren beide. Ich weiß das, weil ich zeit meines Lebens nach der einen suche und gegen die andere ankämpfe, und manchmal bleibe ich zwischen beiden hängen und fühle mich zwischen ihnen hin- und hergeworfen wie ein Tennisball.
Ich ermahne mich, dass ich heute eiserne Disziplin brauchen werde, um mit diesen Kräften und mit all dem umzugehen, was womöglich an diesem Abend sonst noch auf mich zukommt. Rückenschmerzen, qualvolle Spritzen, schlechtes Wetter, Selbstverachtung. Diese Ermahnung ist meine Art, mich zu beunruhigen, aber sie ist auch eine Art Meditation. In den neunundzwanzig Jahren, seit ich Tennis spiele, habe ich eins gelernt: Das Leben wirft einem jeden Knüppel zwischen die Beine, dessen es habhaft werden kann. Und unsere Aufgabe besteht darin, diesen Knüppeln auszuweichen. Wenn man sich von ihnen aufhalten oder ablenken lässt, erfüllt man seine Aufgabe nicht richtig, und die Reue über diesen Fehler lähmt einen mehr als die schlimmsten Rückenschmerzen.
Ich hole mir ein Glas Wasser, lege mich aufs Bett und lese.
Als meine Augen müde werden, schalte ich den Fernseher ein.
Heute Abend zweite Runde der US Open! Wird das Andre Agassis Abschiedsauftritt? Mein Gesicht erscheint auf dem Bildschirm. Ein anderes als das im Spiegel. Mein Turniergesicht.
Ich mustere dieses Gesicht, dieses Bild von mir im Zerrspiegel des Fernsehers, und meine Beklemmung nimmt um ein oder zwei Grad zu. War das der letzte Werbespot? Das letzte Mal, dass CBS ein Match von mir sendet? Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich sterben werde. Es ist kein Zufall, denke ich, dass im Tennis die Sprache des Lebens gebraucht wird: Advantage, Service, Fault, Break, Love. Die grundsätzlichen Elemente im Tennis entsprechen denen des täglichen Lebens, denn jedes Match ist ein Leben in Miniaturausgabe. Selbst die Struktur des Tennis, die Art, wie die einzelnen Teile ineinander passen wie bei einer russischen Puppe, spiegelt die Struktur unseres Alltags wider. Aus Punkten werden Sätze, werden Matches, werden Turniere, und alles ist so eng miteinander verbunden, dass jeder Punkt zu einem Wendepunkt werden kann. Es erinnert mich daran, wie Sekunden zu Minuten, Minuten zu Stunden werden und wie jede Stunde unsere beste sein kann. Oder die finsterste. Die Entscheidung liegt bei uns.
Aber wenn Tennis das Leben ist, dann muss das, was auf das Tennis folgt, die unergründliche Leere sein. Der Gedanke lässt mich frösteln.
Stefanie und die Kinder stürmen zur Tür herein. Sie werfen sich aufs Bett, und mein Sohn fragt mich, wie ich mich fühle. Gut, ausgezeichnet. Wie waren die alten Knochen? Super!
Stefanie macht ihnen Sandwiches und gibt ihnen Saft zu trinken, dann scheucht sie sie wieder aus der Tür. Sie haben eine Verabredung zum Spielen, sagt sie.
Haben wir das nicht alle?
Jetzt kann ich mir einen Mittagsschlaf gönnen. Mit sechsunddreißig kann ich ein Match, das gut bis nach Mitternacht dauern kann, nur durchhalten, wenn ich vorher einen Mittagsschlaf mache. Und nachdem ich halbwegs weiß, wer ich bin, habe ich das Bedürfnis, die Augen zu schließen und mich vor dieser Erkenntnis zu verstecken. Als ich die Augen wieder öffne, ist eine Stunde vergangen. Ich sage laut: Es wird Zeit.
Schluss mit dem Verstecken. Ich gehe noch einmal unter die Dusche. Aber diesmal ist es anders als am Morgen. Die Nachmittagsdusche dauert immer mehr oder weniger zwanzig Minuten, und sie dient nicht zum Aufwachen oder Säubern. Die Nachmittagsdusche dient dazu, mir Mut zu machen, mich auf das Spiel einzustellen.
Tennis, der Sport der Selbstgespräche. Kein Sportler redet so viel mit sich selbst wie ein Tennisspieler. Klar, auch Baseballspieler, Golfer, Torwarte murmeln vor sich hin, aber Tennisspieler reden mit sich selbst – und geben sich sogar Antworten.
Während eines Matchs wirkt ein Tennisspieler wie ein Verrückter auf einem öffentlichen Platz, der schreit und tobt und mit seinem Alter Ego hitzige Debatten führt. Warum?
Weil Tennis ein so verdammt einsamer Sport ist. Nur ein Boxer kann die Einsamkeit des Tennisspielers nachvollziehen – aber ein Boxer hat immerhin seine Betreuer und Trainer in der Ringecke. Selbst sein Gegner leistet ihm in gewisser Weise Gesellschaft, er kann ihn packen und ihm Beschimpfungen ins Ohr flüstern. Beim Tennis steht man dem Feind Auge in Auge gegenüber, man tauscht Schläge aus, aber man kann weder ihn noch sonst jemanden berühren oder ansprechen. Die Regeln verbieten es einem Tennisspieler sogar, sich während des Spiels mit seinem Trainer auszutauschen.
Häufig wird ein Langstreckenläufer als einsam bezeichnet, aber darüber kann ich nur lachen. Der Läufer kann seine Gegner wenigstens spüren und riechen. Beim Tennis dagegen befindet man sich auf einer einsamen Insel. Von allen Spielen, in denen Männer oder Frauen gegeneinander antreten, kommt Tennis einer Einzelhaft am nächsten, was notwendigerweise zu Selbstgesprächen führt, und für mich fangen die Selbstgespräche unter der Dusche an. Hier fange ich an, mir Dinge zu sagen, verrücktes Zeug, immer und immer wieder, bis ich es glaube. Zum Beispiel, dass ein halber Krüppel in der Lage ist, bei den US Open anzutreten. Dass ein Sechsunddreißigjähriger einen Gegner schlagen kann, für den gerade seine besten Jahre anfangen. Ich habe im Lauf meiner Karriere 869 Spiele gewonnen, ich bin der fünftbeste Spieler aller Zeiten, und viele meiner Siege habe ich nachmittags unter der Dusche errungen.
Während das Wasser in meinen Ohren rauscht – was sich so ähnlich anhört wie der Lärm von zwanzigtausend Fans –, rufe ich mir ganz bestimmte Siege in Erinnerung. Keine Siege, die den Fans im Gedächtnis haften geblieben sind, sondern solche, die mich immer noch nachts aus dem Schlaf schrecken lassen.
Squillari in Paris. Blake in New York. Pete in Australien. Dann gehe ich ein paar Niederlagen durch. Schüttle den Kopf über die Enttäuschungen. Ich sage mir, dass mir diesmal ein Examen bevorsteht, für das ich neunundzwanzig Jahre lang gepaukt habe. Was auch immer am Abend passiert, ich habe es schon mindestens einmal erlebt. Egal, ob es eine körperliche oder eine mentale Prüfung ist, es ist nichts Neues.
Hoffentlich ist es bald vorbei.
Ich will nicht, dass es vorbei ist.
Ich fange an zu weinen. Ich lehne mich gegen die Wand in der Dusche und lasse alles raus.
Übersetzung: Charlotte Breuer und Norbert Möllemann
Copyright © 2009 der deutschsprachigen Ausgabe bei Droemer Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Andre Agassi
Andre Agassi war von 1986 bis 2006 professioneller Tennisspieler. Er stand mehrmals an der Spitze der Weltrangliste und gewann acht Grand-Slam-Turniere. Als einziger Spieler hat er den Golden Slam gewonnen – alle Grand-Slam-Titel und die olympische Goldmedaille. Darüber hinaus war er einer der besten Davis-Cup-Spieler. Als Begründer der Andre Agassi Charitable Foundation hat er bislang Spenden in Höhe von mehr als 85 Millionen US-Dollar für die Andre Agassi College Preparatory Academy gesammelt, eine Privatschule für benachteiligte Kinder in seiner Heimatstadt Las Vegas. Mit seiner Frau Stefanie Graf und den beiden Kindern Jaden und Jaz lebt er in Las Vegas.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andre Agassi
- 2009, 589 Seiten, 16 Abbildungen, Maße: 15,5 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Charlotte Breuer, Norbert Möllemann
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426274914
- ISBN-13: 9783426274910
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