Joachim Vernau Band 3: Die letzte Instanz
Kriminalroman
Eine lang vergessene Schuld fordert ihren Tribut
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Taschenbuch
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Produktinformationen zu „Joachim Vernau Band 3: Die letzte Instanz “
Eine lang vergessene Schuld fordert ihren Tribut
Klappentext zu „Joachim Vernau Band 3: Die letzte Instanz “
Eine Schachtel mit vergilbten Zeitungsausschnitten, ein Schrank mit unberührten Kindersachen, ein Schlafzimmer, das leersteht. Anwalt Joachim Vernau vertritt Margarethe Altenburg , die vor dem Berliner Landgericht auf einen Mann geschossen hat. Ihr Haus wirkt verstörend auf Vernau. Wie gut kennt er die alte Dame wirklich? Da geschehen weitere Morde. Die Fäden laufen an einem Ort zusammen: Im Landgericht. Dort scheint Justitia mehr als einmal versagt zu haben. Vernau steht plötzlich vor der Frage: Was ist Gerechtigkeit?
Lese-Probe zu „Joachim Vernau Band 3: Die letzte Instanz “
Die letzte Instanz von Elisabeth HerrmannFrüher war alles besser. Früher gab es noch richtige Winter. Tomaten schmeckten nach Tomaten, die Mark war was wert in der Welt, und ich, ich ging im Landgericht ein und aus, weil ich große Strafprozesse und Granatenrevisionen führte und nicht so wie heute nur ein geduldeter Gast war, der mit seinem kläglichen, unbedeutenden Fall Asyl gefunden hatte, weil im Amtsgericht Charlottenburg mal wieder die Heizung ausgefallen war.
Ich stand in dem gewaltigen Treppenhaus und sah den anderen zu, wie sie geschäftig die Stufen hinauf und hinab eilten, sich flüchtige Grußworte zuwarfen, mit ihren Handys redeten, ihre Klienten flüsternd ein letztes Mal berieten, ich sah all die großen Strafverteidiger und würdigen Richter in ihren schwarzen Roben, die Staatsanwälte und Schöffen, sogar die Mandanten sahen hier anders aus, und ich fühlte Wehmut. Ich gehörte nicht mehr dazu. Ich war abgewandert in die Welt der Kleinkriminalität und Amtsgerichte. Automatenknacker. Mietnomaden. Tachomanipulierer.
Ich hatte hier nichts mehr zu suchen. »Ich würd jetzt gern eine rauchen.« Mein Mandant hatte sich extra für diesen Tag geduscht und rasiert. Er trug ein Hawaiihemd aus einer der Kleiderkammern irgendwelcher bezirklichen Sozialdienste, ausgeblichene Jeans und ein viel zu weites Sakko.
Vielleicht hatte es ihm einmal gepasst, Jahre musste das her sein, auch so ein Leben von früher, als alles besser war und er noch nicht in einem Schlafsack neben einem verrotteten Toilettenhäuschen im Kleistpark schlief, wo er bereits zwei Mal von Mitarbeitern der Stadtmission halb erfroren gefunden und im Kältebus in eine der Notunterkünfte gebracht worden war.
Er hieß Hans-Jörg Hellmer. Er war zweiunddreißig und sah aus wie fünfzig. Ein Exjunkie mit einem derart langen, aber
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harmlosen Vorstrafenregister, dass ich die Akte Kevin überreicht und nur um eine kurze Zusammenfassung gebeten hatte. Hellmer hatte nichts an Beschaffungskriminalität ausgelassen. Irgendwann einmal, zu einem Zeitpunkt, zu dem andere sich den goldenen Schuss setzten, fing er mit Alkohol an, stieg aus sämtlichen Resozialisierungsmaßnahmen und Methadonprogrammen aus und beschloss, dem Schweinesystem komplett die kalte Schulter zu zeigen.
Ein paar Jahre ging das gut, weil das Schweinesystem trotz Hellmers Verachtung auch weiterhin darauf bestand, für ihn zu sorgen. Jeden Monat um den fünfzehnten herum hatte er kein Geld mehr. Dann holte er sich Gutscheine, die er in den Discountern gegen Lebensmittel eintauschen konnte. Keine Zigaretten. Kein Alkohol. Nur Lebensmittel. Hellmer hielt sich daran und kaufte mit den Gutscheinen Mineralwasser. Gebindeweise. In rauen Mengen. Gleich um die Ecke schüttete er das Wasser in den nächsten Gulli und brachte die Flaschen zurück.
Für das Pfandgeld kaufte er sich Lippstädter Doppelkorn. Die Sache lief wunderbar, bis er eines Tages den Fehler beging, mittags einen Discounter in der Nähe seines Sozialamtes aufzusuchen. Eine junge Sachbearbeiterin tätigte zu dieser Zeit einige Einkäufe und beobachtete mit steigender Entrüstung, wie das Geld des Steuerzahlers sprudelnd im Rinnstein versickerte, um sich unter gehörigem Reibungsverlust zurück in Wasser zu verwandeln, dieses Mal allerdings mit einem Alkoholgehalt von über 50 Prozent.
Noch vor dem ersten Schluck konfiszierte sie den Doppelkorn, stieß unhaltbare Drohungen aus und ließ den durstigen Hellmer verdattert auf seiner Parkbank zurück. Da mein Mandant körperlich an eine gewisse Mindestzufuhr geistiger Getränke gewöhnt war und sich die Möglichkeiten gerade erschöpft hatten, sie auf halbwegs legalem Wege zu beschaffen, dauerte es nicht lange, bis er den Discounter stürmte, eine Flasche Brandy köpfte, den heraneilenden Marktleiter als Büttel des verhassten Systems wüst beschimpfte, mehrere Flaschen unter seine Daunenjacke stopfte und tatsächlich glaubte, das Weite suchen zu können.
Er hatte nicht mit dem Widerstand der Kassiererin gerechnet. Und mit vier Kunden, die schnell feststellten, dass Hellmer kein Gegner war, und den schmächtigen, kleinen Mann quer durch die Regale hetzten. Dabei gingen die Brandyflaschen zu Bruch und zwei DVD-Recorder zu je 199 Euro, das Schnäppchen-Angebot der Woche.
Insgesamt entstand also ein Schaden von knapp 500 Euro. Den konnte Hellmer natürlich nie und nimmer abtragen. Das sah der Richter genauso. Dennoch mussten Diebstahl und Sachbeschädigung gesühnt werden, und Hellmer kam mit 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit davon, die er irgendwann im Laufe des Jahres Laub kehrend im Dienste der Miniermottenbekämpfung ableisten durfte. Mehr war nicht drin. Hellmer allerdings wirkte etwas unglücklich, als er seine selbstgedrehte Zigarette fertig hatte und sich suchend nach einem Aschenbecher umsah.
»Hier wird nicht geraucht«, sagte ich. Hellmer runzelte die Stirn. »Seit wannen ditte?« Seufzend steckte er das krumme Stäbchen zurück in seinen Tabaksbeutel. Ich beschloss, ihm etwas Gutes zu tun und ihn zum Essen einzuladen.
»In der Kantine gibt es heute Grießbrei mit Kirschen. Haben Sie Lust, mich zu begleiten?«
»Ich hätt aber eher Durst. Gibt's da auch Bier?«
»Natürlich.«
Ein paar Schritte weiter befand sich der Aufzug. Wir warteten schweigend, bis sich die schweren Metalltüren geräuschlos öffneten und ich Hellmer den Vortritt ließ. Der Fahrstuhl war fast voll, sämtliche Etagenknöpfe bis hoch zur Kantine leuchteten rot. Wir zwängten uns hinein, die Türen schlossen sich, und eine kräftige Stimme hinter mir rief: »Vernau! Ich werd verrückt!«
Mühsam drehte ich mich um. Ich sah einen beigen Seidenbinder und darüber das braungebrannte, fröhliche Gesicht von Sebastian Marquardt.
»Was machst du denn hier?« Alle in der Kabine schien diese Frage zu bewegen, denn sie starrten mich an und warteten auf eine Antwort.
»Ich wollte in die Cafeteria.« Marquardt lachte. Das hatte er nicht verlernt. Dieses herzhafte, aus dem Bauch hochkollernde Lachen, vertrauenerweckend, freundschaftlich, urgewaltig, und wer ihn nicht kannte, konnte glauben, es gelte tatsächlich seinem Gegenüber.
In Wirklichkeit war es nur ein Ausdruck ganz persönlicher Erheiterung, ohne Rücksicht darauf, ob er gerade jemanden an- oder auslachte. »Lange nicht gesehen. Hast du hier zu tun?« Ich nickte.
Der Fahrstuhl hielt in jedem einzelnen Stockwerk.
»Was Großes also?« Ich schwieg. Marquardt grinste. Wir erreichten die fünfte Etage. Alle drängten sich hinaus. Ich verlor Hellmer aus den Augen, und dann sah ich sie. Sie kam durch die Schwingtür der Kantine auf den Flur geeilt, eine klitzekleine Flasche Multivitaminsaft in der Hand, sah die offenen Türen des Aufzugs, rief: »Nehmen Sie mich noch mit?«, schwebte auf zehn Zentimeter hohen Stilettos über das Linoleum, schenkte mir ein höfliches und Marquardt ein überwältigendes Lächeln, und schlüpfte an ihm vorbei, der bei ihrem Anblick wohl völlig zu vergessen schien, wer er war und wo er hinwollte.
Er blieb freudestrahlend im Aufzug, und als er den Knopf zum Offenhalten der Tür losließ, entschloss ich mich im Bruchteil einer Sekunde, Hellmer Hellmer sein zu lassen und mit diesem Geschöpf aus einer anderen Welt nach unten zu fahren.
Ich rettete mich in die Kabine. »Danke«, sagte sie. »Bitte, gern geschehen«, erwiderte Marquardt. Mit einem eleganten Schwung warf sie ihre schulterlangen, glänzenden, dunklen Haare nach hinten, verstaute die Flasche in ihrer Handtasche und unterzog sich einer strengen Kontrolle im Spiegel an der Rückwand.
Sie sah aus wie eine Mischung aus Demi Moore und Schneewittchen, und sie trug ein schmalgeschnittenes, dunkelblaues Kostüm mit einer enganliegenden Jacke und einem knielangen Bleistiftrock, über den sie jetzt mit einigen hastigen Handbewegungen strich, um imaginäre Falten zu entfernen. Dann drehte sie sich zur Seite, musterte ihre Silhouette, und entdeckte im Spiegel, dass ich sie die ganze Zeit ansah.
Sie runzelte die Stirn und drehte sich um. »Darf ich vorstellen?«, fragte Marquardt. »Salome Noack, Staatsanwältin. Und das ist Joachim Vernau. Rechtsanwalt.«
Sie reichte mir die Hand. Sie war schmal und kühl und kräftig, und ich hätte sie am liebsten nicht mehr losgelassen. »Welche Kanzlei?«
»Vernau und Hoffmann«, antwortete ich.
»Kenne ich nicht. Ist er in deiner Entourage?« Marquardt schüttelte bedauernd den Kopf. Das Letzte, was ich im Zusammenhang mit ihm gehört hatte, war der glückliche Ausgang eines verhinderten Prozesses, in dem er ein Aufsichtsratsmitglied der Bank des Landes vertreten hatte. Bedauerlicherweise hatte sich sein Mandant aus Krankheitsgründen von der Verantwortung für einen läppischen 200-Millionen-Euro-Schaden entbinden lassen müssen.
Das schwer zu definierende Gebrechen, von mehreren Gutachtern als eine Mischung aus narzisstischer Depression und Weltschmerz vage umrissen, schloss eine Teilnahme an weiteren Prozessen völlig aus. Sogar die Untersuchungshaft war dem Angeklagten wegen seiner zarten Konstitution nicht mehr zumutbar.
Dass er die ihm verbliebenen, schwindenden Kräfte dazu nutzte, sich unter anderem für den New-York-Marathon vorzubereiten, war etwas, das der Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln war. Vor allem, weil diese Öffentlichkeit für die in den Sand gesetzten Millionen aufzukommen hatte und dafür etliche Kindergärten, Nachtbuslinien und Leihbüchereien opfern musste.
Marquardt allerdings hatte seinen Mandanten so restlos überzeugend vertreten, dass dieser bis zu diesem Tag nicht zur Rechenschaft gezogen worden war und sein Privatvermögen auch weiterhin unangetastet blieb.
Wenn man bedachte, dass Hellmer für einen Schaden von 500 Euro 200 Stunden lang Laub kehren musste, dann wären das, hochgerechnet auf 200 Millionen, achtzig Millionen Stunden Straßen fegen. 9100 Jahre lang rund um die Uhr. Gnädig berechnet hundert Mal lebenslänglich.
Im Namen des Volkes werden Sie wegen Anlagebetruges und den daraus resultierenden Folgen, unter anderem, dass hundertsechzigtausend Schüler nun ihre Lehrbücher selber kaufen müssen, weil das Land Berlin pleite ist, zu hundert Mal lebenslänglich Straße fegen verurteilt.
Das traute sich natürlich kein Richter, noch nicht einmal in Amerika. Beim Geld herrschten andere Gesetze. Vor allem ab sieben Nullen aufwärts. Salome Noack nahm Marquardts Kopfschütteln zum Anlass, mich keines Blickes mehr zu würdigen. Trotzdem holte ich meine vorletzte Visitenkarte aus der Anzugtasche und überreichte sie ihr.
»Falls Sie mal einen richtig guten Anwalt brauchen.« Irritiert warf sie einen kurzen Blick auf das Kärtchen. »Vielen Dank. Ich werde daran denken.«
»Ich bitte darum.«
»Herr Vernau war ein ganz großes Talent im Zivilstrafrecht.«
Marquardt legte nur den Hauch einer Betonung auf das war und schenkte mir ein inniges Du-hättest-ein-ganz-Großer-werden-können-Lächeln. Ein zarter Gongschlag ertönte. Erdgeschoss. Geräuschlos öffnete sich die Tür.
Salome Noack zupfte die Ärmelenden ihrer Seidenbluse an den Handgelenken zurecht und ging hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Marquardt folgte ihr.
»Wir sollten mal zusammen essen gehen«, rief er mir zu. »Ich ruf dich an!« Schon war er in ihrem Fahrwasser hinter der Ecke verschwunden. Drei kichernde Protokollführerinnen und eine Archivarin, die mir vage bekannt vorkam, traten ein und drängten mich zurück an den Spiegel. Ich fuhr wieder hinauf in den fünften Stock.
Etwas Weißes lag auf dem Boden. Meine Visitenkarte. Ich hob sie auf, pustete den Dreck ab und steckte sie zurück zu der anderen.
Ein paar Jahre ging das gut, weil das Schweinesystem trotz Hellmers Verachtung auch weiterhin darauf bestand, für ihn zu sorgen. Jeden Monat um den fünfzehnten herum hatte er kein Geld mehr. Dann holte er sich Gutscheine, die er in den Discountern gegen Lebensmittel eintauschen konnte. Keine Zigaretten. Kein Alkohol. Nur Lebensmittel. Hellmer hielt sich daran und kaufte mit den Gutscheinen Mineralwasser. Gebindeweise. In rauen Mengen. Gleich um die Ecke schüttete er das Wasser in den nächsten Gulli und brachte die Flaschen zurück.
Für das Pfandgeld kaufte er sich Lippstädter Doppelkorn. Die Sache lief wunderbar, bis er eines Tages den Fehler beging, mittags einen Discounter in der Nähe seines Sozialamtes aufzusuchen. Eine junge Sachbearbeiterin tätigte zu dieser Zeit einige Einkäufe und beobachtete mit steigender Entrüstung, wie das Geld des Steuerzahlers sprudelnd im Rinnstein versickerte, um sich unter gehörigem Reibungsverlust zurück in Wasser zu verwandeln, dieses Mal allerdings mit einem Alkoholgehalt von über 50 Prozent.
Noch vor dem ersten Schluck konfiszierte sie den Doppelkorn, stieß unhaltbare Drohungen aus und ließ den durstigen Hellmer verdattert auf seiner Parkbank zurück. Da mein Mandant körperlich an eine gewisse Mindestzufuhr geistiger Getränke gewöhnt war und sich die Möglichkeiten gerade erschöpft hatten, sie auf halbwegs legalem Wege zu beschaffen, dauerte es nicht lange, bis er den Discounter stürmte, eine Flasche Brandy köpfte, den heraneilenden Marktleiter als Büttel des verhassten Systems wüst beschimpfte, mehrere Flaschen unter seine Daunenjacke stopfte und tatsächlich glaubte, das Weite suchen zu können.
Er hatte nicht mit dem Widerstand der Kassiererin gerechnet. Und mit vier Kunden, die schnell feststellten, dass Hellmer kein Gegner war, und den schmächtigen, kleinen Mann quer durch die Regale hetzten. Dabei gingen die Brandyflaschen zu Bruch und zwei DVD-Recorder zu je 199 Euro, das Schnäppchen-Angebot der Woche.
Insgesamt entstand also ein Schaden von knapp 500 Euro. Den konnte Hellmer natürlich nie und nimmer abtragen. Das sah der Richter genauso. Dennoch mussten Diebstahl und Sachbeschädigung gesühnt werden, und Hellmer kam mit 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit davon, die er irgendwann im Laufe des Jahres Laub kehrend im Dienste der Miniermottenbekämpfung ableisten durfte. Mehr war nicht drin. Hellmer allerdings wirkte etwas unglücklich, als er seine selbstgedrehte Zigarette fertig hatte und sich suchend nach einem Aschenbecher umsah.
»Hier wird nicht geraucht«, sagte ich. Hellmer runzelte die Stirn. »Seit wannen ditte?« Seufzend steckte er das krumme Stäbchen zurück in seinen Tabaksbeutel. Ich beschloss, ihm etwas Gutes zu tun und ihn zum Essen einzuladen.
»In der Kantine gibt es heute Grießbrei mit Kirschen. Haben Sie Lust, mich zu begleiten?«
»Ich hätt aber eher Durst. Gibt's da auch Bier?«
»Natürlich.«
Ein paar Schritte weiter befand sich der Aufzug. Wir warteten schweigend, bis sich die schweren Metalltüren geräuschlos öffneten und ich Hellmer den Vortritt ließ. Der Fahrstuhl war fast voll, sämtliche Etagenknöpfe bis hoch zur Kantine leuchteten rot. Wir zwängten uns hinein, die Türen schlossen sich, und eine kräftige Stimme hinter mir rief: »Vernau! Ich werd verrückt!«
Mühsam drehte ich mich um. Ich sah einen beigen Seidenbinder und darüber das braungebrannte, fröhliche Gesicht von Sebastian Marquardt.
»Was machst du denn hier?« Alle in der Kabine schien diese Frage zu bewegen, denn sie starrten mich an und warteten auf eine Antwort.
»Ich wollte in die Cafeteria.« Marquardt lachte. Das hatte er nicht verlernt. Dieses herzhafte, aus dem Bauch hochkollernde Lachen, vertrauenerweckend, freundschaftlich, urgewaltig, und wer ihn nicht kannte, konnte glauben, es gelte tatsächlich seinem Gegenüber.
In Wirklichkeit war es nur ein Ausdruck ganz persönlicher Erheiterung, ohne Rücksicht darauf, ob er gerade jemanden an- oder auslachte. »Lange nicht gesehen. Hast du hier zu tun?« Ich nickte.
Der Fahrstuhl hielt in jedem einzelnen Stockwerk.
»Was Großes also?« Ich schwieg. Marquardt grinste. Wir erreichten die fünfte Etage. Alle drängten sich hinaus. Ich verlor Hellmer aus den Augen, und dann sah ich sie. Sie kam durch die Schwingtür der Kantine auf den Flur geeilt, eine klitzekleine Flasche Multivitaminsaft in der Hand, sah die offenen Türen des Aufzugs, rief: »Nehmen Sie mich noch mit?«, schwebte auf zehn Zentimeter hohen Stilettos über das Linoleum, schenkte mir ein höfliches und Marquardt ein überwältigendes Lächeln, und schlüpfte an ihm vorbei, der bei ihrem Anblick wohl völlig zu vergessen schien, wer er war und wo er hinwollte.
Er blieb freudestrahlend im Aufzug, und als er den Knopf zum Offenhalten der Tür losließ, entschloss ich mich im Bruchteil einer Sekunde, Hellmer Hellmer sein zu lassen und mit diesem Geschöpf aus einer anderen Welt nach unten zu fahren.
Ich rettete mich in die Kabine. »Danke«, sagte sie. »Bitte, gern geschehen«, erwiderte Marquardt. Mit einem eleganten Schwung warf sie ihre schulterlangen, glänzenden, dunklen Haare nach hinten, verstaute die Flasche in ihrer Handtasche und unterzog sich einer strengen Kontrolle im Spiegel an der Rückwand.
Sie sah aus wie eine Mischung aus Demi Moore und Schneewittchen, und sie trug ein schmalgeschnittenes, dunkelblaues Kostüm mit einer enganliegenden Jacke und einem knielangen Bleistiftrock, über den sie jetzt mit einigen hastigen Handbewegungen strich, um imaginäre Falten zu entfernen. Dann drehte sie sich zur Seite, musterte ihre Silhouette, und entdeckte im Spiegel, dass ich sie die ganze Zeit ansah.
Sie runzelte die Stirn und drehte sich um. »Darf ich vorstellen?«, fragte Marquardt. »Salome Noack, Staatsanwältin. Und das ist Joachim Vernau. Rechtsanwalt.«
Sie reichte mir die Hand. Sie war schmal und kühl und kräftig, und ich hätte sie am liebsten nicht mehr losgelassen. »Welche Kanzlei?«
»Vernau und Hoffmann«, antwortete ich.
»Kenne ich nicht. Ist er in deiner Entourage?« Marquardt schüttelte bedauernd den Kopf. Das Letzte, was ich im Zusammenhang mit ihm gehört hatte, war der glückliche Ausgang eines verhinderten Prozesses, in dem er ein Aufsichtsratsmitglied der Bank des Landes vertreten hatte. Bedauerlicherweise hatte sich sein Mandant aus Krankheitsgründen von der Verantwortung für einen läppischen 200-Millionen-Euro-Schaden entbinden lassen müssen.
Das schwer zu definierende Gebrechen, von mehreren Gutachtern als eine Mischung aus narzisstischer Depression und Weltschmerz vage umrissen, schloss eine Teilnahme an weiteren Prozessen völlig aus. Sogar die Untersuchungshaft war dem Angeklagten wegen seiner zarten Konstitution nicht mehr zumutbar.
Dass er die ihm verbliebenen, schwindenden Kräfte dazu nutzte, sich unter anderem für den New-York-Marathon vorzubereiten, war etwas, das der Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln war. Vor allem, weil diese Öffentlichkeit für die in den Sand gesetzten Millionen aufzukommen hatte und dafür etliche Kindergärten, Nachtbuslinien und Leihbüchereien opfern musste.
Marquardt allerdings hatte seinen Mandanten so restlos überzeugend vertreten, dass dieser bis zu diesem Tag nicht zur Rechenschaft gezogen worden war und sein Privatvermögen auch weiterhin unangetastet blieb.
Wenn man bedachte, dass Hellmer für einen Schaden von 500 Euro 200 Stunden lang Laub kehren musste, dann wären das, hochgerechnet auf 200 Millionen, achtzig Millionen Stunden Straßen fegen. 9100 Jahre lang rund um die Uhr. Gnädig berechnet hundert Mal lebenslänglich.
Im Namen des Volkes werden Sie wegen Anlagebetruges und den daraus resultierenden Folgen, unter anderem, dass hundertsechzigtausend Schüler nun ihre Lehrbücher selber kaufen müssen, weil das Land Berlin pleite ist, zu hundert Mal lebenslänglich Straße fegen verurteilt.
Das traute sich natürlich kein Richter, noch nicht einmal in Amerika. Beim Geld herrschten andere Gesetze. Vor allem ab sieben Nullen aufwärts. Salome Noack nahm Marquardts Kopfschütteln zum Anlass, mich keines Blickes mehr zu würdigen. Trotzdem holte ich meine vorletzte Visitenkarte aus der Anzugtasche und überreichte sie ihr.
»Falls Sie mal einen richtig guten Anwalt brauchen.« Irritiert warf sie einen kurzen Blick auf das Kärtchen. »Vielen Dank. Ich werde daran denken.«
»Ich bitte darum.«
»Herr Vernau war ein ganz großes Talent im Zivilstrafrecht.«
Marquardt legte nur den Hauch einer Betonung auf das war und schenkte mir ein inniges Du-hättest-ein-ganz-Großer-werden-können-Lächeln. Ein zarter Gongschlag ertönte. Erdgeschoss. Geräuschlos öffnete sich die Tür.
Salome Noack zupfte die Ärmelenden ihrer Seidenbluse an den Handgelenken zurecht und ging hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Marquardt folgte ihr.
»Wir sollten mal zusammen essen gehen«, rief er mir zu. »Ich ruf dich an!« Schon war er in ihrem Fahrwasser hinter der Ecke verschwunden. Drei kichernde Protokollführerinnen und eine Archivarin, die mir vage bekannt vorkam, traten ein und drängten mich zurück an den Spiegel. Ich fuhr wieder hinauf in den fünften Stock.
Etwas Weißes lag auf dem Boden. Meine Visitenkarte. Ich hob sie auf, pustete den Dreck ab und steckte sie zurück zu der anderen.
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Autoren-Porträt von Elisabeth Herrmann
Elisabeth Herrmann wurde 1959 in Marburg/Lahn geboren. Sie machte Abitur auf dem Frankfurter Abendgymnasium und arbeitete nach ihrem Studium als Fernsehjournalistin beim RBB, bevor sie mit ihrem Roman »Das Kindermädchen« ihren Durchbruch erlebte. Fast alle ihre Bücher wurden verfilmt: die Reihe um den Berliner Anwalt Vernau mit Jan Josef Liefers, »Zeugin der Toten« mit Anna Loos in der Hauptrolle. Für dieses Buch erhielt sie den Radio-Bremen-Krimipreis und den Deutschen Krimipreis 2012. Elisabeth Herrmann lebt mit ihrer Tochter in Berlin. Bibliographische Angaben
- Autor: Elisabeth Herrmann
- 2010, 416 Seiten, Maße: 12,5 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548607640
- ISBN-13: 9783548607641
Rezension zu „Joachim Vernau Band 3: Die letzte Instanz “
»Es ist die faszinierende Mischung aus Realität, gut recherchierten wahren Begebenheiten ... und einer spannenden Krimihandlung, die alle Höhen und Tiefen des menschlichen Miteinanders in der gesamten Bandbreite abbildet.« www.krimi-forum.de, 06.04.09 »Es gibt sie, die guten deutschen Kriminalromane, die nicht vor Blut und zerfetzten Innereien strotzen und dennoch spannend sind bis zur letzten Zeile. Elisabeth Herrmann ist so eine lesenswerte deutsche Krimiautorin, die bereits zum dritten Mal ihre Berliner Rechtsanwälte Joachim Vernau und Marie-Luise Hoffmann auftreten lässt.« NRZ Neue Ruhr Zeitung, Marlis Haase, 11.04.09 »Hochspannend und bis ins Detail durchdacht« Freundin, 03.06.09 »Ein genialer Plot, eine heiße Liebesaffäre und sympatisches Personal - Elisabeth Herrmann, 49, ist ein kriminalistisches Meisterstück gelungen.« Für Sie, 07.07.09
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