Im Angesicht der Schuld
Helens Leben ändert sich schlagartig, als ihr Mann Gregor, ein angesehener Anwalt, in den Tod stürzt. Ist er bewusst gesprungen oder wurde er gestoßen? Helen verfolgt die Spuren, die Gregor hinterlassen hat und stößt auf ein erschütterndes Geheimnis.
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Produktinformationen zu „Im Angesicht der Schuld “
Helens Leben ändert sich schlagartig, als ihr Mann Gregor, ein angesehener Anwalt, in den Tod stürzt. Ist er bewusst gesprungen oder wurde er gestoßen? Helen verfolgt die Spuren, die Gregor hinterlassen hat und stößt auf ein erschütterndes Geheimnis.
Lese-Probe zu „Im Angesicht der Schuld “
Im Angesicht der Schuld von Sabine Kornbichler1
Der Anker lag in meiner geöffneten Hand. Winzige, in Gold gefasste Brillanten glitzerten um die Wette und trieben mir Tränen in die Augen. Mein Blick wanderte von dem kleinen Schmuckstück, das an einer Halskette hing, zu meinem Mann.
»Herzlichen Glückwunsch zum Sechsunddreißigsten«, sagte Gregor und küsste mich. Ich legte die Kette, die ebenso stabil war wie der Karabinerhaken, der sie umschloss, um meinen Hals. Für einen Moment schloss ich die Augen und spürte den Anker auf meiner Haut.
Er war ein Symbol für den Halt, den Gregor mir in der schwierigen Phase, die hinter mir lag, gegeben hatte und den er mir immer wieder geben würde.
»Wenn jetzt eine Fee käme und ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, steinalt mit dir zu werden«, sagte ich.
»Danke für dieses besondere Geschenk. Ich werde gut darauf aufpassen!«
»Ich weiß.«
»Weißt du auch, dass ich dich liebe?«
»Vom ersten Tag an.«
»Unverbesserlicher Träumer!«
»Ich träume nicht, ich rede von unumstößlichen Tatsachen!«
»Tatsache ist«, dozierte ich mit einem überlegenen Lächeln, »dass kein Mensch einen anderen vom ersten Tag an liebt. Liebe ist nichts Statisches, sie wächst.«
»Vom ersten Tag an, sage ich doch. Und dann jeden Tag ein Stückchen mehr. Gib zu, dass du mich heute weit mehr liebst als an unserem ersten Tag!«
Ich lachte. »Zugegeben ...« Gregor küsste mich mit einer Leidenschaft, die mich atemlos einen Schritt zurücktreten ließ.
»In einer halben Stunde erwarten Annette und Joost uns in der Brücke.«
»Sollen sie warten ...«
»Außerdem kommt Nelli jeden Moment
... mehr
zum Babysitten.«
»Sie ist zweiundzwanzig und hat zweifellos längst eine Ahnung davon, was es heißt, von purer Lust übermannt zu werden.«
Gregors Fingerspitzen strichen seitlich an meinem Körper entlang.
»Wie schön, dass du so denkst. Wenn Jana erst einmal zweiundzwanzig ist ...« »Jana ist meine Tochter, für sie gelten andere Gesetze!«
Er umfasste meinen Nacken und zog mich zu sich heran. Zwischen unseren Körpern hatte nicht einmal mehr ein Millimeter Platz. Betörend langsam glitten seine Hände unter meine Bluse. Das durchdringende Geräusch der Klingel riss uns unsanft aus unseren Fantasien, die uns vorausgeeilt waren. Benommen lösten wir uns voneinander. Meine Enttäuschung spiegelte sich in Gregors Gesicht wider.
»Warum muss Nelli nur immer so schrecklich pünktlich sein?«, fragte er. »Weil du ihr, bevor wir sie eingestellt haben, unmissverständlich klargemacht hast, dass Pünktlichkeit eine der Voraussetzungen ist, um bei uns eine Dauerstellung zu bekommen.«
»Seit wann hält Nelli sich an das, was ich sage?« »Gute Frage.« Mit einem Lachen lief ich zur Tür und öffnete unserem Hausfaktotum.
»Hi.«
Der Blick, den Kornelia Karstensen, genannt Nelli, mir zuwarf, bedurfte eigentlich keiner Kommentierung, aber sie ging gerne auf Nummer sicher.
»Störe ich?« Ihr anzüglicher Tonfall hätte zweifellos die meisten Arbeitgeber dazu bewogen, eine fristlose Kündigung in Betracht zu ziehen. Gregor und mir dagegen gefiel ihre unverblümte Art.
»Und wenn?«, fragte ich. »Dann liegt das ausschließlich an Ihrem miserablen Timing, Frau Gaspary. Meines ist wie immer perfekt.«
»Solltest du dich eines Tages wider Erwarten dazu durchringen, einem anspruchsvolleren Job nachzugehen, schlage ich vor, du versuchst es mal als Selbstbewusstseinstrainerin. Ich bin sicher, darin wärst du spitzenmäßig.« »Ich bin auch als Putzfrau und Babysitterin spitzenmäßig.«
»Spitzenmäßig unterfordert«, erwiderte ich trocken und griff damit unsere Diskussion über Nellis anscheinend nicht existenten Ehrgeiz auf, was ihre Berufsausbildung betraf.
Kurz nach Janas Geburt hatte sie angefangen, dreimal in der Woche unser Haus zu putzen, den Garten zu pflegen und die Wäsche zu bügeln. Darüber hinaus passte sie auf Jana auf, wenn Gregor und ich ausgingen oder ich einen beruflichen Termin hatte. Ihre restliche Zeit verteilte sie auf zwei weitere Haushalte.
Eigentlich ging es mich nichts an, was sie aus ihrem Leben machte, aber so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte nicht kommentarlos dabei zusehen, wie eine intelligente junge Frau ihr Potenzial nicht ausschöpfte.
Es täte mir sehr leid, eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages auf sie verzichten zu müssen, aber ich würde alles daransetzen, dass sie eine Ausbildung machte. Noch verweigerte Nelli sich beharrlich, wenn ich das Thema anschnitt, aber wir wussten beide, dass ich nicht locker lassen würde.
»Warum können Sie sich nicht darauf beschränken, mich hübsch zu finden, wie alle anderen auch?« Den genervten Unterton schien sie speziell für dieses Thema reserviert zu haben.
O ja, sie war nicht nur hübsch, sie war eine Augenweide mit einem Gesicht, das an die junge Romy Schneider erinnerte. Außerdem hatte sie die schönsten Haare, die ich jemals gesehen hatte. Sie waren von einem satten Braun und glänzten, als sei jedes einzelne handpoliert. Ungebändigt reichten sie ihr bis weit über die Schultern. Ich holte tief Luft.
»Weil nette Komplimente deinem Geist keine Nahrung geben!«
»Erstens geht es bei meinem Aussehen nicht um nette Komplimente, sondern um Tatsachen. Und außerdem: Wer sagt, dass mein Geist Hunger hat?«
»Helen sagt das«, ertönte hinter mir Gregors Stimme. »Und sie hat Recht. Guten Abend, Nelli.«
Sie erwiderte seinen Gruß mit einem knappen Nicken.
»Wenn Sie mich loswerden wollen, brauchen Sie das nur zu sagen und sich nicht hinter so fadenscheinigen Argumenten zu verschanzen.«
Gregor schenkte ihr ein wissendes Lächeln. »Fragt sich nur, wer von uns dreien sich hinter etwas verschanzt.«
»Wissen Sie, was Ihr Problem ist?«, wetterte sie. »Sie haben beide eine ausgeprägte Akademiker-Macke, Jana kann einem jetzt schon leidtun. Was, wenn sie eines Tages ihr Glück darin sehen sollte, Croupière im Spielcasino zu werden?«
»Dann werden wir dafür sorgen, dass sie die bestmögliche Ausbildung erhält«, sagte ich. »Ach, darum geht es!«
Nelli hatte blitzschnell ihr Pokerface aufgesetzt. »Sie wollen, dass ich Ihnen schwarz auf weiß dokumentiere, dass ich das Putzen an den besten Schulen gelernt habe.«
»Wir wollen, dass du etwas aus dir machst«, sagte Gregor.
»Nur weil Sie beide unerträgliche Snobs sind, soll ich mein Leben ändern?«
Sie blies verächtlich Luft durch die Nase. »Es ist uns schnurzpiepegal, warum du es änderst, Hauptsache, du tust es.«
»Schnurzpiepegal ...«
Nelli schien jede einzelne Silbe zu genießen. »Ist das nicht übelste Umgangssprache? Ziemt sich so etwas für einen angesehenen Anwalt?«
»Du hast mich noch nicht erlebt, wenn ich die Gegenseite attackiere.«
»Ich dachte, ich wäre die Gegenseite.« Sie drängelte sich zwischen uns hindurch und ließ im Flur geräuschvoll ihre Tasche fallen.
»Haben Sie nicht gesagt, Sie seien um acht Uhr zum Essen verabredet? Jetzt ist es acht. Lernt man nicht im Rahmen der bestmöglichen Ausbildung, dass es unhöflich ist, zu spät zu kommen?«
Sie hatte meinen Tonfall täuschend echt nachgeahmt.
»Geburtstagskinder haben einen Bonus«, entgegnete ich.
»Sie haben heute Geburtstag?«
Ich nickte. »Frau Gaspary ...« Ihrem ungehemmten Quietschen folgte eine Umarmung, an der ich fast erstickte.
»Wann nennst du mich endlich Helen?«, fragte ich, nachdem ich wieder zu Atem gekommen war. »Wenn ich den Umgang mit Respektspersonen hinreichend studiert habe.«
»Du meinst, wenn du Respekt gelernt hast. Da das aller Voraussicht nach nie geschehen wird, kannst du mich auch gleich Helen nennen. Und er hier«, damit klopfte ich meinem Mann, der immer noch neben mir stand, sanft auf die Schulter, »heißt Gregor.«
»Ich werd's mir überlegen. Und jetzt machen Sie beide sich bitte vom Acker, damit ich endlich in Ruhe fernsehen kann. Ich gehe mal davon aus, dass Jana schläft?«
»Tief und fest«, antworteten wir wie aus einem Munde. »Lassen Sie sich Zeit beim Essen!«
»Denkst du dabei an unsere Mägen oder an deinen Geldbeutel?«, fragte Gregor mit einem Schmunzeln.
»Ausschließlich an meinen Geldbeutel. Sie beide sind mir schnurzpiepegal!«
»Entschuldige, Annette, dass wir dich haben warten lassen«, sagte ich zur Begrüßung, während Gregor unsere Mäntel zur Garderobe brachte.
»Kein Problem. Ich bin auch gerade erst gekommen.« Gregor und ich setzten uns ihr gegenüber. »Alles Gute zu deinem Geburtstag, Helen! Du weißt, was ich dir wünsche ...«
Annettes prüfender Blick schien sich keine meiner Regungen entgehen lassen zu wollen. Sie nahm meine Hand in ihre und drückte sie fest.
»Nein. Sag es mir!«
Ihr Befremden dauerte nur Sekunden. Anstatt mir zu antworten, entschied sie sich für ein Lächeln, das meinen Einwurf als Scherz abtat, wohl wissend, dass er das nicht war. Ich spürte meinen alten Groll hochsteigen und schluckte entschlossen gegen ihn an.
Annette war eine der wenigen gewesen, die während der schwierigen Lebensphase, die hinter mir lag, zumindest versucht hatten, mich zu verstehen, obwohl es ihr häufig nicht gelungen war und auch sie Salz in meine Wunden gestreut hatte. Aber ich wollte sie nicht verprellen, deshalb gab ich mir Mühe, eine gewisse Leichtigkeit an den Tag zu legen.
»Also«, begann ich, »dann verrate ich dir, was ich mir wünsche. Ich wünsche mir, mit Gregor steinalt zu werden.«
Dabei zwinkerte ich ihm beruhigend zu.
»Ich wünsche mir, dass es uns vergönnt ist, Jana ganz viel Lebensfreude mit auf ihren Weg zu geben und dass wir vier heute einen wunderschönen, entspannten Abend miteinander verbringen. Wo bleibt eigentlich Joost?«
»Er ist im Institut aufgehalten worden, müsste aber jeden Moment kommen«, antwortete sie. »Ich schlage vor, wir trinken schon mal etwas.«
Nachdem wir unsere Bestellung aufgegeben hatten, schob Annette mir ein Geschenkpaket über den Tisch: rosa Papier mit roter Schleife.
Vom Format her war es unzweifelhaft ein Buch. Ich befreite es aus seiner Verpackung und las laut den Titel: »Die schönsten Kinderlieder.«
»Du hast neulich gesagt, du könntest dich an so gut wie keines mehr erinnern. Da dachte ich ...« Plötzlich verstummte sie, unsicher, ob sie das Richtige für mich ausgesucht hatte.
»Jana ist ja jetzt in dem Alter, in dem sie ...«
»Danke«, unterbrach ich Annette. Den Anflug von Unmut verscheuchte ich so schnell, wie er gekommen war. Zwar hatte nicht Jana Geburtstag, sondern ich, aber ich begriff wieder einmal, dass ich seit der Geburt meiner Tochter in der Hauptsache als Mutter wahrgenommen wurde.
Dass ich trotzdem eine Frau mit ganz eigenen Interessen geblieben war, musste ich zu dieser Stunde nicht zum Thema machen. Annette hatte sich Gedanken gemacht, und das war die Hauptsache.
»Jana wird sich freuen, endlich mal etwas anderes als Lalelu von mir zu hören.«
Gregor strich zärtlich über meine Hand und vertiefte sich in die Speisekarte.
»Was hat Gregor dir geschenkt?«, fragte sie. Ich zeigte auf den kleinen Anker, der um meinen Hals hing.
»Ein Geschenk mit Symbolcharakter.«
»Ein Symbol dafür, dass er in deinem Hafen vor Anker gegangen ist? Du bist zu beneiden.«
Sie klang eher traurig als neidisch. Ihr Mann Joost war bekannt dafür, dass er kaum etwas anbrennen ließ. Und wer sie kannte, fragte sich unweigerlich, warum sie sich das von ihm bieten ließ.
Als neununddreißigjährige Gynäkologin mit eigener Praxis und ohne Kinder, auf die sie Rücksicht nehmen musste, hatte sie alle Voraussetzungen, ihr Leben problemlos auch ohne ihn zu gestalten. Hinzu kam, dass ihre sehr feminine Natürlichkeit das Interesse vieler Männer weckte.
»Manche Pötte brauchen einfach ein bisschen länger, um in ihren Heimathafen zu finden«, sagte Gregor. Es war weniger der Versuch, für seinen Freund in die Bresche zu springen, als die Hoffnung, Annettes Traurigkeit ein wenig zu mildern. Sie atmete tief ein, als könne sie damit eine Kette sprengen, die ihr die Luft zum Atmen nahm.
»Joost kann die Koordinaten seines Heimathafens sehr genau bestimmen. Er nutzt ihn schließlich als Basis, um von dort aus immer wieder auszulaufen.«
»Und wenn du vorübergehend mal die Hafeneinfahrt verbarrikadierst? Manche Menschen wissen erst, was ihnen wichtig ist, wenn sie es verloren glauben.«
Ich sah Gregor von der Seite an und bewunderte ihn wieder einmal für seine Geduld mit Annette. Wir hatten ähnliche Gespräche schon unzählige Male mit ihr geführt.
»Das Risiko einer solchen Barrikade ist mir offen gestanden zu groß«, entgegnete sie. »Schließlich lässt es sich auch in anderen Häfen bequem anlegen.«
Für Sekunden trafen sich unsere Blicke. Ihr war anzusehen, dass sie weit mehr als nur ein Risiko fürchtete. Sie wusste, dass Joost nicht zurückkehren würde, wenn sie ihn einmal gehen ließe. Und dieses Wissen tat ihr weh. Wie sehr es darüber hinaus ihre Selbstachtung verletzte, ließ sich nur erahnen.
»Joost ist wie der Erfolg, der ihn umweht: Die Mühe, ihn zu bekommen, ist nichts im Vergleich zu der Anstrengung, ihn zu behalten.«
Für einen Moment wirkte sie unendlich müde. Dann riss sie sich gewaltsam von diesen Gedanken los und versuchte, ihren Worten die Schärfe zu nehmen.
»Wenn er nicht ein so faszinierender Mann wäre, würde ich ihm diese Affären nicht durchgehen lassen. Aber heißt es nicht, dass Genies mit anderen Maßstäben zu messen sind?«
Ihr Lachen missglückte. Es lag mir auf der Zunge, zu sagen, dass Genialität kein Freibrief für Untreue sei. Außerdem bezweifelte ich, dass Joost tatsächlich genial war.
In meinen Augen war er ein Getriebener, ein vielseitig talentierter Querdenker mit einem gut verborgenen, aber dennoch vorhandenen Mangel an Selbstbewusstsein. Um eben jenen Mangel auszugleichen, tanzte er gleich auf mehreren Hochzeiten.
Er war Facharzt für Labormedizin und Mikrobiologie, hatte mit großem Erfolg ein Institut für Humangenetik aufgebaut, besaß an der Universität einen Lehrstuhl, schrieb regelmäßig Fachbücher und war zusätzlich vereidigter Sachverständiger für Abstammungsgutachten. Jede dieser Tätigkeiten führte mit ebenso viel Ehrgeiz wie Engagement aus.
Die wenige Zeit, die ihm zwischen Arbeit, Annette und Freundeskreis blieb, füllte er mit Frauen, die seinem Selbstwertgefühl schmeichelten, es jedoch nicht zu stärken vermochten. Auch wenn mir all das bewusst war, mochte ich Joost. Er hatte ein sehr einnehmendes Wesen, konnte äußerst liebevoll sein, übermütig und humorvoll. An manchen Tagen sprühte er nur so vor Ideen.
Und er war Gregor ein guter Freund.
»Helen?« Annette legte ihre Hand auf meine. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Keine Sorge! Ich war nur für einen Moment woanders.« »Wenigstens gehst du nur in Gedanken auf Wanderschaft«, sagte sie, während sie aufmerksam etwas beobachtete, das sich hinter uns abspielte. Neugierig drehte ich mich um.
Vor dem Restaurant stand Joost und redete mit einer Frau. Beide schienen sehr aufgebracht zu sein. Da ich noch nie eines von seinen Verhältnissen zu Gesicht bekommen hatte, musterte ich sie eingehend. Sie war schätzungsweise Mitte dreißig und hätte vom Aussehen her Joosts jüngere Schwester sein können.
Beide waren sie sehr groß, hatten gewellte blonde Haare und zählten eher zum sportlichen Typ. Wild gestikulierend ließ sie ihren ausgestreckten Zeigefinger mehr als einmal mitten auf seiner Brust landen. Ich musste ihre Worte nicht hören, um zu wissen, dass sie wütend war und ihm heftige Vorwürfe machte. Wahrscheinlich hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, nicht länger hinter Annette zurückzustehen.
Die Szene war so eindeutig, dass ich wünschte, Annette hätte sie nicht mitbekommen.
»Gregor, könntest du dem da draußen ein Ende setzen?«, fragte sie angespannt.
»Bitte.« Mein Mann stand zögernd auf.
Ich konnte mir gut vorstellen, was in ihm vorging. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Annette beizustehen, und seiner Überzeugung, dass der Streit dort draußen ausschließlich Joost, Annette und diese Frau betraf und es nicht seine Aufgabe war, sich einzumischen.
Als er hinausgegangen war, geriet ich kurz in Versuchung, ihr zu sagen, sie solle nicht länger hinschauen. Aber dann kam ich zu dem Schluss, dass ihr Wegschauen nicht helfen würde.
»Jetzt hat sie Gregor aufs Korn genommen«, sagte Annette. Ihr Blick war starr auf das Fenster hinter mir gerichtet. »Und Joost versucht, Gregor hinter sich herzuziehen. Warum lässt dein Mann sie nicht einfach stehen?«
Ihr Ton war gereizt. »Wieso redet er mit ihr? Er sollte nur Joost mit hereinbringen ... mehr nicht. Müssen Männer denn immer zusammenhalten?«
»Werd bitte nicht ungerecht, Annette. Gregor ist auf deinen Wunsch hin da draußen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er sich um diesen Auftrag gerissen hat.«
»Aber muss er dabei ...?«
»Gregor ist erwachsen!«
»So erwachsen, dass er sich von ihr einlullen lässt«, erwiderte sie böse. »Jetzt gibt er ihr sogar noch seine Karte.«
Ich drehte mich um und sah die Frau einen Blick auf die Karte werfen, bevor sie sie einsteckte. »Vielleicht beabsichtigt er ja, in Joosts Fußstapfen ...«
Mein Blick brachte sie für einen Moment zum Verstummen. »Kannst du mir sagen, warum du dir das nach all den Jahren immer noch bieten lässt? Wie faszinierend muss ein Mensch sein, um solche Verletzungen aufzuwiegen?«
»Das wirst du nie verstehen.«
»Manchmal frage ich mich, ob du es selbst verstehst.«
»Für andere ist nicht immer einleuchtend, was man tut und wie man fühlt. Das müsstest du eigentlich am besten verstehen, Helen.«
Sie hatte ganz bewusst unter die Gürtellinie gezielt. Mein Impuls, aufzustehen und zu gehen, war fast unüberwindlich. Nur unter großer Anstrengung gelang es mir, sitzen zu bleiben.
»Das tat weh, Annette.«
»Du tust mir auch weh. Mit deiner Überlegenheit, mit diesem Blick, der besagt, du würdest dir das von deinem Mann nicht bieten lassen, du wärst schon längst über alle Berge. Mit deinem Mitleid mit mir. Dieses Mitleid ist manchmal noch viel schlimmer als der Betrug selbst. Es macht einen so klein. Und es bringt ein Ungleichgewicht in unsere Freundschaft, das ihr nicht guttut.«
Tränen glitzerten in ihren Augenwinkeln. Mit einer fahrigen Bewegung wischte sie sie fort.
»Weißt du, wie es mich ankotzt, mir von dir, die du in einer wahren Bilderbuchehe lebst, Vorhaltungen machen zu lassen? Das ist, als ob eine Reiche eine Arme fragt, warum sie sich in ihr Schicksal fügt und nicht endlich etwas dagegen tut. Aber hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie es in dieser Armen aussieht? Vielleicht ist sie paralysiert, vielleicht fehlt ihr die Kraft und die Zuversicht, die es bräuchte, um in die Hände zu klatschen und eine Veränderung zu wagen.«
Sie hatte einen hochroten Kopf, und ihr Atem ging stoßweise. Ich füllte ihr Glas Wasser nach und reichte es ihr wortlos.
Nachdem sie ein paar Schlucke getrunken hatte, stellte sie es behutsam ab.
»Danke.« Es war, als würde sie wieder zu sich kommen. Beschämt sah sie erst mich an, um ihren Blick dann über die angrenzenden Tische schweifen zu lassen. Links und rechts von uns saßen ausschließlich verliebte Paare.
»Unsere Tischnachbarn sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um von uns Notiz zu nehmen«, sagte ich.
»Und selbst wenn sie zugehört hätten, dann ...«
»Dann hätten sie vielleicht eine Ahnung davon bekommen, dass es ein Leben nach dem Verliebtsein gibt. Und dass es so oder so ausfallen kann.«
Ihr trauriger Ton berührte mich. »Hätte ich damals auch nur annähernd gewusst, was auf mich zukommt, dann ...«
Annette verstummte.
»Helen!« Joost packte mich von hinten an den Schultern und zog mich aus meinem Stuhl hoch. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
Er umschlang mich mit seinen Armen, küsste mich auf beide Wangen und hielt mich dann ein Stück von sich.
»Blendend siehst du aus, dein Mann ist zu beneiden. Obwohl ich natürlich selbst zu den Männern zähle, die von anderen beneidet werden.«
Der Blick, den er Annette zuwarf, hätte charmanter nicht sein können. »Schaut euch dieses Prachtexemplar von Ehefrau an: Sie ist nicht nur schön, sondern auch klug.«
Klug genug, ihren Mund zu halten? Klug genug, die Situation richtig einzuschätzen und wegen der Frau vor dem Restaurant keine Szene zu machen? Klug genug, wieder mal ein Auge zuzudrücken? Was hätte ich dafür gegeben, dieser Situation zu entkommen und den Abend mit Gregor allein zu beschließen.
Seiner Einsilbigkeit nach zu urteilen, schien es ihm ähnlich zu gehen. Gekonnt überspielte Joost die spürbar schlechte Stimmung am Tisch. Zeitweise hätte man sogar meinen können, er nehme sie gar nicht wahr. Aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass dem nicht so war. Er hatte sehr feine Antennen. Es war schon eine Leistung, wie er uns während der Vorund Hauptspeisen unterhielt, ohne auch nur eine Minute lang nachzulassen.
Er schien nicht müde zu werden, kleine Anekdoten aus der Uni und aus seinem Institut zum Besten zu geben. Annette und ich ließen uns dadurch besänftigen. Gregor hingegen verweigerte sich standhaft. Er blieb wortkarg und in sich gekehrt. Erst als wir zwei Stunden später wieder auf der Straße standen, nachdem wir uns von den beiden verabschiedet hatten, hatte ich Gelegenheit, ihn auf seine offensichtliche Verärgerung anzusprechen.
»Was ist da draußen geschehen? Was hat dich so aufgebracht?«, fragte ich ihn. »Warum hast du der Frau deine Visitenkarte gegeben?«
Er nahm mich fest in die Arme und drückte mich.
»Helen, heute ist dein Geburtstag.« Ich spürte seinen Atem an meiner Stirn. »Es tut mir ohnehin schon furchtbar leid, dass dir dein Abend so versaut wurde. Lass uns Joost und seine Probleme vergessen, wenigstens bis morgen früh.«
»Meinst du mit seinen Problemen diese Frau oder Annette?«
»Ich meine, dass meine Frau jetzt mal als Freundin abschalten und als Ehefrau auf Empfang schalten sollte.«
»Heißt das, du möchtest dort wieder anknüpfen, wo wir vor ein paar Stunden unterbrochen wurden?« Ich schob meine Hände unter seinen Mantel.
»Unbedingt!«
»Auf der Stelle?«
»Da ich keine Anzeige riskieren möchte, schlage ich vor, dass wir nach Hause rennen, Nelli hinauskomplimentieren und dann in aller Ruhe noch ein bisschen Geburtstag feiern.«
»Spießer!«
»Aber ein Spießer, der unvergleichlich gut küssen kann«, raunte er mir ins Ohr.
»Von dem Rest ganz zu schweigen.«
Ich zwickte ihn spielerisch in den Po.
»Weißt du, was noch schlimmer ist als ein Spießer? Ein eingebildeter Spießer!«
Nach einem ausgedehnten Kuss liefen wir im Eilschritt nach Hause.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Copyright der Originalausgabe © 2006 by Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
»Sie ist zweiundzwanzig und hat zweifellos längst eine Ahnung davon, was es heißt, von purer Lust übermannt zu werden.«
Gregors Fingerspitzen strichen seitlich an meinem Körper entlang.
»Wie schön, dass du so denkst. Wenn Jana erst einmal zweiundzwanzig ist ...« »Jana ist meine Tochter, für sie gelten andere Gesetze!«
Er umfasste meinen Nacken und zog mich zu sich heran. Zwischen unseren Körpern hatte nicht einmal mehr ein Millimeter Platz. Betörend langsam glitten seine Hände unter meine Bluse. Das durchdringende Geräusch der Klingel riss uns unsanft aus unseren Fantasien, die uns vorausgeeilt waren. Benommen lösten wir uns voneinander. Meine Enttäuschung spiegelte sich in Gregors Gesicht wider.
»Warum muss Nelli nur immer so schrecklich pünktlich sein?«, fragte er. »Weil du ihr, bevor wir sie eingestellt haben, unmissverständlich klargemacht hast, dass Pünktlichkeit eine der Voraussetzungen ist, um bei uns eine Dauerstellung zu bekommen.«
»Seit wann hält Nelli sich an das, was ich sage?« »Gute Frage.« Mit einem Lachen lief ich zur Tür und öffnete unserem Hausfaktotum.
»Hi.«
Der Blick, den Kornelia Karstensen, genannt Nelli, mir zuwarf, bedurfte eigentlich keiner Kommentierung, aber sie ging gerne auf Nummer sicher.
»Störe ich?« Ihr anzüglicher Tonfall hätte zweifellos die meisten Arbeitgeber dazu bewogen, eine fristlose Kündigung in Betracht zu ziehen. Gregor und mir dagegen gefiel ihre unverblümte Art.
»Und wenn?«, fragte ich. »Dann liegt das ausschließlich an Ihrem miserablen Timing, Frau Gaspary. Meines ist wie immer perfekt.«
»Solltest du dich eines Tages wider Erwarten dazu durchringen, einem anspruchsvolleren Job nachzugehen, schlage ich vor, du versuchst es mal als Selbstbewusstseinstrainerin. Ich bin sicher, darin wärst du spitzenmäßig.« »Ich bin auch als Putzfrau und Babysitterin spitzenmäßig.«
»Spitzenmäßig unterfordert«, erwiderte ich trocken und griff damit unsere Diskussion über Nellis anscheinend nicht existenten Ehrgeiz auf, was ihre Berufsausbildung betraf.
Kurz nach Janas Geburt hatte sie angefangen, dreimal in der Woche unser Haus zu putzen, den Garten zu pflegen und die Wäsche zu bügeln. Darüber hinaus passte sie auf Jana auf, wenn Gregor und ich ausgingen oder ich einen beruflichen Termin hatte. Ihre restliche Zeit verteilte sie auf zwei weitere Haushalte.
Eigentlich ging es mich nichts an, was sie aus ihrem Leben machte, aber so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte nicht kommentarlos dabei zusehen, wie eine intelligente junge Frau ihr Potenzial nicht ausschöpfte.
Es täte mir sehr leid, eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages auf sie verzichten zu müssen, aber ich würde alles daransetzen, dass sie eine Ausbildung machte. Noch verweigerte Nelli sich beharrlich, wenn ich das Thema anschnitt, aber wir wussten beide, dass ich nicht locker lassen würde.
»Warum können Sie sich nicht darauf beschränken, mich hübsch zu finden, wie alle anderen auch?« Den genervten Unterton schien sie speziell für dieses Thema reserviert zu haben.
O ja, sie war nicht nur hübsch, sie war eine Augenweide mit einem Gesicht, das an die junge Romy Schneider erinnerte. Außerdem hatte sie die schönsten Haare, die ich jemals gesehen hatte. Sie waren von einem satten Braun und glänzten, als sei jedes einzelne handpoliert. Ungebändigt reichten sie ihr bis weit über die Schultern. Ich holte tief Luft.
»Weil nette Komplimente deinem Geist keine Nahrung geben!«
»Erstens geht es bei meinem Aussehen nicht um nette Komplimente, sondern um Tatsachen. Und außerdem: Wer sagt, dass mein Geist Hunger hat?«
»Helen sagt das«, ertönte hinter mir Gregors Stimme. »Und sie hat Recht. Guten Abend, Nelli.«
Sie erwiderte seinen Gruß mit einem knappen Nicken.
»Wenn Sie mich loswerden wollen, brauchen Sie das nur zu sagen und sich nicht hinter so fadenscheinigen Argumenten zu verschanzen.«
Gregor schenkte ihr ein wissendes Lächeln. »Fragt sich nur, wer von uns dreien sich hinter etwas verschanzt.«
»Wissen Sie, was Ihr Problem ist?«, wetterte sie. »Sie haben beide eine ausgeprägte Akademiker-Macke, Jana kann einem jetzt schon leidtun. Was, wenn sie eines Tages ihr Glück darin sehen sollte, Croupière im Spielcasino zu werden?«
»Dann werden wir dafür sorgen, dass sie die bestmögliche Ausbildung erhält«, sagte ich. »Ach, darum geht es!«
Nelli hatte blitzschnell ihr Pokerface aufgesetzt. »Sie wollen, dass ich Ihnen schwarz auf weiß dokumentiere, dass ich das Putzen an den besten Schulen gelernt habe.«
»Wir wollen, dass du etwas aus dir machst«, sagte Gregor.
»Nur weil Sie beide unerträgliche Snobs sind, soll ich mein Leben ändern?«
Sie blies verächtlich Luft durch die Nase. »Es ist uns schnurzpiepegal, warum du es änderst, Hauptsache, du tust es.«
»Schnurzpiepegal ...«
Nelli schien jede einzelne Silbe zu genießen. »Ist das nicht übelste Umgangssprache? Ziemt sich so etwas für einen angesehenen Anwalt?«
»Du hast mich noch nicht erlebt, wenn ich die Gegenseite attackiere.«
»Ich dachte, ich wäre die Gegenseite.« Sie drängelte sich zwischen uns hindurch und ließ im Flur geräuschvoll ihre Tasche fallen.
»Haben Sie nicht gesagt, Sie seien um acht Uhr zum Essen verabredet? Jetzt ist es acht. Lernt man nicht im Rahmen der bestmöglichen Ausbildung, dass es unhöflich ist, zu spät zu kommen?«
Sie hatte meinen Tonfall täuschend echt nachgeahmt.
»Geburtstagskinder haben einen Bonus«, entgegnete ich.
»Sie haben heute Geburtstag?«
Ich nickte. »Frau Gaspary ...« Ihrem ungehemmten Quietschen folgte eine Umarmung, an der ich fast erstickte.
»Wann nennst du mich endlich Helen?«, fragte ich, nachdem ich wieder zu Atem gekommen war. »Wenn ich den Umgang mit Respektspersonen hinreichend studiert habe.«
»Du meinst, wenn du Respekt gelernt hast. Da das aller Voraussicht nach nie geschehen wird, kannst du mich auch gleich Helen nennen. Und er hier«, damit klopfte ich meinem Mann, der immer noch neben mir stand, sanft auf die Schulter, »heißt Gregor.«
»Ich werd's mir überlegen. Und jetzt machen Sie beide sich bitte vom Acker, damit ich endlich in Ruhe fernsehen kann. Ich gehe mal davon aus, dass Jana schläft?«
»Tief und fest«, antworteten wir wie aus einem Munde. »Lassen Sie sich Zeit beim Essen!«
»Denkst du dabei an unsere Mägen oder an deinen Geldbeutel?«, fragte Gregor mit einem Schmunzeln.
»Ausschließlich an meinen Geldbeutel. Sie beide sind mir schnurzpiepegal!«
»Entschuldige, Annette, dass wir dich haben warten lassen«, sagte ich zur Begrüßung, während Gregor unsere Mäntel zur Garderobe brachte.
»Kein Problem. Ich bin auch gerade erst gekommen.« Gregor und ich setzten uns ihr gegenüber. »Alles Gute zu deinem Geburtstag, Helen! Du weißt, was ich dir wünsche ...«
Annettes prüfender Blick schien sich keine meiner Regungen entgehen lassen zu wollen. Sie nahm meine Hand in ihre und drückte sie fest.
»Nein. Sag es mir!«
Ihr Befremden dauerte nur Sekunden. Anstatt mir zu antworten, entschied sie sich für ein Lächeln, das meinen Einwurf als Scherz abtat, wohl wissend, dass er das nicht war. Ich spürte meinen alten Groll hochsteigen und schluckte entschlossen gegen ihn an.
Annette war eine der wenigen gewesen, die während der schwierigen Lebensphase, die hinter mir lag, zumindest versucht hatten, mich zu verstehen, obwohl es ihr häufig nicht gelungen war und auch sie Salz in meine Wunden gestreut hatte. Aber ich wollte sie nicht verprellen, deshalb gab ich mir Mühe, eine gewisse Leichtigkeit an den Tag zu legen.
»Also«, begann ich, »dann verrate ich dir, was ich mir wünsche. Ich wünsche mir, mit Gregor steinalt zu werden.«
Dabei zwinkerte ich ihm beruhigend zu.
»Ich wünsche mir, dass es uns vergönnt ist, Jana ganz viel Lebensfreude mit auf ihren Weg zu geben und dass wir vier heute einen wunderschönen, entspannten Abend miteinander verbringen. Wo bleibt eigentlich Joost?«
»Er ist im Institut aufgehalten worden, müsste aber jeden Moment kommen«, antwortete sie. »Ich schlage vor, wir trinken schon mal etwas.«
Nachdem wir unsere Bestellung aufgegeben hatten, schob Annette mir ein Geschenkpaket über den Tisch: rosa Papier mit roter Schleife.
Vom Format her war es unzweifelhaft ein Buch. Ich befreite es aus seiner Verpackung und las laut den Titel: »Die schönsten Kinderlieder.«
»Du hast neulich gesagt, du könntest dich an so gut wie keines mehr erinnern. Da dachte ich ...« Plötzlich verstummte sie, unsicher, ob sie das Richtige für mich ausgesucht hatte.
»Jana ist ja jetzt in dem Alter, in dem sie ...«
»Danke«, unterbrach ich Annette. Den Anflug von Unmut verscheuchte ich so schnell, wie er gekommen war. Zwar hatte nicht Jana Geburtstag, sondern ich, aber ich begriff wieder einmal, dass ich seit der Geburt meiner Tochter in der Hauptsache als Mutter wahrgenommen wurde.
Dass ich trotzdem eine Frau mit ganz eigenen Interessen geblieben war, musste ich zu dieser Stunde nicht zum Thema machen. Annette hatte sich Gedanken gemacht, und das war die Hauptsache.
»Jana wird sich freuen, endlich mal etwas anderes als Lalelu von mir zu hören.«
Gregor strich zärtlich über meine Hand und vertiefte sich in die Speisekarte.
»Was hat Gregor dir geschenkt?«, fragte sie. Ich zeigte auf den kleinen Anker, der um meinen Hals hing.
»Ein Geschenk mit Symbolcharakter.«
»Ein Symbol dafür, dass er in deinem Hafen vor Anker gegangen ist? Du bist zu beneiden.«
Sie klang eher traurig als neidisch. Ihr Mann Joost war bekannt dafür, dass er kaum etwas anbrennen ließ. Und wer sie kannte, fragte sich unweigerlich, warum sie sich das von ihm bieten ließ.
Als neununddreißigjährige Gynäkologin mit eigener Praxis und ohne Kinder, auf die sie Rücksicht nehmen musste, hatte sie alle Voraussetzungen, ihr Leben problemlos auch ohne ihn zu gestalten. Hinzu kam, dass ihre sehr feminine Natürlichkeit das Interesse vieler Männer weckte.
»Manche Pötte brauchen einfach ein bisschen länger, um in ihren Heimathafen zu finden«, sagte Gregor. Es war weniger der Versuch, für seinen Freund in die Bresche zu springen, als die Hoffnung, Annettes Traurigkeit ein wenig zu mildern. Sie atmete tief ein, als könne sie damit eine Kette sprengen, die ihr die Luft zum Atmen nahm.
»Joost kann die Koordinaten seines Heimathafens sehr genau bestimmen. Er nutzt ihn schließlich als Basis, um von dort aus immer wieder auszulaufen.«
»Und wenn du vorübergehend mal die Hafeneinfahrt verbarrikadierst? Manche Menschen wissen erst, was ihnen wichtig ist, wenn sie es verloren glauben.«
Ich sah Gregor von der Seite an und bewunderte ihn wieder einmal für seine Geduld mit Annette. Wir hatten ähnliche Gespräche schon unzählige Male mit ihr geführt.
»Das Risiko einer solchen Barrikade ist mir offen gestanden zu groß«, entgegnete sie. »Schließlich lässt es sich auch in anderen Häfen bequem anlegen.«
Für Sekunden trafen sich unsere Blicke. Ihr war anzusehen, dass sie weit mehr als nur ein Risiko fürchtete. Sie wusste, dass Joost nicht zurückkehren würde, wenn sie ihn einmal gehen ließe. Und dieses Wissen tat ihr weh. Wie sehr es darüber hinaus ihre Selbstachtung verletzte, ließ sich nur erahnen.
»Joost ist wie der Erfolg, der ihn umweht: Die Mühe, ihn zu bekommen, ist nichts im Vergleich zu der Anstrengung, ihn zu behalten.«
Für einen Moment wirkte sie unendlich müde. Dann riss sie sich gewaltsam von diesen Gedanken los und versuchte, ihren Worten die Schärfe zu nehmen.
»Wenn er nicht ein so faszinierender Mann wäre, würde ich ihm diese Affären nicht durchgehen lassen. Aber heißt es nicht, dass Genies mit anderen Maßstäben zu messen sind?«
Ihr Lachen missglückte. Es lag mir auf der Zunge, zu sagen, dass Genialität kein Freibrief für Untreue sei. Außerdem bezweifelte ich, dass Joost tatsächlich genial war.
In meinen Augen war er ein Getriebener, ein vielseitig talentierter Querdenker mit einem gut verborgenen, aber dennoch vorhandenen Mangel an Selbstbewusstsein. Um eben jenen Mangel auszugleichen, tanzte er gleich auf mehreren Hochzeiten.
Er war Facharzt für Labormedizin und Mikrobiologie, hatte mit großem Erfolg ein Institut für Humangenetik aufgebaut, besaß an der Universität einen Lehrstuhl, schrieb regelmäßig Fachbücher und war zusätzlich vereidigter Sachverständiger für Abstammungsgutachten. Jede dieser Tätigkeiten führte mit ebenso viel Ehrgeiz wie Engagement aus.
Die wenige Zeit, die ihm zwischen Arbeit, Annette und Freundeskreis blieb, füllte er mit Frauen, die seinem Selbstwertgefühl schmeichelten, es jedoch nicht zu stärken vermochten. Auch wenn mir all das bewusst war, mochte ich Joost. Er hatte ein sehr einnehmendes Wesen, konnte äußerst liebevoll sein, übermütig und humorvoll. An manchen Tagen sprühte er nur so vor Ideen.
Und er war Gregor ein guter Freund.
»Helen?« Annette legte ihre Hand auf meine. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Keine Sorge! Ich war nur für einen Moment woanders.« »Wenigstens gehst du nur in Gedanken auf Wanderschaft«, sagte sie, während sie aufmerksam etwas beobachtete, das sich hinter uns abspielte. Neugierig drehte ich mich um.
Vor dem Restaurant stand Joost und redete mit einer Frau. Beide schienen sehr aufgebracht zu sein. Da ich noch nie eines von seinen Verhältnissen zu Gesicht bekommen hatte, musterte ich sie eingehend. Sie war schätzungsweise Mitte dreißig und hätte vom Aussehen her Joosts jüngere Schwester sein können.
Beide waren sie sehr groß, hatten gewellte blonde Haare und zählten eher zum sportlichen Typ. Wild gestikulierend ließ sie ihren ausgestreckten Zeigefinger mehr als einmal mitten auf seiner Brust landen. Ich musste ihre Worte nicht hören, um zu wissen, dass sie wütend war und ihm heftige Vorwürfe machte. Wahrscheinlich hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, nicht länger hinter Annette zurückzustehen.
Die Szene war so eindeutig, dass ich wünschte, Annette hätte sie nicht mitbekommen.
»Gregor, könntest du dem da draußen ein Ende setzen?«, fragte sie angespannt.
»Bitte.« Mein Mann stand zögernd auf.
Ich konnte mir gut vorstellen, was in ihm vorging. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Annette beizustehen, und seiner Überzeugung, dass der Streit dort draußen ausschließlich Joost, Annette und diese Frau betraf und es nicht seine Aufgabe war, sich einzumischen.
Als er hinausgegangen war, geriet ich kurz in Versuchung, ihr zu sagen, sie solle nicht länger hinschauen. Aber dann kam ich zu dem Schluss, dass ihr Wegschauen nicht helfen würde.
»Jetzt hat sie Gregor aufs Korn genommen«, sagte Annette. Ihr Blick war starr auf das Fenster hinter mir gerichtet. »Und Joost versucht, Gregor hinter sich herzuziehen. Warum lässt dein Mann sie nicht einfach stehen?«
Ihr Ton war gereizt. »Wieso redet er mit ihr? Er sollte nur Joost mit hereinbringen ... mehr nicht. Müssen Männer denn immer zusammenhalten?«
»Werd bitte nicht ungerecht, Annette. Gregor ist auf deinen Wunsch hin da draußen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er sich um diesen Auftrag gerissen hat.«
»Aber muss er dabei ...?«
»Gregor ist erwachsen!«
»So erwachsen, dass er sich von ihr einlullen lässt«, erwiderte sie böse. »Jetzt gibt er ihr sogar noch seine Karte.«
Ich drehte mich um und sah die Frau einen Blick auf die Karte werfen, bevor sie sie einsteckte. »Vielleicht beabsichtigt er ja, in Joosts Fußstapfen ...«
Mein Blick brachte sie für einen Moment zum Verstummen. »Kannst du mir sagen, warum du dir das nach all den Jahren immer noch bieten lässt? Wie faszinierend muss ein Mensch sein, um solche Verletzungen aufzuwiegen?«
»Das wirst du nie verstehen.«
»Manchmal frage ich mich, ob du es selbst verstehst.«
»Für andere ist nicht immer einleuchtend, was man tut und wie man fühlt. Das müsstest du eigentlich am besten verstehen, Helen.«
Sie hatte ganz bewusst unter die Gürtellinie gezielt. Mein Impuls, aufzustehen und zu gehen, war fast unüberwindlich. Nur unter großer Anstrengung gelang es mir, sitzen zu bleiben.
»Das tat weh, Annette.«
»Du tust mir auch weh. Mit deiner Überlegenheit, mit diesem Blick, der besagt, du würdest dir das von deinem Mann nicht bieten lassen, du wärst schon längst über alle Berge. Mit deinem Mitleid mit mir. Dieses Mitleid ist manchmal noch viel schlimmer als der Betrug selbst. Es macht einen so klein. Und es bringt ein Ungleichgewicht in unsere Freundschaft, das ihr nicht guttut.«
Tränen glitzerten in ihren Augenwinkeln. Mit einer fahrigen Bewegung wischte sie sie fort.
»Weißt du, wie es mich ankotzt, mir von dir, die du in einer wahren Bilderbuchehe lebst, Vorhaltungen machen zu lassen? Das ist, als ob eine Reiche eine Arme fragt, warum sie sich in ihr Schicksal fügt und nicht endlich etwas dagegen tut. Aber hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie es in dieser Armen aussieht? Vielleicht ist sie paralysiert, vielleicht fehlt ihr die Kraft und die Zuversicht, die es bräuchte, um in die Hände zu klatschen und eine Veränderung zu wagen.«
Sie hatte einen hochroten Kopf, und ihr Atem ging stoßweise. Ich füllte ihr Glas Wasser nach und reichte es ihr wortlos.
Nachdem sie ein paar Schlucke getrunken hatte, stellte sie es behutsam ab.
»Danke.« Es war, als würde sie wieder zu sich kommen. Beschämt sah sie erst mich an, um ihren Blick dann über die angrenzenden Tische schweifen zu lassen. Links und rechts von uns saßen ausschließlich verliebte Paare.
»Unsere Tischnachbarn sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um von uns Notiz zu nehmen«, sagte ich.
»Und selbst wenn sie zugehört hätten, dann ...«
»Dann hätten sie vielleicht eine Ahnung davon bekommen, dass es ein Leben nach dem Verliebtsein gibt. Und dass es so oder so ausfallen kann.«
Ihr trauriger Ton berührte mich. »Hätte ich damals auch nur annähernd gewusst, was auf mich zukommt, dann ...«
Annette verstummte.
»Helen!« Joost packte mich von hinten an den Schultern und zog mich aus meinem Stuhl hoch. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
Er umschlang mich mit seinen Armen, küsste mich auf beide Wangen und hielt mich dann ein Stück von sich.
»Blendend siehst du aus, dein Mann ist zu beneiden. Obwohl ich natürlich selbst zu den Männern zähle, die von anderen beneidet werden.«
Der Blick, den er Annette zuwarf, hätte charmanter nicht sein können. »Schaut euch dieses Prachtexemplar von Ehefrau an: Sie ist nicht nur schön, sondern auch klug.«
Klug genug, ihren Mund zu halten? Klug genug, die Situation richtig einzuschätzen und wegen der Frau vor dem Restaurant keine Szene zu machen? Klug genug, wieder mal ein Auge zuzudrücken? Was hätte ich dafür gegeben, dieser Situation zu entkommen und den Abend mit Gregor allein zu beschließen.
Seiner Einsilbigkeit nach zu urteilen, schien es ihm ähnlich zu gehen. Gekonnt überspielte Joost die spürbar schlechte Stimmung am Tisch. Zeitweise hätte man sogar meinen können, er nehme sie gar nicht wahr. Aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass dem nicht so war. Er hatte sehr feine Antennen. Es war schon eine Leistung, wie er uns während der Vorund Hauptspeisen unterhielt, ohne auch nur eine Minute lang nachzulassen.
Er schien nicht müde zu werden, kleine Anekdoten aus der Uni und aus seinem Institut zum Besten zu geben. Annette und ich ließen uns dadurch besänftigen. Gregor hingegen verweigerte sich standhaft. Er blieb wortkarg und in sich gekehrt. Erst als wir zwei Stunden später wieder auf der Straße standen, nachdem wir uns von den beiden verabschiedet hatten, hatte ich Gelegenheit, ihn auf seine offensichtliche Verärgerung anzusprechen.
»Was ist da draußen geschehen? Was hat dich so aufgebracht?«, fragte ich ihn. »Warum hast du der Frau deine Visitenkarte gegeben?«
Er nahm mich fest in die Arme und drückte mich.
»Helen, heute ist dein Geburtstag.« Ich spürte seinen Atem an meiner Stirn. »Es tut mir ohnehin schon furchtbar leid, dass dir dein Abend so versaut wurde. Lass uns Joost und seine Probleme vergessen, wenigstens bis morgen früh.«
»Meinst du mit seinen Problemen diese Frau oder Annette?«
»Ich meine, dass meine Frau jetzt mal als Freundin abschalten und als Ehefrau auf Empfang schalten sollte.«
»Heißt das, du möchtest dort wieder anknüpfen, wo wir vor ein paar Stunden unterbrochen wurden?« Ich schob meine Hände unter seinen Mantel.
»Unbedingt!«
»Auf der Stelle?«
»Da ich keine Anzeige riskieren möchte, schlage ich vor, dass wir nach Hause rennen, Nelli hinauskomplimentieren und dann in aller Ruhe noch ein bisschen Geburtstag feiern.«
»Spießer!«
»Aber ein Spießer, der unvergleichlich gut küssen kann«, raunte er mir ins Ohr.
»Von dem Rest ganz zu schweigen.«
Ich zwickte ihn spielerisch in den Po.
»Weißt du, was noch schlimmer ist als ein Spießer? Ein eingebildeter Spießer!«
Nach einem ausgedehnten Kuss liefen wir im Eilschritt nach Hause.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Copyright der Originalausgabe © 2006 by Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Sabine Kornbichler
- 2010, 352 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828996027
- ISBN-13: 9783828996021
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