Mein Beschützer, der Wolf
Lehrerin Clara will im fernen Alaska ein neues Leben beginnen. Auf dem Weg in ihren Ort Porcupine befreit sie einen gepeinigten Wolf. Der bleibt aber in ihrer Nähe und kommt ihr immer zu Hilfe, wenn sie in Gefahr ist.
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Produktinformationen zu „Mein Beschützer, der Wolf “
Lehrerin Clara will im fernen Alaska ein neues Leben beginnen. Auf dem Weg in ihren Ort Porcupine befreit sie einen gepeinigten Wolf. Der bleibt aber in ihrer Nähe und kommt ihr immer zu Hilfe, wenn sie in Gefahr ist.
Lese-Probe zu „Mein Beschützer, der Wolf “
Mein Beschützer, der Wolf von Christopher Ross 1
Clara trat in dem langen Brautkleid, das sie von ihrer
Mutter geerbt hatte, vor den Spiegel und strich mit einer
unbewussten Bewegung den Stoff über ihren Hüften
glatt. Das Kleid war etwas aus der Mode gekommen,
zu weit geschnitten und ungefähr zwei Zoll zu lang.
Auch der spitzenbesetzte Saum passte nicht mehr in die
späten Zwanzigerjahre. Eine Erkenntnis, die ihr kaum
zu schaffen machte. Sie war nie mit der Mode gegangen
und hätte es sich als Lehrerin auch gar nicht leisten
können, die kurzen Kleider und Röcke anzuziehen, die
man jetzt in San Francisco, New York oder Monterey
trug.
Zu schaffen machte ihr nur der bedeutsame Schwur,
den sie in diesem Brautkleid vor Gott und allen Verwandten,
Freunden und Bekannten leisten sollte. Bis
dass der Tod euch scheidet. Ein Gedanke, der sie erschaudern
ließ und ihr das Gefühl gab, eine Fremde im
Spiegel zu sehen. Eine junge Frau, die sich dem Wunsch
ihres Onkels und ihrer Tante beugte und aus falscher
Dankbarkeit einer ungewollten Heirat zustimmte. Sie
hätte den Ring, den sie am linken Ringfinger trug, niemals
annehmen und das Brautkleid ihrer Mutter nicht
aus der schwarzen Kleidertruhe nehmen dürfen.
Mit Tränen in den Augen drehte sie sich zu ihrer
Tante um. »Ich kann nicht, Tante Ruth! Ich kann ihn
nicht heiraten!« In ihrer Stimme klangen Verzweiflung
und ein Anflug von Panik mit. »Lass uns die Hochzeit
absagen!«
... mehr
»Unsinn!«, erwiderte Ruth Bingham lächelnd. Sie
war eine stämmige Farmerfrau mit einem harten, von
zahlreichen Enttäuschungen geprägtem Gesicht und
grauen, zu einem Knoten gebundenen Haaren. »Du
bist nervös, das geht fast jeder Braut am Morgen ihrer
Hochzeit so. Das ist ganz normal.«
Clara schüttelte den Kopf, sie hätte das Brautkleid
am liebsten ausgezogen und in die Ecke geschleudert.
»Ich brauche noch etwas Zeit, Tante Ruth.«
»Beruhige dich, Clara. Du hast plötzlich Angst, dich
für ein ganzes Leben an einen Mann zu binden, das ist
alles. Aber glaube mir, sobald er dir den Ring an den
Finger steckt und dich in die Arme nimmt und küsst,
sind alle Vorbehalte vergessen. Benjamin ist ein guter
Mann. Du hättest es nicht besser treffen können. Sei
dem lieben Gott dankbar, dass du ihn heiraten darfst!«
»Aber ich liebe ihn nicht, Tante Ruth!«
»Natürlich liebst du ihn. Und wenn nicht, wirst du
ihn lieben lernen. Ich bin deinem Onkel Horatio auch
nicht gleich um den Hals gefallen. Eine Liebe muss
wachsen. Viel wichtiger sind gegenseitiger Respekt und
Anerkennung.«
»Lass uns die Hochzeit wenigstens verschieben.«
Ruth Bingham packte sie an den Oberarmen und
blickte sie eindringlich an. »Schluss mit dem Unsinn!
Wasch dir dein Gesicht, und leg etwas Make-up auf. Du
wirst sehen, dann sieht die Welt gleich anders aus. Aber
geh sparsam mit der Wimperntusche und dem Lippenstift
um. Du weißt doch, Benjamin mag es gern etwas
dezenter.« Sie bemerkte, wie verstört ihre Nichte noch
immer war und lächelte aufmunternd. »Nun komm
schon. Benjamin ist der richtige Mann für dich. Eine
bessere Partie könntest du nicht mal in San Francisco
machen.«
»Eine gute Partie? Heiratet man nur deswegen?«
»Natürlich nicht«, erwiderte ihre Tante. Sie verbarg
nur mühsam ihre Ungeduld. »Benjamin Carew ist ein
stattlicher Mann, nach dem sich alle jungen Frauen
in dieser Gegend umdrehen. Er hätte auch eine dieser
reichen Millionärstöchter aus Monterey oder San Francisco
haben können. Dass er dich gewählt hat, betrachte
ich als große Ehre. Vergiss nicht, dass er aus
einer angesehenen und erfolgreichen Familie kommt.
Carew & Sons haben in den letzten Jahren ein Vermögen
mit ihrem Salat gemacht. In den gekühlten Eisenbahnwaggons
transportieren sie ihre Ernte bis nach
Chicago. Das hat keine andere Farm in Salinas und
Umgebung geschafft.« Sie blickte zur Tür und hätte
sich wohl etwas Beistand von ihrem Mann gewünscht.
Hoffnungsvoll fügte sie hinzu: »Seine Eltern könnten
sich übrigens gut vorstellen, deinem Onkel und mir bei
der Umwandlung unserer Farm zu helfen. Wir wollen
auch Salat anpflanzen. Du weißt doch selbst, wie wenig
Zuckerrüben noch bringen.«
Clara befreite sich aus ihrem Griff und funkelte sie
wütend an. »So ist das also! Ich soll ihn heiraten, damit
euch seine Eltern eine neue Farm finanzieren und ihr
aus den roten Zahlen kommt! Deshalb habt ihr uns also
verkuppelt!«
»Nein, Clara«, erwiderte ihre Tante, immer noch um
einen versöhnlichen Tonfall bemüht, »natürlich wollen
wir nicht, dass ihr nur deswegen heiratet. Und wir
haben euch auch nicht verkuppelt. Ihr habt euch auf
der County Fair in Salinas kennengelernt. Wir waren
nicht einmal in der Nähe. Aber wir freuen uns natürlich,
dass du nicht nur einen liebenswerten, sondern
auch wohlhabenden Mann heiraten wirst. Du weißt
doch, wie schlecht es den meisten Leuten geht und wie
viele Arbeitslose es gibt. Die Carews sind die große Ausnahme.
Bei Benjamin brauchst du keine Angst vor der
Zukunft zu haben, und du darfst deinem Onkel und
mir nicht böse sein, wenn wir uns auch ein wenig darüber
freuen, mit ihrer Hilfe ein neues Leben beginnen
zu können.«
Es klopfte, und ihr Onkel steckte den Kopf zur Tür
herein. Er war ein hagerer Mann mit kantigem Gesicht,
das verblüffende Ähnlichkeit mit einem Nussknacker
hatte. Sein Sonntagsanzug mit der sorgfältig gebundenen
Krawatte war ihm etwas zu eng geworden und
wirkte fremd an ihm. Zum letzten Mal hatte Clara ihn
vor vier Jahren in dem Anzug gesehen, als sie auf
der Silbernen Hochzeit der benachbarten MacAllisters
gewesen waren. Seine Augen blitzten erwartungsvoll.
»Was macht unsere Braut? Bist du so weit, Clara?«
»Sie macht sich nur noch ein wenig zurecht«, beeilte
sich seine Frau zu sagen. Ihr Lächeln wirkte etwas gezwungen.
»In einer Viertelstunde, okay?«
»Du willst doch nicht zu deiner eigenen Hochzeit zu
spät kommen.« Er drückte die Tür auf und bemerkte die
verweinten Augen seiner Nichte. »Was ist denn mit dir
los? Hast du geweint?« Er blickte sie verwundert an, lächelte
aber gleich wieder. »Ich hoffe, nur aus Vorfreude.
Du freust dich doch?«
Wieder antwortete ihre Tante: »Sie ist ein wenig nervös,
Horatio. Das ist ganz natürlich vor einem so großen
Ereignis. Weißt du noch, wie durcheinander ich
vor unserer Hochzeit war? Mir wäre beinahe nicht
mehr eingefallen, was ich vor dem Altar antworten soll.
Stell dir vor, ich hätte Nein gesagt ...«
Ihr Mann erinnerte sich. »Das hätte ich nicht gelten
lassen. Ich hatte immerhin ein ganzes Jahr um dich
geworben. Weißt du, wie anstrengend das war?« Er
lächelte Clara an. »Mach es deinem Benjamin etwas
leichter, okay?«
»Genug spioniert, Horatio!« Ruth Bingham stand auf
und schob ihren Mann sanft in den Flur zurück. »Du
bekommst die Braut noch früh genug zu sehen. Männer
haben im Zimmer der Braut nichts zu suchen. Mein
Vater hat mir auch nicht dabei zugesehen, wie ich mir
die Haare hochgesteckt habe.«
Sie wartete, bis ihr Mann auf der Treppe war, und
drehte sich noch einmal zu Clara um. »Wir lieben dich
wie eine Tochter«, versicherte sie ihrer Nichte, »und wir
wollen nur dein Bestes. Das darfst du niemals vergessen,
Clara.«
»Das weiß ich doch, Tante Ruth.«
Ruth Bingham nickte. »So gefällst du mir schon besser.
Denke immer daran, dass dies der schönste Tag
deines Lebens ist.« Sie gab ihr einen aufmunternden
Klaps. »Und jetzt beeil dich! Du hast deinen Onkel gehört.
Wenigstens zu seiner eigenen Hochzeit sollte man
pünktlich kommen.«
Nachdem ihre Tante gegangen war, wagte Clara
nicht, in den Spiegel zu sehen, und blieb noch eine
ganze Weile unschlüssig stehen, bevor sie ins Bad zurückkehrte
und ihre Tränen mit einem kalten Waschlappen
von den Wangen wischte. Beinahe mechanisch
begann sie, ihr Gesicht zu pudern, und legte Rouge auf
ihre Wangen. Auch beim Auftragen ihres Make-ups war
sie eher zurückhaltend, so wie es sich für eine junge
Lehrerin geziemte. Die schwarzen Wimpern und den
grellroten Lippenstift der knapp bekleideten Frauen auf
den Werbetafeln an den Highways hatte sie immer verabscheut.
Sie stützte sich auf den Rand des Waschbeckens und
blickte in den ovalen Spiegel. Das weiße Puder ver-
deckte die gesunde Bräune, die sie während der anstrengenden
Feldarbeit erworben hatte, und der altmodische
Knoten, zu dem ihre honigblonden Haare hochgesteckt
waren, ließen sie zwei oder drei Jahre älter,
aber auch erwachsener und reifer aussehen. Ihr Gesicht
erinnerte sie an ihre Mutter, die auf dem Hochzeitsfoto,
das seit beinahe zwanzig Jahren auf ihrem Nachttisch
stand, wunderschön aussah und ihr jeden Abend vor
dem Schlafengehen tief in die Augen sah. Clara hatte
ihre tiefblauen Augen geerbt, »so blau und tief wie der
Lake Tahoe«, wie sich Benjamin einmal ausgedrückt
hatte, eine seiner schamlosen Übertreibungen.
Ihre Tante hatte recht, sie hatte ihn auf der County
Fair in Salinas kennengelernt, einem bunten Jahrmarkt,
der parallel zu den Pferderennen und dem Rodeo
auf der Rennbahn abgehalten wurde. Vielleicht
war es ein Fehler gewesen, ihm zuzuwinken, als er während
der feierlichen Parade an ihr vorbeigeritten war
und in einer übertriebenen Geste seinen breitkrempigen
Cowboyhut gezogen hatte. Denn noch am selben
Tag war er zu ihrem Stand gekommen und hatte sie von
den Kindern ihrer High School weggelockt, deren selbst
hergestellte Süßigkeiten sie auf der Fair verkauften. Sie
war so begeistert von der gemeinsamen Fahrt auf dem
Riesenrad gewesen, dass sie ohne lange nachzudenken
zu einem Date am nächsten Samstag eingewilligt hatte.
Über ein Jahr war das nun her, und sie brauchte nur
die Augen zu schließen, um sich diesen Tag noch einmal
ins Gedächtnis zu rufen. Ein heißer Sommertag,
den sie mit ihrer Tante und ihrem Onkel auf dem Acker
verbracht hätte, wenn sie nicht verabredet gewesen
wäre. Aber weder Tante Ruth und Onkel Horatio, die sie
nach dem Tod ihrer Eltern adoptiert hatten, noch sie
selbst dachten an diesem Samstag an das frisch ge-
mähte Heu. Ihre Tante und ihr Onkel im besten Sonntagsstaat
und sie in ihrem blauen Kleid standen auf der
Veranda, als Benjamin Carew in seinem brandneuen
und leuchtend grünen Chevrolet Capitol Sports Cabriolets
vor ihrem Farmhaus hielt.
Benjamin war sich seiner Stellung als Sohn reicher
Eltern und erfolgreicher Geschäftsmann voll bewusst
und benahm sich schon am ersten Tag wie ein europäischer
Prinz auf Brautschau, der seine Wahl längst getroffen
hatte und gar nicht in Erwähnung zog, von einer
jungen Frau abgelehnt zu werden. Ihrer Tante
brachte er einen sorgsam gebundenen Blumenstrauß
mit, und für ihren Onkel öffnete er die Motorhaube seines
neuen Automobils, eine Geste, die ihre Wirkung
nicht verfehlte. »Ein großartiger Mann!«, schwärmte
ihr Onkel noch am selben Abend. »Ich hoffe, du weißt
dein Glück zu schätzen.«
Natürlich platzte sie vor Stolz, als sie in dem grünen
Sportwagen durch Salinas fuhren und zahlreichen
Freunden und Bekannten begegneten. Ihre neugierigen
Blicke folgten ihnen durch die ganze Stadt. Eine hübsche
Bekannte, die bei jedem Treffen mit einem anderen
reichen Mann prahlte, verzog bei ihrem Anblick
vor Neid das Gesicht. Benjamin Carew war ein bekannter
Mann, auch wenn er nur der »Junior« des großen
»Boss« Carew war, und sein Wagen war das einzige Cabriolet
in einer Stadt, die eher für ihre Lastwagen und
Pick-ups bekannt war. Jedes Mal, wenn sie parkten, war
der Wagen von Neugierigen umringt, sogar ein Polizist
blieb stehen und betrachtete das Schmuckstück von allen
Seiten. Er grüßte Clara mit einem anerkennenden
Nicken.
Sie aßen in einem feinen Restaurant mit festlich gedeckten
Tischen und ließen sich ein Menü schmecken,
das mehr kostete, als sie in einer Woche verdiente. Anschließend
gingen sie ins Kino und sahen sich den
neuen Film mit Rudolph Valentino an. »Der Schlager
des Jahres 1927« stand in großen Lettern über dem
Filmtitel. Sie mochte den Schauspieler nicht besonders,
ließ sich aber nichts anmerken und hatte auch nichts
dagegen, dass Benjamin im Dunkeln nach ihrer Hand
griff und sie zärtlich drückte. Erst sehr viel später würde
sie erkennen, dass es eher eine besitzergreifende Geste
war, so wie der erste Kuss, den sie vor dem Bahnübergang
in seinem Chevrolet austauschten.
Die fordernde Art, wie er sie in die Arme nahm und
ihren Mund mit seinen Lippen verschloss, störte sie
schon damals. Doch noch während sie nach einer Ausrede
suchte, um ihr nächstes Date zwei oder drei Wochen
zu verschieben, verkündete er, sie am nächsten
Samstag um dieselbe Zeit abzuholen, um mit ihr eine
»Spritztour«, wie er es nannte, nach Monterey zu unternehmen.
Die Kolleginnen in der Schule und alle jungen
Frauen in ihrer Gemeinde beneideten sie darum
und hätten liebend gerne mit ihr getauscht: Sie genoss
die Fahrt an der Küste ebenfalls wie auch die Fütterung
der Seelöwen am Ufer, doch als er sie in die Arme nahm
und küsste, fühlte sie sich auf seltsame Weise bedrängt.
Als sie ihrer Freundin in der Schule davon erzählte, bekam
sie ein Lachen als Antwort: »So sind sie, die Männer!
Manchmal fällt es schwer, sie sich vom Hals zu halten.
Aber an deiner Stelle würde ich ihm geben, was er
will, Clara. So einen wundervollen Mann findest du nie
wieder!«
Sie gab ihm nicht, was er wollte, erwiderte aber seine
Küsse und traf sich jede Woche mit ihm. Nach einer
Weile schien sie so vertraut mit ihm, dass es ihr gar
nicht in den Sinn gekommen wäre, ihm den Laufpass
zu geben, und auch seine Küsse und Berührungen fühlten
sich inzwischen nicht mehr fordernd und verlangend
an. Sie waren selbstverständlich geworden, so
selbstverständlich wie der Spaziergang am Flussufer
und seine scheinbar beiläufige Bemerkung: »Wenn wir
verheiratet sind, kannst du deinen Beruf endlich aufgeben
und dich ganz der Familie widmen. Ich hoffe, wir
bekommen viele Kinder.« Er machte ihr keinen offiziellen
Heiratsantrag, steckte ihr lediglich den teuren Ring
an den Finger, als Zeichen dafür, dass sie nun ihm gehörte.
Es waren diese Selbstverständlichkeit und die Begeisterung
ihrer Tante und ihres Onkels, die jeden
aufkommenden Protest im Keim erstickten. Jeder Kirchenbesuch,
jeder Spaziergang und jedes gemeinsame
Picknick schien nach einem vorgegebenen Plan zu verlaufen,
wie bei einem mittelalterlichen Königspaar, das
von seinen Eltern verheiratet wurde und gar keine andere
Möglichkeit hatte, als ihnen zu gehorchen. Niemand
fragte sie nach ihrer Meinung, alle gingen davon
aus, dass sie sich auf die Hochzeit freute und es gar
nicht mehr erwarten konnte, ihren Beruf aufzugeben
und zu Benjamin in den luxuriösen »Rancho Paradiso«
zu ziehen. Woher sollten die Leute auch wissen, dass
sie keine Nacht mehr durchschlief, seit die Carews den
Hochzeitstermin festgelegt hatten, und verzweifelt zu
ergründen versuchte, wie sie in diese beinahe ausweglose
Lage geraten konnte.
Lediglich einer Laune hatte sie den einzigen Fluchtweg
zu verdanken, der ihr noch geblieben war. Als vor
einigen Wochen ein Angestellter des Indian Bureaus in
ihrer Schule aufgetaucht war und einen Vortrag über
das weit im Norden gelegene Territorium von Alaska
gehalten hatte, ein wildes Land mit schneebedeckten
Bergen, endlosen Wäldern und glasklaren Seen, eine
»ungestüme Wildnis«, in der sich mutige Männer und
Frauen ihren Traum von einem abenteuerlichen Leben
an der letzten Besiedlungsgrenze erfüllen konnten,
hatte sie den Antrag auf Anstellung in einer Indianer-
schule fernab der Zivilisation unterschrieben. Sie rechnete
nicht ernsthaft damit, dass man eine junge Frau
aus dem sonnigen Kalifornien für einen solchen Posten
in Erwägung ziehen würde. »Bist du verrückt?«, hatte
ihre Freundin gefragt. »Da oben gibt es kaum Menschen.
Nur Goldgräber, Indianer und jede Menge wilder
Tiere. So große Bären und Wölfe wie in Alaska gibt
es nicht mal in den Rockies.«
Sie hatte den Antrag längst vergessen, als die Antwort
eintraf. »Nichts Besonderes«, wich sie ihrer Tante
aus, als sie mit dem Brief ins Haus zurückkehrte. »Die
Einladung zu einer Tagung. Da fahre ich bestimmt
nicht hin.«
Als sie abends allein in ihrem Zimmer war, öffnete
sie den Brief und traute ihren Augen kaum: »... freuen
wir uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Ihrem Antrag
auf Anstellung im Territorium von Alaska stattgegeben
wurde ...« Einige Zeilen später hieß es: »... bitten
wir Sie, Ihren Dienst nach den Ferien anzutreten und
sich beim Schulgremium in Porcupine, Alaska, zu
melden.« Das Ticket für die zweiwöchige Reise hätte
man im Büro der Alaska Steamship Company in Santa
Cruz hinterlegt. Die Skagway, ein Dampfschiff der
Alaska Steamship Company, würde am Nachmittag des
20. August 1927 von Santa Cruz ablegen und sie nach
Skagway bringen, von dort ginge es mit der Eisenbahn
über den Pass zum Lake Bennett und mit einem kleinen
Dampfschiff den Yukon hinauf. In Dawson City, dem
Endpunkt ihrer Schiffsreise, sollte sie sich dem »Pack
Train« eines gewissen Jerry Anderson anschließen, der
alle vierzehn Tage die Post in die Wildnis-Siedlungen
brachte.
Sie trug den Lippenstift auf und verteilte ihn mit den
Lippen, bis er kaum noch zu erkennen war. Nachdenklich
kehrte sie in ihr Schlafzimmer zurück. Sie warf einen
letzten prüfenden Blick in den großen Spiegel. Am
liebsten hätte sie gesehen, wie die junge Frau im weißen
Brautkleid vor ihrem wahren Spiegelbild zurückwich
und sich in Luft auflöste, doch die Fremde blieb
und lächelte sogar. Auch sie nahm als selbstverständlich
an, was Benjamin Carew entschieden hatte, dass
sie die Auserwählte war, die er zum Altar und in sein
Landhaus führen würde. »Sobald er dir den Ring an
den Finger steckt und dich in die Arme nimmt und
küsst, sind alle Vorbehalte vergessen«, klangen die
Worte ihrer Tante nach. Vielleicht hatte Tante Ruth ja
recht, und sie war tatsächlich nur nervös.
Vor der Kommode neben der Badezimmertür blieb
sie stehen. Sie öffnete die zweite Schublade von oben,
griff unter ihre sorgfältig gestapelte Unterwäsche und
zog den Brief des Indian Bureaus heraus. Sie kannte
den Inhalt des Schreibens auswendig, brauchte nur den
Absender anzusehen, um die starke Versuchung zu
spüren, ihr Brautkleid auszuziehen und mit dem einfachen
Gingham-Kleid zu vertauschen, ihren Koffer zu
packen und den Bus nach Santa Cruz zu nehmen.
Wenn sie sich beeilte, würde sie die Skagway noch
rechtzeitig erreichen. Alles hinter sich lassen, ihre
Tante und ihren Onkel, die heimatliche Farm, ihre
Freunde und Bekannten und die ungewisse Zukunft an
der Seite eines Mannes, den sie nicht einmal liebte.
Ohne weiter nachzudenken, steckte sie den Brief in
ihre weiße Handtasche, überlegte einen Augenblick,
nahm den Umschlag mit ihrem Gesparten aus einer
Schublade, ließ ihn ebenfalls in der Handtasche verschwinden
und ging zur Tür.
»Clara! Wo bleibst du denn?«, rief ihre Tante von
unten.
»Ich komme«, antwortete sie. Sie hob den Saum ihres
Brautkleides an und stieg wie eine Prinzessin die Treppe
zu ihren Adoptiveltern hinab.
2
In dem hart gefederten Ford Model T Runabout, einem
klapprigen Pick-up, den Horatio Bingham von einem
Schrotthändler gekauft hatte, fuhr man wesentlich unbequemer
als in dem luxuriösen Cabriolet. Clara saß
eingezwängt zwischen ihrem Onkel und ihrer Tante auf
der schmalen Sitzbank und hielt sich mit beiden Händen
am Armaturenbrett fest, um auf dem holprigen
Highway nicht gegen die Windschutzscheibe geschleudert
zu werden.
Während der Fahrt nach Salinas blieb sie in Gedanken
versunken. Sie ließ sich noch immer treiben, tat
scheinbar das, was man von ihr erwartete, aber tief in
ihrem Inneren regte sich Widerstand, und dass sie den
Brief und ihr Erspartes mitgenommen hatte, deutete
bereits an, dass sie nicht mehr bereit war, ihrer Tante
und ihrem Onkel widerspruchslos zu gehorchen.
Sie war kein dummes Mädchen, das man einfach an
einen zahlungswilligen Bräutigam verkaufen konnte.
Sie war keines dieser hübschen Dinger, die zufrieden
damit waren, das Haus eines wohlhabenden Mannes
zu schmücken und sich in einem teuren Landhaus zu
langweilen, während ihr Ehemann nach San Francisco
und New York reiste und sich dort anderweitig vergnügte.
So machte es »Boss« Carew mit seiner Gattin,
und es sprach alles dafür, dass Benjamin in die Fußstapfen
seines Vaters trat. Warum Clara ein halbes
Jahr gebraucht hatte, um dies zu erkennen, und nicht
schon vor einigen Wochen davongelaufen war, ver-
mochte sie selbst nicht zu sagen. Aber noch war es
nicht zu spät.
Mit stotterndem Motor fuhren sie über die Main
Street, vorbei am Fox Theater, in dem Clara und Benjamin
ihr ersten Date verbracht hatten. Die Reklametafel
über dem Eingang zeigte einen Film mit Mary Pickford
an. Clara hatte kaum Augen für das Kino und reagierte
auch nicht auf das freundliche Winken einer Kollegin,
die mit ihrem Mann aus Bell's Candy Shop kam. Erst
als ihre Tante einen Arm um ihre Schultern legte und
strahlend auf einige winkende Kinder deutete, zwang
sie sich zu einem Lächeln. »So gefällst du mir schon
besser«, sagte Tante Ruth. »Alle beneiden dich. Sieh
nur, die Verkäuferin aus dem Candy Store. Die würde
am liebsten mit dir tauschen, glaub mir. Ich habe selten
einen Mann getroffen, der bei den Frauen so beliebt
ist.«
Über eine Seitenstraße erreichten sie die Kirche, einen
spanischen Adobe-Lehm-Bau aus der Kolonialzeit,
der sogar das große Erdbeben von 1909 überlebt
hatte. Die Glocken läuteten, als sie am Straßenrand
hielten. Außer ihnen parkten noch zahlreiche andere
Wagen vor der Kirche, der neue Chevrolet der Carews,
die luxuriösen Wagen ihrer wohlhabenden Freunde
und Bekannten und die Pick-ups der Farmer, die Horatio
und Ruth Bingham eingeladen hatten. An den altmodischen
Kleidern und den verknitterten Sonntagsanzügen
erkannte man die weniger begüterten Farmer
sofort.
»Lass dich bloß nicht von Benjamin erwischen!«, rief
ihr einer der MacAllisters fröhlich zu. »Es bringt großes
Unglück, der Braut vor der Trauung zu begegnen.«
Im Vorraum empfing sie ein Kirchendiener und
führte sie in einen Nebenraum gleich neben dem Ein-
gang. »Alles Gute, mein Schatz!«, bekam Clara von ihrer
Tante zu hören. »Glaub mir, du hast die richtige
Wahl getroffen.«
Clara hätte am liebsten geantwortet, dass man ihr
überhaupt keine Gelegenheit gegeben hatte, eine Wahl
zu treffen, und Benjamin es nicht einmal für nötig erachtet
hatte, ihr einen förmlichen Heiratsantrag zu machen.
Er setzte ihre Zustimmung als selbstverständlich
voraus, als müsste sie dankbar sein, den großen Benjamin
Carew heiraten zu dürfen. Doch sie begnügte sich
mit einem freundlichen Nicken und setzte sich an den
einfachen Holztisch, auf dem ein Krug mit Wasser und
einige Gläser bereitstanden. Sie schenkte sich etwas
Wasser ein und trank einen Schluck, dabei umklammerte
sie ihre Handtasche, als wäre ihr Inhalt noch
wichtiger als der Diamantring an ihrem Finger.
Ihr Onkel sollte sie zum Altar führen und wartete
schon nervös neben der Tür. Er war viel zu aufgeregt,
um sich zu setzen. Alle paar Minuten öffnete er die Tür,
sagte etwas wie »Die MacAllisters sind auch schon da!«,
und schloss sie rasch wieder, wenn jemand in seine
Richtung blickte. Vor allem die Carews hatten zahlreiche
Verwandte, Freunde und Bekannte, aber auch
Geschäftspartner, und im Vorraum wimmelte es von
Menschen. Die Kirche würde bis auf den letzten Platz
besetzt sein, eine Vorstellung, die Clara schwer zu
schaffen machte. Konnte sie es sich erlauben, diese vielen
Hochzeitsgäste zu enttäuschen? War es nicht ihre
Pflicht, die folgsame Braut zu spielen und strahlend
neben Benjamin vor den Altar zu treten? Warum hatte
sie ihn nicht früher abgewiesen, wenn sie Vorbehalte
gegen ihn hatte?
Sie blickte ihren Onkel verstohlen von der Seite
an. Ihm und ihrer Tante hatte sie alles zu verdanken,
vor allem ihre Ausbildung, die sehr viel Geld gekostet
hatte. Onkel Horatio und Tante Ruth hatten sie nach
dem überraschenden Tod ihrer Eltern aufgenommen,
sie einige Monate später sogar adoptiert. Keine Selbstverständlichkeit
in diesen schweren Zeiten. Als Adoptiveltern
waren sie auch finanziell für sie verantwortlich.
Nur einen Tag, nachdem man die verbrannten
Leichen ihrer leiblichen Eltern in den Trümmern des
niedergebrannten Farmhauses gefunden hatte, waren
sie zum Amt gegangen und hatten die Papiere unterschrieben.
Dafür würde ihnen Clara ewig dankbar sein,
auch wenn sie ihre Schuld mit harter Feldarbeit zurückgezahlt
hatte. Sie konnten nicht erwarten, dass sie
Benjamin allein wegen des Geldes heiratete und ihnen
mit dem Geld ihres Ehemannes half, ihre verschuldete
Farm zu retten.
Der Kirchendiener öffnete die Tür und rief mit gedämpfter
Stimme: »Es ist so weit!« Sein mühsam verhaltenes
Grinsen ließ erkennen, wie sehr er sich über
den nervösen Onkel amüsierte, doch sein Blick folgte
Clara bis zwischen die Sitzreihen. Obwohl ihr Brautkleid
etwas aus der Mode war, sah sie wunderschön aus,
und seltsam war nur die wilde Entschlossenheit, die in
ihren Augen aufblitzte. Als würde sie vor einen Richter
und nicht vor einen Pfarrer treten. Sie war anders als
die anderen Bräute, nicht so verträumt und verklärt.
Hätte er gewusst, was wirklich in Clara vorging, hätte
er vielleicht versucht, den Pfarrer durch einen Blick zu
warnen, oder er wäre in plötzlich aufkommender Panik
davongelaufen. So aber verwechselte er ihre Entschlossenheit
mit Stolz, denn immerhin hatte sie einen der
erfolgreichsten und wohlhabendsten Geschäftsleute
im Salinas Valley geheiratet. Die Carews waren keine
Farmer, sie besaßen einen erfolgreichen Industriebe-
trieb, verpackten Unmengen von Salat und verschifften
ihn in firmeneigenen gekühlten Waggons bis zur
Ostküste. Die Braut, dachte der Kirchendiener, hatte für
alle Zeiten ausgesorgt. Etwas neidisch blickte er ihr und
ihrem Onkel hinterher.
Zu den Klängen von »Here Comes the Bride« schritten
Clara und ihr Onkel zum Altar. Beinahe mechanisch
setzte sie einen Fuß vor den anderen, wie ein Roboter,
der darauf programmiert war, vor den Altar zu
treten, und nur vage nahm sie die Hochzeitsgäste in
den Bankreihen wahr. Die MacAllisters, der Direktor ihrer
Schule mit seiner Frau, eine liebe Kollegin. Sie durfte
diese Menschen nicht enttäuschen, sie war ihnen verpflichtet.
Sie alle freuten sich mit ihr und waren stolz
darauf, sie mit einem der begehrenswertesten Junggesellen
der Stadt verheiratet zu sehen. »Du hast es geschafft,
Clara!«, hatte sie von mehreren Kolleginnen
gehört. »Jetzt kann dir nichts mehr passieren.«
Durch einen Tränenschleier sah sie Benjamin vor
dem Altar stehen. Er lächelte erwartungsvoll. Aus seinen
Augen strahlte keine Wärme, eher männlicher
Stolz, die junge Frau, der man den Hof gemacht hatte,
in seinen Besitz gebracht zu haben. Sie blieb zögernd
stehen, am liebsten wäre sie weggerannt und glaubte
bereits zu sehen, wie einige Hochzeitsgäste erschrocken
die Luft einsogen, doch ein leichter Klaps ihres Onkels
ließ sie weiterlaufen, bis sie an der ersten Reihe vorbeikam
und den stolzen Blick ihrer Tante auf sich gerichtet
sah. »Viel Glück, Clara!«, las sie von ihren Lippen
ab.
Unentschlossen trat Clara neben ihren Bräutigam,
sie wagte kaum, ihn anzublicken, und errötete leicht,
als sie einen leichten Zweifel in seinen Augen entdeckte.
Sie war in einer Sackgasse und fühlte sich wie
ein Tier, das man in die Enge getrieben hatte. Warum
hatte sie sich auf diese Hochzeit eingelassen? Warum
hatte sie das Brautkleid angezogen? Warum hatte sie
ihm nicht schon vor Wochen gesagt, dass sie die falsche
Frau für ihn war? In ihrem Kopf purzelten die
Gedanken wild durcheinander, eine seltsame Unruhe
breitete sich aus, die wie ein Gift in ihr Blut drang und
durch ihren ganzen Körper wanderte. Sie schloss für einen
Augenblick die Augen, öffnete sie wieder, sah alles
nur noch verschwommen und hörte die Stimme des
Pfarrers wie aus weiter Ferne.
Der Pfarrer deutete ihre Panik falsch und versuchte,
sie mit einem verständnisvollen Lächeln zu beruhigen,
doch Clara blickte durch ihn hindurch und schien ihn
gar nicht wahrzunehmen. Sie hörte nicht, was er sagte,
welche Bibelstellen er zitierte, und horchte erst auf, als
er den offiziellen Treueschwur verlas. »Ich, Benjamin
Carew«, wiederholte ihr Bräutigam feierlich, »nehme
dich, Clara, zu meiner angetrauten Frau, will dich von
diesem Tage an lieben, in guten wie in schlechten Tagen
...« Sie schloss erneut die Augen, als könnte sie
damit die Wirklichkeit ausblenden, nur um sie nach
einigen Sekunden wieder zu öffnen und ihn sagen zu
hören: »So wahr mir Gott helfe.«
Sie suchte verzweifelt nach einem Ausweg, als sie
das stolze Lächeln ihres Bräutigams bemerkte, und der
Pfarrer sich an sie wandte: »Sprich mir nach«, hörte
sie ihn sagen. »Ich, Clara Bingham ...« Sie zögerte einen
Augenblick und wiederholte dann mechanisch:
»Ich, Clara Bingham ...« Der Pfarrer schien zu spüren,
dass etwas nicht stimmte, und blickte sie prüfend an,
sprach aber nach einer kaum merklichen Pause weiter.
»... nehme dich, Benjamin Carew ...«
»... nehme dich ...«, wiederholte sie langsam, dann
richtete sie ihren Blick plötzlich auf Benjamin und
drehte sich zu den Hochzeitsgästen um. Sie blickte in
die erwartungsvollen Gesichter, sah wieder den Pfarrer
an und begann zu weinen. »Ich kann nicht«, sagte sie.
Zuerst klang ihre Stimme schüchtern und so leise,
selbst der Pfarrer und Benjamin konnten sie kaum verstehen,
dann jedoch wurde sie so laut und schrill, dass
es alle hörten und ihre Worte als vielfaches Echo durch
die Kirche geisterten: »Ich kann nicht! Ich kann dich
nicht heiraten, Benjamin! Ich kann nicht!« Sie zog den
Diamantring vom Finger und ließ ihn fallen, riss ihren
Schleier vom Kopf und rannte davon, an den entsetzten
Hochzeitsgästen vorbei zum Ausgang. Weinend riss
sie eine der Flügeltüren auf und lief nach draußen.
Ein schriller Orgelton, als hätte der Organist vor Entsetzen
beide Hände auf die Tastatur fallen lassen, begleitete
sie auf die Straße. Von Panik getrieben, hetzte
sie auf die andere Seite und durch einen Park, verfolgt
von den neugierigen und belustigten Blicken einiger
Eltern, die mit ihren Kindern auf den Spielplatz gekommen
waren. Ihre Handtasche wie ein kostbares Kleinod
umklammert, erreichte sie die Main Street und sah,
wie der Bus nach Monterey aus einer Seitenstraße bog
und langsam an Fahrt gewann. In der Gewissheit, sich
niemals mehr bei ihren Adoptiveltern oder den Carews
sehen lassen zu können, lief sie auf die Straße und
stoppte den Bus mit erhobenen Händen.
Der Busfahrer trat auf die Bremse und öffnete die Tür.
Er blickte sie überrascht an. »Sind Sie sicher, dass Sie bei
mir richtig sind, Ma'am?«, fragte er.
Ihr war nicht nach Scherzen zumute. Sie stieg hastig
in den Bus, kramte einen Dollarschein aus ihrer Handtasche
und ließ ihn auf den Schoß des Fahrers fallen.
»Nun fahren Sie doch endlich, Mister!«, drängte sie
ihn, den Blick ängstlich nach hinten gewandt. »Ich
muss hier so schnell wie möglich weg!«
»Den Eindruck habe ich auch«, konnte es der Fahrer
nicht lassen. Er schloss die Tür und fuhr weiter, ein
breites Grinsen auf dem Gesicht, als hätte er soeben
das große Los gezogen. »Wohin soll's denn gehen,
Ma'am?«
»Santa Cruz«, erwiderte sie, während sie sich auf einen
der vorderen Sitze fallen ließ. Die verdutzten Mienen
der anderen Fahrgäste sah sie nur im runden Innenspiegel
über dem Armaturenbrett. Sie kümmerte
sich nicht darum.
Der Fahrer schaltete in den zweiten Gang und blickte
in den Seitenspiegel. Ein Lastwagen zuckelte an ihm
vorbei. »Umsteigen in Monterey«, erklärte er, »der Bus
nach Santa Cruz fährt vom selben Busbahnhof ab.« Er
suchte nach ihrem Gesicht im Innenspiegel und musterte
sie nachdenklich. »Es geht mich ja nichts an,
Ma'am, aber falls Sie aus der Kirche weggerannt sind,
kommen Sie in dem Aufzug nicht weit. In dem Brautkleid
sind Sie nicht zu übersehen, man findet Sie bestimmt.«
»Sie haben recht, Mister. Es geht Sie nichts an.«
»Wie Sie wollen«, reagierte der Fahrer ein wenig beleidigt,
»ich wollte Ihnen nur empfehlen, sobald wie
möglich das Kleid zu wechseln. Sonst könnten Sie auch
gleich ein Schild mit der Aufschrift ›Hier bin ich!‹ hochhalten.
Wenn Sie tatsächlich Ihrem Bräutigam davongelaufen
sind und sich vor ihm und seinen Verwandten
verstecken wollen, wäre ich ein wenig vorsichtiger.«
»Sie scheinen sich ja gut auszukennen.«
Der Fahrer drehte mit beiden Händen an dem großen
Lenkrad und bog auf den Highway nach Monterey.
Er presste die Lippen aufeinander, bevor er antwortete.
»Ich war zwanzig Jahre mit der falschen Frau verheiratet,
Ma'am. Ich wollte, ich wäre damals auch aus der
Kirche gelaufen. Jetzt sind wir geschieden, sie hat unsere
Kinder, und ich hocke allein in einem Apartment.«
Sie nickte nur und blickte aus dem Fenster, sie verspürte
keine Lust, sich die Lebensgeschichte des Fahrers
anzuhören. Die Stadt lag bereits hinter ihnen, und abseits
der Straße erstreckten sich endlose Salatfelder. Ob
sie zur Riesenfarm der Carews gehörten, wusste sie
nicht, vermutete es aber. Fast alle Salatfelder in der näheren
Umgebung von Salinas gehörten der Familie, in
die sie beinahe eingeheiratet hätte. Sie kicherte leise.
Nur eine Verrückte rannte vor der Trauung mit einem
mehrfachen Millionär davon. So würde es in den Zeitungen
stehen, und so würden auch ihre Adoptiveltern
und alle ihre Freunde und Bekannten über sie urteilen,
und vielleicht war sie ja wirklich verrückt. Wer sonst
kam auf die Idee, das sonnige Kalifornien zu verlassen,
um fernab der Zivilisation in der Wildnis von Alaska
die Kinder verlauster Goldgräber und Indianer zu unterrichten?
»Weil ich eine neue Herausforderung suche
«, hatte sie dem Vertreter des Indianerbüros auf
diese Frage geantwortet und dabei nur die halbe Wahrheit
gesagt. Sie wollte mit der Vergangenheit brechen
und in dem abgelegenen Territorium ein vollkommen
neues Leben beginnen.
Sie presste ihr Gesicht gegen das Fenster und versuchte,
nach hinten zu blicken. In einer scharfen
Rechtskurve stellte sie erleichtert fest, dass ihnen niemand
folgte. Ihre Adoptiveltern würden annehmen,
dass sie sich irgendwo in der Stadt versteckt hielt oder
durch die Felder auf die Farm zurückgelaufen war. Es
war alles ein bisschen viel für sie, würden sie zu den Carews
sagen, sie hat für einen Augenblick die Nerven
verloren und kommt bestimmt zurück. Bis sie herausfanden,
dass sie die Hochzeit tatsächlich hatte platzen
lassen, würde einige Zeit vergehen, und noch länger
würde es dauern, bis ihre Kollegin verriet, dass sie
wahrscheinlich auf dem Weg ins ferne Alaska war.
In der Ferne glitzerte bereits der Pazifik. Die Lehmhäuser
der kleinen Stadt hoben sich schemenhaft gegen
die wogenden Hitzeschleier ab, wie eine Oase in
der endlosen Wüste. Nur dass auch Monterey von
fruchtbaren Feldern und Obstbäumen umgeben war
und es zwischen den Reihen mit den grünen Salat-
köpfen und in den Plantagen von Erntearbeitern wimmelte,
meist Mexikanern, die über die Grenze nach
Kalifornien gekommen waren. Auch sie hatten ihre
Heimat verlassen, ließen vielleicht sogar ihre Frauen
und Kinder zurück, um in den Vereinigten Staaten
neues Glück zu finden. Sie ging nicht des Geldes wegen,
beim Ausfüllen des Antrags hatte sie nicht mal den
Hintergedanken gehabt, vor Benjamin und seinem goldenen
Käfig zu fliehen. Lediglich das Abenteuer hatte
sie gereizt, wie die Siedler im 19. Jahrhundert die Zivilisation
zu verlassen und zur Besiedlungsgrenze in der
Wildnis vorzustoßen.
Erst an diesem Morgen war ihr klar geworden, wie
wenig sie Benjamin liebte und welchen Fehler sie mit
einer Heirat begehen würde. Ein dummes Mädchen
vom Lande, das sich von einem reichen Junggesellen
einfangen ließ und ihm blind in eine Ehe folgte, die
ihr kaum Freiheiten gewähren würde. Was war schon
ein sorgenfreies Leben gegen das Gefühl, das tun zu
können, was man wirklich wollte, den Zwängen eines
strengen Elternhauses zu entfliehen und erst einmal
auf eigenen Beinen zu stehen, bevor man daran dachte,
einen Mann zu heiraten. Nur noch aus Liebe würde
sie einem Mann in die Ehe folgen, nur ihre Gefühle
durften von jetzt an über einen solchen Schritt entscheiden.
Natürlich würden die Carews alle Hebel in Bewegung
setzen, um sich für diese Schmach zu rächen. Sie würden
böse Gerüchte über sie in die Welt setzen und sie
in der Presse anschwärzen, vielleicht sogar das Schulgremium
einschalten. Wenn sie geblieben wäre, hätte
man sie von der Schule geworfen oder strafversetzt
oder sie mit Schimpf und Schande aus der Gegend vertrieben.
Aber eine schlimmere Strafe als eine Versetzung
in die Wildnis von Alaska hätte sich auch die
Schulbehörde nicht einfallen lassen können. »Seien Sie
beruhigt, Mister Carew«, würde der Supervisor sagen.
»Eine schlimmere Strafe als der Posten in Porcupine,
Alaska, gibt es in ganz Amerika nicht.«
In Monterey stieg sie um und fuhr nach Santa Cruz
weiter. Der Fahrer starrte sie genauso entgeistert an wie
sein Kollege auf der Fahrt nach Monterey, war aber
schweigsamer oder höflicher und verkniff sich eine Bemerkung.
Clara setzte sich auf die letzte Bank, spürte
minutenlang die Blicke aller übrigen Reisenden auf sich
gerichtet, bis sie das Interesse an ihr verloren und sich
wieder um ihre eigenen Dinge kümmerten. Durch das
schmale Rückfenster blickte sie auf den Highway. Sie
hatte immer noch Angst, den Chevrolet der Carews
oder das Cabriolet ihres Bräutigams zu entdecken, doch
der Highway war leer. Die Chance, dass sie das Dampfschiff
nach Alaska erreichte, bevor jemand von ihren
Plänen erfuhr, wurde mit jeder Meile größer.
Natürlich bestand die Möglichkeit, dass die Carews
ihre Wut an ihrer Tante und ihrem Onkel ausließen,
aber viel wahrscheinlicher war, dass man sie gar nicht
mehr beachtete. Sobald sie an Bord des Schiffes war,
würde sie einen Brief an ihre Adoptiveltern schreiben
und ihnen alles erklären. Nachdem ihr erster Ärger verraucht
war, würden sie ihre Motive verstehen. So hoffte
sie jedenfalls. Dennoch hätte sie es niemals gewagt, ihnen
von ihrem Plan zu erzählen, auch ohne die geplante
Hochzeit nicht. Sie hatten ihr eine Kindheit im
Waisenhaus erspart und sich vorbildlich um sie gekümmert,
aber sie waren auch besitzergreifend und erwarteten,
dass sie in ihrer Nähe blieb und ihnen half, die
schweren Zeiten, die vor allem den Farmern drohten,
zu überstehen.
Sie erreichten Santa Cruz am frühen Nachmittag.
Clara hatte keine Ahnung, wann die Skagway auslief,
und rannte hastig zu den Docks hinunter. Aufgeregt betrat
sie das Büro der Alaska Steamship Company. Sie
ignorierte die verwunderten Blicke der Bürovorsteherin,
die wohl zu gerne gewusst hätte, warum sie ein
Brautkleid trug, und sagte: »Ich bin Clara Keaton. Für
mich müsste ein Ticket nach Alaska hinterlegt sein.«
Sie deutete auf ein Kalenderfoto der Skagway neben
dem Fenster. »Wann stechen wir denn in See?«
Die Bürovorsteherin zog das reservierte Ticket aus
einem Fach und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid,
Ma'am, aber die Skagway hat vor einer halben Stunde
abgelegt. Das nächste Schiff nach Alaska geht in zwei
Wochen ...«
3
Clara fühlte den Boden unter ihren Füßen schwanken.
Sie starrte die Bürovorsteherin entgeistert an, als hätte
sie soeben vom Tod eines geliebten Menschen gehört,
und wiederholte mit monotoner Stimme: »In zwei
Wochen?«
Die Wanduhr neben dem Schalter tickte laut.
»Es gibt vielleicht noch eine Möglichkeit, das Schiff
zu erreichen«, sagte die Bürovorsteherin. Sie hatte wohl
gemerkt, wie dringend Clara aus Santa Cruz wegkommen
wollte. »Der Zug nach San Francisco fährt in zehn
Minuten. Wenn Sie den erreichen, und er kommt
pünktlich in San Francisco an, schaffen Sie es vielleicht
noch zum Hafen. Garantieren kann ich das nicht ...«
»Wo ist der Bahnhof?«, fragte Clara. »Gibt es hier ein
Taxi?«
»Nein, aber Jack kann Sie fahren.« Sie hob ihre
Stimme. »Jack! Hol den Wagen aus der Garage, und
fahr die Dame zum Bahnhof. Sie hat es eilig.«
Der Laufbursche war kein besonders guter Autofahrer
und würgte an einer Kreuzung sogar den Motor ab,
setzte sie aber rechtzeitig am Bahnhof ab und brachte
sie sogar noch zum Zug. Sie gab ihm einen Quarter und
setzte sich ans Fenster, hinter ein älteres Ehepaar, das
sie verwirrt anstarrte und nur aus Höflichkeit nicht
fragte, was eine junge Braut in einem Zug suchte. Clara
hatte keine Lust, sich auf ein längeres Gespräch einzulassen,
und sagte es weder ihnen noch dem neugierigen
Schaffner, bei dem sie ihr Ticket kaufte.
Der Zug gewann langsam an Fahrt. Die schwere
Dampflok schien große Mühe zu haben, die Wagen aus
dem Bahnhof zu ziehen. Dunkle Rauchschwaden zogen
an den Fenstern vorbei und hinderten Clara daran,
aus dem Fenster zu blicken. Erst als sie die Außenbezirke
von Santa Cruz erreichten, wurde der Rauch
durchlässiger. Westlich der Schienen fiel das Land steil
zur Küste ab, und auf Claras Seite bot sich das gleiche
Bild wie während der Busfahrt: ein einsamer Highway
und scheinbar endlose Salatfelder und Obstplantagen.
Die Sonne strahlte vom blauen Himmel und zauberte
wabernde Hitzeschleier auf den Highway, der dicht neben
den Schienen entlangführte.
Clara blickte nervös aus dem Fenster. Ihre Angst, von
den Carews eingeholt und zur Rede gestellt zu werden,
war noch immer groß. Sie kam sich wie eine gefährliche
Bankräuberin vor, die vor der Polizei oder dem FBI
auf der Flucht war und ständig nach Verfolgern Ausschau
halten musste.
Sobald herauskam, dass sie nach Alaska wollte,
würde Benjamin sie verfolgen und zur Rede stellen,
schon allein, um seinen ramponierten Ruf wiederherzustellen.
Als begehrter Junggeselle, der sich viel auf
sein gutes Aussehen und seine gesellschaftliche Stellung
einbildete, konnte er nicht zulassen, dass ihn ein
einfaches »Mädchen vom Lande« öffentlich zum Gespött
der Leute machte.
Niemand konnte sie zwingen, nach Salinas zurückzukehren,
weder Benjamin Carew noch ihre Adoptiveltern,
und niemand außer der Schulbehörde wäre berechtigt,
sie an ihrer Reise nach Alaska zu hindern. Und
die war sicher froh, überhaupt eine Lehrerin für diesen
abgelegenen Posten gefunden zu haben. Doch allein
der Gedanke, nach dem Eklat in der Kirche noch ein
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Redaktion: Ingola Lammers
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Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
»Unsinn!«, erwiderte Ruth Bingham lächelnd. Sie
war eine stämmige Farmerfrau mit einem harten, von
zahlreichen Enttäuschungen geprägtem Gesicht und
grauen, zu einem Knoten gebundenen Haaren. »Du
bist nervös, das geht fast jeder Braut am Morgen ihrer
Hochzeit so. Das ist ganz normal.«
Clara schüttelte den Kopf, sie hätte das Brautkleid
am liebsten ausgezogen und in die Ecke geschleudert.
»Ich brauche noch etwas Zeit, Tante Ruth.«
»Beruhige dich, Clara. Du hast plötzlich Angst, dich
für ein ganzes Leben an einen Mann zu binden, das ist
alles. Aber glaube mir, sobald er dir den Ring an den
Finger steckt und dich in die Arme nimmt und küsst,
sind alle Vorbehalte vergessen. Benjamin ist ein guter
Mann. Du hättest es nicht besser treffen können. Sei
dem lieben Gott dankbar, dass du ihn heiraten darfst!«
»Aber ich liebe ihn nicht, Tante Ruth!«
»Natürlich liebst du ihn. Und wenn nicht, wirst du
ihn lieben lernen. Ich bin deinem Onkel Horatio auch
nicht gleich um den Hals gefallen. Eine Liebe muss
wachsen. Viel wichtiger sind gegenseitiger Respekt und
Anerkennung.«
»Lass uns die Hochzeit wenigstens verschieben.«
Ruth Bingham packte sie an den Oberarmen und
blickte sie eindringlich an. »Schluss mit dem Unsinn!
Wasch dir dein Gesicht, und leg etwas Make-up auf. Du
wirst sehen, dann sieht die Welt gleich anders aus. Aber
geh sparsam mit der Wimperntusche und dem Lippenstift
um. Du weißt doch, Benjamin mag es gern etwas
dezenter.« Sie bemerkte, wie verstört ihre Nichte noch
immer war und lächelte aufmunternd. »Nun komm
schon. Benjamin ist der richtige Mann für dich. Eine
bessere Partie könntest du nicht mal in San Francisco
machen.«
»Eine gute Partie? Heiratet man nur deswegen?«
»Natürlich nicht«, erwiderte ihre Tante. Sie verbarg
nur mühsam ihre Ungeduld. »Benjamin Carew ist ein
stattlicher Mann, nach dem sich alle jungen Frauen
in dieser Gegend umdrehen. Er hätte auch eine dieser
reichen Millionärstöchter aus Monterey oder San Francisco
haben können. Dass er dich gewählt hat, betrachte
ich als große Ehre. Vergiss nicht, dass er aus
einer angesehenen und erfolgreichen Familie kommt.
Carew & Sons haben in den letzten Jahren ein Vermögen
mit ihrem Salat gemacht. In den gekühlten Eisenbahnwaggons
transportieren sie ihre Ernte bis nach
Chicago. Das hat keine andere Farm in Salinas und
Umgebung geschafft.« Sie blickte zur Tür und hätte
sich wohl etwas Beistand von ihrem Mann gewünscht.
Hoffnungsvoll fügte sie hinzu: »Seine Eltern könnten
sich übrigens gut vorstellen, deinem Onkel und mir bei
der Umwandlung unserer Farm zu helfen. Wir wollen
auch Salat anpflanzen. Du weißt doch selbst, wie wenig
Zuckerrüben noch bringen.«
Clara befreite sich aus ihrem Griff und funkelte sie
wütend an. »So ist das also! Ich soll ihn heiraten, damit
euch seine Eltern eine neue Farm finanzieren und ihr
aus den roten Zahlen kommt! Deshalb habt ihr uns also
verkuppelt!«
»Nein, Clara«, erwiderte ihre Tante, immer noch um
einen versöhnlichen Tonfall bemüht, »natürlich wollen
wir nicht, dass ihr nur deswegen heiratet. Und wir
haben euch auch nicht verkuppelt. Ihr habt euch auf
der County Fair in Salinas kennengelernt. Wir waren
nicht einmal in der Nähe. Aber wir freuen uns natürlich,
dass du nicht nur einen liebenswerten, sondern
auch wohlhabenden Mann heiraten wirst. Du weißt
doch, wie schlecht es den meisten Leuten geht und wie
viele Arbeitslose es gibt. Die Carews sind die große Ausnahme.
Bei Benjamin brauchst du keine Angst vor der
Zukunft zu haben, und du darfst deinem Onkel und
mir nicht böse sein, wenn wir uns auch ein wenig darüber
freuen, mit ihrer Hilfe ein neues Leben beginnen
zu können.«
Es klopfte, und ihr Onkel steckte den Kopf zur Tür
herein. Er war ein hagerer Mann mit kantigem Gesicht,
das verblüffende Ähnlichkeit mit einem Nussknacker
hatte. Sein Sonntagsanzug mit der sorgfältig gebundenen
Krawatte war ihm etwas zu eng geworden und
wirkte fremd an ihm. Zum letzten Mal hatte Clara ihn
vor vier Jahren in dem Anzug gesehen, als sie auf
der Silbernen Hochzeit der benachbarten MacAllisters
gewesen waren. Seine Augen blitzten erwartungsvoll.
»Was macht unsere Braut? Bist du so weit, Clara?«
»Sie macht sich nur noch ein wenig zurecht«, beeilte
sich seine Frau zu sagen. Ihr Lächeln wirkte etwas gezwungen.
»In einer Viertelstunde, okay?«
»Du willst doch nicht zu deiner eigenen Hochzeit zu
spät kommen.« Er drückte die Tür auf und bemerkte die
verweinten Augen seiner Nichte. »Was ist denn mit dir
los? Hast du geweint?« Er blickte sie verwundert an, lächelte
aber gleich wieder. »Ich hoffe, nur aus Vorfreude.
Du freust dich doch?«
Wieder antwortete ihre Tante: »Sie ist ein wenig nervös,
Horatio. Das ist ganz natürlich vor einem so großen
Ereignis. Weißt du noch, wie durcheinander ich
vor unserer Hochzeit war? Mir wäre beinahe nicht
mehr eingefallen, was ich vor dem Altar antworten soll.
Stell dir vor, ich hätte Nein gesagt ...«
Ihr Mann erinnerte sich. »Das hätte ich nicht gelten
lassen. Ich hatte immerhin ein ganzes Jahr um dich
geworben. Weißt du, wie anstrengend das war?« Er
lächelte Clara an. »Mach es deinem Benjamin etwas
leichter, okay?«
»Genug spioniert, Horatio!« Ruth Bingham stand auf
und schob ihren Mann sanft in den Flur zurück. »Du
bekommst die Braut noch früh genug zu sehen. Männer
haben im Zimmer der Braut nichts zu suchen. Mein
Vater hat mir auch nicht dabei zugesehen, wie ich mir
die Haare hochgesteckt habe.«
Sie wartete, bis ihr Mann auf der Treppe war, und
drehte sich noch einmal zu Clara um. »Wir lieben dich
wie eine Tochter«, versicherte sie ihrer Nichte, »und wir
wollen nur dein Bestes. Das darfst du niemals vergessen,
Clara.«
»Das weiß ich doch, Tante Ruth.«
Ruth Bingham nickte. »So gefällst du mir schon besser.
Denke immer daran, dass dies der schönste Tag
deines Lebens ist.« Sie gab ihr einen aufmunternden
Klaps. »Und jetzt beeil dich! Du hast deinen Onkel gehört.
Wenigstens zu seiner eigenen Hochzeit sollte man
pünktlich kommen.«
Nachdem ihre Tante gegangen war, wagte Clara
nicht, in den Spiegel zu sehen, und blieb noch eine
ganze Weile unschlüssig stehen, bevor sie ins Bad zurückkehrte
und ihre Tränen mit einem kalten Waschlappen
von den Wangen wischte. Beinahe mechanisch
begann sie, ihr Gesicht zu pudern, und legte Rouge auf
ihre Wangen. Auch beim Auftragen ihres Make-ups war
sie eher zurückhaltend, so wie es sich für eine junge
Lehrerin geziemte. Die schwarzen Wimpern und den
grellroten Lippenstift der knapp bekleideten Frauen auf
den Werbetafeln an den Highways hatte sie immer verabscheut.
Sie stützte sich auf den Rand des Waschbeckens und
blickte in den ovalen Spiegel. Das weiße Puder ver-
deckte die gesunde Bräune, die sie während der anstrengenden
Feldarbeit erworben hatte, und der altmodische
Knoten, zu dem ihre honigblonden Haare hochgesteckt
waren, ließen sie zwei oder drei Jahre älter,
aber auch erwachsener und reifer aussehen. Ihr Gesicht
erinnerte sie an ihre Mutter, die auf dem Hochzeitsfoto,
das seit beinahe zwanzig Jahren auf ihrem Nachttisch
stand, wunderschön aussah und ihr jeden Abend vor
dem Schlafengehen tief in die Augen sah. Clara hatte
ihre tiefblauen Augen geerbt, »so blau und tief wie der
Lake Tahoe«, wie sich Benjamin einmal ausgedrückt
hatte, eine seiner schamlosen Übertreibungen.
Ihre Tante hatte recht, sie hatte ihn auf der County
Fair in Salinas kennengelernt, einem bunten Jahrmarkt,
der parallel zu den Pferderennen und dem Rodeo
auf der Rennbahn abgehalten wurde. Vielleicht
war es ein Fehler gewesen, ihm zuzuwinken, als er während
der feierlichen Parade an ihr vorbeigeritten war
und in einer übertriebenen Geste seinen breitkrempigen
Cowboyhut gezogen hatte. Denn noch am selben
Tag war er zu ihrem Stand gekommen und hatte sie von
den Kindern ihrer High School weggelockt, deren selbst
hergestellte Süßigkeiten sie auf der Fair verkauften. Sie
war so begeistert von der gemeinsamen Fahrt auf dem
Riesenrad gewesen, dass sie ohne lange nachzudenken
zu einem Date am nächsten Samstag eingewilligt hatte.
Über ein Jahr war das nun her, und sie brauchte nur
die Augen zu schließen, um sich diesen Tag noch einmal
ins Gedächtnis zu rufen. Ein heißer Sommertag,
den sie mit ihrer Tante und ihrem Onkel auf dem Acker
verbracht hätte, wenn sie nicht verabredet gewesen
wäre. Aber weder Tante Ruth und Onkel Horatio, die sie
nach dem Tod ihrer Eltern adoptiert hatten, noch sie
selbst dachten an diesem Samstag an das frisch ge-
mähte Heu. Ihre Tante und ihr Onkel im besten Sonntagsstaat
und sie in ihrem blauen Kleid standen auf der
Veranda, als Benjamin Carew in seinem brandneuen
und leuchtend grünen Chevrolet Capitol Sports Cabriolets
vor ihrem Farmhaus hielt.
Benjamin war sich seiner Stellung als Sohn reicher
Eltern und erfolgreicher Geschäftsmann voll bewusst
und benahm sich schon am ersten Tag wie ein europäischer
Prinz auf Brautschau, der seine Wahl längst getroffen
hatte und gar nicht in Erwähnung zog, von einer
jungen Frau abgelehnt zu werden. Ihrer Tante
brachte er einen sorgsam gebundenen Blumenstrauß
mit, und für ihren Onkel öffnete er die Motorhaube seines
neuen Automobils, eine Geste, die ihre Wirkung
nicht verfehlte. »Ein großartiger Mann!«, schwärmte
ihr Onkel noch am selben Abend. »Ich hoffe, du weißt
dein Glück zu schätzen.«
Natürlich platzte sie vor Stolz, als sie in dem grünen
Sportwagen durch Salinas fuhren und zahlreichen
Freunden und Bekannten begegneten. Ihre neugierigen
Blicke folgten ihnen durch die ganze Stadt. Eine hübsche
Bekannte, die bei jedem Treffen mit einem anderen
reichen Mann prahlte, verzog bei ihrem Anblick
vor Neid das Gesicht. Benjamin Carew war ein bekannter
Mann, auch wenn er nur der »Junior« des großen
»Boss« Carew war, und sein Wagen war das einzige Cabriolet
in einer Stadt, die eher für ihre Lastwagen und
Pick-ups bekannt war. Jedes Mal, wenn sie parkten, war
der Wagen von Neugierigen umringt, sogar ein Polizist
blieb stehen und betrachtete das Schmuckstück von allen
Seiten. Er grüßte Clara mit einem anerkennenden
Nicken.
Sie aßen in einem feinen Restaurant mit festlich gedeckten
Tischen und ließen sich ein Menü schmecken,
das mehr kostete, als sie in einer Woche verdiente. Anschließend
gingen sie ins Kino und sahen sich den
neuen Film mit Rudolph Valentino an. »Der Schlager
des Jahres 1927« stand in großen Lettern über dem
Filmtitel. Sie mochte den Schauspieler nicht besonders,
ließ sich aber nichts anmerken und hatte auch nichts
dagegen, dass Benjamin im Dunkeln nach ihrer Hand
griff und sie zärtlich drückte. Erst sehr viel später würde
sie erkennen, dass es eher eine besitzergreifende Geste
war, so wie der erste Kuss, den sie vor dem Bahnübergang
in seinem Chevrolet austauschten.
Die fordernde Art, wie er sie in die Arme nahm und
ihren Mund mit seinen Lippen verschloss, störte sie
schon damals. Doch noch während sie nach einer Ausrede
suchte, um ihr nächstes Date zwei oder drei Wochen
zu verschieben, verkündete er, sie am nächsten
Samstag um dieselbe Zeit abzuholen, um mit ihr eine
»Spritztour«, wie er es nannte, nach Monterey zu unternehmen.
Die Kolleginnen in der Schule und alle jungen
Frauen in ihrer Gemeinde beneideten sie darum
und hätten liebend gerne mit ihr getauscht: Sie genoss
die Fahrt an der Küste ebenfalls wie auch die Fütterung
der Seelöwen am Ufer, doch als er sie in die Arme nahm
und küsste, fühlte sie sich auf seltsame Weise bedrängt.
Als sie ihrer Freundin in der Schule davon erzählte, bekam
sie ein Lachen als Antwort: »So sind sie, die Männer!
Manchmal fällt es schwer, sie sich vom Hals zu halten.
Aber an deiner Stelle würde ich ihm geben, was er
will, Clara. So einen wundervollen Mann findest du nie
wieder!«
Sie gab ihm nicht, was er wollte, erwiderte aber seine
Küsse und traf sich jede Woche mit ihm. Nach einer
Weile schien sie so vertraut mit ihm, dass es ihr gar
nicht in den Sinn gekommen wäre, ihm den Laufpass
zu geben, und auch seine Küsse und Berührungen fühlten
sich inzwischen nicht mehr fordernd und verlangend
an. Sie waren selbstverständlich geworden, so
selbstverständlich wie der Spaziergang am Flussufer
und seine scheinbar beiläufige Bemerkung: »Wenn wir
verheiratet sind, kannst du deinen Beruf endlich aufgeben
und dich ganz der Familie widmen. Ich hoffe, wir
bekommen viele Kinder.« Er machte ihr keinen offiziellen
Heiratsantrag, steckte ihr lediglich den teuren Ring
an den Finger, als Zeichen dafür, dass sie nun ihm gehörte.
Es waren diese Selbstverständlichkeit und die Begeisterung
ihrer Tante und ihres Onkels, die jeden
aufkommenden Protest im Keim erstickten. Jeder Kirchenbesuch,
jeder Spaziergang und jedes gemeinsame
Picknick schien nach einem vorgegebenen Plan zu verlaufen,
wie bei einem mittelalterlichen Königspaar, das
von seinen Eltern verheiratet wurde und gar keine andere
Möglichkeit hatte, als ihnen zu gehorchen. Niemand
fragte sie nach ihrer Meinung, alle gingen davon
aus, dass sie sich auf die Hochzeit freute und es gar
nicht mehr erwarten konnte, ihren Beruf aufzugeben
und zu Benjamin in den luxuriösen »Rancho Paradiso«
zu ziehen. Woher sollten die Leute auch wissen, dass
sie keine Nacht mehr durchschlief, seit die Carews den
Hochzeitstermin festgelegt hatten, und verzweifelt zu
ergründen versuchte, wie sie in diese beinahe ausweglose
Lage geraten konnte.
Lediglich einer Laune hatte sie den einzigen Fluchtweg
zu verdanken, der ihr noch geblieben war. Als vor
einigen Wochen ein Angestellter des Indian Bureaus in
ihrer Schule aufgetaucht war und einen Vortrag über
das weit im Norden gelegene Territorium von Alaska
gehalten hatte, ein wildes Land mit schneebedeckten
Bergen, endlosen Wäldern und glasklaren Seen, eine
»ungestüme Wildnis«, in der sich mutige Männer und
Frauen ihren Traum von einem abenteuerlichen Leben
an der letzten Besiedlungsgrenze erfüllen konnten,
hatte sie den Antrag auf Anstellung in einer Indianer-
schule fernab der Zivilisation unterschrieben. Sie rechnete
nicht ernsthaft damit, dass man eine junge Frau
aus dem sonnigen Kalifornien für einen solchen Posten
in Erwägung ziehen würde. »Bist du verrückt?«, hatte
ihre Freundin gefragt. »Da oben gibt es kaum Menschen.
Nur Goldgräber, Indianer und jede Menge wilder
Tiere. So große Bären und Wölfe wie in Alaska gibt
es nicht mal in den Rockies.«
Sie hatte den Antrag längst vergessen, als die Antwort
eintraf. »Nichts Besonderes«, wich sie ihrer Tante
aus, als sie mit dem Brief ins Haus zurückkehrte. »Die
Einladung zu einer Tagung. Da fahre ich bestimmt
nicht hin.«
Als sie abends allein in ihrem Zimmer war, öffnete
sie den Brief und traute ihren Augen kaum: »... freuen
wir uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Ihrem Antrag
auf Anstellung im Territorium von Alaska stattgegeben
wurde ...« Einige Zeilen später hieß es: »... bitten
wir Sie, Ihren Dienst nach den Ferien anzutreten und
sich beim Schulgremium in Porcupine, Alaska, zu
melden.« Das Ticket für die zweiwöchige Reise hätte
man im Büro der Alaska Steamship Company in Santa
Cruz hinterlegt. Die Skagway, ein Dampfschiff der
Alaska Steamship Company, würde am Nachmittag des
20. August 1927 von Santa Cruz ablegen und sie nach
Skagway bringen, von dort ginge es mit der Eisenbahn
über den Pass zum Lake Bennett und mit einem kleinen
Dampfschiff den Yukon hinauf. In Dawson City, dem
Endpunkt ihrer Schiffsreise, sollte sie sich dem »Pack
Train« eines gewissen Jerry Anderson anschließen, der
alle vierzehn Tage die Post in die Wildnis-Siedlungen
brachte.
Sie trug den Lippenstift auf und verteilte ihn mit den
Lippen, bis er kaum noch zu erkennen war. Nachdenklich
kehrte sie in ihr Schlafzimmer zurück. Sie warf einen
letzten prüfenden Blick in den großen Spiegel. Am
liebsten hätte sie gesehen, wie die junge Frau im weißen
Brautkleid vor ihrem wahren Spiegelbild zurückwich
und sich in Luft auflöste, doch die Fremde blieb
und lächelte sogar. Auch sie nahm als selbstverständlich
an, was Benjamin Carew entschieden hatte, dass
sie die Auserwählte war, die er zum Altar und in sein
Landhaus führen würde. »Sobald er dir den Ring an
den Finger steckt und dich in die Arme nimmt und
küsst, sind alle Vorbehalte vergessen«, klangen die
Worte ihrer Tante nach. Vielleicht hatte Tante Ruth ja
recht, und sie war tatsächlich nur nervös.
Vor der Kommode neben der Badezimmertür blieb
sie stehen. Sie öffnete die zweite Schublade von oben,
griff unter ihre sorgfältig gestapelte Unterwäsche und
zog den Brief des Indian Bureaus heraus. Sie kannte
den Inhalt des Schreibens auswendig, brauchte nur den
Absender anzusehen, um die starke Versuchung zu
spüren, ihr Brautkleid auszuziehen und mit dem einfachen
Gingham-Kleid zu vertauschen, ihren Koffer zu
packen und den Bus nach Santa Cruz zu nehmen.
Wenn sie sich beeilte, würde sie die Skagway noch
rechtzeitig erreichen. Alles hinter sich lassen, ihre
Tante und ihren Onkel, die heimatliche Farm, ihre
Freunde und Bekannten und die ungewisse Zukunft an
der Seite eines Mannes, den sie nicht einmal liebte.
Ohne weiter nachzudenken, steckte sie den Brief in
ihre weiße Handtasche, überlegte einen Augenblick,
nahm den Umschlag mit ihrem Gesparten aus einer
Schublade, ließ ihn ebenfalls in der Handtasche verschwinden
und ging zur Tür.
»Clara! Wo bleibst du denn?«, rief ihre Tante von
unten.
»Ich komme«, antwortete sie. Sie hob den Saum ihres
Brautkleides an und stieg wie eine Prinzessin die Treppe
zu ihren Adoptiveltern hinab.
2
In dem hart gefederten Ford Model T Runabout, einem
klapprigen Pick-up, den Horatio Bingham von einem
Schrotthändler gekauft hatte, fuhr man wesentlich unbequemer
als in dem luxuriösen Cabriolet. Clara saß
eingezwängt zwischen ihrem Onkel und ihrer Tante auf
der schmalen Sitzbank und hielt sich mit beiden Händen
am Armaturenbrett fest, um auf dem holprigen
Highway nicht gegen die Windschutzscheibe geschleudert
zu werden.
Während der Fahrt nach Salinas blieb sie in Gedanken
versunken. Sie ließ sich noch immer treiben, tat
scheinbar das, was man von ihr erwartete, aber tief in
ihrem Inneren regte sich Widerstand, und dass sie den
Brief und ihr Erspartes mitgenommen hatte, deutete
bereits an, dass sie nicht mehr bereit war, ihrer Tante
und ihrem Onkel widerspruchslos zu gehorchen.
Sie war kein dummes Mädchen, das man einfach an
einen zahlungswilligen Bräutigam verkaufen konnte.
Sie war keines dieser hübschen Dinger, die zufrieden
damit waren, das Haus eines wohlhabenden Mannes
zu schmücken und sich in einem teuren Landhaus zu
langweilen, während ihr Ehemann nach San Francisco
und New York reiste und sich dort anderweitig vergnügte.
So machte es »Boss« Carew mit seiner Gattin,
und es sprach alles dafür, dass Benjamin in die Fußstapfen
seines Vaters trat. Warum Clara ein halbes
Jahr gebraucht hatte, um dies zu erkennen, und nicht
schon vor einigen Wochen davongelaufen war, ver-
mochte sie selbst nicht zu sagen. Aber noch war es
nicht zu spät.
Mit stotterndem Motor fuhren sie über die Main
Street, vorbei am Fox Theater, in dem Clara und Benjamin
ihr ersten Date verbracht hatten. Die Reklametafel
über dem Eingang zeigte einen Film mit Mary Pickford
an. Clara hatte kaum Augen für das Kino und reagierte
auch nicht auf das freundliche Winken einer Kollegin,
die mit ihrem Mann aus Bell's Candy Shop kam. Erst
als ihre Tante einen Arm um ihre Schultern legte und
strahlend auf einige winkende Kinder deutete, zwang
sie sich zu einem Lächeln. »So gefällst du mir schon
besser«, sagte Tante Ruth. »Alle beneiden dich. Sieh
nur, die Verkäuferin aus dem Candy Store. Die würde
am liebsten mit dir tauschen, glaub mir. Ich habe selten
einen Mann getroffen, der bei den Frauen so beliebt
ist.«
Über eine Seitenstraße erreichten sie die Kirche, einen
spanischen Adobe-Lehm-Bau aus der Kolonialzeit,
der sogar das große Erdbeben von 1909 überlebt
hatte. Die Glocken läuteten, als sie am Straßenrand
hielten. Außer ihnen parkten noch zahlreiche andere
Wagen vor der Kirche, der neue Chevrolet der Carews,
die luxuriösen Wagen ihrer wohlhabenden Freunde
und Bekannten und die Pick-ups der Farmer, die Horatio
und Ruth Bingham eingeladen hatten. An den altmodischen
Kleidern und den verknitterten Sonntagsanzügen
erkannte man die weniger begüterten Farmer
sofort.
»Lass dich bloß nicht von Benjamin erwischen!«, rief
ihr einer der MacAllisters fröhlich zu. »Es bringt großes
Unglück, der Braut vor der Trauung zu begegnen.«
Im Vorraum empfing sie ein Kirchendiener und
führte sie in einen Nebenraum gleich neben dem Ein-
gang. »Alles Gute, mein Schatz!«, bekam Clara von ihrer
Tante zu hören. »Glaub mir, du hast die richtige
Wahl getroffen.«
Clara hätte am liebsten geantwortet, dass man ihr
überhaupt keine Gelegenheit gegeben hatte, eine Wahl
zu treffen, und Benjamin es nicht einmal für nötig erachtet
hatte, ihr einen förmlichen Heiratsantrag zu machen.
Er setzte ihre Zustimmung als selbstverständlich
voraus, als müsste sie dankbar sein, den großen Benjamin
Carew heiraten zu dürfen. Doch sie begnügte sich
mit einem freundlichen Nicken und setzte sich an den
einfachen Holztisch, auf dem ein Krug mit Wasser und
einige Gläser bereitstanden. Sie schenkte sich etwas
Wasser ein und trank einen Schluck, dabei umklammerte
sie ihre Handtasche, als wäre ihr Inhalt noch
wichtiger als der Diamantring an ihrem Finger.
Ihr Onkel sollte sie zum Altar führen und wartete
schon nervös neben der Tür. Er war viel zu aufgeregt,
um sich zu setzen. Alle paar Minuten öffnete er die Tür,
sagte etwas wie »Die MacAllisters sind auch schon da!«,
und schloss sie rasch wieder, wenn jemand in seine
Richtung blickte. Vor allem die Carews hatten zahlreiche
Verwandte, Freunde und Bekannte, aber auch
Geschäftspartner, und im Vorraum wimmelte es von
Menschen. Die Kirche würde bis auf den letzten Platz
besetzt sein, eine Vorstellung, die Clara schwer zu
schaffen machte. Konnte sie es sich erlauben, diese vielen
Hochzeitsgäste zu enttäuschen? War es nicht ihre
Pflicht, die folgsame Braut zu spielen und strahlend
neben Benjamin vor den Altar zu treten? Warum hatte
sie ihn nicht früher abgewiesen, wenn sie Vorbehalte
gegen ihn hatte?
Sie blickte ihren Onkel verstohlen von der Seite
an. Ihm und ihrer Tante hatte sie alles zu verdanken,
vor allem ihre Ausbildung, die sehr viel Geld gekostet
hatte. Onkel Horatio und Tante Ruth hatten sie nach
dem überraschenden Tod ihrer Eltern aufgenommen,
sie einige Monate später sogar adoptiert. Keine Selbstverständlichkeit
in diesen schweren Zeiten. Als Adoptiveltern
waren sie auch finanziell für sie verantwortlich.
Nur einen Tag, nachdem man die verbrannten
Leichen ihrer leiblichen Eltern in den Trümmern des
niedergebrannten Farmhauses gefunden hatte, waren
sie zum Amt gegangen und hatten die Papiere unterschrieben.
Dafür würde ihnen Clara ewig dankbar sein,
auch wenn sie ihre Schuld mit harter Feldarbeit zurückgezahlt
hatte. Sie konnten nicht erwarten, dass sie
Benjamin allein wegen des Geldes heiratete und ihnen
mit dem Geld ihres Ehemannes half, ihre verschuldete
Farm zu retten.
Der Kirchendiener öffnete die Tür und rief mit gedämpfter
Stimme: »Es ist so weit!« Sein mühsam verhaltenes
Grinsen ließ erkennen, wie sehr er sich über
den nervösen Onkel amüsierte, doch sein Blick folgte
Clara bis zwischen die Sitzreihen. Obwohl ihr Brautkleid
etwas aus der Mode war, sah sie wunderschön aus,
und seltsam war nur die wilde Entschlossenheit, die in
ihren Augen aufblitzte. Als würde sie vor einen Richter
und nicht vor einen Pfarrer treten. Sie war anders als
die anderen Bräute, nicht so verträumt und verklärt.
Hätte er gewusst, was wirklich in Clara vorging, hätte
er vielleicht versucht, den Pfarrer durch einen Blick zu
warnen, oder er wäre in plötzlich aufkommender Panik
davongelaufen. So aber verwechselte er ihre Entschlossenheit
mit Stolz, denn immerhin hatte sie einen der
erfolgreichsten und wohlhabendsten Geschäftsleute
im Salinas Valley geheiratet. Die Carews waren keine
Farmer, sie besaßen einen erfolgreichen Industriebe-
trieb, verpackten Unmengen von Salat und verschifften
ihn in firmeneigenen gekühlten Waggons bis zur
Ostküste. Die Braut, dachte der Kirchendiener, hatte für
alle Zeiten ausgesorgt. Etwas neidisch blickte er ihr und
ihrem Onkel hinterher.
Zu den Klängen von »Here Comes the Bride« schritten
Clara und ihr Onkel zum Altar. Beinahe mechanisch
setzte sie einen Fuß vor den anderen, wie ein Roboter,
der darauf programmiert war, vor den Altar zu
treten, und nur vage nahm sie die Hochzeitsgäste in
den Bankreihen wahr. Die MacAllisters, der Direktor ihrer
Schule mit seiner Frau, eine liebe Kollegin. Sie durfte
diese Menschen nicht enttäuschen, sie war ihnen verpflichtet.
Sie alle freuten sich mit ihr und waren stolz
darauf, sie mit einem der begehrenswertesten Junggesellen
der Stadt verheiratet zu sehen. »Du hast es geschafft,
Clara!«, hatte sie von mehreren Kolleginnen
gehört. »Jetzt kann dir nichts mehr passieren.«
Durch einen Tränenschleier sah sie Benjamin vor
dem Altar stehen. Er lächelte erwartungsvoll. Aus seinen
Augen strahlte keine Wärme, eher männlicher
Stolz, die junge Frau, der man den Hof gemacht hatte,
in seinen Besitz gebracht zu haben. Sie blieb zögernd
stehen, am liebsten wäre sie weggerannt und glaubte
bereits zu sehen, wie einige Hochzeitsgäste erschrocken
die Luft einsogen, doch ein leichter Klaps ihres Onkels
ließ sie weiterlaufen, bis sie an der ersten Reihe vorbeikam
und den stolzen Blick ihrer Tante auf sich gerichtet
sah. »Viel Glück, Clara!«, las sie von ihren Lippen
ab.
Unentschlossen trat Clara neben ihren Bräutigam,
sie wagte kaum, ihn anzublicken, und errötete leicht,
als sie einen leichten Zweifel in seinen Augen entdeckte.
Sie war in einer Sackgasse und fühlte sich wie
ein Tier, das man in die Enge getrieben hatte. Warum
hatte sie sich auf diese Hochzeit eingelassen? Warum
hatte sie das Brautkleid angezogen? Warum hatte sie
ihm nicht schon vor Wochen gesagt, dass sie die falsche
Frau für ihn war? In ihrem Kopf purzelten die
Gedanken wild durcheinander, eine seltsame Unruhe
breitete sich aus, die wie ein Gift in ihr Blut drang und
durch ihren ganzen Körper wanderte. Sie schloss für einen
Augenblick die Augen, öffnete sie wieder, sah alles
nur noch verschwommen und hörte die Stimme des
Pfarrers wie aus weiter Ferne.
Der Pfarrer deutete ihre Panik falsch und versuchte,
sie mit einem verständnisvollen Lächeln zu beruhigen,
doch Clara blickte durch ihn hindurch und schien ihn
gar nicht wahrzunehmen. Sie hörte nicht, was er sagte,
welche Bibelstellen er zitierte, und horchte erst auf, als
er den offiziellen Treueschwur verlas. »Ich, Benjamin
Carew«, wiederholte ihr Bräutigam feierlich, »nehme
dich, Clara, zu meiner angetrauten Frau, will dich von
diesem Tage an lieben, in guten wie in schlechten Tagen
...« Sie schloss erneut die Augen, als könnte sie
damit die Wirklichkeit ausblenden, nur um sie nach
einigen Sekunden wieder zu öffnen und ihn sagen zu
hören: »So wahr mir Gott helfe.«
Sie suchte verzweifelt nach einem Ausweg, als sie
das stolze Lächeln ihres Bräutigams bemerkte, und der
Pfarrer sich an sie wandte: »Sprich mir nach«, hörte
sie ihn sagen. »Ich, Clara Bingham ...« Sie zögerte einen
Augenblick und wiederholte dann mechanisch:
»Ich, Clara Bingham ...« Der Pfarrer schien zu spüren,
dass etwas nicht stimmte, und blickte sie prüfend an,
sprach aber nach einer kaum merklichen Pause weiter.
»... nehme dich, Benjamin Carew ...«
»... nehme dich ...«, wiederholte sie langsam, dann
richtete sie ihren Blick plötzlich auf Benjamin und
drehte sich zu den Hochzeitsgästen um. Sie blickte in
die erwartungsvollen Gesichter, sah wieder den Pfarrer
an und begann zu weinen. »Ich kann nicht«, sagte sie.
Zuerst klang ihre Stimme schüchtern und so leise,
selbst der Pfarrer und Benjamin konnten sie kaum verstehen,
dann jedoch wurde sie so laut und schrill, dass
es alle hörten und ihre Worte als vielfaches Echo durch
die Kirche geisterten: »Ich kann nicht! Ich kann dich
nicht heiraten, Benjamin! Ich kann nicht!« Sie zog den
Diamantring vom Finger und ließ ihn fallen, riss ihren
Schleier vom Kopf und rannte davon, an den entsetzten
Hochzeitsgästen vorbei zum Ausgang. Weinend riss
sie eine der Flügeltüren auf und lief nach draußen.
Ein schriller Orgelton, als hätte der Organist vor Entsetzen
beide Hände auf die Tastatur fallen lassen, begleitete
sie auf die Straße. Von Panik getrieben, hetzte
sie auf die andere Seite und durch einen Park, verfolgt
von den neugierigen und belustigten Blicken einiger
Eltern, die mit ihren Kindern auf den Spielplatz gekommen
waren. Ihre Handtasche wie ein kostbares Kleinod
umklammert, erreichte sie die Main Street und sah,
wie der Bus nach Monterey aus einer Seitenstraße bog
und langsam an Fahrt gewann. In der Gewissheit, sich
niemals mehr bei ihren Adoptiveltern oder den Carews
sehen lassen zu können, lief sie auf die Straße und
stoppte den Bus mit erhobenen Händen.
Der Busfahrer trat auf die Bremse und öffnete die Tür.
Er blickte sie überrascht an. »Sind Sie sicher, dass Sie bei
mir richtig sind, Ma'am?«, fragte er.
Ihr war nicht nach Scherzen zumute. Sie stieg hastig
in den Bus, kramte einen Dollarschein aus ihrer Handtasche
und ließ ihn auf den Schoß des Fahrers fallen.
»Nun fahren Sie doch endlich, Mister!«, drängte sie
ihn, den Blick ängstlich nach hinten gewandt. »Ich
muss hier so schnell wie möglich weg!«
»Den Eindruck habe ich auch«, konnte es der Fahrer
nicht lassen. Er schloss die Tür und fuhr weiter, ein
breites Grinsen auf dem Gesicht, als hätte er soeben
das große Los gezogen. »Wohin soll's denn gehen,
Ma'am?«
»Santa Cruz«, erwiderte sie, während sie sich auf einen
der vorderen Sitze fallen ließ. Die verdutzten Mienen
der anderen Fahrgäste sah sie nur im runden Innenspiegel
über dem Armaturenbrett. Sie kümmerte
sich nicht darum.
Der Fahrer schaltete in den zweiten Gang und blickte
in den Seitenspiegel. Ein Lastwagen zuckelte an ihm
vorbei. »Umsteigen in Monterey«, erklärte er, »der Bus
nach Santa Cruz fährt vom selben Busbahnhof ab.« Er
suchte nach ihrem Gesicht im Innenspiegel und musterte
sie nachdenklich. »Es geht mich ja nichts an,
Ma'am, aber falls Sie aus der Kirche weggerannt sind,
kommen Sie in dem Aufzug nicht weit. In dem Brautkleid
sind Sie nicht zu übersehen, man findet Sie bestimmt.«
»Sie haben recht, Mister. Es geht Sie nichts an.«
»Wie Sie wollen«, reagierte der Fahrer ein wenig beleidigt,
»ich wollte Ihnen nur empfehlen, sobald wie
möglich das Kleid zu wechseln. Sonst könnten Sie auch
gleich ein Schild mit der Aufschrift ›Hier bin ich!‹ hochhalten.
Wenn Sie tatsächlich Ihrem Bräutigam davongelaufen
sind und sich vor ihm und seinen Verwandten
verstecken wollen, wäre ich ein wenig vorsichtiger.«
»Sie scheinen sich ja gut auszukennen.«
Der Fahrer drehte mit beiden Händen an dem großen
Lenkrad und bog auf den Highway nach Monterey.
Er presste die Lippen aufeinander, bevor er antwortete.
»Ich war zwanzig Jahre mit der falschen Frau verheiratet,
Ma'am. Ich wollte, ich wäre damals auch aus der
Kirche gelaufen. Jetzt sind wir geschieden, sie hat unsere
Kinder, und ich hocke allein in einem Apartment.«
Sie nickte nur und blickte aus dem Fenster, sie verspürte
keine Lust, sich die Lebensgeschichte des Fahrers
anzuhören. Die Stadt lag bereits hinter ihnen, und abseits
der Straße erstreckten sich endlose Salatfelder. Ob
sie zur Riesenfarm der Carews gehörten, wusste sie
nicht, vermutete es aber. Fast alle Salatfelder in der näheren
Umgebung von Salinas gehörten der Familie, in
die sie beinahe eingeheiratet hätte. Sie kicherte leise.
Nur eine Verrückte rannte vor der Trauung mit einem
mehrfachen Millionär davon. So würde es in den Zeitungen
stehen, und so würden auch ihre Adoptiveltern
und alle ihre Freunde und Bekannten über sie urteilen,
und vielleicht war sie ja wirklich verrückt. Wer sonst
kam auf die Idee, das sonnige Kalifornien zu verlassen,
um fernab der Zivilisation in der Wildnis von Alaska
die Kinder verlauster Goldgräber und Indianer zu unterrichten?
»Weil ich eine neue Herausforderung suche
«, hatte sie dem Vertreter des Indianerbüros auf
diese Frage geantwortet und dabei nur die halbe Wahrheit
gesagt. Sie wollte mit der Vergangenheit brechen
und in dem abgelegenen Territorium ein vollkommen
neues Leben beginnen.
Sie presste ihr Gesicht gegen das Fenster und versuchte,
nach hinten zu blicken. In einer scharfen
Rechtskurve stellte sie erleichtert fest, dass ihnen niemand
folgte. Ihre Adoptiveltern würden annehmen,
dass sie sich irgendwo in der Stadt versteckt hielt oder
durch die Felder auf die Farm zurückgelaufen war. Es
war alles ein bisschen viel für sie, würden sie zu den Carews
sagen, sie hat für einen Augenblick die Nerven
verloren und kommt bestimmt zurück. Bis sie herausfanden,
dass sie die Hochzeit tatsächlich hatte platzen
lassen, würde einige Zeit vergehen, und noch länger
würde es dauern, bis ihre Kollegin verriet, dass sie
wahrscheinlich auf dem Weg ins ferne Alaska war.
In der Ferne glitzerte bereits der Pazifik. Die Lehmhäuser
der kleinen Stadt hoben sich schemenhaft gegen
die wogenden Hitzeschleier ab, wie eine Oase in
der endlosen Wüste. Nur dass auch Monterey von
fruchtbaren Feldern und Obstbäumen umgeben war
und es zwischen den Reihen mit den grünen Salat-
köpfen und in den Plantagen von Erntearbeitern wimmelte,
meist Mexikanern, die über die Grenze nach
Kalifornien gekommen waren. Auch sie hatten ihre
Heimat verlassen, ließen vielleicht sogar ihre Frauen
und Kinder zurück, um in den Vereinigten Staaten
neues Glück zu finden. Sie ging nicht des Geldes wegen,
beim Ausfüllen des Antrags hatte sie nicht mal den
Hintergedanken gehabt, vor Benjamin und seinem goldenen
Käfig zu fliehen. Lediglich das Abenteuer hatte
sie gereizt, wie die Siedler im 19. Jahrhundert die Zivilisation
zu verlassen und zur Besiedlungsgrenze in der
Wildnis vorzustoßen.
Erst an diesem Morgen war ihr klar geworden, wie
wenig sie Benjamin liebte und welchen Fehler sie mit
einer Heirat begehen würde. Ein dummes Mädchen
vom Lande, das sich von einem reichen Junggesellen
einfangen ließ und ihm blind in eine Ehe folgte, die
ihr kaum Freiheiten gewähren würde. Was war schon
ein sorgenfreies Leben gegen das Gefühl, das tun zu
können, was man wirklich wollte, den Zwängen eines
strengen Elternhauses zu entfliehen und erst einmal
auf eigenen Beinen zu stehen, bevor man daran dachte,
einen Mann zu heiraten. Nur noch aus Liebe würde
sie einem Mann in die Ehe folgen, nur ihre Gefühle
durften von jetzt an über einen solchen Schritt entscheiden.
Natürlich würden die Carews alle Hebel in Bewegung
setzen, um sich für diese Schmach zu rächen. Sie würden
böse Gerüchte über sie in die Welt setzen und sie
in der Presse anschwärzen, vielleicht sogar das Schulgremium
einschalten. Wenn sie geblieben wäre, hätte
man sie von der Schule geworfen oder strafversetzt
oder sie mit Schimpf und Schande aus der Gegend vertrieben.
Aber eine schlimmere Strafe als eine Versetzung
in die Wildnis von Alaska hätte sich auch die
Schulbehörde nicht einfallen lassen können. »Seien Sie
beruhigt, Mister Carew«, würde der Supervisor sagen.
»Eine schlimmere Strafe als der Posten in Porcupine,
Alaska, gibt es in ganz Amerika nicht.«
In Monterey stieg sie um und fuhr nach Santa Cruz
weiter. Der Fahrer starrte sie genauso entgeistert an wie
sein Kollege auf der Fahrt nach Monterey, war aber
schweigsamer oder höflicher und verkniff sich eine Bemerkung.
Clara setzte sich auf die letzte Bank, spürte
minutenlang die Blicke aller übrigen Reisenden auf sich
gerichtet, bis sie das Interesse an ihr verloren und sich
wieder um ihre eigenen Dinge kümmerten. Durch das
schmale Rückfenster blickte sie auf den Highway. Sie
hatte immer noch Angst, den Chevrolet der Carews
oder das Cabriolet ihres Bräutigams zu entdecken, doch
der Highway war leer. Die Chance, dass sie das Dampfschiff
nach Alaska erreichte, bevor jemand von ihren
Plänen erfuhr, wurde mit jeder Meile größer.
Natürlich bestand die Möglichkeit, dass die Carews
ihre Wut an ihrer Tante und ihrem Onkel ausließen,
aber viel wahrscheinlicher war, dass man sie gar nicht
mehr beachtete. Sobald sie an Bord des Schiffes war,
würde sie einen Brief an ihre Adoptiveltern schreiben
und ihnen alles erklären. Nachdem ihr erster Ärger verraucht
war, würden sie ihre Motive verstehen. So hoffte
sie jedenfalls. Dennoch hätte sie es niemals gewagt, ihnen
von ihrem Plan zu erzählen, auch ohne die geplante
Hochzeit nicht. Sie hatten ihr eine Kindheit im
Waisenhaus erspart und sich vorbildlich um sie gekümmert,
aber sie waren auch besitzergreifend und erwarteten,
dass sie in ihrer Nähe blieb und ihnen half, die
schweren Zeiten, die vor allem den Farmern drohten,
zu überstehen.
Sie erreichten Santa Cruz am frühen Nachmittag.
Clara hatte keine Ahnung, wann die Skagway auslief,
und rannte hastig zu den Docks hinunter. Aufgeregt betrat
sie das Büro der Alaska Steamship Company. Sie
ignorierte die verwunderten Blicke der Bürovorsteherin,
die wohl zu gerne gewusst hätte, warum sie ein
Brautkleid trug, und sagte: »Ich bin Clara Keaton. Für
mich müsste ein Ticket nach Alaska hinterlegt sein.«
Sie deutete auf ein Kalenderfoto der Skagway neben
dem Fenster. »Wann stechen wir denn in See?«
Die Bürovorsteherin zog das reservierte Ticket aus
einem Fach und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid,
Ma'am, aber die Skagway hat vor einer halben Stunde
abgelegt. Das nächste Schiff nach Alaska geht in zwei
Wochen ...«
3
Clara fühlte den Boden unter ihren Füßen schwanken.
Sie starrte die Bürovorsteherin entgeistert an, als hätte
sie soeben vom Tod eines geliebten Menschen gehört,
und wiederholte mit monotoner Stimme: »In zwei
Wochen?«
Die Wanduhr neben dem Schalter tickte laut.
»Es gibt vielleicht noch eine Möglichkeit, das Schiff
zu erreichen«, sagte die Bürovorsteherin. Sie hatte wohl
gemerkt, wie dringend Clara aus Santa Cruz wegkommen
wollte. »Der Zug nach San Francisco fährt in zehn
Minuten. Wenn Sie den erreichen, und er kommt
pünktlich in San Francisco an, schaffen Sie es vielleicht
noch zum Hafen. Garantieren kann ich das nicht ...«
»Wo ist der Bahnhof?«, fragte Clara. »Gibt es hier ein
Taxi?«
»Nein, aber Jack kann Sie fahren.« Sie hob ihre
Stimme. »Jack! Hol den Wagen aus der Garage, und
fahr die Dame zum Bahnhof. Sie hat es eilig.«
Der Laufbursche war kein besonders guter Autofahrer
und würgte an einer Kreuzung sogar den Motor ab,
setzte sie aber rechtzeitig am Bahnhof ab und brachte
sie sogar noch zum Zug. Sie gab ihm einen Quarter und
setzte sich ans Fenster, hinter ein älteres Ehepaar, das
sie verwirrt anstarrte und nur aus Höflichkeit nicht
fragte, was eine junge Braut in einem Zug suchte. Clara
hatte keine Lust, sich auf ein längeres Gespräch einzulassen,
und sagte es weder ihnen noch dem neugierigen
Schaffner, bei dem sie ihr Ticket kaufte.
Der Zug gewann langsam an Fahrt. Die schwere
Dampflok schien große Mühe zu haben, die Wagen aus
dem Bahnhof zu ziehen. Dunkle Rauchschwaden zogen
an den Fenstern vorbei und hinderten Clara daran,
aus dem Fenster zu blicken. Erst als sie die Außenbezirke
von Santa Cruz erreichten, wurde der Rauch
durchlässiger. Westlich der Schienen fiel das Land steil
zur Küste ab, und auf Claras Seite bot sich das gleiche
Bild wie während der Busfahrt: ein einsamer Highway
und scheinbar endlose Salatfelder und Obstplantagen.
Die Sonne strahlte vom blauen Himmel und zauberte
wabernde Hitzeschleier auf den Highway, der dicht neben
den Schienen entlangführte.
Clara blickte nervös aus dem Fenster. Ihre Angst, von
den Carews eingeholt und zur Rede gestellt zu werden,
war noch immer groß. Sie kam sich wie eine gefährliche
Bankräuberin vor, die vor der Polizei oder dem FBI
auf der Flucht war und ständig nach Verfolgern Ausschau
halten musste.
Sobald herauskam, dass sie nach Alaska wollte,
würde Benjamin sie verfolgen und zur Rede stellen,
schon allein, um seinen ramponierten Ruf wiederherzustellen.
Als begehrter Junggeselle, der sich viel auf
sein gutes Aussehen und seine gesellschaftliche Stellung
einbildete, konnte er nicht zulassen, dass ihn ein
einfaches »Mädchen vom Lande« öffentlich zum Gespött
der Leute machte.
Niemand konnte sie zwingen, nach Salinas zurückzukehren,
weder Benjamin Carew noch ihre Adoptiveltern,
und niemand außer der Schulbehörde wäre berechtigt,
sie an ihrer Reise nach Alaska zu hindern. Und
die war sicher froh, überhaupt eine Lehrerin für diesen
abgelegenen Posten gefunden zu haben. Doch allein
der Gedanke, nach dem Eklat in der Kirche noch ein
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Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Projektleitung: librisco consult, München
Redaktion: Ingola Lammers
Umschlaggestaltung: zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Corbis, Düsseldorf (© Beat Glanzmann);
Shutterstock (© Geoffrey Kuchera; © Mihai Simonia)
Satz: Lydia Kühn
Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-421-2
2013 2012 2011 2010
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Christopher Ross
- 2010, 1, 270 Seiten, Maße: 13,1 x 20,9 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004211
- ISBN-13: 9783868004212
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