Jessica - Die Insel der verlorenen Liebe
Band 5
Eine Erfolgs-Serie: Bisher fast 100.000 Exemplare der Reihe verkauft!
Mitchell Hamilton ist verzweifelt: Er ist von Rebellen von seiner Farm vertrieben worden und muss sich nun vor den neuen Machthabern verstecken. Doch noch schlimmer...
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Produktinformationen zu „Jessica - Die Insel der verlorenen Liebe “
Eine Erfolgs-Serie: Bisher fast 100.000 Exemplare der Reihe verkauft!
Mitchell Hamilton ist verzweifelt: Er ist von Rebellen von seiner Farm vertrieben worden und muss sich nun vor den neuen Machthabern verstecken. Doch noch schlimmer ist für ihn, dass er von seiner großen Liebe Jessica getrennt ist. Und auch Jessica hat nur einen Wunsch: Ihren Liebsten wieder in die Arme zu schließen.
Lese-Probe zu „Jessica - Die Insel der verlorenen Liebe “
Jessica - Die Insel der verlorenen Liebe von Ashley CarringtonAUSTRALIEN
April 1808
1
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Es war nicht richtig, was er tat, und Mitchell Hamilton wusste es. Doch er konnte seinen Blick einfach nicht von ihrem nackten Körper abwenden.
Das Bild, das sich ihm auf der versteckten Lichtung am Goose Neck Creek im warmen Licht der Abendsonne bot, nahm ihn gefangen und ließ ihn vorübergehend vergessen, dass er ein Gentleman und diese junge Frau dort die Tochter des Mannes war, der ihn in seinem schäbigen Haus fern der nächsten Siedlung aufgenommen hatte und ihn vor seinen Feinden versteckte, die ihn am liebsten tot oder doch zumindest im Gefängnis von Sydney gesehen hätten. Dass Cedric Blunt sich für seine Dienste bezahlen ließ und ein verschlossener, wenig umgänglicher Mann war, änderte nichts daran, dass er ihm zu großem Dank verpflichtet war und auch seiner siebzehnjährigen Tochter Sarah. Sie hatte sich, anders als ihr Vater, in den vergangenen Wochen und Monaten liebevoll um sein Wohlbefinden gekümmert, soweit das ihre armseligen Lebensumstände zuließen. Und nun vergalt er ihr all die Herzlichkeit und Gastfreundschaft, indem er sie dabei beobachtete, wie sie sich am Ufer des Baches auszog.
Er war Sarah jedoch nicht zu diesem abgeschiedenen Ort im Wald gefolgt. Zumindest das konnte er zu seiner Entlastung vorbringen. Er war ganz zufällig auf sie gestoßen, als er sich an diesem Nachmittag weiter als gewöhnlich von der Heimstatt des Töpfers Cedric Blunt entfernt, die Kuppe eines Berges erklommen, dort die Aussicht genossen, ein paar Skizzen angefertigt und dann einen weiten Bogen geschlagen hatte, der ihn auf einem neuen Weg zu seinem Versteck auf Van Diemen's Land zurückführen sollte. Er war die altvertrauten Wege, auf die er sich schon seit über zweieinhalb Monaten beschränken musste, einfach leid gewesen. Und so war er dann auf dem Rückmarsch auf Sarahs geheimen Badeplatz gestoßen. Sie waren fast zur selben Zeit an diesen Ort gekommen, wenn auch aus genau entgegengesetzten Richtungen.
Mitchell Hamilton stand am östlichen Rand der Lichtung, die der kleine Fluss von Nord nach Süd durchschnitt und in zwei fast gleich große Hälften teilte. Zwei mächtige Karribäume, die weit in den Himmel aufragten, warfen ihren Schatten auf ihn. Und dichter Farn, der teilweise bis über seinen Kopf reichte, bot ihm einen idealen Schutz, nicht bemerkt zu werden.
Sarah kam geradewegs aus der Töpferei. Ein langer erschöpfender Arbeitstag am Brennofen lag hinter ihr. Mitchell hatte am Morgen mitbekommen, wie Cedric sie auf seine mürrische Art ermahnt hatte, beim Brennen der Krüge und Schüsseln diesmal noch mehr Sorgfalt walten zu lassen, weil seine Kundschaft in Hobart jede Nachlässigkeit zum Anlass nahm, einen Preisnachlass zu verlangen. Ihr altes Kattunkleid, das sie an diesen Tagen trug, wo sie am Brennofen stand, war von unzähligen kleinen Brandlöchern übersät und schon so oft geflickt worden, dass es fast mehr vom Garn der Flicken als vom ursprünglichen Tuch zusammengehalten wurde. Von der graublauen Farbe des Stoffes war nicht mehr viel zu sehen. Das Schwarz der Holzkohle und das Rotbraun der Tonerde hatten sich auf dem Kattun zu einer schmutzig braunen Farbe vermischt, die aus dem Kleid nicht mehr herauszuwaschen war, wie sehr sie sich auch darum bemühte.
Noch im Gehen löste Sarah den Gürtel aus geflochtenem Hanf und öffnete die Reihe der selbst geschnitzten Hornknöpfe im Rücken. Mit einer geradezu ungeduldigen Bewegung, als habe sie den ganzen Tag sehnsüchtig nur auf diesen Moment gewartet, streifte sie dann das verschwitzte Kleid von den Schultern und legte es mit der ihr eigenen Sorgfalt über den Ast eines jungen Baumes in Ufernähe.
Unter dem Kleid trug sie als Leibwäsche nur ein dünnes, verschlissenes Leibchen und eine Hose aus einfachem Leinen, die ihr bis zu den Knien reichte. An ihrer Kleidung gab es nichts, was auch nur im Ansatz reizend ausgesehen hätte. Sie als schlicht zu bezeichnen wäre noch eine Übertreibung gewesen. Ihre Kleidungsstücke waren einfach erbärmlich armselig. Dabei war ihr Vater kein armer Mann. Er hätte es sich schon erlauben können, seiner Tochter ein paar Längen guten Stoffes zu kaufen, damit sie sich neue Sachen nähen konnte. Doch er war so geizig, wie er verschlossen war. Nicht von ungefähr hatte er sich auf Van Diemen's Land, der großen Insel vor der Südostspitze Australiens, weit ab von der nächsten Siedlung niedergelassen. Er vermochte der Gesellschaft anderer so wenig abzugewinnen wie der Sauberkeit oder einem hübschen Kleid für sein einziges Kind.
Eine Welle von Mitgefühl und Bedauern ergriff Mitchell, als er sie in diesen Lumpen sah, derer sie sich nun schnell entledigte, als fühlte auch sie, dass sie sogar einem armen Töpfermädchen wie ihr unwürdig waren. Und als sie dann in völliger Nacktheit in der warmen Abendsonne dieses Herbsttages stand, wurde er sich zum ersten Mal bewusst, dass sie nicht nur bescheiden und von herzlichem Wesen war, sondern auch einen sehr weiblichen, wohlgeformten Körper besaß.
Er hatte ihr von Anfang an Zuneigung entgegengebracht und sich an ihrer jugendlichen Frische und liebevollen Art, die sich so wohltuend von der ihres Vaters unterschied, erfreut, wie er sie auch bei jedem anderen jungen Mädchen geschätzt hätte. Doch er hatte sie nie mit den Augen eines Mannes gesehen und sich kaum klargemacht, dass sie in Wirklichkeit dem Mädchenalter längst entwachsen und schon eine junge Frau war.
Diese Erkenntnis und die Tatsache, dass er seinen Blick nicht von ihr wenden konnte, verwirrten ihn. Irgendein magischer Bann ruhte auf ihm und veranlasste ihn, zwischen den Farnen reglos zu verharren und sich an ihrer Nacktheit zu berauschen, die etwas in ihm erregte, was er nicht begreifen, geschweige denn zu benennen vermochte. Sarahs unverhüllter Körper mit all seinen Reizen war ihm fremd und vertraut zugleich, und das steigerte seine Verwirrung, in die ihr Anblick ihn stürzte.
Sarah stand am Bach, der an dieser geschützten Stelle eine wannenartige Ausbuchtung im felsigen Bett aufwies, und wandte ihm ihre linke Seite zu. Deutlich sah er ihre Brüste, die voll, aber von nicht zu üppiger Fülle waren, und die dunklen Höfe, die sich mit ihren Knospen nach oben reckten. Sein Blick folgte dem anmutigen Schwung ihrer Hüften, verweilte kurz auf dem hellen lockigen Vlies zwischen ihren Beinen und wanderte von den schlanken Fesseln wieder hoch zu ihrem Gesicht. Es war mit seinen klaren Zügen, den braunen Augen, der etwas zu kräftigen Nase und dem stark ausgeprägten Mund zwar nicht ausgesprochen hübsch, aber auf einnehmende Weise offen und ansprechend.
Sie knotete gerade ihr kariertes Kopftuch auf und schüttelte dann befreit den Kopf. Eine Flut goldener Locken ergoss sich über ihre Schultern, die von der täglichen harten Arbeit breiter und kräftiger waren, als es dem allgemeinen Schönheitsideal der Zeit entsprach. Aber hier in der Wildnis von Van Diemen's Land gab kaum einer der freien Siedler und Sträflinge, die das Land bebauten oder ein Handwerk betrieben, etwas auf solche Dinge. Schon gar nicht ein Mann wie Cedric Blunt.
Das blonde Haar flog wie Goldregen durch die Luft, und Sarah ahnte nicht, dass sie mit dieser befreienden Bewegung bei ihrem heimlichen Beobachter und verstörten Bewunderer eine Flut sehnsüchtiger, schmerzlicher Erinnerungen auslöste.
Mitchell starrte wie hypnotisiert zu ihr hinüber. Sarahs Gesichtszüge verschwammen auf einmal vor seinen Augen, und ein anderes Gesicht erschien vor seinem inneren Auge. Es war das Gesicht der Frau, die er liebte und deretwegen er sich mit dem verfluchten Lieutenant Ken Forbes duelliert hatte.
Jessica!
»Jessica!« Er merkte gar nicht, dass er ihren Namen leise aussprach, während seine Hände das Skizzenbuch so fest umklammerten, als wollte er es zerquetschen.
Als Sarah sich hinkniete, ihr Gesicht mit dem klaren Wasser des Baches benetzte und sich dann in die wannenähnliche Vertiefung des Bachbettes setzte, glaubte er, seine geliebte Jessica vor sich zu haben. Ein versonnenes Lächeln trat in seine Augen, die von einem unglaublichen Blau waren, als Sarah ihren Körper mit einer Handvoll feinem Flusssand einrieb und säuberte. Das Wasser reichte ihr gerade bis unter die Brust, und sie saß ihm zugewandt. Wenn sie den Kopf etwas gehoben und ihren Blick auf das Feld der Farne auf der anderen Seite des Goose Neck Creek gerichtet hätte, hätte er ihr direkt in die Augen sehen können.
Begehren loderte in ihm auf wie eine Flamme, die bei einem starken Windzug aus der Glut eines heruntergebrannten Feuers hochschießt, als sie sich etwas vorbeugte, ein Stück aus einem dichten Mooskissen riss, das einen Baumstumpf überwuchert hatte, und es wie einen Schwamm benutzte. Sie fuhr damit über Schultern und Brüste. Es waren sanfte Bewegungen, die gerade wegen ihrer Unschuld etwas ungeheuer Erregendes an sich hatten.
Mitchell verspürte den fast unwiderstehlichen Drang, sein Versteck zu verlassen, die Kleider von sich zu werfen und Jessica in seine Arme zu schließen, sich dort am Ufer des kleinen Flusses mit ihr zu vereinigen.
Doch dann riss der Schleier vor seinen Augen, und Schamesröte schoss ihm ins Gesicht, als er sich seines wilden sinnlichen Begehrens bewusst wurde, das Sarahs nackter Körper in ihm geweckt hatte. Er kam sich auf einmal schmutzig und gemein vor, dass er sie bei ihren intimen Waschungen beobachtet und sich von ihrer Nacktheit so erregen ließ, dass es ihm in den Lenden schmerzte. Er war ihr etwas anderes schuldig als ein so unwürdiges, beschämendes Verhalten. Denn sie war es gewesen, die ihn aufopfernd gepflegt hatte, als ihn eine schwere Krankheit am Tage seiner Ankunft bei den Blunts niedergezwungen hatte und an den Rand des Todes gebracht hatte. Von der schweren Schussverletzung, die Lieutenant Forbes ihm beim Duell zugefügt hatte, war er kaum genesen gewesen, als er New South Wales von einem Tag auf den anderen hatte verlassen müssen, weil Kenneth Forbes ihn mit seinem Hass und der gefestigten Macht des rebellischen Offizierskorps verfolgt hatte. Die nasskalte Überfahrt an Bord des Schoners Comet hatte ihn zu viel Kraft gekostet und einen Rückfall verursacht. Dass er ihn überwunden hatte, verdankte er allein Sarah.
Abrupt wandte er sich um und zog sich in geduckter Haltung zurück. Er ging fünfzig, sechzig Schritte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war, und schlug dann einen nordöstlichen Bogen, der ihn in sicherer Entfernung um Sarahs zweifellos geheimen Badeplatz herum zur Heimstatt des Töpfers führte.
Cedric Blunt wusste bestimmt nichts davon, dass seine Tochter diesen Platz am Goose Neck Creek aufsuchte, und ganz gewiss hätte er es nicht gebilligt, dass sie sich dort splitternackt wusch. Er hielt nichts von übertriebener Sauberkeit, wie er seinem Gast oft genug zu verstehen gegeben hatte, und darunter verstand er das Wechseln und Waschen von Kleidern, Bettwäsche und Handtüchern öfter als einmal im Monat. Ständiges Waschen schade der Gesundheit eines Menschen und ruiniere nur den Stoff der Kleidung, hatte er seine Tochter mehr als einmal gerügt. Und erst als Mitchell sein monatliches Entgelt für Kost und Logis von zwölf auf vierzehn Shilling erhöhte, hatte sich der eigenbrötlerische Töpfer widerwillig bereit erklärt, ihm nun öfter frische Bettlaken und Handtücher zuzugestehen.
Gut zweihundert, dreihundert Yards weiter flussabwärts von der Stelle, wo Sarah sich den Schweiß und Dreck des Tages vom Körper spülte, überquerte er das munter dahinfließende Gewässer. Er umging ein Dickicht, das zu einer undurchdringlichen Mauer aus Dornen und graugrünem Blattwerk verfilzt war, und lenkte seine Schritte in Richtung der untergehenden Sonne, denn Cedric Blunts Heimstatt lag von hier aus im Westen. Die Landschaft diesseits des kleinen Flusses war ihm von zahlreichen Erkundungsgängen der letzten Wochen vertraut, aber er hätte auch so dank seines ausgezeichneten Orientierungssinnes ohne Schwierigkeiten nach Hause gefunden. Er konnte sich also ganz seinen Gedanken hingeben, während er ein von hohen Eukalyptusbäumen beherrschtes Waldstück durchquerte.
Er war derart in seine Gedanken versunken, dass er die Gestalt gar nicht bemerkte, die neben einem Gummibaum stand, dessen rissigen, grauen Stamm auch zwei Männer nicht hätten umfassen können.
Mitchell Hamilton fuhr deshalb zu Tode erschrocken zusammen, als der mittelgroße, sehnige Mann, der in dunklen derben Wollstoff gekleidet war und nur noch schütteres schwarzes Haar auf dem Kopf hatte, plötzlich wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte und ihm den Lauf seiner Flinte auf die Brust setzte.
Es war Cedric Blunt.
»Mein Gott, haben Sie mir vielleicht einen Schreck eingejagt!«, stieß Mitchell Hamilton hervor und wollte den Lauf der Flinte beiseiteschieben.
Doch der Töpfer erlaubte ihm das nicht. Mit der Kraft eines Mannes, der durch die schwere körperliche Arbeit, die er von Kindesbeinen an leisten musste, stählerne Muskeln besaß, hielt er den Lauf der Waffe auf die Brust des Mannes gerichtet, den er für Geld vor der Obrigkeit versteckte.
»Zum Henker! Hab' ich Sie erwischt!«, herrschte er ihn wutentbrannt an.
Die Erleichterung, die Mitchell nach dem ersten Schock empfunden hatte, wich augenblicklich wieder von ihm und machte einem Gefühl der Beklemmung, ja der Furcht Platz. Er blickte in das schmale Gesicht von Cedric Blunt, das von einem ungepflegten, schwarzen Bart eingerahmt wurde und die scharfen Züge eines Asketen trug. Zorn loderte in den Augen des Mannes, und Mitchell fragte sich voller Bangen, ob der Töpfer ihn wohl dabei beobachtet hatte, wie er dort zwischen den Farnen gestanden und zugeschaut hatte, wie sich seine Tochter völlig entblößte und wusch. War das der Fall, befand er sich in einer lebensgefährlichen Situation, auch wenn Cedric Blunt ihn nicht über den Haufen schoss. Es reichte schon, dass er ihn davonjagte. Wo sollte er schon hingehen, ein Fremder, den keiner von Bord eines Schiffes hatte gehen sehen?
»Ich verstehe Sie nicht, Mister Blunt«, erwiderte er vorsichtig und innerlich angespannt in Erwartung dessen, was ihn erwarteten mochte.
»Der Teufel soll Sie holen, Mister Prescott!« James Prescott war der Name, unter dem Sarah und ihr Vater ihn kannten. Doch beide wussten, dass er nicht wirklich so hieß. »Wie oft habe ich Ihnen gesagt, dass Sie sich gefälligst in der Nähe des Hauses aufzuhalten haben! Im Umkreis von einer Meile höchstens! Daran haben Sie sich, verdammt noch mal, auch zu halten, und wenn Sie zehnmal ein vornehmer Herr sind! Ich habe Ihnen meine Bedingungen von Anfang an genannt. Wenn sie Ihnen nicht mehr passen, steht es Ihnen frei, Ihre Sachen zu packen und sich anderswo ein Quartier zu suchen!«
Mitchell hatte Mühe, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Der Mann wusste nicht, dass er seine Tochter wie ein lüsterner Jüngling beim Nacktbaden beobachtet hatte. Deshalb fiel es ihm auch leicht, ein entschuldigendes Lächeln zustande zu bringen. »Ich bitte Sie vielmals um Verzeihung, Mister Blunt. Es lag mir fern, Ihre Anweisungen zu ignorieren und Ihren Zorn zu wecken. Und noch ferner liegt es mir, mich nach einem anderen Quartier umzusehen ... «
»Das glaub' ich Ihnen gern! Und ich bezweifle, dass Sie ein anderes finden, wenn Sie es versuchen würden. Auch nicht für zwei Pfund im Monat! Jeder freie Siedler wird Sie meiden wie die Pest, und ein Emanzipist wird Sie eher an den nächsten Konstabler verraten, als dass er es riskiert, wegen Komplizenschaft mit Ihnen noch einmal fünf, sechs Jahre Sträflingsketten tragen und sich für andere den Rücken krumm schuften zu müssen!«
Mitchell atmete tief durch. »Sie haben nicht ganz unrecht, Mister Blunt. Aber ich verstecke mich nicht wegen eines Verbrechens, dessen ich mich schuldig gemacht hätte, sondern einer persönlichen Fehde wegen«, erwiderte er, und es war das erste Mal in den zweieinhalb Monaten, dass er ein Wort über den Grund seiner Flucht von New South Wales nach Van Diemen's Land verlor. Und nur zu gerne hätte er gewusst, was Blunt Captain Patrick Rourke schuldete, dass er sich bereit erklärt hatte, ihn, den Fremden, bei sich zu verstecken.
Cedric Blunt machte mit der linken Hand eine herrische Bewegung, mit der er Mitchells Antwort wegwischte. »Ob Verbrechen oder persönliche Fehde! Wer sich, aus welchen Gründen auch immer, mit den neuen Machthabern in Sydney anlegt, und sei es auch noch so weit von hier, der muss nicht ganz klar im Kopf sein!«, sagte der Töpfer grimmig, ohne die Flinte auch nur einen Inch zur Seite zu nehmen. »Ja, ich riskiere meinen Kopf für Sie, und der ist mir im Zweifelsfall einiges mehr wert als die vierzehn Shilling, die Sie mir im Monat zahlen!«
»Sie können versichert sein, dass ich Ihre Gastfreundschaft und Ihre ... Diskretion sehr wohl zu schätzen weiß«, fuhr Mitchell Hamilton hastig fort. »Aber haben Sie auch ein wenig Nachsicht mit mir. Ich war auf der Suche nach neuen Motiven für mein Skizzenbuch, und dabei muss ich mich weiter von Ihrem Haus entfernt haben, als ich geglaubt habe. Ich habe mich einfach verschätzt.« Es war eine glatte Lüge, aber sie erschien ihm ratsamer als die Wahrheit, nämlich dass er es leid war, sich wie ein Gefangener in diesem Umkreis von einer Meile aufzuhalten.
Als er vor acht Jahren als freier Siedler mit dem Sträflingstransporter Tradewind, zu dessen menschlicher Fracht im vergitterten Zwischendeck auch Jessica gehört hatte, nach New South Wales gekommen war, der erst im Jahre 1788 gegründeten britischen Sträflingskolonie an der Ostküste Australiens, als er damals dieses fremde Land betreten hatte, war er gerade dreißig gewesen, voller Erwartungen, Hoffnungen und auch einigen Befürchtungen, und er hätte vieles für möglich gehalten. Er hätte jedoch nicht im Traum daran gedacht, dass er sich eines gar nicht allzu fernen Tages so sehr an die Großzügigkeit und scheinbar grenzenlose Weite dieses Landes, das zugleich aber auch voller Gefahren war, gewöhnt haben würde, um sich in einem Gebiet von einer Quadratmeile schon wie in eine Kerkerzelle eingesperrt zu fühlen. So sehr, wie er sich nach Jessica und ihrer Liebe verzehrte, so sehr fehlte ihm auch der tägliche Ausritt und die Arbeit auf seiner Farm MIRRA BOOKA, die er mit seinem Partner John Hawkley zu einem wahren Juwel unter den Farmen der jungen Kolonie gemacht hatte.
Es war jetzt April und damit Herbst in diesen südlichen Breiten, wo die Jahreszeiten auf dem Kopf zu stehen schienen und das Weihnachtsfest in den australischen Hochsommer fiel. Er durfte gar nicht daran denken, wie viel Arbeit gerade jetzt auf MIRRA BOOKA zu leisten war und wie sein älterer, von Gicht geplagter Partner John Hawkley ohne ihn zurechtkommen sollte. Denn praktisch hatte doch er, Mitchell, die letzten Jahre die Farm verwaltet. Das Sichverstecken und die erzwungene Untätigkeit an diesem abgeschiedenen Ort setzten ihm deshalb derart zu, als hätte man ihn wirklich eingekerkert.
Es war nicht richtig, was er tat, und Mitchell Hamilton wusste es. Doch er konnte seinen Blick einfach nicht von ihrem nackten Körper abwenden.
Das Bild, das sich ihm auf der versteckten Lichtung am Goose Neck Creek im warmen Licht der Abendsonne bot, nahm ihn gefangen und ließ ihn vorübergehend vergessen, dass er ein Gentleman und diese junge Frau dort die Tochter des Mannes war, der ihn in seinem schäbigen Haus fern der nächsten Siedlung aufgenommen hatte und ihn vor seinen Feinden versteckte, die ihn am liebsten tot oder doch zumindest im Gefängnis von Sydney gesehen hätten. Dass Cedric Blunt sich für seine Dienste bezahlen ließ und ein verschlossener, wenig umgänglicher Mann war, änderte nichts daran, dass er ihm zu großem Dank verpflichtet war und auch seiner siebzehnjährigen Tochter Sarah. Sie hatte sich, anders als ihr Vater, in den vergangenen Wochen und Monaten liebevoll um sein Wohlbefinden gekümmert, soweit das ihre armseligen Lebensumstände zuließen. Und nun vergalt er ihr all die Herzlichkeit und Gastfreundschaft, indem er sie dabei beobachtete, wie sie sich am Ufer des Baches auszog.
Er war Sarah jedoch nicht zu diesem abgeschiedenen Ort im Wald gefolgt. Zumindest das konnte er zu seiner Entlastung vorbringen. Er war ganz zufällig auf sie gestoßen, als er sich an diesem Nachmittag weiter als gewöhnlich von der Heimstatt des Töpfers Cedric Blunt entfernt, die Kuppe eines Berges erklommen, dort die Aussicht genossen, ein paar Skizzen angefertigt und dann einen weiten Bogen geschlagen hatte, der ihn auf einem neuen Weg zu seinem Versteck auf Van Diemen's Land zurückführen sollte. Er war die altvertrauten Wege, auf die er sich schon seit über zweieinhalb Monaten beschränken musste, einfach leid gewesen. Und so war er dann auf dem Rückmarsch auf Sarahs geheimen Badeplatz gestoßen. Sie waren fast zur selben Zeit an diesen Ort gekommen, wenn auch aus genau entgegengesetzten Richtungen.
Mitchell Hamilton stand am östlichen Rand der Lichtung, die der kleine Fluss von Nord nach Süd durchschnitt und in zwei fast gleich große Hälften teilte. Zwei mächtige Karribäume, die weit in den Himmel aufragten, warfen ihren Schatten auf ihn. Und dichter Farn, der teilweise bis über seinen Kopf reichte, bot ihm einen idealen Schutz, nicht bemerkt zu werden.
Sarah kam geradewegs aus der Töpferei. Ein langer erschöpfender Arbeitstag am Brennofen lag hinter ihr. Mitchell hatte am Morgen mitbekommen, wie Cedric sie auf seine mürrische Art ermahnt hatte, beim Brennen der Krüge und Schüsseln diesmal noch mehr Sorgfalt walten zu lassen, weil seine Kundschaft in Hobart jede Nachlässigkeit zum Anlass nahm, einen Preisnachlass zu verlangen. Ihr altes Kattunkleid, das sie an diesen Tagen trug, wo sie am Brennofen stand, war von unzähligen kleinen Brandlöchern übersät und schon so oft geflickt worden, dass es fast mehr vom Garn der Flicken als vom ursprünglichen Tuch zusammengehalten wurde. Von der graublauen Farbe des Stoffes war nicht mehr viel zu sehen. Das Schwarz der Holzkohle und das Rotbraun der Tonerde hatten sich auf dem Kattun zu einer schmutzig braunen Farbe vermischt, die aus dem Kleid nicht mehr herauszuwaschen war, wie sehr sie sich auch darum bemühte.
Noch im Gehen löste Sarah den Gürtel aus geflochtenem Hanf und öffnete die Reihe der selbst geschnitzten Hornknöpfe im Rücken. Mit einer geradezu ungeduldigen Bewegung, als habe sie den ganzen Tag sehnsüchtig nur auf diesen Moment gewartet, streifte sie dann das verschwitzte Kleid von den Schultern und legte es mit der ihr eigenen Sorgfalt über den Ast eines jungen Baumes in Ufernähe.
Unter dem Kleid trug sie als Leibwäsche nur ein dünnes, verschlissenes Leibchen und eine Hose aus einfachem Leinen, die ihr bis zu den Knien reichte. An ihrer Kleidung gab es nichts, was auch nur im Ansatz reizend ausgesehen hätte. Sie als schlicht zu bezeichnen wäre noch eine Übertreibung gewesen. Ihre Kleidungsstücke waren einfach erbärmlich armselig. Dabei war ihr Vater kein armer Mann. Er hätte es sich schon erlauben können, seiner Tochter ein paar Längen guten Stoffes zu kaufen, damit sie sich neue Sachen nähen konnte. Doch er war so geizig, wie er verschlossen war. Nicht von ungefähr hatte er sich auf Van Diemen's Land, der großen Insel vor der Südostspitze Australiens, weit ab von der nächsten Siedlung niedergelassen. Er vermochte der Gesellschaft anderer so wenig abzugewinnen wie der Sauberkeit oder einem hübschen Kleid für sein einziges Kind.
Eine Welle von Mitgefühl und Bedauern ergriff Mitchell, als er sie in diesen Lumpen sah, derer sie sich nun schnell entledigte, als fühlte auch sie, dass sie sogar einem armen Töpfermädchen wie ihr unwürdig waren. Und als sie dann in völliger Nacktheit in der warmen Abendsonne dieses Herbsttages stand, wurde er sich zum ersten Mal bewusst, dass sie nicht nur bescheiden und von herzlichem Wesen war, sondern auch einen sehr weiblichen, wohlgeformten Körper besaß.
Er hatte ihr von Anfang an Zuneigung entgegengebracht und sich an ihrer jugendlichen Frische und liebevollen Art, die sich so wohltuend von der ihres Vaters unterschied, erfreut, wie er sie auch bei jedem anderen jungen Mädchen geschätzt hätte. Doch er hatte sie nie mit den Augen eines Mannes gesehen und sich kaum klargemacht, dass sie in Wirklichkeit dem Mädchenalter längst entwachsen und schon eine junge Frau war.
Diese Erkenntnis und die Tatsache, dass er seinen Blick nicht von ihr wenden konnte, verwirrten ihn. Irgendein magischer Bann ruhte auf ihm und veranlasste ihn, zwischen den Farnen reglos zu verharren und sich an ihrer Nacktheit zu berauschen, die etwas in ihm erregte, was er nicht begreifen, geschweige denn zu benennen vermochte. Sarahs unverhüllter Körper mit all seinen Reizen war ihm fremd und vertraut zugleich, und das steigerte seine Verwirrung, in die ihr Anblick ihn stürzte.
Sarah stand am Bach, der an dieser geschützten Stelle eine wannenartige Ausbuchtung im felsigen Bett aufwies, und wandte ihm ihre linke Seite zu. Deutlich sah er ihre Brüste, die voll, aber von nicht zu üppiger Fülle waren, und die dunklen Höfe, die sich mit ihren Knospen nach oben reckten. Sein Blick folgte dem anmutigen Schwung ihrer Hüften, verweilte kurz auf dem hellen lockigen Vlies zwischen ihren Beinen und wanderte von den schlanken Fesseln wieder hoch zu ihrem Gesicht. Es war mit seinen klaren Zügen, den braunen Augen, der etwas zu kräftigen Nase und dem stark ausgeprägten Mund zwar nicht ausgesprochen hübsch, aber auf einnehmende Weise offen und ansprechend.
Sie knotete gerade ihr kariertes Kopftuch auf und schüttelte dann befreit den Kopf. Eine Flut goldener Locken ergoss sich über ihre Schultern, die von der täglichen harten Arbeit breiter und kräftiger waren, als es dem allgemeinen Schönheitsideal der Zeit entsprach. Aber hier in der Wildnis von Van Diemen's Land gab kaum einer der freien Siedler und Sträflinge, die das Land bebauten oder ein Handwerk betrieben, etwas auf solche Dinge. Schon gar nicht ein Mann wie Cedric Blunt.
Das blonde Haar flog wie Goldregen durch die Luft, und Sarah ahnte nicht, dass sie mit dieser befreienden Bewegung bei ihrem heimlichen Beobachter und verstörten Bewunderer eine Flut sehnsüchtiger, schmerzlicher Erinnerungen auslöste.
Mitchell starrte wie hypnotisiert zu ihr hinüber. Sarahs Gesichtszüge verschwammen auf einmal vor seinen Augen, und ein anderes Gesicht erschien vor seinem inneren Auge. Es war das Gesicht der Frau, die er liebte und deretwegen er sich mit dem verfluchten Lieutenant Ken Forbes duelliert hatte.
Jessica!
»Jessica!« Er merkte gar nicht, dass er ihren Namen leise aussprach, während seine Hände das Skizzenbuch so fest umklammerten, als wollte er es zerquetschen.
Als Sarah sich hinkniete, ihr Gesicht mit dem klaren Wasser des Baches benetzte und sich dann in die wannenähnliche Vertiefung des Bachbettes setzte, glaubte er, seine geliebte Jessica vor sich zu haben. Ein versonnenes Lächeln trat in seine Augen, die von einem unglaublichen Blau waren, als Sarah ihren Körper mit einer Handvoll feinem Flusssand einrieb und säuberte. Das Wasser reichte ihr gerade bis unter die Brust, und sie saß ihm zugewandt. Wenn sie den Kopf etwas gehoben und ihren Blick auf das Feld der Farne auf der anderen Seite des Goose Neck Creek gerichtet hätte, hätte er ihr direkt in die Augen sehen können.
Begehren loderte in ihm auf wie eine Flamme, die bei einem starken Windzug aus der Glut eines heruntergebrannten Feuers hochschießt, als sie sich etwas vorbeugte, ein Stück aus einem dichten Mooskissen riss, das einen Baumstumpf überwuchert hatte, und es wie einen Schwamm benutzte. Sie fuhr damit über Schultern und Brüste. Es waren sanfte Bewegungen, die gerade wegen ihrer Unschuld etwas ungeheuer Erregendes an sich hatten.
Mitchell verspürte den fast unwiderstehlichen Drang, sein Versteck zu verlassen, die Kleider von sich zu werfen und Jessica in seine Arme zu schließen, sich dort am Ufer des kleinen Flusses mit ihr zu vereinigen.
Doch dann riss der Schleier vor seinen Augen, und Schamesröte schoss ihm ins Gesicht, als er sich seines wilden sinnlichen Begehrens bewusst wurde, das Sarahs nackter Körper in ihm geweckt hatte. Er kam sich auf einmal schmutzig und gemein vor, dass er sie bei ihren intimen Waschungen beobachtet und sich von ihrer Nacktheit so erregen ließ, dass es ihm in den Lenden schmerzte. Er war ihr etwas anderes schuldig als ein so unwürdiges, beschämendes Verhalten. Denn sie war es gewesen, die ihn aufopfernd gepflegt hatte, als ihn eine schwere Krankheit am Tage seiner Ankunft bei den Blunts niedergezwungen hatte und an den Rand des Todes gebracht hatte. Von der schweren Schussverletzung, die Lieutenant Forbes ihm beim Duell zugefügt hatte, war er kaum genesen gewesen, als er New South Wales von einem Tag auf den anderen hatte verlassen müssen, weil Kenneth Forbes ihn mit seinem Hass und der gefestigten Macht des rebellischen Offizierskorps verfolgt hatte. Die nasskalte Überfahrt an Bord des Schoners Comet hatte ihn zu viel Kraft gekostet und einen Rückfall verursacht. Dass er ihn überwunden hatte, verdankte er allein Sarah.
Abrupt wandte er sich um und zog sich in geduckter Haltung zurück. Er ging fünfzig, sechzig Schritte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war, und schlug dann einen nordöstlichen Bogen, der ihn in sicherer Entfernung um Sarahs zweifellos geheimen Badeplatz herum zur Heimstatt des Töpfers führte.
Cedric Blunt wusste bestimmt nichts davon, dass seine Tochter diesen Platz am Goose Neck Creek aufsuchte, und ganz gewiss hätte er es nicht gebilligt, dass sie sich dort splitternackt wusch. Er hielt nichts von übertriebener Sauberkeit, wie er seinem Gast oft genug zu verstehen gegeben hatte, und darunter verstand er das Wechseln und Waschen von Kleidern, Bettwäsche und Handtüchern öfter als einmal im Monat. Ständiges Waschen schade der Gesundheit eines Menschen und ruiniere nur den Stoff der Kleidung, hatte er seine Tochter mehr als einmal gerügt. Und erst als Mitchell sein monatliches Entgelt für Kost und Logis von zwölf auf vierzehn Shilling erhöhte, hatte sich der eigenbrötlerische Töpfer widerwillig bereit erklärt, ihm nun öfter frische Bettlaken und Handtücher zuzugestehen.
Gut zweihundert, dreihundert Yards weiter flussabwärts von der Stelle, wo Sarah sich den Schweiß und Dreck des Tages vom Körper spülte, überquerte er das munter dahinfließende Gewässer. Er umging ein Dickicht, das zu einer undurchdringlichen Mauer aus Dornen und graugrünem Blattwerk verfilzt war, und lenkte seine Schritte in Richtung der untergehenden Sonne, denn Cedric Blunts Heimstatt lag von hier aus im Westen. Die Landschaft diesseits des kleinen Flusses war ihm von zahlreichen Erkundungsgängen der letzten Wochen vertraut, aber er hätte auch so dank seines ausgezeichneten Orientierungssinnes ohne Schwierigkeiten nach Hause gefunden. Er konnte sich also ganz seinen Gedanken hingeben, während er ein von hohen Eukalyptusbäumen beherrschtes Waldstück durchquerte.
Er war derart in seine Gedanken versunken, dass er die Gestalt gar nicht bemerkte, die neben einem Gummibaum stand, dessen rissigen, grauen Stamm auch zwei Männer nicht hätten umfassen können.
Mitchell Hamilton fuhr deshalb zu Tode erschrocken zusammen, als der mittelgroße, sehnige Mann, der in dunklen derben Wollstoff gekleidet war und nur noch schütteres schwarzes Haar auf dem Kopf hatte, plötzlich wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte und ihm den Lauf seiner Flinte auf die Brust setzte.
Es war Cedric Blunt.
»Mein Gott, haben Sie mir vielleicht einen Schreck eingejagt!«, stieß Mitchell Hamilton hervor und wollte den Lauf der Flinte beiseiteschieben.
Doch der Töpfer erlaubte ihm das nicht. Mit der Kraft eines Mannes, der durch die schwere körperliche Arbeit, die er von Kindesbeinen an leisten musste, stählerne Muskeln besaß, hielt er den Lauf der Waffe auf die Brust des Mannes gerichtet, den er für Geld vor der Obrigkeit versteckte.
»Zum Henker! Hab' ich Sie erwischt!«, herrschte er ihn wutentbrannt an.
Die Erleichterung, die Mitchell nach dem ersten Schock empfunden hatte, wich augenblicklich wieder von ihm und machte einem Gefühl der Beklemmung, ja der Furcht Platz. Er blickte in das schmale Gesicht von Cedric Blunt, das von einem ungepflegten, schwarzen Bart eingerahmt wurde und die scharfen Züge eines Asketen trug. Zorn loderte in den Augen des Mannes, und Mitchell fragte sich voller Bangen, ob der Töpfer ihn wohl dabei beobachtet hatte, wie er dort zwischen den Farnen gestanden und zugeschaut hatte, wie sich seine Tochter völlig entblößte und wusch. War das der Fall, befand er sich in einer lebensgefährlichen Situation, auch wenn Cedric Blunt ihn nicht über den Haufen schoss. Es reichte schon, dass er ihn davonjagte. Wo sollte er schon hingehen, ein Fremder, den keiner von Bord eines Schiffes hatte gehen sehen?
»Ich verstehe Sie nicht, Mister Blunt«, erwiderte er vorsichtig und innerlich angespannt in Erwartung dessen, was ihn erwarteten mochte.
»Der Teufel soll Sie holen, Mister Prescott!« James Prescott war der Name, unter dem Sarah und ihr Vater ihn kannten. Doch beide wussten, dass er nicht wirklich so hieß. »Wie oft habe ich Ihnen gesagt, dass Sie sich gefälligst in der Nähe des Hauses aufzuhalten haben! Im Umkreis von einer Meile höchstens! Daran haben Sie sich, verdammt noch mal, auch zu halten, und wenn Sie zehnmal ein vornehmer Herr sind! Ich habe Ihnen meine Bedingungen von Anfang an genannt. Wenn sie Ihnen nicht mehr passen, steht es Ihnen frei, Ihre Sachen zu packen und sich anderswo ein Quartier zu suchen!«
Mitchell hatte Mühe, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Der Mann wusste nicht, dass er seine Tochter wie ein lüsterner Jüngling beim Nacktbaden beobachtet hatte. Deshalb fiel es ihm auch leicht, ein entschuldigendes Lächeln zustande zu bringen. »Ich bitte Sie vielmals um Verzeihung, Mister Blunt. Es lag mir fern, Ihre Anweisungen zu ignorieren und Ihren Zorn zu wecken. Und noch ferner liegt es mir, mich nach einem anderen Quartier umzusehen ... «
»Das glaub' ich Ihnen gern! Und ich bezweifle, dass Sie ein anderes finden, wenn Sie es versuchen würden. Auch nicht für zwei Pfund im Monat! Jeder freie Siedler wird Sie meiden wie die Pest, und ein Emanzipist wird Sie eher an den nächsten Konstabler verraten, als dass er es riskiert, wegen Komplizenschaft mit Ihnen noch einmal fünf, sechs Jahre Sträflingsketten tragen und sich für andere den Rücken krumm schuften zu müssen!«
Mitchell atmete tief durch. »Sie haben nicht ganz unrecht, Mister Blunt. Aber ich verstecke mich nicht wegen eines Verbrechens, dessen ich mich schuldig gemacht hätte, sondern einer persönlichen Fehde wegen«, erwiderte er, und es war das erste Mal in den zweieinhalb Monaten, dass er ein Wort über den Grund seiner Flucht von New South Wales nach Van Diemen's Land verlor. Und nur zu gerne hätte er gewusst, was Blunt Captain Patrick Rourke schuldete, dass er sich bereit erklärt hatte, ihn, den Fremden, bei sich zu verstecken.
Cedric Blunt machte mit der linken Hand eine herrische Bewegung, mit der er Mitchells Antwort wegwischte. »Ob Verbrechen oder persönliche Fehde! Wer sich, aus welchen Gründen auch immer, mit den neuen Machthabern in Sydney anlegt, und sei es auch noch so weit von hier, der muss nicht ganz klar im Kopf sein!«, sagte der Töpfer grimmig, ohne die Flinte auch nur einen Inch zur Seite zu nehmen. »Ja, ich riskiere meinen Kopf für Sie, und der ist mir im Zweifelsfall einiges mehr wert als die vierzehn Shilling, die Sie mir im Monat zahlen!«
»Sie können versichert sein, dass ich Ihre Gastfreundschaft und Ihre ... Diskretion sehr wohl zu schätzen weiß«, fuhr Mitchell Hamilton hastig fort. »Aber haben Sie auch ein wenig Nachsicht mit mir. Ich war auf der Suche nach neuen Motiven für mein Skizzenbuch, und dabei muss ich mich weiter von Ihrem Haus entfernt haben, als ich geglaubt habe. Ich habe mich einfach verschätzt.« Es war eine glatte Lüge, aber sie erschien ihm ratsamer als die Wahrheit, nämlich dass er es leid war, sich wie ein Gefangener in diesem Umkreis von einer Meile aufzuhalten.
Als er vor acht Jahren als freier Siedler mit dem Sträflingstransporter Tradewind, zu dessen menschlicher Fracht im vergitterten Zwischendeck auch Jessica gehört hatte, nach New South Wales gekommen war, der erst im Jahre 1788 gegründeten britischen Sträflingskolonie an der Ostküste Australiens, als er damals dieses fremde Land betreten hatte, war er gerade dreißig gewesen, voller Erwartungen, Hoffnungen und auch einigen Befürchtungen, und er hätte vieles für möglich gehalten. Er hätte jedoch nicht im Traum daran gedacht, dass er sich eines gar nicht allzu fernen Tages so sehr an die Großzügigkeit und scheinbar grenzenlose Weite dieses Landes, das zugleich aber auch voller Gefahren war, gewöhnt haben würde, um sich in einem Gebiet von einer Quadratmeile schon wie in eine Kerkerzelle eingesperrt zu fühlen. So sehr, wie er sich nach Jessica und ihrer Liebe verzehrte, so sehr fehlte ihm auch der tägliche Ausritt und die Arbeit auf seiner Farm MIRRA BOOKA, die er mit seinem Partner John Hawkley zu einem wahren Juwel unter den Farmen der jungen Kolonie gemacht hatte.
Es war jetzt April und damit Herbst in diesen südlichen Breiten, wo die Jahreszeiten auf dem Kopf zu stehen schienen und das Weihnachtsfest in den australischen Hochsommer fiel. Er durfte gar nicht daran denken, wie viel Arbeit gerade jetzt auf MIRRA BOOKA zu leisten war und wie sein älterer, von Gicht geplagter Partner John Hawkley ohne ihn zurechtkommen sollte. Denn praktisch hatte doch er, Mitchell, die letzten Jahre die Farm verwaltet. Das Sichverstecken und die erzwungene Untätigkeit an diesem abgeschiedenen Ort setzten ihm deshalb derart zu, als hätte man ihn wirklich eingekerkert.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Ashley Carrington
- 2012, 1, 304 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004335
- ISBN-13: 9783868004335
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