Die silberne Rose
Frankreich, im 16. Jahrhundert. Miri Cheney muss sich erneut gegen böse Kräfte wehren: Gegen einen Frauengeheimbund um die mysteriöse Anführerin die "Silberne Rose". Miri muss den Mann um Hilfe bitten, den sie zugleich fürchtet...
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Produktinformationen zu „Die silberne Rose “
Frankreich, im 16. Jahrhundert. Miri Cheney muss sich erneut gegen böse Kräfte wehren: Gegen einen Frauengeheimbund um die mysteriöse Anführerin die "Silberne Rose". Miri muss den Mann um Hilfe bitten, den sie zugleich fürchtet und begehrt: den Hexenjäger Simon Aristide.
Lese-Probe zu „Die silberne Rose “
Die Silberne Rose von Susan Carroll Prolog
Die Sonne verschwand hinter dem Horizont, das Licht verflüchtigte
sich wie der Rauch einer ausgeblasenen Kerze. Dunkelheit
senkte sich über Klippen und Bäume und verwandelte
die zerklüftete bretonische Küste in das Land, das Simon Aristide
am vertrautesten war, ein Land der Finsternis und Schatten.
Der Hexenjäger packte mit seinen behandschuhten Händen
die Zügel seines Pferdes. Wie ihr Meister verschmolz auch die
ebenholzschwarze Stute mit der Dunkelheit. Aristides schulterlanges
Haar war so schwarz wie die Mähne seines Reittiers und
flatterte ebenso wild in der steifen, ablandigen Brise. Er war
ganz in Schwarz gekleidet, von den dicken Stiefeln bis zum
ledernen Wams. Bartstoppeln verdunkelten sein Gesicht, und
seine Haut war gebräunt von den vielen Tagen, die er, den Elementen
trotzend, im Sattel verbracht hatte.
Simons Gesicht war kantig, sein Mund wirkte hart und kompromisslos,
als würde er nur selten lächeln. Sein linkes Auge war
ebenso dunkel wie alles andere an ihm und darin funkelte ein
messerscharfer Verstand. Sein verwüstetes rechtes Auge war
meist unter einer dunklen Klappe verborgen. Eine wulstige Narbe,
das Ergebnis eines Duells, teilte seine Stirn und verschwand
unter der Augenklappe, doch dann trat sie wieder hervor und
verunstaltete in einem dünnen Strich seine Wange. Seine große,
drahtige Gestalt bot einen einschüchternden Anblick. Nur ein
Verrückter hätte gewagt, ihn anzugreifen.
Und genau zu dem Schluss war Simon gekommen: Die Geschöpfe,
die ihn verfolgten, mussten verrückt sein oder aber
durch und durch böse. In einer Nacht wie dieser, fernab allen
menschlichen Lebens, zog er es vor, seine Verfolger einfach nur
für verrückt zu halten. Dies schien ihm beruhigender.
... mehr
Als die Schatten um ihn dichter wurden, widerstand er dem
Drang, Elle zum Galopp anzutreiben. Schon der kleinste Druck
seiner Knie hätte genügt, sie beide pfeilschnell davonfliegen zu
lassen, aber auf dem schmalen, heimtückischen Pfad entlang der
Klippen wäre das selbst am helllichten Tag viel zu gefährlich gewesen.
Ein gestreckter Galopp im Dunkeln wäre einem Selbstmord
gleichgekommen. Es gab zwar einen einfacheren Weg
etwas weiter im Wald, doch die knorrigen Bäume, die dichten
Büsche und das Unterholz boten zu viele Möglichkeiten, sich zu
verstecken.
Simon ließ seine Stute ruhig weiterschreiten. Er hörte nichts
außer Elles stetem Hufschlag, dem Wind, der durch die Bäume
raschelte, und der Brandung an den Felsen tief unter ihm.
Trotzdem spürte er, dass er hier draußen in der Dunkelheit
nicht allein war, und dieser Eindruck verursachte ein Kribbeln
in seinem Nacken. Sie waren da - zumindest eine von ihnen.
Vielleicht die eine, die ihn in dem Dorf verfolgt hatte, durch
das er vor Kurzem gekommen war.
Aber vielleicht war es ja doch nur seine Erschöpfung nach den
wenigen Stunden unruhigen Schlafes, die er sich in der letzten
Nacht gegönnt hatte? Nein, diese Möglichkeit verwarf er wieder,
Elles Verhalten sprach dagegen. Die Stute war seit einiger Zeit
ausgesprochen unruhig, ihr Gang war unstet, sie warf immer
wieder den Kopf nach hinten und spitzte die Ohren.
Simon tätschelte ihren Hals. In dem Moment drang ein ungewöhnlicher
Laut an sein Ohr. Anfangs glaubte er, sich das
schwache Wimmern eines Säuglings bloß einzubilden. Es hätte
auch nur der Wind sein können, der durch das felsige Land
streifte. Trotzdem verkrampfte sich sein Magen in düsterer Vorahnung.
Der Pfad beschrieb eine Kurve, und danach wurde das Land
ebener. Nun vernahm er das Wimmern lauter, klagender. Er
zügelte Elle und blickte sich angespannt um. Kaum hundert
Meter vor ihm floss das Mondlicht über etwas, das gefährlich
nah am Rand der Klippen abgelegt worden war. Jeder andere
hätte das Ding für eine zusammengerollte Decke gehalten, die
ein sorgloser Schäfer liegen gelassen hatte. Doch Simon hatte so
etwas schon öfter gesehen, auch wenn es diesmal einen Unterschied
gab: Das Kind lebte noch.
Der Wind trug die Schreie des Kleinen bis zu ihm. Simons
Herz schlug rascher, am liebsten wäre er sofort zu dem Bündel
gestürmt. Doch er war schon zu oft nur mit knapper Not einem
Hinterhalt entgangen, um jetzt so impulsiv zu handeln.
Er stieg aus dem Sattel und zog Elle zu einer Baumgruppe.
Dort schlang er die Zügel um einen festen Birkenstamm. Elle
rollte nicht entsetzt mit den Augen, doch sie stampfte und
schnaubte. Dann schob sie ihre schlanke, aber kräftige Brust
und die Schultern vor ihn, als wolle sie ihn hindern, den Hain
zu verlassen.
Simon streichelte sein Pferd beruhigend. Er blieb im Schatten
der Bäume stehen und musterte den Pfad, der am Rand der
Klippen weiterführte. Das Plateau, auf dem das Kind ausgesetzt
worden war, bot keine Möglichkeit, sich zu verbergen. Doch
auch Simon würde dort keine Deckung finden, wenn ein Angreifer
ein Stück weiter auf ihn lauerte und sich anschickte, ihm
einen Pfeil in den Rücken zu schießen.
Das entsprach allerdings nicht der üblichen Angriffsweise
seiner Gegner, und schließlich besiegten die Schreie des Kindes
Simons Vorsicht; denn sie wurden zunehmend schwächer. Vielleicht
hatten seine Feinde ja nicht damit gerechnet, dass er schon
so bald eintreffen würde?
Leise schob er sich an Elle vorbei, zog sein Schwert und
schlich weiter. Inzwischen war das Kind kaum noch zu hören,
ein letztes schwaches Wimmern erklang, dann kehrte grausame
Stille ein. Simon vergaß alle Vorsicht und Wachsamkeit, er begann
zu rennen. Unter seinen Stiefeln löste sich ein Hagel von
Steinchen.
Er stürmte zu dem kleinen Bündel am Rand der Klippen
und kniete sich daneben. Der Wind ließ den Rand der grob
gewebten Decke hochflattern, doch die winzige, darin einge-
wickelte Gestalt regte sich nicht. Simon legte sein Schwert ab
und zog die Handschuhe aus. Er nahm das Bündel mit einer
Sanftheit hoch, die bei ihm so selten vorkam wie das Zwiegespräch
mit Gott.
Bitte - bitte lass mich nicht zu spät gekommen sein. Wenigstens
dieses eine Mal!
Er zog die Decke weg, dann atmete er scharf ein: Sein Blick
fiel auf die Glasaugen einer Puppe, die ihn leer anstarrten, und
einen Mund, der auf ein Stoffgesicht gestickt war und wie höhnisch
verzogen wirkte. Reingelegt!
Er hatte kaum Zeit, sich dessen bewusst zu werden, als ein
Zweig seitlich von ihm knackte. Er wirbelte zu dem Geräusch
herum und bemerkte eine kleine Vertiefung unweit der Stelle,
an der er kniete. Nur ganz verschwommen nahm er die Frau
wahr, die dort gekauert hatte und nun zum Sprung ansetzte.
Mit gebleckten Zähnen stürzte sie sich auf ihn und warf ihn
auf den Rücken. Das Mondlicht spiegelte sich auf der Waffe in
ihrer Hand, die sie gegen seinen Hals richtete. Simon gelang es,
den Angriff mit der Puppe abzuwehren, sich aufzurichten und
seine Gegnerin von sich zu schleudern. Sie landete wütend
kreischend auf dem Boden. Als er wieder auf den Füßen war,
hatte auch sie sich hochgerappelt - und stand zwischen ihm
und seinem Schwert. Verächtlich grinsend beförderte sie die
Waffe mit einem Tritt aus seiner Reichweite.
Die Frau trug weite Hosen und die Tunika einer armen
Landarbeiterin. Das dunkle Haar war ungekämmt, aus ihren
Augen sprühte Fanatismus, um den Mund hatte sie einen grausamen,
verschlagenen Zug. Simon hatte stets ein Messer in
seinem Stiefel stecken, doch er beugte sich nicht vor, um es
herauszuziehen.
»Halte dich von mir fern, Weib!«, herrschte er sie an. »Ich
will dir nichts Böses. Lass deine Waffe fallen, dann verschone
ich dich - wenn du mir ein paar Fragen beantwortest.«
Das Geschöpf warf den Kopf zurück und ahmte täuschend
echt das klägliche Wimmern eines Neugeborenen nach. »Was
willst du mich denn fragen?«, forderte sie ihn höhnisch heraus.
»Wo das Kind ist? Es ist keins da, Hexenjäger. Diesmal nicht.
Und das ist auch die einzige Antwort, die du von mir bekommst.
Abgesehen davon.« Sie zückte ihre Waffe und kam näher.
»Mir nichts Böses wollen. Pah!« Sie spuckte direkt vor Simons
Füße. »Ich weiß, wie ihr Hexenjäger eure Fragen stellt: mit dem
Brandeisen und der Folterbank.«
»So arbeite ich nicht«, erwiderte er. »Doch wenn du mich angreifst,
muss ich dich töten.«
»Na und? Ich habe keine Angst vor dem Tod. Die Silberne
Rose wird mich wieder lebendig machen.«
Mit einem grässlichen Schrei warf sie sich erneut auf Simon.
Er packte sie an den Handgelenken und hielt sie fest. Die
Stärke, die in dieser Frau steckte, war nicht normal. Er musste
all seine Kräfte aufbieten, um sie in Schach zu halten. In ihren
Adern kreiste irgendein Wahn oder ein böser Zauber. Die Hitze
ihres Atems schlug ihm entgegen, und er hörte, wie sie mit
den Zähnen knirschte. Sie rückte ihm so nahe, dass sie ihm fast
die Wange aufreißen konnte.
Doch die seltsame Waffe in ihrer Rechten beunruhigte ihn
am meisten. Sie wollte damit auf ihn einstechen und schaffte es
sogar, mit der Spitze durch sein Wams zu dringen. Simon verdrehte
ihr das Handgelenk, bis sie das Ding mit einem lauten
Aufschrei fallen ließ. Doch dann geriet sie völlig außer sich, sie
trat nach ihm, fauchte und versuchte, ihn zu beißen. Schließlich
versetzte sie ihm mit dem Kopf einen heftigen Stoß unters
Kinn. Simon taumelte, sein Kiefer explodierte vor Schmerz.
Sein Griff lockerte sich, er wich zurück und schaffte es nur mit
knapper Not, nicht über den Rand der Klippe zu fallen.
Seine Angreiferin stürzte sich erneut auf ihn und wollte ihn
hinabstoßen. Doch er wich ihrem Angriff aus, und nun war sie
es, die wankte und den Halt verlor. Sie rutschte in den Abgrund
und suchte verzweifelt nach Halt. Simon warf sich auf den
Boden und erwischte sie gerade noch am Arm. Nun hing sie
unter ihm und schlug wild mit den Beinen und dem freien Arm
um sich, das Gesicht weiß vor Wut. Seine Armmuskeln begannen
schmerzhaft zu brennen.
»Wer hat dich geschickt?«, knurrte er. »Wer ist diese Silberne
Rose, der du dienst?«
»Fahr zur Hölle!«, kreischte sie.
»Sag mir, was ich wissen will, sonst ...« Simon keuchte, als
sie nach seiner Hand schlug und ihn mit ihren langen Nägeln
so heftig kratzte, dass sich sein Griff lockerte.
Er spürte, wie sie ihm entglitt, und versuchte, sie fester zu
packen. Doch es war zu spät. Sie rutschte hinab in die Dunkelheit,
das Gesicht vor Schadenfreude und wahnwitzigem Triumph
verzerrt. Simon hörte ihren Körper mehrmals aufprallen
und dann mit einem lauten Platsch ins Wasser fallen. Das Meer
war wie ein düsteres, hungriges Ungeheuer, dem der Schaum
aus dem Maul quillt, als es den zerschmetterten Körper der
Hexe verschlang und damit auch all die Antworten, die er so
verzweifelt bei ihr gesucht hatte.
Welcher Dämon hat Besitz von dir ergriffen, Weib? Wo versteckt
sich dein Zirkel, wenn sich seine Mitglieder nicht gerade herumtreiben,
Angst und Schrecken verbreiten und versuchen, mich zu
töten? Und wer ist diese Teufelin, die ihr die Silberne Rose nennt?
Diese Hexe, die ihr so verehrt, dass ihr bereit seid, für sie zu
sterben, und glaubt, sie habe die Macht, euch aus dem Totenreich
zurückzuholen?
Und wenn sie diese Macht tatsächlich hatte?
Bei diesem Gedanken fröstelte Simon, und diese Kälte hatte
nichts mit dem Wind zu tun, der über das Land peitschte. Leise
stöhnend zog er sich vom Rand des Abgrunds zurück, wälzte
sich auf den Rücken und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
Langsam richtete er sich auf und strich sich die Haare aus
dem Gesicht. Er zuckte zusammen, als seine Hand schmerzhaft
pochte, wo die Hexe ihn mit ihren Nägeln verletzt hatte. Er
schmeckte Blut - offenbar hatte er sich in die Wange gebissen,
als sie ihn mit dem Kopf gestoßen hatte.
Behutsam tastete er sein Kinn ab. Es tat höllisch weh, aber
sie hatte ihm den Kiefer nicht ausgerenkt, und auch die Zähne
saßen noch fest. Es hätte weitaus schlimmer kommen können,
dachte er, als sein Blick auf die seltsame Waffe fiel, die er dem
Weib entrungen hatte. Er hatte ein solch teuflisches Ding
schon einmal gesehen und erlebt, wie tödlich es sein konnte.
Aber er hatte noch nie eines an sich nehmen können, um es
eingehender zu untersuchen.
Vorsichtig hob er die Waffe auf. Auf den ersten Blick sah sie
aus wie ein sehr dünnes Stilett mit einer nadelscharfen Spitze.
Sobald es in die Haut drang, wurde eine giftige Flüssigkeit
durch die Klinge gepumpt, wenn man den Griff nach unten
schob. Simon wusste nicht, wie diese Hexenklinge genau funktionierte,
aber er hatte ihre Wirkung gesehen. Die Wunde war
klein, sie sah alles andere als tödlich aus, doch der darauf folgende
Tod war langsam und qualvoll.
Er legte die Waffe wieder auf den Boden und sah sich nach
einer sicheren Transportmöglichkeit um. Sein Blick fiel auf die
Puppe. Er wickelte sie aus. Sobald sie ihrer Hülle beraubt war,
sah sie kaum noch wie ein Kind aus. Sie bestand nur aus einem
Kopf und einem Körper aus Stoff, der sorgfältig ausgestopft
worden war. Wenn man das Bündel aufnahm, sollte einen das
Gefühl zur Annahme verleiten, einen Säugling in Händen zu
halten.
Simon schleuderte das Ding über die Klippen. Seine Wut
wurde gedämpft durch die Erleichterung, dass es diesmal nur
eine Fälschung gewesen war. In seinen achtundzwanzig Lebensjahren
hatte er mehr Gräuel, Tod und Niedertracht gesehen als
selbst die meisten doppelt so alten Männer. Aber er wusste nicht,
ob er den Anblick eines weiteren toten Kindes hätte ertragen
können. Nächtelang hatte er sich schlaflos herumgewälzt und an
die Qualen der hilflosen Geschöpfe gedacht, zu deren Rettung er
zu spät gekommen war. Denn sie waren an irgendeinem abgelegenen
Fleck ausgesetzt worden, wo ihre Schreie ungehört verhallt
und sie langsam an Hunger und Vernachlässigung zugrunde
gegangen waren.
Welche Frau vermochte einer anderen zu befehlen, so grausam
zu sein? Dieselbe Frau, die eine Waffe wie dieses vergiftete
Stilett fertigen konnte, das am Griff mit einer merkwürdigen
silbernen Blume verziert war - offenbar ihrem Emblem. Koste
es, was es wolle, Simon hatte sich fest vorgenommen, die Hexe
aufzustöbern und ihrem ruchlosen Treiben ein Ende zu setzen.
Es sei denn, die Silberne Rose kam ihm zuvor.
Und das war ziemlich wahrscheinlich, wenn er sich weiterhin
so töricht verhielt wie heute Abend. Vor fünf Jahren, ja
nicht einmal vor zwei, wäre er nicht auf einen solchen Hinterhalt
hereingefallen. Aber sein einsamer Kreuzzug hatte ihn so
viel Kraft gekostet, dass er sich wunderte, noch einen Schatten
zu werfen.
Er wickelte das Stilett in die Decke, dann holte er sein
Schwert und seine Handschuhe und machte sich auf den Weg
zurück zu Elle. Sie stampfte, warf den Kopf nach hinten und
zerrte am Zügel, offenbar erschrocken über seinen Kampf mit
der Hexe. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sie wieder beruhigt
hatte. Schließlich drückte er sacht die Stirn an ihre samtweiche
Nase.
»Oh mein Gott, Elle, ich habe es alles so satt, so gründlich
satt!«
Sie wieherte, und ihre dunklen Augen glitzerten schwach im
Mondlicht. Dann begann sie, an seinen Haaren zu schnüffeln
und mit ihrem weichen Maul an seinem Ausschnitt herumzuspielen,
als wolle sie ihn trösten. Es mochte zwar seltsam erscheinen,
doch manchmal dachte Simon, seine Stute verstünde
ihn.
Nur Miri Cheney hätte es nicht für seltsam gehalten. Sie hätte
gesagt ... Simon stockte der Atem, als sich ihr Bild in seine
Gedanken schlich, ihr Bild, das nach all den Jahren noch überdeutlich
vor ihm stand. Die Erinnerung an ein junges Mädchen
mit Haaren hell wie das Licht des Mondes, einem Gesicht zart
wie das eines Engels und Augen, die so sanft schimmern konnten
wie der Morgennebel, aber auch so düster wie ein Sturm auf
hoher See. Feenhafte Augen, die einen Mann vergessen lassen
konnten, wer er war und was er zu tun hatte. Oder schlimmer
noch - wer sie war. Eine Tochter der Erde, eine weise Frau, so
hatte sich Miri immer bezeichnet. Doch egal, wie sie es nennen
mochte, eine Hexe war und blieb eine Hexe. Und dennoch -
Miri hatte auch etwas anderes an sich gehabt.
Trotz ihrer unglücklichen Familie, die aus lauter Hexen bestand,
war Miri eher fehlgeleitet gewesen denn vom Bösen befleckt.
Das Mädchen war erfüllt gewesen von Unschuld, einem
strahlenden Glauben an das Gute in der Welt, einer Hoffnung
auf das Beste in den Menschen. Mädchen? Nein, inzwischen
war sie wohl zur Frau herangereift, und das Licht, das sie früher
verströmt hatte, war wahrscheinlich getrübt, weil ihre Familie
gezwungen worden war, ihr Heim auf Faire Isle zu verlassen
und sich ins Exil zu begeben, wofür zum größten Teil Simon
verantwortlich war.
Doch im letzten Jahr waren Gerüchte an sein Ohr gedrungen,
dass eine der Cheney-Schwestern es gewagt hatte, auf die
Insel zurückzukehren, und jetzt in ruhiger Abgeschiedenheit
dort lebte; eine Frau mit einer fast übernatürlichen Fähigkeit,
kranke oder verletzte Kreaturen zu heilen.
Es gab nur eine, die das konnte - Miri.
Simons Griff um das Halfter seines Pferdes wurde fester,
während er sich bemühte, die Frau aus seinem Kopf zu vertreiben.
Erinnerungen an sie lösten eine Reue in ihm aus, die er
fast nicht ertragen konnte. Doch in letzter Zeit war Miri immer
öfter in seine Gedanken gedrungen, und es gelang ihm nicht
mehr, seinen Geist vor ihr abzuschirmen. Seine Feinde wurden
immer stärker, und er war ganz allein. Er war erschöpft und verzweifelt.
Mit jedem Tag kam er dem Schluss näher, dem er sich
stur zu widersetzen versuchte: Es gab nur eine Möglichkeit, die
Schwesternschaft der Silbernen Rose zu schlagen.
Er musste eine andere Hexe um Hilfe bitten.
1
In der Ferne lauerte ein Sturm, die Wolken türmten sich auf
und sahen aus wie eine Herde wilder grauer Hengste, die sich
anschickten, durch Port Corsair zu toben und die Heiterkeit
des Sommernachmittags zu vertreiben. Miri ritt in leichtem
Galopp in den kleinen Hafenort. Sie richtete sich im Sattel auf
und schnupperte mit geblähten Nasenflügeln. Ihrer Schätzung
nach war das Unwetter ein, vielleicht auch zwei Stunden entfernt.
Meist bekam die Felsenküste von Faire Isle den Großteil
der Stürme ab, die vom Meer hereinbrachen, aber von der
Stärke dieses Sturms würde man nicht einmal im Herzen der
kleinen Insel verschont bleiben.
Die steife Brise zupfte an ihren Haaren, doch ihre blassblonde
Mähne war zu einem festen Zopf geflochten, der ihr bis zur
Taille reichte. Die Züge einer anderen Frau hätten bei so
stramm geflochtenen Haaren vielleicht etwas hart gewirkt,
doch bei Miri betonten sie nur die auffällig schön geschwungenen
Wangenknochen. Ihre Miene hatte etwas Feenhaftes an
sich, es war das Gesicht einer Frau, die die Einsamkeit suchte
und sich bei den Geschöpfen des Waldes heimischer fühlte als
bei ihren Artgenossen.
Sie war groß und gertenschlank. Ihr knöchellanges, in blassem
Grauton gehaltenes Gewand verstärkte den Eindruck, sie sei
ein Wesen, das sich leicht in einer Dunstwolke auflösen könnte.
Ihre Röcke und Unterröcke bauschten sich um ihre Knie, denn
sie saß rittlings auf ihrem Pony. Bei den praktisch denkenden
Frauen auf Faire Isle hatten sich Damensättel nicht durchsetzen
können. Miri hätte gern ganz auf den Sattel verzichtet und wie in
ihrer Kindheit eine bequeme Männerhose getragen. Aber sie
fürchtete, dass sie im Ort schon genug Aufsehen erregte.
Während sie ihr Pony langsamer laufen ließ, wappnete sie
sich gegen den vertrauten Anblick von Gesichtern, die sie über
die Zäune hinweg anstarrten. Manche gafften nur reglos, andere
nickten verlegen, wenn sie sie erkannten. Eine apfelwangige
Frau, die gerade Unkraut jätete, winkte zaghaft, doch als Miri
an ihr vorbeigeritten war, wandte sie sich sofort ihrer Tochter zu
und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Miri hielt den Kopf hoch, doch das Flüstern und die unfreundlichen
Blicke ließen sie an einen schon lange zurückliegenden,
ebenfalls von Unheil überschatteten Sommertag
denken ...
Die Trommel schlug einen unerbittlichen Takt, und ihr Herz
schien in den Rhythmus einzustimmen, als sie von zwei grimmigen
Hexenjägern in schwarzen Kutten zum Marktplatz gezerrt wurde.
Der Strick, den man ihr um den Hals gelegt hatte, scheuerte ihre
Haut auf, doch sie versuchte, den Kopf hochzuhalten und daran zu
denken, wer sie war: die Tochter des tapferen Chevalier Louis Cheney
und der Herrin Evangeline, einer der weisesten Frauen, die je
auf Faire Isle gelebt hatten. Doch nun schrak sie zurück bei all dem
Gaffen, bei all den ungerührten Gesichtern von Menschen, die sie
für Freunde und Nachbarn gehalten hatte.
Sie war durch und durch eine Tochter der Erde. Wie konnte
jemand darauf verfallen, dass sie eine Hexe war und einen unheiligen
Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte? Warum sollte ihr
jemand etwas zuleide tun wollen? Sie drehte sich um und warf
einen flehenden Blick auf den jüngsten der Hexenjäger. Doch obwohl
Simon schluckte und seine dunklen Augen feucht wurden,
marschierte und trommelte er stur weiter.
Miri erbebte und schob die Bilder in den hintersten Winkel
ihrer Erinnerung zurück. Dort gehörten sie auch hin. Sie war
nicht mehr das verängstigte, bestürzte Kind, sondern eine
junge Frau von sechsundzwanzig Jahren. Und all das Unwissen
und die Grausamkeit dieser Welt waren ihr leider nur allzu
bekannt. Seit jenem düsteren Sommertag, den sie gottlob unversehrt
überstanden hatte, hatte sich in ihrem Leben viel ver-
ändert - bis auf eines: Manche verdächtigten sie noch immer,
sich mit Zauberei zu beschäftigen.
»Dreckige kleine Hexe!«
Bei dem schrillen Schrei zuckte Miri zusammen. Doch als sie
sich auf der Suche nach der Quelle dieses bösen Vorwurfs umsah,
stellte sie fest, dass er nicht ihr gegolten hatte.
Neben dem Dorfbrunnen hatte sich ein halbes Dutzend
Frauen versammelt und stritt erbittert. Liebend gern wäre Miri
rasch vorbeigeritten. Sie hasste Auseinandersetzungen, und als
sie sich vor sechs Monaten wieder nach Faire Isle aufgemacht
hatte, hatte ihre Schwester sie gewarnt. Am Morgen des Abschieds
hatte Ariane die Hände um Miris Gesicht gelegt, und
ihre graublauen Augen hatten besorgt und ernst gefunkelt.
»Ich weiß, dass du unbedingt wieder nach Hause willst, aber
bitte, Miri, pass auf dich auf! Du bist nie des Hochverrats und der
Hexerei für schuldig befunden worden, wie es Gabrielle und mir
geschehen ist. Liefere den Leuten keinen Vorwand, es jetzt zu tun!
Lebe auf Faire Isle möglichst ruhig und zurückgezogen. Denk
daran, dass unsere Familie selbst nach all der Zeit noch mächtige
Feinde hat.«
Feinde wie Katharina von Medici, die Königinwitwe von
Frankreich, besser bekannt als die dunkle Königin - denn es
wurde gemunkelt, sie sei eine Hexe -, und ihr Sohn Heinrich,
der jetzige König von Frankreich, ein sprunghafter und nachtragender
Mensch. Doch von dem Feind, an den Ariane wohl
vorrangig gedacht hatte, sprachen sie nie; denn allein die Erwähnung
seines Namens bereitete Miri große Pein: der Hexenjäger Aristide.
Doch Miri war kein unschuldiges Kind mehr und Simon
nicht mehr der einfühlsame Junge, der er damals gewesen war,
als er beim schrecklichen Vachel Le Vis, einem fanatischen Hexenjäger,
in die Lehre gegangen war. Im Lauf der Jahre war
Simon zu einem gefährlichen Gegner geworden, den man nun
weit mehr fürchten musste als seinen längst verstorbenen Meister,
der Miri in jenem Sommer festgenommen hatte.
Miri hatte ihre große Schwester an sich gedrückt und ihr versprochen,
sich nach Kräften an ihren Rat zu halten.
»Tu nichts, um unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen,
Liebes!«, hatte Ariane sie noch gemahnt.
»Nein, bestimmt nicht, Ariane, ich schwör's dir.«
Eingedenk dieses Versprechens lenkte Miri Noisette, ihr
Pony, nun vom Dorfplatz weg und versuchte, die aufgebrachten,
grellen Stimmen auszublenden.
Doch aus den Augenwinkeln erhaschte sie einen Blick auf
das Opfer des Hasses, ein junges Mädchen mit hellem Haar,
kaum älter als vierzehn Jahre. Sie hatte ihren Schal fest um die
schmalen Schultern geschlungen und umklammerte die Enden.
Das Tuch war bunt gewebt wie Josefs Mantel in der Bibelgeschichte
von ihm und seinen Brüdern. Ihr sommersprossiges
Gesicht war trotzig verzogen, doch die freie Hand hatte sie
schützend vor den Bauch gelegt. Miri zügelte ihr Pony, als sie
den Grund für diese Geste erkannte: Das Mädchen war hochschwanger.
Ihre schmale Gestalt wirkte viel zu zerbrechlich, um
die Last zu tragen, die sich deutlich unter ihrem Gewand abzeichnete.
Ihre Hauptgegnerin war eine grobschlächtige Frau, die die
Ärmel ihres Gewandes hochgekrempelt hatte, sodass ihre roten,
von schwerer Arbeit gezeichneten Arme sichtbar wurden. Miri
erkannte sie, es war Josephine Alain, die Frau des Töpfers, die
nun näher an das junge Mädchen herantrat und schrie: »Dirne!
Wir warnen dich jetzt zum letzten Mal, wir wollen nicht, dass
du dich je wieder hier blicken lässt!«
Ein erzürnter Chor unterstützte Madame Alain; nur die
ängstliche kleine Madame Greves schien die anderen um Ruhe
bitten zu wollen. Das Mädchen erwiderte irgendetwas Wütendes,
während ihr trotzige Tränen über die Wangen liefen.
Madame Alain rückte noch näher, beleidigte sie weiter und
fuchtelte mit dem Finger unter der Nase ihres Opfers herum.
Das Mädchen stolperte einen Schritt zurück und schlug Madame
Alains Hand weg. Zu Miris Entsetzen stürzte sich das
Weib daraufhin auf das schwangere Mädchen, ohrfeigte sie und
zog sie an den Haaren.
Miri vergaß alles, was sie ihrer Schwester versprochen hatte,
und stieg hastig aus dem Sattel. Sie nahm Noisette am Halfter
und sah dem Pony in seine großen sanften Augen.
»Bleib hier!«, befahl sie, dann stürmte sie zu der Frauengruppe.
Als Miri bei den Streitenden ankam, hatte das Mädchen sich
zum Sockel der Statue geflüchtet, die den Marktplatz zierte. Sie
hatte sich zusammengekauert und ihren bunten Schal über den
Kopf gezogen, während Madame Alain auf ihren Rücken einschlug.
Die anderen Frauen drängten sich um die zwei und feuerten
Madame Alain an, nur Madame Greves hielt sich heraus
und wrang die Hände unter ihrer Schürze.
Miri schubste die Frauen beiseite, schlang den Arm um Madame
Alains Hals und zog sie gewaltsam von dem Mädchen weg.
»Hört auf!«, herrschte sie das Weib barsch an. »Habt Ihr
denn Euren Verstand verloren?«
Madame Alain knurrte und versuchte, sich aus Miris Griff zu
befreien. Doch die Verzweiflung verlieh Miri große Kräfte, sie
schleuderte das Weib von sich. Die Frau stolperte und landete
unsanft auf ihrem Hintern. Zornig fluchend kämpfte sie mit
ihren verhedderten Röcken, die sie am Aufstehen hinderten.
Miris Herz raste, doch sie trat vor das hellhaarige Mädchen,
ballte die Fäuste und herrschte die Frauen an: »Haltet euch zurück!
Die Nächste, die Hand an dieses Kind legt, wird es mit
mir zu tun bekommen!«
Josephine Alain hatte sich inzwischen wieder hochgerappelt
und wollte sich auf Miri stürzen, doch zwei Nachbarinnen
hinderten sie daran.
»Grundgütiger, Josephine, siehst du denn nicht, wer das ist?
Das Cheney-Weib!«
Miris Name verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Versammlung,
und auf die Gesichter traten Angst, Vorsicht und
Ehrfurcht in unterschiedlicher Ausprägung. Obwohl sich Madame
Alain aus dem Griff ihrer Nachbarinnen befreit hatte,
blieb auch sie stehen und funkelte Miri nur böse an.
Die plötzlich eingetretene Stille beunruhigte Miri. Sie war
froh, als Madame Greves endlich den Mut aufbrachte, ihr zu
helfen. Sie nahm das Mädchen sanft am Ellbogen und zog sie
hoch. Sobald sie ihre Balance wiedergefunden hatte, stieß das
Mädchen die Hände der Frau weg.
»Lasst mich in Ruhe. Mir fehlt nichts.«
Madame Greves' Augen weiteten sich erschrocken, und sie
trat hastig den Rückzug an. Das Mädchen wirkte zwar ein
wenig mitgenommen, doch offenkundig war sie nicht weiter
verletzt. Miri atmete tief aus.
Nachdem sie sich in den Streit eingemischt hatte, wusste sie
nicht, was sie als Nächstes tun sollte; denn ihr war schmerzlich
bewusst, dass sie weder Arianes beruhigende Ausstrahlung besaß
noch das herrschaftliche Auftreten ihrer anderen Schwester,
Gabrielle.
Miri war es unangenehmer, sich mit den streitsüchtigen Frauen
auseinanderzusetzen, als es ihr vorher gewesen war, sich einen
Weg durch sie hindurch zu bahnen. Sie verschränkte die Arme
abwehrend vor der Brust und fragte in einem möglichst bestimmten
Tonfall: »Würde eine von euch vielleicht so freundlich
sein und mir erklären, was hier los ist?«
»Das geht Euch nichts an, Miribelle Cheney.« Aus Madame
Alains Dutt hatten sich ein paar graue Strähnen gelöst, die nun
um ihr Gesicht flatterten - ein Gesicht, das früher einmal recht
hübsch gewesen war, doch inzwischen wirkte es verbittert und
verschlagen.
»Ich fürchte, es geht mich sehr wohl etwas an, wenn erwachsene
Frauen so außer sich geraten, dass sie ein unschuldiges
Mädchen attackieren, noch dazu ein hochschwangeres.«
»Unschuldig?« Madame Alain schnaubte abfällig. »Carole
Moreau ist eine kleine Hure, die die Beine für jeden Matrosen
breit macht, der in den Hafen kommt.«
»Ach, habt Ihr etwa Angst, dass ich Euch keinen übrig lasse?«,
fauchte Carole.
»Du - du widerliches kleines Luder!« Madame Alain wollte
sich wieder auf sie stürzen, doch Miri stellte sich ihr in den Weg
und hielt sie mit einem zornigen Blick auf.
Madame Alain schrie das Mädchen über Miris Schulter hinweg
an: »Wir haben dich oft genug gewarnt, dich nicht mehr
hier herumzutreiben und vor anständigen Frauen den Bastard
in deinem Bauch zur Schau zu stellen.«
»Ich habe dasselbe Recht wie alle anderen, mich hier aufzuhalten
«, rief Carole zornig, doch ihre Lippen zitterten.
»Du solltest daheim bleiben und deine Schande verstecken.«
»Ich würde sagen, schändlich sind eher die Männer, die ein
solch junges Mädchen ausnutzen«, sagte Miri kalt.
»O nein, Mademoiselle Cheney«, meldete sich eine andere
Frau zu Wort, eine großbusige Blondine. »Carole ist wirklich
ein durchtriebenes Biest. Sie überhäuft uns ständig mit Verwünschungen.
Neulich hat sie es geschafft, dass meine Milch
sauer geworden ist. Sie hat den bösen Blick!«
Mehrere andere Frauen nickten zustimmend und bekreuzigten sich.
Miri schüttelte ungläubig den Kopf. »Seit wann glauben die
Frauen auf Faire Isle an Unsinn wie den bösen Blick? Mein
Gott, ich habe auf dem Festland wahrhaftig genug Grausamkeit
und Torheit gesehen. Dieses Eiland aber war einst eine Zufluchtstätte,
vor allem für Frauen, denen anderswo Missverständnis
und Gewalttätigkeit begegnet waren. Wir pflegten
einander mit Respekt zu behandeln. Was ist aus eurer Freundlichkeit
und eurem Mitleid geworden?«
Miri blickte einer nach der anderen tief in die Augen. Die
meisten ließen den Kopf hängen oder senkten beschämt den
Blick. Nur Madame Alain wollte nicht klein beigeben.
»Ihr seid lange weg gewesen, Miri Cheney. Seit den Überfällen
von Le Balafre und seinen Hexenjägern ist das Leben auf
dieser Insel sehr schwer geworden. Die Leute vom Festland
haben Angst herzukommen. Unser Handel ist versiegt. Meine
Familie ist besonders davon betroffen, wir mussten unsere Töpferei
aufgeben. Mein Mann ist daran zugrunde gegangen, und
jetzt muss ich ganz allein sechs Kinder satt bekommen. Und
Eure Schwestern sind an allem schuld, denn sie haben den
Zorn dieses elenden Hexenjägers und des französischen Königs
über uns gebracht.«
Miri spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg, doch sie
erwiderte möglichst ruhig: »Meine Schwestern sind weder Verräterinnen
noch Hexen. Es tut mir sehr leid, dass Ihr es so
schwer habt, Madame, aber wenn Ihr unbedingt eine Schuldige
braucht, dann nehmt mich. Es war meine Schuld, dass ich dem
falschen Mann vertraut und Le Balafre nicht aufgehalten habe,
als ich es noch gekonnt hätte.«
Obwohl Miri sich dafür hasste, konnte sie sogar jetzt an ihn
kaum als den gefürchteten Le Balafre denken, sondern nur als
Simon ... Simon Aristide.
»Jawohl, Ihr seid genauso daran schuld«, erwiderte Madame
Alain. Obwohl die anderen Miri wachsam beäugten und Madame
Greves versuchte, ihre Freundin zu beschwichtigen, trat
Madame Alain näher. Die Feindseligkeit der Frau schlug Miri
wie eine heiße, dunkle Woge entgegen.
»Auch wenn hier alle zu feige sind, es Euch zu sagen: Ihr seid
auf dieser Insel ebenso wenig willkommen wie das kleine Miststück,
zu dessen Fürsprecherin Ihr Euch aufspielt.«
»Das finde ich sehr schade, Madame. Aber Faire Isle ist meine
Heimat, und auch Mademoiselle Moreau ist hier zu Hause.
Weder sie noch ich werden diese Insel verlassen.« Miri hielt
dem feindseligen Blick der Frau eisern stand.
Madame Alain schlug als Erste die Augen nieder. »Das werden
wir schon noch sehen«, murrte sie, dann stolzierte sie über
die Wiese davon, gefolgt von den anderen.
Nur Madame Greves blieb stehen und zupfte verlegen an
den Enden ihres Kopftuchs. Dann meinte sie: »Ihr dürft es Josephine
nicht übel nehmen, Herrin. Sie hat es wirklich sehr
schwer, und oft kommen ihr Dinge über die Lippen, die sie gar
nicht so meint.«
»Madame Alain hat nur gesagt, was alle denken.«
»Nicht alle.« Madame Greves berührte vorsichtig Miris Ärmel.
»Ihr glaubt wahrscheinlich, dass wir vergessen haben, wie
viel Gutes Eure Familie einst für Faire Isle getan hat. Aber viele
von uns erinnern sich noch an früher und freuen sich, dass wir
unsere Herrin wieder bei uns haben.«
»Oh nein, Madame«, wandte Miri sofort ein. »Ich bin nicht
die Herrin von Faire Isle. Das war meine Schwester Ariane.«
»Ich weiß ja, meine Liebe. Madame Ariane ist eine gütige
und weise Frau, eine wahre Heilerin. Ich bete darum, dass sie
eines Tages wieder zu uns zurückkehrt. Aber Eure Gabe, die
armen Tiere zu heilen, ist genauso groß wie die Gabe Eurer
Schwester, sieche Menschen zu kurieren. Wir haben alle erfahren,
dass Ihr die Kuh der Pomfreys von den Toten zurückgeholt habt.«
»Oh nein, sie war nicht tot, nur sehr, sehr krank. Es - es war ...«
»Ein Wunder!«, fiel ihr Madame Greves strahlend ins Wort.
»Ihr habt einen sehr starken Zauber. Euer Ruf verbreitet sich bis
aufs Festland.« Die kleine Frau senkte verschwörerisch die
Stimme. »Wir nennen Euch inzwischen unsere Herrin der Wälder.«
Miri war alles andere als begeistert. Herrin der Wälder? Na
wunderbar! Sie hatte Ariane doch versprochen, keine Aufmerksamkeit
zu erregen. Dabei war sie kaum ein halbes Jahr zurück.
Aber bevor sie Madame Greves überzeugen konnte, dass die
Heilung der Kuh einzig und allein den Regeln vernünftiger
Viehzucht entsprochen hatte, wurden sie von Madame Alains
schriller Stimme gestört, die quer über die Wiese schallte.
»Laurette!«
Offenbar hatte sie bemerkt, dass ihre Freundin sie im Stich
gelassen hatte, und winkte ihr nun herrisch. Madame Greves
trat einen Schritt zurück und machte einen tiefen Knicks vor
Miri. »Nun, ich - ich wollte nur, dass Ihr Bescheid wisst, Herrin.«
»Danke, Madame. Aber nennt mich bitte nicht Herrin. Ich bin nur ...«
Doch Madame Greves eilte bereits den anderen Frauen nach.
Miri seufzte. Obwohl Laurette Greves sehr freundlich gewesen
war, sah sie sie nicht ungern ziehen; denn die Bewunderung der
Frau war ihr genauso unangenehm wie zuvor Madame Alains
Feindseligkeit.
Nach dem Streit überkam Miri das Gefühl, das sie stets nach
einem Streit oder einer gewaltsamen Auseinandersetzung heimsuchte:
Sie zitterte, ihre Nerven fühlten sich an wie die zarten
Saiten einer Harfe, die raue Hände dazu gezwungen hatten, in
Disharmonie zu erklingen.
Sie schlang die Arme um den Oberkörper und sah zu Noisette
hinüber. Das Pony zupfte friedlich an ein paar Grashalmen.
Sie sehnte sich danach, auf seinem Rücken in die Einsamkeit
ihrer Wälder zurückzukehren und dort zu bleiben, bis
sie wieder Harmonie in sich spürte. Carole hatte sie beinahe
völlig vergessen, bis sie das Mädchen neben sich murren hörte.
»Gut, dass wir diese alten Schreckschrauben los sind. Sie
haben mir fast meinen Schal zerrissen, den meine grand-mère
vor ihrem Tod extra für mich gestrickt hat. Wenn ich diese
Weiber verhexen könnte, würde ich es auf der Stelle tun. Ich
würde ihnen Warzen auf die Nasen hexen und Furunkel auf
ihre fetten Hintern.«
Caroles Lippen zitterten, während sie den Staub aus ihrem
geliebten Schal klopfte. Doch als sie merkte, dass Miri sie ansah,
schlang sie den Schal wieder um die Schultern und schob
trotzig das Kinn vor. Ihre Sommersprossen hoben sich auffällig
von ihrer blassen Haut ab, und ein Auge fing an, dunkel anzuschwellen;
Tränen hatten Spuren auf ihren Wangen hinterlassen.
Ihr Gesicht wirkte erbärmlich jung, der Ausdruck in
ihren zornigen blauen Augen jedoch viel zu alt.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2006
unter dem Titel The Silver Rose
bei Ballantine Books, New York.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.weltbild.de
Copyright der Originalausgabe © 2006 by Susan Coppula
Published by arrangement with Susan Coppula.
Dieses Werk wurde im Auftrag von Jane Rotrosen
Agency LLC vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2011 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Übersetzung: Angela Schumitz
Projektleitung: Librisco Consult, München
Redaktion: Sandra Lode
Umschlaggestaltung: Zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Shutterstock (© palex1977; © ilolab);
Zeichenpool Archiv
Satz: Dirk Risch, Berlin
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-8289-9729-5
2014 2013 2012 2011
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Ausgabe an.
Als die Schatten um ihn dichter wurden, widerstand er dem
Drang, Elle zum Galopp anzutreiben. Schon der kleinste Druck
seiner Knie hätte genügt, sie beide pfeilschnell davonfliegen zu
lassen, aber auf dem schmalen, heimtückischen Pfad entlang der
Klippen wäre das selbst am helllichten Tag viel zu gefährlich gewesen.
Ein gestreckter Galopp im Dunkeln wäre einem Selbstmord
gleichgekommen. Es gab zwar einen einfacheren Weg
etwas weiter im Wald, doch die knorrigen Bäume, die dichten
Büsche und das Unterholz boten zu viele Möglichkeiten, sich zu
verstecken.
Simon ließ seine Stute ruhig weiterschreiten. Er hörte nichts
außer Elles stetem Hufschlag, dem Wind, der durch die Bäume
raschelte, und der Brandung an den Felsen tief unter ihm.
Trotzdem spürte er, dass er hier draußen in der Dunkelheit
nicht allein war, und dieser Eindruck verursachte ein Kribbeln
in seinem Nacken. Sie waren da - zumindest eine von ihnen.
Vielleicht die eine, die ihn in dem Dorf verfolgt hatte, durch
das er vor Kurzem gekommen war.
Aber vielleicht war es ja doch nur seine Erschöpfung nach den
wenigen Stunden unruhigen Schlafes, die er sich in der letzten
Nacht gegönnt hatte? Nein, diese Möglichkeit verwarf er wieder,
Elles Verhalten sprach dagegen. Die Stute war seit einiger Zeit
ausgesprochen unruhig, ihr Gang war unstet, sie warf immer
wieder den Kopf nach hinten und spitzte die Ohren.
Simon tätschelte ihren Hals. In dem Moment drang ein ungewöhnlicher
Laut an sein Ohr. Anfangs glaubte er, sich das
schwache Wimmern eines Säuglings bloß einzubilden. Es hätte
auch nur der Wind sein können, der durch das felsige Land
streifte. Trotzdem verkrampfte sich sein Magen in düsterer Vorahnung.
Der Pfad beschrieb eine Kurve, und danach wurde das Land
ebener. Nun vernahm er das Wimmern lauter, klagender. Er
zügelte Elle und blickte sich angespannt um. Kaum hundert
Meter vor ihm floss das Mondlicht über etwas, das gefährlich
nah am Rand der Klippen abgelegt worden war. Jeder andere
hätte das Ding für eine zusammengerollte Decke gehalten, die
ein sorgloser Schäfer liegen gelassen hatte. Doch Simon hatte so
etwas schon öfter gesehen, auch wenn es diesmal einen Unterschied
gab: Das Kind lebte noch.
Der Wind trug die Schreie des Kleinen bis zu ihm. Simons
Herz schlug rascher, am liebsten wäre er sofort zu dem Bündel
gestürmt. Doch er war schon zu oft nur mit knapper Not einem
Hinterhalt entgangen, um jetzt so impulsiv zu handeln.
Er stieg aus dem Sattel und zog Elle zu einer Baumgruppe.
Dort schlang er die Zügel um einen festen Birkenstamm. Elle
rollte nicht entsetzt mit den Augen, doch sie stampfte und
schnaubte. Dann schob sie ihre schlanke, aber kräftige Brust
und die Schultern vor ihn, als wolle sie ihn hindern, den Hain
zu verlassen.
Simon streichelte sein Pferd beruhigend. Er blieb im Schatten
der Bäume stehen und musterte den Pfad, der am Rand der
Klippen weiterführte. Das Plateau, auf dem das Kind ausgesetzt
worden war, bot keine Möglichkeit, sich zu verbergen. Doch
auch Simon würde dort keine Deckung finden, wenn ein Angreifer
ein Stück weiter auf ihn lauerte und sich anschickte, ihm
einen Pfeil in den Rücken zu schießen.
Das entsprach allerdings nicht der üblichen Angriffsweise
seiner Gegner, und schließlich besiegten die Schreie des Kindes
Simons Vorsicht; denn sie wurden zunehmend schwächer. Vielleicht
hatten seine Feinde ja nicht damit gerechnet, dass er schon
so bald eintreffen würde?
Leise schob er sich an Elle vorbei, zog sein Schwert und
schlich weiter. Inzwischen war das Kind kaum noch zu hören,
ein letztes schwaches Wimmern erklang, dann kehrte grausame
Stille ein. Simon vergaß alle Vorsicht und Wachsamkeit, er begann
zu rennen. Unter seinen Stiefeln löste sich ein Hagel von
Steinchen.
Er stürmte zu dem kleinen Bündel am Rand der Klippen
und kniete sich daneben. Der Wind ließ den Rand der grob
gewebten Decke hochflattern, doch die winzige, darin einge-
wickelte Gestalt regte sich nicht. Simon legte sein Schwert ab
und zog die Handschuhe aus. Er nahm das Bündel mit einer
Sanftheit hoch, die bei ihm so selten vorkam wie das Zwiegespräch
mit Gott.
Bitte - bitte lass mich nicht zu spät gekommen sein. Wenigstens
dieses eine Mal!
Er zog die Decke weg, dann atmete er scharf ein: Sein Blick
fiel auf die Glasaugen einer Puppe, die ihn leer anstarrten, und
einen Mund, der auf ein Stoffgesicht gestickt war und wie höhnisch
verzogen wirkte. Reingelegt!
Er hatte kaum Zeit, sich dessen bewusst zu werden, als ein
Zweig seitlich von ihm knackte. Er wirbelte zu dem Geräusch
herum und bemerkte eine kleine Vertiefung unweit der Stelle,
an der er kniete. Nur ganz verschwommen nahm er die Frau
wahr, die dort gekauert hatte und nun zum Sprung ansetzte.
Mit gebleckten Zähnen stürzte sie sich auf ihn und warf ihn
auf den Rücken. Das Mondlicht spiegelte sich auf der Waffe in
ihrer Hand, die sie gegen seinen Hals richtete. Simon gelang es,
den Angriff mit der Puppe abzuwehren, sich aufzurichten und
seine Gegnerin von sich zu schleudern. Sie landete wütend
kreischend auf dem Boden. Als er wieder auf den Füßen war,
hatte auch sie sich hochgerappelt - und stand zwischen ihm
und seinem Schwert. Verächtlich grinsend beförderte sie die
Waffe mit einem Tritt aus seiner Reichweite.
Die Frau trug weite Hosen und die Tunika einer armen
Landarbeiterin. Das dunkle Haar war ungekämmt, aus ihren
Augen sprühte Fanatismus, um den Mund hatte sie einen grausamen,
verschlagenen Zug. Simon hatte stets ein Messer in
seinem Stiefel stecken, doch er beugte sich nicht vor, um es
herauszuziehen.
»Halte dich von mir fern, Weib!«, herrschte er sie an. »Ich
will dir nichts Böses. Lass deine Waffe fallen, dann verschone
ich dich - wenn du mir ein paar Fragen beantwortest.«
Das Geschöpf warf den Kopf zurück und ahmte täuschend
echt das klägliche Wimmern eines Neugeborenen nach. »Was
willst du mich denn fragen?«, forderte sie ihn höhnisch heraus.
»Wo das Kind ist? Es ist keins da, Hexenjäger. Diesmal nicht.
Und das ist auch die einzige Antwort, die du von mir bekommst.
Abgesehen davon.« Sie zückte ihre Waffe und kam näher.
»Mir nichts Böses wollen. Pah!« Sie spuckte direkt vor Simons
Füße. »Ich weiß, wie ihr Hexenjäger eure Fragen stellt: mit dem
Brandeisen und der Folterbank.«
»So arbeite ich nicht«, erwiderte er. »Doch wenn du mich angreifst,
muss ich dich töten.«
»Na und? Ich habe keine Angst vor dem Tod. Die Silberne
Rose wird mich wieder lebendig machen.«
Mit einem grässlichen Schrei warf sie sich erneut auf Simon.
Er packte sie an den Handgelenken und hielt sie fest. Die
Stärke, die in dieser Frau steckte, war nicht normal. Er musste
all seine Kräfte aufbieten, um sie in Schach zu halten. In ihren
Adern kreiste irgendein Wahn oder ein böser Zauber. Die Hitze
ihres Atems schlug ihm entgegen, und er hörte, wie sie mit
den Zähnen knirschte. Sie rückte ihm so nahe, dass sie ihm fast
die Wange aufreißen konnte.
Doch die seltsame Waffe in ihrer Rechten beunruhigte ihn
am meisten. Sie wollte damit auf ihn einstechen und schaffte es
sogar, mit der Spitze durch sein Wams zu dringen. Simon verdrehte
ihr das Handgelenk, bis sie das Ding mit einem lauten
Aufschrei fallen ließ. Doch dann geriet sie völlig außer sich, sie
trat nach ihm, fauchte und versuchte, ihn zu beißen. Schließlich
versetzte sie ihm mit dem Kopf einen heftigen Stoß unters
Kinn. Simon taumelte, sein Kiefer explodierte vor Schmerz.
Sein Griff lockerte sich, er wich zurück und schaffte es nur mit
knapper Not, nicht über den Rand der Klippe zu fallen.
Seine Angreiferin stürzte sich erneut auf ihn und wollte ihn
hinabstoßen. Doch er wich ihrem Angriff aus, und nun war sie
es, die wankte und den Halt verlor. Sie rutschte in den Abgrund
und suchte verzweifelt nach Halt. Simon warf sich auf den
Boden und erwischte sie gerade noch am Arm. Nun hing sie
unter ihm und schlug wild mit den Beinen und dem freien Arm
um sich, das Gesicht weiß vor Wut. Seine Armmuskeln begannen
schmerzhaft zu brennen.
»Wer hat dich geschickt?«, knurrte er. »Wer ist diese Silberne
Rose, der du dienst?«
»Fahr zur Hölle!«, kreischte sie.
»Sag mir, was ich wissen will, sonst ...« Simon keuchte, als
sie nach seiner Hand schlug und ihn mit ihren langen Nägeln
so heftig kratzte, dass sich sein Griff lockerte.
Er spürte, wie sie ihm entglitt, und versuchte, sie fester zu
packen. Doch es war zu spät. Sie rutschte hinab in die Dunkelheit,
das Gesicht vor Schadenfreude und wahnwitzigem Triumph
verzerrt. Simon hörte ihren Körper mehrmals aufprallen
und dann mit einem lauten Platsch ins Wasser fallen. Das Meer
war wie ein düsteres, hungriges Ungeheuer, dem der Schaum
aus dem Maul quillt, als es den zerschmetterten Körper der
Hexe verschlang und damit auch all die Antworten, die er so
verzweifelt bei ihr gesucht hatte.
Welcher Dämon hat Besitz von dir ergriffen, Weib? Wo versteckt
sich dein Zirkel, wenn sich seine Mitglieder nicht gerade herumtreiben,
Angst und Schrecken verbreiten und versuchen, mich zu
töten? Und wer ist diese Teufelin, die ihr die Silberne Rose nennt?
Diese Hexe, die ihr so verehrt, dass ihr bereit seid, für sie zu
sterben, und glaubt, sie habe die Macht, euch aus dem Totenreich
zurückzuholen?
Und wenn sie diese Macht tatsächlich hatte?
Bei diesem Gedanken fröstelte Simon, und diese Kälte hatte
nichts mit dem Wind zu tun, der über das Land peitschte. Leise
stöhnend zog er sich vom Rand des Abgrunds zurück, wälzte
sich auf den Rücken und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
Langsam richtete er sich auf und strich sich die Haare aus
dem Gesicht. Er zuckte zusammen, als seine Hand schmerzhaft
pochte, wo die Hexe ihn mit ihren Nägeln verletzt hatte. Er
schmeckte Blut - offenbar hatte er sich in die Wange gebissen,
als sie ihn mit dem Kopf gestoßen hatte.
Behutsam tastete er sein Kinn ab. Es tat höllisch weh, aber
sie hatte ihm den Kiefer nicht ausgerenkt, und auch die Zähne
saßen noch fest. Es hätte weitaus schlimmer kommen können,
dachte er, als sein Blick auf die seltsame Waffe fiel, die er dem
Weib entrungen hatte. Er hatte ein solch teuflisches Ding
schon einmal gesehen und erlebt, wie tödlich es sein konnte.
Aber er hatte noch nie eines an sich nehmen können, um es
eingehender zu untersuchen.
Vorsichtig hob er die Waffe auf. Auf den ersten Blick sah sie
aus wie ein sehr dünnes Stilett mit einer nadelscharfen Spitze.
Sobald es in die Haut drang, wurde eine giftige Flüssigkeit
durch die Klinge gepumpt, wenn man den Griff nach unten
schob. Simon wusste nicht, wie diese Hexenklinge genau funktionierte,
aber er hatte ihre Wirkung gesehen. Die Wunde war
klein, sie sah alles andere als tödlich aus, doch der darauf folgende
Tod war langsam und qualvoll.
Er legte die Waffe wieder auf den Boden und sah sich nach
einer sicheren Transportmöglichkeit um. Sein Blick fiel auf die
Puppe. Er wickelte sie aus. Sobald sie ihrer Hülle beraubt war,
sah sie kaum noch wie ein Kind aus. Sie bestand nur aus einem
Kopf und einem Körper aus Stoff, der sorgfältig ausgestopft
worden war. Wenn man das Bündel aufnahm, sollte einen das
Gefühl zur Annahme verleiten, einen Säugling in Händen zu
halten.
Simon schleuderte das Ding über die Klippen. Seine Wut
wurde gedämpft durch die Erleichterung, dass es diesmal nur
eine Fälschung gewesen war. In seinen achtundzwanzig Lebensjahren
hatte er mehr Gräuel, Tod und Niedertracht gesehen als
selbst die meisten doppelt so alten Männer. Aber er wusste nicht,
ob er den Anblick eines weiteren toten Kindes hätte ertragen
können. Nächtelang hatte er sich schlaflos herumgewälzt und an
die Qualen der hilflosen Geschöpfe gedacht, zu deren Rettung er
zu spät gekommen war. Denn sie waren an irgendeinem abgelegenen
Fleck ausgesetzt worden, wo ihre Schreie ungehört verhallt
und sie langsam an Hunger und Vernachlässigung zugrunde
gegangen waren.
Welche Frau vermochte einer anderen zu befehlen, so grausam
zu sein? Dieselbe Frau, die eine Waffe wie dieses vergiftete
Stilett fertigen konnte, das am Griff mit einer merkwürdigen
silbernen Blume verziert war - offenbar ihrem Emblem. Koste
es, was es wolle, Simon hatte sich fest vorgenommen, die Hexe
aufzustöbern und ihrem ruchlosen Treiben ein Ende zu setzen.
Es sei denn, die Silberne Rose kam ihm zuvor.
Und das war ziemlich wahrscheinlich, wenn er sich weiterhin
so töricht verhielt wie heute Abend. Vor fünf Jahren, ja
nicht einmal vor zwei, wäre er nicht auf einen solchen Hinterhalt
hereingefallen. Aber sein einsamer Kreuzzug hatte ihn so
viel Kraft gekostet, dass er sich wunderte, noch einen Schatten
zu werfen.
Er wickelte das Stilett in die Decke, dann holte er sein
Schwert und seine Handschuhe und machte sich auf den Weg
zurück zu Elle. Sie stampfte, warf den Kopf nach hinten und
zerrte am Zügel, offenbar erschrocken über seinen Kampf mit
der Hexe. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sie wieder beruhigt
hatte. Schließlich drückte er sacht die Stirn an ihre samtweiche
Nase.
»Oh mein Gott, Elle, ich habe es alles so satt, so gründlich
satt!«
Sie wieherte, und ihre dunklen Augen glitzerten schwach im
Mondlicht. Dann begann sie, an seinen Haaren zu schnüffeln
und mit ihrem weichen Maul an seinem Ausschnitt herumzuspielen,
als wolle sie ihn trösten. Es mochte zwar seltsam erscheinen,
doch manchmal dachte Simon, seine Stute verstünde
ihn.
Nur Miri Cheney hätte es nicht für seltsam gehalten. Sie hätte
gesagt ... Simon stockte der Atem, als sich ihr Bild in seine
Gedanken schlich, ihr Bild, das nach all den Jahren noch überdeutlich
vor ihm stand. Die Erinnerung an ein junges Mädchen
mit Haaren hell wie das Licht des Mondes, einem Gesicht zart
wie das eines Engels und Augen, die so sanft schimmern konnten
wie der Morgennebel, aber auch so düster wie ein Sturm auf
hoher See. Feenhafte Augen, die einen Mann vergessen lassen
konnten, wer er war und was er zu tun hatte. Oder schlimmer
noch - wer sie war. Eine Tochter der Erde, eine weise Frau, so
hatte sich Miri immer bezeichnet. Doch egal, wie sie es nennen
mochte, eine Hexe war und blieb eine Hexe. Und dennoch -
Miri hatte auch etwas anderes an sich gehabt.
Trotz ihrer unglücklichen Familie, die aus lauter Hexen bestand,
war Miri eher fehlgeleitet gewesen denn vom Bösen befleckt.
Das Mädchen war erfüllt gewesen von Unschuld, einem
strahlenden Glauben an das Gute in der Welt, einer Hoffnung
auf das Beste in den Menschen. Mädchen? Nein, inzwischen
war sie wohl zur Frau herangereift, und das Licht, das sie früher
verströmt hatte, war wahrscheinlich getrübt, weil ihre Familie
gezwungen worden war, ihr Heim auf Faire Isle zu verlassen
und sich ins Exil zu begeben, wofür zum größten Teil Simon
verantwortlich war.
Doch im letzten Jahr waren Gerüchte an sein Ohr gedrungen,
dass eine der Cheney-Schwestern es gewagt hatte, auf die
Insel zurückzukehren, und jetzt in ruhiger Abgeschiedenheit
dort lebte; eine Frau mit einer fast übernatürlichen Fähigkeit,
kranke oder verletzte Kreaturen zu heilen.
Es gab nur eine, die das konnte - Miri.
Simons Griff um das Halfter seines Pferdes wurde fester,
während er sich bemühte, die Frau aus seinem Kopf zu vertreiben.
Erinnerungen an sie lösten eine Reue in ihm aus, die er
fast nicht ertragen konnte. Doch in letzter Zeit war Miri immer
öfter in seine Gedanken gedrungen, und es gelang ihm nicht
mehr, seinen Geist vor ihr abzuschirmen. Seine Feinde wurden
immer stärker, und er war ganz allein. Er war erschöpft und verzweifelt.
Mit jedem Tag kam er dem Schluss näher, dem er sich
stur zu widersetzen versuchte: Es gab nur eine Möglichkeit, die
Schwesternschaft der Silbernen Rose zu schlagen.
Er musste eine andere Hexe um Hilfe bitten.
1
In der Ferne lauerte ein Sturm, die Wolken türmten sich auf
und sahen aus wie eine Herde wilder grauer Hengste, die sich
anschickten, durch Port Corsair zu toben und die Heiterkeit
des Sommernachmittags zu vertreiben. Miri ritt in leichtem
Galopp in den kleinen Hafenort. Sie richtete sich im Sattel auf
und schnupperte mit geblähten Nasenflügeln. Ihrer Schätzung
nach war das Unwetter ein, vielleicht auch zwei Stunden entfernt.
Meist bekam die Felsenküste von Faire Isle den Großteil
der Stürme ab, die vom Meer hereinbrachen, aber von der
Stärke dieses Sturms würde man nicht einmal im Herzen der
kleinen Insel verschont bleiben.
Die steife Brise zupfte an ihren Haaren, doch ihre blassblonde
Mähne war zu einem festen Zopf geflochten, der ihr bis zur
Taille reichte. Die Züge einer anderen Frau hätten bei so
stramm geflochtenen Haaren vielleicht etwas hart gewirkt,
doch bei Miri betonten sie nur die auffällig schön geschwungenen
Wangenknochen. Ihre Miene hatte etwas Feenhaftes an
sich, es war das Gesicht einer Frau, die die Einsamkeit suchte
und sich bei den Geschöpfen des Waldes heimischer fühlte als
bei ihren Artgenossen.
Sie war groß und gertenschlank. Ihr knöchellanges, in blassem
Grauton gehaltenes Gewand verstärkte den Eindruck, sie sei
ein Wesen, das sich leicht in einer Dunstwolke auflösen könnte.
Ihre Röcke und Unterröcke bauschten sich um ihre Knie, denn
sie saß rittlings auf ihrem Pony. Bei den praktisch denkenden
Frauen auf Faire Isle hatten sich Damensättel nicht durchsetzen
können. Miri hätte gern ganz auf den Sattel verzichtet und wie in
ihrer Kindheit eine bequeme Männerhose getragen. Aber sie
fürchtete, dass sie im Ort schon genug Aufsehen erregte.
Während sie ihr Pony langsamer laufen ließ, wappnete sie
sich gegen den vertrauten Anblick von Gesichtern, die sie über
die Zäune hinweg anstarrten. Manche gafften nur reglos, andere
nickten verlegen, wenn sie sie erkannten. Eine apfelwangige
Frau, die gerade Unkraut jätete, winkte zaghaft, doch als Miri
an ihr vorbeigeritten war, wandte sie sich sofort ihrer Tochter zu
und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Miri hielt den Kopf hoch, doch das Flüstern und die unfreundlichen
Blicke ließen sie an einen schon lange zurückliegenden,
ebenfalls von Unheil überschatteten Sommertag
denken ...
Die Trommel schlug einen unerbittlichen Takt, und ihr Herz
schien in den Rhythmus einzustimmen, als sie von zwei grimmigen
Hexenjägern in schwarzen Kutten zum Marktplatz gezerrt wurde.
Der Strick, den man ihr um den Hals gelegt hatte, scheuerte ihre
Haut auf, doch sie versuchte, den Kopf hochzuhalten und daran zu
denken, wer sie war: die Tochter des tapferen Chevalier Louis Cheney
und der Herrin Evangeline, einer der weisesten Frauen, die je
auf Faire Isle gelebt hatten. Doch nun schrak sie zurück bei all dem
Gaffen, bei all den ungerührten Gesichtern von Menschen, die sie
für Freunde und Nachbarn gehalten hatte.
Sie war durch und durch eine Tochter der Erde. Wie konnte
jemand darauf verfallen, dass sie eine Hexe war und einen unheiligen
Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte? Warum sollte ihr
jemand etwas zuleide tun wollen? Sie drehte sich um und warf
einen flehenden Blick auf den jüngsten der Hexenjäger. Doch obwohl
Simon schluckte und seine dunklen Augen feucht wurden,
marschierte und trommelte er stur weiter.
Miri erbebte und schob die Bilder in den hintersten Winkel
ihrer Erinnerung zurück. Dort gehörten sie auch hin. Sie war
nicht mehr das verängstigte, bestürzte Kind, sondern eine
junge Frau von sechsundzwanzig Jahren. Und all das Unwissen
und die Grausamkeit dieser Welt waren ihr leider nur allzu
bekannt. Seit jenem düsteren Sommertag, den sie gottlob unversehrt
überstanden hatte, hatte sich in ihrem Leben viel ver-
ändert - bis auf eines: Manche verdächtigten sie noch immer,
sich mit Zauberei zu beschäftigen.
»Dreckige kleine Hexe!«
Bei dem schrillen Schrei zuckte Miri zusammen. Doch als sie
sich auf der Suche nach der Quelle dieses bösen Vorwurfs umsah,
stellte sie fest, dass er nicht ihr gegolten hatte.
Neben dem Dorfbrunnen hatte sich ein halbes Dutzend
Frauen versammelt und stritt erbittert. Liebend gern wäre Miri
rasch vorbeigeritten. Sie hasste Auseinandersetzungen, und als
sie sich vor sechs Monaten wieder nach Faire Isle aufgemacht
hatte, hatte ihre Schwester sie gewarnt. Am Morgen des Abschieds
hatte Ariane die Hände um Miris Gesicht gelegt, und
ihre graublauen Augen hatten besorgt und ernst gefunkelt.
»Ich weiß, dass du unbedingt wieder nach Hause willst, aber
bitte, Miri, pass auf dich auf! Du bist nie des Hochverrats und der
Hexerei für schuldig befunden worden, wie es Gabrielle und mir
geschehen ist. Liefere den Leuten keinen Vorwand, es jetzt zu tun!
Lebe auf Faire Isle möglichst ruhig und zurückgezogen. Denk
daran, dass unsere Familie selbst nach all der Zeit noch mächtige
Feinde hat.«
Feinde wie Katharina von Medici, die Königinwitwe von
Frankreich, besser bekannt als die dunkle Königin - denn es
wurde gemunkelt, sie sei eine Hexe -, und ihr Sohn Heinrich,
der jetzige König von Frankreich, ein sprunghafter und nachtragender
Mensch. Doch von dem Feind, an den Ariane wohl
vorrangig gedacht hatte, sprachen sie nie; denn allein die Erwähnung
seines Namens bereitete Miri große Pein: der Hexenjäger Aristide.
Doch Miri war kein unschuldiges Kind mehr und Simon
nicht mehr der einfühlsame Junge, der er damals gewesen war,
als er beim schrecklichen Vachel Le Vis, einem fanatischen Hexenjäger,
in die Lehre gegangen war. Im Lauf der Jahre war
Simon zu einem gefährlichen Gegner geworden, den man nun
weit mehr fürchten musste als seinen längst verstorbenen Meister,
der Miri in jenem Sommer festgenommen hatte.
Miri hatte ihre große Schwester an sich gedrückt und ihr versprochen,
sich nach Kräften an ihren Rat zu halten.
»Tu nichts, um unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen,
Liebes!«, hatte Ariane sie noch gemahnt.
»Nein, bestimmt nicht, Ariane, ich schwör's dir.«
Eingedenk dieses Versprechens lenkte Miri Noisette, ihr
Pony, nun vom Dorfplatz weg und versuchte, die aufgebrachten,
grellen Stimmen auszublenden.
Doch aus den Augenwinkeln erhaschte sie einen Blick auf
das Opfer des Hasses, ein junges Mädchen mit hellem Haar,
kaum älter als vierzehn Jahre. Sie hatte ihren Schal fest um die
schmalen Schultern geschlungen und umklammerte die Enden.
Das Tuch war bunt gewebt wie Josefs Mantel in der Bibelgeschichte
von ihm und seinen Brüdern. Ihr sommersprossiges
Gesicht war trotzig verzogen, doch die freie Hand hatte sie
schützend vor den Bauch gelegt. Miri zügelte ihr Pony, als sie
den Grund für diese Geste erkannte: Das Mädchen war hochschwanger.
Ihre schmale Gestalt wirkte viel zu zerbrechlich, um
die Last zu tragen, die sich deutlich unter ihrem Gewand abzeichnete.
Ihre Hauptgegnerin war eine grobschlächtige Frau, die die
Ärmel ihres Gewandes hochgekrempelt hatte, sodass ihre roten,
von schwerer Arbeit gezeichneten Arme sichtbar wurden. Miri
erkannte sie, es war Josephine Alain, die Frau des Töpfers, die
nun näher an das junge Mädchen herantrat und schrie: »Dirne!
Wir warnen dich jetzt zum letzten Mal, wir wollen nicht, dass
du dich je wieder hier blicken lässt!«
Ein erzürnter Chor unterstützte Madame Alain; nur die
ängstliche kleine Madame Greves schien die anderen um Ruhe
bitten zu wollen. Das Mädchen erwiderte irgendetwas Wütendes,
während ihr trotzige Tränen über die Wangen liefen.
Madame Alain rückte noch näher, beleidigte sie weiter und
fuchtelte mit dem Finger unter der Nase ihres Opfers herum.
Das Mädchen stolperte einen Schritt zurück und schlug Madame
Alains Hand weg. Zu Miris Entsetzen stürzte sich das
Weib daraufhin auf das schwangere Mädchen, ohrfeigte sie und
zog sie an den Haaren.
Miri vergaß alles, was sie ihrer Schwester versprochen hatte,
und stieg hastig aus dem Sattel. Sie nahm Noisette am Halfter
und sah dem Pony in seine großen sanften Augen.
»Bleib hier!«, befahl sie, dann stürmte sie zu der Frauengruppe.
Als Miri bei den Streitenden ankam, hatte das Mädchen sich
zum Sockel der Statue geflüchtet, die den Marktplatz zierte. Sie
hatte sich zusammengekauert und ihren bunten Schal über den
Kopf gezogen, während Madame Alain auf ihren Rücken einschlug.
Die anderen Frauen drängten sich um die zwei und feuerten
Madame Alain an, nur Madame Greves hielt sich heraus
und wrang die Hände unter ihrer Schürze.
Miri schubste die Frauen beiseite, schlang den Arm um Madame
Alains Hals und zog sie gewaltsam von dem Mädchen weg.
»Hört auf!«, herrschte sie das Weib barsch an. »Habt Ihr
denn Euren Verstand verloren?«
Madame Alain knurrte und versuchte, sich aus Miris Griff zu
befreien. Doch die Verzweiflung verlieh Miri große Kräfte, sie
schleuderte das Weib von sich. Die Frau stolperte und landete
unsanft auf ihrem Hintern. Zornig fluchend kämpfte sie mit
ihren verhedderten Röcken, die sie am Aufstehen hinderten.
Miris Herz raste, doch sie trat vor das hellhaarige Mädchen,
ballte die Fäuste und herrschte die Frauen an: »Haltet euch zurück!
Die Nächste, die Hand an dieses Kind legt, wird es mit
mir zu tun bekommen!«
Josephine Alain hatte sich inzwischen wieder hochgerappelt
und wollte sich auf Miri stürzen, doch zwei Nachbarinnen
hinderten sie daran.
»Grundgütiger, Josephine, siehst du denn nicht, wer das ist?
Das Cheney-Weib!«
Miris Name verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Versammlung,
und auf die Gesichter traten Angst, Vorsicht und
Ehrfurcht in unterschiedlicher Ausprägung. Obwohl sich Madame
Alain aus dem Griff ihrer Nachbarinnen befreit hatte,
blieb auch sie stehen und funkelte Miri nur böse an.
Die plötzlich eingetretene Stille beunruhigte Miri. Sie war
froh, als Madame Greves endlich den Mut aufbrachte, ihr zu
helfen. Sie nahm das Mädchen sanft am Ellbogen und zog sie
hoch. Sobald sie ihre Balance wiedergefunden hatte, stieß das
Mädchen die Hände der Frau weg.
»Lasst mich in Ruhe. Mir fehlt nichts.«
Madame Greves' Augen weiteten sich erschrocken, und sie
trat hastig den Rückzug an. Das Mädchen wirkte zwar ein
wenig mitgenommen, doch offenkundig war sie nicht weiter
verletzt. Miri atmete tief aus.
Nachdem sie sich in den Streit eingemischt hatte, wusste sie
nicht, was sie als Nächstes tun sollte; denn ihr war schmerzlich
bewusst, dass sie weder Arianes beruhigende Ausstrahlung besaß
noch das herrschaftliche Auftreten ihrer anderen Schwester,
Gabrielle.
Miri war es unangenehmer, sich mit den streitsüchtigen Frauen
auseinanderzusetzen, als es ihr vorher gewesen war, sich einen
Weg durch sie hindurch zu bahnen. Sie verschränkte die Arme
abwehrend vor der Brust und fragte in einem möglichst bestimmten
Tonfall: »Würde eine von euch vielleicht so freundlich
sein und mir erklären, was hier los ist?«
»Das geht Euch nichts an, Miribelle Cheney.« Aus Madame
Alains Dutt hatten sich ein paar graue Strähnen gelöst, die nun
um ihr Gesicht flatterten - ein Gesicht, das früher einmal recht
hübsch gewesen war, doch inzwischen wirkte es verbittert und
verschlagen.
»Ich fürchte, es geht mich sehr wohl etwas an, wenn erwachsene
Frauen so außer sich geraten, dass sie ein unschuldiges
Mädchen attackieren, noch dazu ein hochschwangeres.«
»Unschuldig?« Madame Alain schnaubte abfällig. »Carole
Moreau ist eine kleine Hure, die die Beine für jeden Matrosen
breit macht, der in den Hafen kommt.«
»Ach, habt Ihr etwa Angst, dass ich Euch keinen übrig lasse?«,
fauchte Carole.
»Du - du widerliches kleines Luder!« Madame Alain wollte
sich wieder auf sie stürzen, doch Miri stellte sich ihr in den Weg
und hielt sie mit einem zornigen Blick auf.
Madame Alain schrie das Mädchen über Miris Schulter hinweg
an: »Wir haben dich oft genug gewarnt, dich nicht mehr
hier herumzutreiben und vor anständigen Frauen den Bastard
in deinem Bauch zur Schau zu stellen.«
»Ich habe dasselbe Recht wie alle anderen, mich hier aufzuhalten
«, rief Carole zornig, doch ihre Lippen zitterten.
»Du solltest daheim bleiben und deine Schande verstecken.«
»Ich würde sagen, schändlich sind eher die Männer, die ein
solch junges Mädchen ausnutzen«, sagte Miri kalt.
»O nein, Mademoiselle Cheney«, meldete sich eine andere
Frau zu Wort, eine großbusige Blondine. »Carole ist wirklich
ein durchtriebenes Biest. Sie überhäuft uns ständig mit Verwünschungen.
Neulich hat sie es geschafft, dass meine Milch
sauer geworden ist. Sie hat den bösen Blick!«
Mehrere andere Frauen nickten zustimmend und bekreuzigten sich.
Miri schüttelte ungläubig den Kopf. »Seit wann glauben die
Frauen auf Faire Isle an Unsinn wie den bösen Blick? Mein
Gott, ich habe auf dem Festland wahrhaftig genug Grausamkeit
und Torheit gesehen. Dieses Eiland aber war einst eine Zufluchtstätte,
vor allem für Frauen, denen anderswo Missverständnis
und Gewalttätigkeit begegnet waren. Wir pflegten
einander mit Respekt zu behandeln. Was ist aus eurer Freundlichkeit
und eurem Mitleid geworden?«
Miri blickte einer nach der anderen tief in die Augen. Die
meisten ließen den Kopf hängen oder senkten beschämt den
Blick. Nur Madame Alain wollte nicht klein beigeben.
»Ihr seid lange weg gewesen, Miri Cheney. Seit den Überfällen
von Le Balafre und seinen Hexenjägern ist das Leben auf
dieser Insel sehr schwer geworden. Die Leute vom Festland
haben Angst herzukommen. Unser Handel ist versiegt. Meine
Familie ist besonders davon betroffen, wir mussten unsere Töpferei
aufgeben. Mein Mann ist daran zugrunde gegangen, und
jetzt muss ich ganz allein sechs Kinder satt bekommen. Und
Eure Schwestern sind an allem schuld, denn sie haben den
Zorn dieses elenden Hexenjägers und des französischen Königs
über uns gebracht.«
Miri spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg, doch sie
erwiderte möglichst ruhig: »Meine Schwestern sind weder Verräterinnen
noch Hexen. Es tut mir sehr leid, dass Ihr es so
schwer habt, Madame, aber wenn Ihr unbedingt eine Schuldige
braucht, dann nehmt mich. Es war meine Schuld, dass ich dem
falschen Mann vertraut und Le Balafre nicht aufgehalten habe,
als ich es noch gekonnt hätte.«
Obwohl Miri sich dafür hasste, konnte sie sogar jetzt an ihn
kaum als den gefürchteten Le Balafre denken, sondern nur als
Simon ... Simon Aristide.
»Jawohl, Ihr seid genauso daran schuld«, erwiderte Madame
Alain. Obwohl die anderen Miri wachsam beäugten und Madame
Greves versuchte, ihre Freundin zu beschwichtigen, trat
Madame Alain näher. Die Feindseligkeit der Frau schlug Miri
wie eine heiße, dunkle Woge entgegen.
»Auch wenn hier alle zu feige sind, es Euch zu sagen: Ihr seid
auf dieser Insel ebenso wenig willkommen wie das kleine Miststück,
zu dessen Fürsprecherin Ihr Euch aufspielt.«
»Das finde ich sehr schade, Madame. Aber Faire Isle ist meine
Heimat, und auch Mademoiselle Moreau ist hier zu Hause.
Weder sie noch ich werden diese Insel verlassen.« Miri hielt
dem feindseligen Blick der Frau eisern stand.
Madame Alain schlug als Erste die Augen nieder. »Das werden
wir schon noch sehen«, murrte sie, dann stolzierte sie über
die Wiese davon, gefolgt von den anderen.
Nur Madame Greves blieb stehen und zupfte verlegen an
den Enden ihres Kopftuchs. Dann meinte sie: »Ihr dürft es Josephine
nicht übel nehmen, Herrin. Sie hat es wirklich sehr
schwer, und oft kommen ihr Dinge über die Lippen, die sie gar
nicht so meint.«
»Madame Alain hat nur gesagt, was alle denken.«
»Nicht alle.« Madame Greves berührte vorsichtig Miris Ärmel.
»Ihr glaubt wahrscheinlich, dass wir vergessen haben, wie
viel Gutes Eure Familie einst für Faire Isle getan hat. Aber viele
von uns erinnern sich noch an früher und freuen sich, dass wir
unsere Herrin wieder bei uns haben.«
»Oh nein, Madame«, wandte Miri sofort ein. »Ich bin nicht
die Herrin von Faire Isle. Das war meine Schwester Ariane.«
»Ich weiß ja, meine Liebe. Madame Ariane ist eine gütige
und weise Frau, eine wahre Heilerin. Ich bete darum, dass sie
eines Tages wieder zu uns zurückkehrt. Aber Eure Gabe, die
armen Tiere zu heilen, ist genauso groß wie die Gabe Eurer
Schwester, sieche Menschen zu kurieren. Wir haben alle erfahren,
dass Ihr die Kuh der Pomfreys von den Toten zurückgeholt habt.«
»Oh nein, sie war nicht tot, nur sehr, sehr krank. Es - es war ...«
»Ein Wunder!«, fiel ihr Madame Greves strahlend ins Wort.
»Ihr habt einen sehr starken Zauber. Euer Ruf verbreitet sich bis
aufs Festland.« Die kleine Frau senkte verschwörerisch die
Stimme. »Wir nennen Euch inzwischen unsere Herrin der Wälder.«
Miri war alles andere als begeistert. Herrin der Wälder? Na
wunderbar! Sie hatte Ariane doch versprochen, keine Aufmerksamkeit
zu erregen. Dabei war sie kaum ein halbes Jahr zurück.
Aber bevor sie Madame Greves überzeugen konnte, dass die
Heilung der Kuh einzig und allein den Regeln vernünftiger
Viehzucht entsprochen hatte, wurden sie von Madame Alains
schriller Stimme gestört, die quer über die Wiese schallte.
»Laurette!«
Offenbar hatte sie bemerkt, dass ihre Freundin sie im Stich
gelassen hatte, und winkte ihr nun herrisch. Madame Greves
trat einen Schritt zurück und machte einen tiefen Knicks vor
Miri. »Nun, ich - ich wollte nur, dass Ihr Bescheid wisst, Herrin.«
»Danke, Madame. Aber nennt mich bitte nicht Herrin. Ich bin nur ...«
Doch Madame Greves eilte bereits den anderen Frauen nach.
Miri seufzte. Obwohl Laurette Greves sehr freundlich gewesen
war, sah sie sie nicht ungern ziehen; denn die Bewunderung der
Frau war ihr genauso unangenehm wie zuvor Madame Alains
Feindseligkeit.
Nach dem Streit überkam Miri das Gefühl, das sie stets nach
einem Streit oder einer gewaltsamen Auseinandersetzung heimsuchte:
Sie zitterte, ihre Nerven fühlten sich an wie die zarten
Saiten einer Harfe, die raue Hände dazu gezwungen hatten, in
Disharmonie zu erklingen.
Sie schlang die Arme um den Oberkörper und sah zu Noisette
hinüber. Das Pony zupfte friedlich an ein paar Grashalmen.
Sie sehnte sich danach, auf seinem Rücken in die Einsamkeit
ihrer Wälder zurückzukehren und dort zu bleiben, bis
sie wieder Harmonie in sich spürte. Carole hatte sie beinahe
völlig vergessen, bis sie das Mädchen neben sich murren hörte.
»Gut, dass wir diese alten Schreckschrauben los sind. Sie
haben mir fast meinen Schal zerrissen, den meine grand-mère
vor ihrem Tod extra für mich gestrickt hat. Wenn ich diese
Weiber verhexen könnte, würde ich es auf der Stelle tun. Ich
würde ihnen Warzen auf die Nasen hexen und Furunkel auf
ihre fetten Hintern.«
Caroles Lippen zitterten, während sie den Staub aus ihrem
geliebten Schal klopfte. Doch als sie merkte, dass Miri sie ansah,
schlang sie den Schal wieder um die Schultern und schob
trotzig das Kinn vor. Ihre Sommersprossen hoben sich auffällig
von ihrer blassen Haut ab, und ein Auge fing an, dunkel anzuschwellen;
Tränen hatten Spuren auf ihren Wangen hinterlassen.
Ihr Gesicht wirkte erbärmlich jung, der Ausdruck in
ihren zornigen blauen Augen jedoch viel zu alt.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2006
unter dem Titel The Silver Rose
bei Ballantine Books, New York.
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Copyright der Originalausgabe © 2006 by Susan Coppula
Published by arrangement with Susan Coppula.
Dieses Werk wurde im Auftrag von Jane Rotrosen
Agency LLC vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2011 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Übersetzung: Angela Schumitz
Projektleitung: Librisco Consult, München
Redaktion: Sandra Lode
Umschlaggestaltung: Zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Shutterstock (© palex1977; © ilolab);
Zeichenpool Archiv
Satz: Dirk Risch, Berlin
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-8289-9729-5
2014 2013 2012 2011
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Ausgabe an.
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Autoren-Porträt von Susan Carroll
Susan Carroll hat Englisch und Geschichte studiert und schreibt historische Liebesromane. Mit ihrer Feuerfrau-Trilogie, in der sie sich erstmals auf fantastische Elemente einließ, eroberte sie auch hierzulande eine große Fangemeinde. Für ihre Bücher ist sie bereits mehrfach ausgezeichnet worden. Susan Carroll lebt und arbeitet in Rock Island, Illinois. Bei Weltbild erschienen bereits Die dunkle Königin und Die Geliebte des Königs, der erste und zweite Band einer Reihe um die berühmt-berüchtigte Katharina von Medici.
Bibliographische Angaben
- Autor: Susan Carroll
- 2011, 1, 478 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828997295
- ISBN-13: 9783828997295
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