Der Fluch der Hebamme
Freiberg, 1189: Schon fünf Jahre sind seit Christians Tod vergangen. Doch der Verlust ihres geliebten Mannes lastet immer noch schwer auf Marthe. Und die bevorstehende Machtübernahme des grausamen Albrecht, Sohn des Markgrafen Otto, macht...
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Produktinformationen zu „Der Fluch der Hebamme “
Freiberg, 1189: Schon fünf Jahre sind seit Christians Tod vergangen. Doch der Verlust ihres geliebten Mannes lastet immer noch schwer auf Marthe. Und die bevorstehende Machtübernahme des grausamen Albrecht, Sohn des Markgrafen Otto, macht Marthe und Lukas Angst. Doch sie können nicht fliehen, schließlich muss Marthe sich noch um ihre und Christians fast erwachsenen Kinder kümmern. Die 16-jährige Clara soll heiraten, obwohl sie eigentlich heimlich in einen anderen verliebt ist. Und Thomas hat weitaus größere Pläne. Er schließt sich Kaiser Barbarossas Kreuzzug ins Heilige Land an, wo ihn viel Unbekanntes, Spannendes und Dramatisches erwartet.
Lese-Probe zu „Der Fluch der Hebamme “
Der Fluch der Hebamme von Sabine EbertProlog
Auf der Suche nach Frieden und einem besseren Leben waren sie in ein fernes, kaum bewohntes Land gezogen.
Doch bald wurde dort Silber gefunden, und ein großes Berggeschrei begann. Von überall strömten Glückssucher in den Weiler im Dunklen Wald. Blutiger Streit flammte auf, die Hoffnung auf Ruhe und Frieden erlosch.
Und als sei dies nicht schon Unheil genug, brachen plötzlich auch noch die Unruhen der großen Welt in die kleine Welt der Siedler und Bergleute. Prediger zogen durchs Land und verbreiteten Schreckensnachrichten vom Fall der Stadt Jerusalem. Priester riefen in den Kirchen zu einem Heiligen Krieg auf, um das Wahre Kreuz aus den Händen der Ungläubigen zu befreien.
Viel zu spät erst begriff mancher: Die wirklichen Feinde trifft man nicht in der Fremde. Und kein Krieg ist heilig.
ERSTER TEIL
Familienaffären
Mai 1189 in Freiberg
... mehr
Reglos und mit halb geschlossenen Augen beobachtete Lukas, wie sich seine Frau aus dem Bett stahl, obwohl der Tag kaum angebrochen war. Ohne zu ihm zu sehen, zog sie sich ihr Kleid über, flocht das Haar, bedeckte es mit einer schlichten Bundhaube und ging leise hinaus.
Er wusste, was sie vorhatte, und er wusste auch, dass sie dabei allein sein wollte. Heute war der Namenstag ihres früheren Mannes, seines besten Freundes.
Obwohl Christians Opfertod schon fast fünf Jahre zurücklag, trauerten sie beide noch um ihn, wenn auch auf sehr verschiedene Weise.
Marthe würde nun in der Kapelle für ihn beten. Christian war die Liebe ihres Lebens gewesen, und es verging kein Tag seit ihrer aus der Not heraus geborenen Heirat, an dem sich Lukas nicht fragte, ob der Geist des toten Freundes nicht unsichtbar zwischen ihnen im Bett lag.
Dabei machte Christians Tod auch ihn immer noch so wütend und verzweifelt, dass es ihm die Kehle zuschnürte. Manchmal rechnete er sogar damit, den Freund bei den Ställen oder im Haus vorzufinden. Oder auf der Burg, wo Christian über die
rasch gewachsene Bergmannssiedlung wachte, bis ihn seine Feinde auf Befehl des ältesten Sohnes des Meißner Markgrafen ermorden ließen.
Er, Lukas, hatte Marthe schon geliebt, lange bevor sie Christians Frau wurde. Doch ihre Hochzeit verlief unter Umständen, wie er sie sich nie gewünscht hätte. Ein alter und einflussreicher Feind - der Hauptmann der Leibwache des Meißner Markgrafen Otto von Wettin - hatte Marthe am Tag der Beerdigung von Christians Grab entführt und mit Gewalt zu seiner Frau gemacht. Als Lukas sie endlich fand, tötete er den anderen in maßlosem Zorn. Der einzige Weg, sich und seine Mitstreiter vor dem Todesurteil und Marthe vor dem Kloster zu retten, war die sofortige Heirat.
Als Marthes vorsichtige Schritte die Treppe hinab verklungen waren, stand Lukas auf, zog sich an und ging ebenfalls in das Erdgeschoss des Steinhauses, in dem sie wohnten. Fast alle schienen noch zu schlafen. Nur Anna, die junge Magd, war schon auf und schürte das Feuer. Sie grüßte ihn ehrfürchtig und bot ihm Bier und kalten Brei an.
»Wenn meine Frau zurückkommt, richte ihr aus, dass ich oben auf sie warte«, wies er sie an und stieg wieder in die Kammer. Dort setzte er sich an den Tisch und stützte die Stirn auf die verschränkten Hände, während dunkle Gedanken in ihm wühlten.
Christians Tod war bis heute nicht gerächt, sah man davon ab, dass Lukas dem künftigen Markgrafen unmittelbar nach der Bluttat den Kopf des Mannes vor die Füße geworfen hatte, der den todbringenden Pfeil geschossen hatte. Doch derjenige, der den Befehl zu dem Mord gegeben hatte, lebte weiter unbehelligt und würde in naher Zeit die Regentschaft über das Land übernehmen.
Und auf der Freiberger Burg herrschte nun ein launenhafter, unerbittlicher Mann.
Das war einer der Gründe, weshalb er und Marthe die junge Stadt nicht längst verlassen hatten. Eigentlich sollte er sich jetzt auch besser auf den Weg zur Burg begeben, um seinen Dienst als Kommandant der Wachmannschaft anzutreten. Aber diesmal würde er die Strafe für sein Zuspätkommen hinnehmen. Es gab Dinge, die ihm heute wichtiger waren als die gute oder schlechte Laune des Burgvogtes.
Lukas hätte nicht sagen können, wie viel Zeit verstrichen war, als Marthe eintrat. Trauer umwehte ihre zierliche Gestalt wie flirrender Wind, auch wenn sie sich Mühe gegeben hatte, die Spuren ihrer Tränen zu beseitigen. Jetzt lächelte sie ihm sogar zu, etwas gequält.
»Müsstest du nicht längst auf der Burg sein?«
Er beantwortete die Frage nicht, streckte stattdessen eine Hand aus und sah ihr in die Augen.
»Komm her!«
Entgegen ihrer Art wich sie seinem Blick aus, während sie auf ihn zuging, leicht verwundert über sein Ansinnen und in Gedanken wohl immer noch bei Christian.
Lukas zog sie an sich und setzte eine gespielt strenge Miene auf. »Es wird Zeit, Weib, dass du deinem Gemahl wieder einmal deinen Gehorsam erweist.«
Zu anderer Zeit hätte sie wohl gelacht oder wenigstens gelächelt; Lukas war ein spöttischer Geist und scherzte oft. Aber diesmal, das spürte sie, lag Ernst hinter den ironisch vorgebrachten Worten.
Um keinen Zweifel an der Art des Gehorsams aufkommen zu lassen, den er erwartete, schob er ihr den Rock hoch und strich mit seinen Händen begehrlich über ihre schlanken Schenkel. Lukas spürte, wie sie für einen Augenblick erstarrte. Doch er wollte ihr erst gar keine Zeit zum Nachdenken geben. Er musste es schaffen, Marthes Gedanken von Christians Grab loszureißen.
Seine Hände wanderten höher, umfassten ihre Hüften und zogen sie mit unnachgiebiger Kraft an sich, während er den Kopf senkte und jene Stelle mit Küssen bedeckte, wo Hals und Schulter ineinander übergingen - etwas, dem sie kaum widerstehen konnte, wie er wusste.
»Du musst auf die Burg, und jeden Moment kann jemand hereinkommen«, wandte sie halbherzig gegen sein für diese Tageszeit ungewöhnliches Vorhaben ein.
»Ich habe angewiesen, dass niemand uns stören soll«, murmelte er, zog ihr die Haube vom Kopf und strich durch ihr kastanienbraunes Haar.
Dann presste er mit der Linken ihren Leib gegen seinen, damit sie seine Erregung spüren konnte. Die Rechte legte er um ihren Nacken und küsste sie; nicht sanft und verspielt wie sonst meistens, sondern hart und fordernd.
Mittlerweile brachte ihn sein Begehren fast um den Verstand, und er spürte, dass auch sie vor Verlangen erschauderte.
Er zog sie zum Bett und nahm sich nicht erst die Zeit, ihr Untergewand und Bliaut auszuziehen; von seiner eigenen Kleidung löste er lediglich den Gürtel, der die Bruche hielt.
Sein aufgerichtetes Glied reckte sich ihr groß und begehrlich entgegen.
Marthe ließ Lukas nicht aus den Augen, während sie sich wortlos hinlegte, den Rock hochzog und die Beine leicht öffnete.
Er verharrte einen Moment, um das Bild in sich aufzunehmen. Dann kniete er sich über sie und glitt in sie hinein. Bereitwillig, wenngleich immer noch verwundert, nahm sie ihn in sich auf.
Sie hatten oft genug miteinander das Bett geteilt, um den anderen zu kennen; ihre Liebesnächte waren trotz der schrecklichen Umstände, die zu ihrer Ehe geführt hatten, voller Zärtlichkeit und Erfüllung gewesen. Doch diesmal war es anders.
Hart und besitzergreifend stieß Lukas in sie hinein, und bei jedem Stoß dachte er: Vergiss Christian! Vergiss ihn wenigstens, solange ich in dir bin! Du bist jetzt meine Frau!
Bald konnte er auch das nicht mehr denken, sondern nur noch fühlen, mit jedem winzigen Stück, das er tiefer in sie eindrang: Du ... bist ... mein ...
Er musste sie dazu bringen, aus der Vergangenheit zum Jetzt und Hier zurückzukehren, vom Tod ins Leben, von dem Toten zu ihm.
Immer schneller, kräftiger pflügte er sie, hörte mit grimmiger Befriedigung, dass nun auch sie ihre Lust herausschrie, spürte, wie sein Höhepunkt nahte, und holte noch einmal weit aus, bis er sich befreit aufstöhnend in sie ergoss.
Schweißnass ließ er sich auf sie sinken.
Flüchtig huschte ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er sich vielleicht doch besser vorher hätte ausziehen sollen. Die Bruche und die daran festgenestelten Beinlinge hingen ihm irgendwo zwischen den Knöcheln, was unweigerlich ein lächerliches Bild abgeben würde, wenn er aufstand. Er streifte beides mit einer Fußbewegung ab.
Still lag er zwischen ihren Schenkeln, genoss es, noch in ihr zu verharren, während er langsam erschlaffte, und fühlte sich geborgen, zufrieden und müde. Am liebsten würde er für den Rest des Tages so liegen bleiben.
Marthe riss ihn aus der Trägheit. Sanft strich sie mit ihrer schmalen Hand über sein vertrautes Gesicht, bis er ihr in die Augen sah. Ihr Blick sagte ihm, dass sie verstanden hatte - und ihm verzieh.
Nur mit Mühe widerstand Marthe der Versuchung, sich der Müdigkeit hinzugeben. Sie wusste, wenn sie jetzt die Augen schließen würde, schliefe sie ein. Und dabei war so viel zu tun! Ein halbes Dutzend Kranke wartete auf sie; vor allem aber musste sie ihren Mann dazu bringen, sich schleunigst auf seinen Posten zu begeben. Burgvogt Heinrich, der jede Gelegenheit nutzte, ihm etwas anzukreiden, schnaubte gewiss schon vor Wut. Doch das eben Erlebte hing immer noch unsichtbar zwischen ihnen und ließ sie zögern.
Er hat recht, dachte sie und sah mit wehmütigem Blick auf Lukas. Ich darf nicht länger in der Vergangenheit verweilen. Christian ist tot, unabwendbar, auch wenn ich ihn noch so sehr vermisse. Aber Lukas lebt, und er verdient meine Liebe.
Sie hob die Hand, die ihr bleiern vorkam, und strich damit erneut über Lukas' Wangen. Ein paar blonde Locken hingen ihm ins Gesicht, der sorgfältig gestutzte Bart, den er sich seit einiger Zeit stehenließ, fühlte sich weich unter ihren Händen an.
Abermals sah er sie an, und ein Blick in seine blauen Augen holte sie endlich in die Gegenwart zurück, in die Arme des Mannes, der sie liebte, ihr Schutz und Geborgenheit gab.
Sie lächelte, diesmal ganz ohne Wehmut.
Von draußen hörten sie Vogelgezwitscher, das Plappern der Mägde, weiter weg gackerten ein paar Hühner, ein Pferd wieherte. Wenn man in ihre Augen blickt, ist es, als würde man versinken, dachte Lukas nicht zum ersten Mal. Ihre graugrünen Augen und das kastanienfarbene Haar hatten ihn von Anfang an betört. Und je öfter er in diese Augen sah, umso mehr entdeckte er darin: uraltes, verborgenes Wissen, weitergereicht über Generationen weiser Frauen.
Er gehörte zu den wenigen, die wussten, dass seine Frau nicht nur eine erfahrene Heilerin und Wehmutter war, sondern gelegentlich auch von Vorahnungen heimgesucht wurde, die man besser ernst nahm.
Doch jetzt verriet nichts in ihren Zügen etwas von einer schrecklichen Vision.
Was wohl heißt, dass es beim Burgvogt so schlimm nicht werden wird, dachte er mit neu erwachter Spottlust. Aber dafür sollte ich ihn nicht noch länger warten lassen.
Marthe schien das Gleiche zu denken, denn ihr Blick richtete sich gerade auf den Gambeson, der auf einer der Stangen in der Kammer hing.
»Lass mich dir helfen«, bot sie an und richtete sich auf. »Ist heute nicht das Treffen mit den Ratsherren?«
»Bei allen Heiligen!«, stöhnte Lukas auf. »Das hätte ich fast vergessen.«
Seinem Befehl unterstanden die Bogenschützen, die städtischen Wachen und alle sonstigen Kämpfer, die nicht dem Ritterstand angehörten. Auch weil er sich als einer der ersten Christiansdorfer und Vertrauter des Dorfgründers unter den Stadtbewohnern gut auskannte, rief ihn der Vogt oft hinzu, wenn Angelegenheiten mit dem Rat zu besprechen waren.
Schon war er aus dem Bett, lehnte sich aus der Fensterluke und pfiff gellend auf zwei Fingern.
»Peter soll mein Pferd satteln!«, rief er hinab, bekam eine kurze Bestätigung des Befehls und wandte sich grinsend wieder Marthe zu.
»Irgendwelche Schreckensvisionen? Wird Heinrich mir den Kopf abreißen? Ein Dämon auf dem Weg zur Burg auf auern?«, fragte er mit gespielter Leichtigkeit.
Lächelnd schüttelte sie den Kopf, während sie ihm in den Gambeson half.
»Ich bin sicher, diesen Tag überstehst du lebend«, antwortete sie ebenso leichthin, während er sein Wehrgehänge gürtete.
Nachdem Lukas mit raschen Schritten die Treppe heruntergelaufen war, ließ sich Marthe auf die Bettkante sinken. Müde strich sie sich mit den Händen über die Augen, dann sah sie zum Fenster. Ihr war zumute, als senkten sich die grauen Wolken wie Blei auf ihre Schultern.
Christian hätte die Düsternis verstanden, die sie erfüllte, denn
auch er hatte finstere Zeiten durchleben müssen. Doch mit Lukas darüber zu sprechen, scheute sie sich. Er war leichtlebiger, manchmal schon fast leichtsinnig. Vielleicht würde er ihr nur mit einer spöttischen Bemerkung antworten.
Man musste nicht über die Gabe des zweiten Gesichts verfügen oder den Wanderpredigern zugehört haben, um zu befürchten, dass Unheil nahte, schlechte Zeiten für alle, die einst treu zu Christian gestanden hatten. Es würde schwierig für sie werden, wenn der alte Markgraf starb, der nun schon fast siebzig Jahre zählte.
Ein nicht mehr zu bezwingendes Gefühl sagte Marthe, dass diese schlechten Zeiten in greifbare Nähe rückten, mit jedem Tag mehr.
Auf der Freiberger Burg
»Das ist eine Unverschämtheit!«, tobte der Burgvogt. »Ich sollte euch alle mit Hunden vom Hof hetzen lassen!«
Vogt Heinrich - stiernackig, kahl und in der ganzen Stadt für seine Unerbittlichkeit gefürchtet - war vom Stuhl aufgesprungen und blickte wutentbrannt auf die drei Ratsherren. Er hatte sie auf deren Bitte hin empfangen, weil sie ein schwieriges Anliegen vorbringen wollten. Wie sich nun herausstellte, bestand dieses schwierige Anliegen darin, einen Ritter der Notzucht zu beschuldigen.
Die unverheiratete Tochter eines Häuers behauptete, dieser Mann habe ihr Gewalt angetan, als sie zwischen den Halden nach einer entlaufenen Ziege gesucht hatte.
»Das Mädchen wagte es nicht, darüber zu reden, bis die Schwangerschaft offensichtlich war«, erklärte der aufsässigste unter den Ratsherren, ein Schmied namens Jonas, beherrscht. »Es ist natürlich zu spät, um Klage zu erheben. Aber vielleicht könnt Ihr dafür sorgen, dass ihr Vater ein Wergeld bekommt. Und mäßigend auf Eure Ritter einwirken. Es häufen sich Beschwerden über ein paar unschöne Zwischenfälle an den Brotbänken, und zwei Eurer Männer haben eine Bademagd grün und blau geschlagen.«
Am liebsten wäre der Vogt dem dreisten Schwarzschmied für diese Worte an die Kehle gegangen. Noch lieber hätte er ihm mit einem einzigen Streich den Kopf von den Schultern geschlagen. Er konnte förmlich spüren, wie seine Galle überlief. Mühsam rang er nach Luft, während ihm das Blut in den müden Venen pochte. Wenn er sich nicht schnellstens beruhigte, traf ihn noch der Schlag. In Gedanken hörte er schon seine Frau, zu deren Tugenden nicht gerade Schweigsamkeit zählte, wie sie ihm wortreich die üblichen Vorhaltungen machte, er solle mehr auf seine Gesundheit und die Ausgeglichenheit seiner Säfte achten. Im schlimmsten Fall würde sie den Bader kommen lassen. Oder noch übler: das Weib seines Vorgängers, damit sie ihn kurierte, diese Marthe. Die war ihm erst recht nicht geheuer.
Schwitzend strich sich Heinrich über den kahlen Schädel und ließ die Hand kurz im fleischigen Nacken ruhen. Dann stützte er die Fingerknöchel auf die Tischplatte und beugte sich vor, um dem Schmied drohend in die Augen zu sehen.
»Die Bademägde sind Huren, die sich für derlei Dienste gut bezahlen lassen!«, fuhr er ihn an. »Und was diese Häuerstochter angeht: Suchte sie gleich nach der angeblichen Missetat einen Richter auf und erhob Klage mit zerzaustem Haar und zerrissenem Kleid, wie es das Gesetz vorschreibt? Anscheinend nicht, sonst wüsste ich davon. Also hat sie das Balg von wer weiß wem und erdreistet sich jetzt, herumzuschreien, um ihre Unzucht nicht eingestehen zu müssen.«
Immer noch kochend vor Wut, ließ er sich wieder auf seinen Platz sinken. War denn die ganze Welt aus den Fugen?
Vor kaum mehr als zwanzig Jahren waren die hier noch Knechte gewesen, Siedlergesindel, das auf allen vieren durch den Wald gekrochen kam, um nicht vor Hunger zu verrecken. Die hatten zu roden und zu säen und das Maul zu halten und höchstens von weitem und auf Knien einen ehrfürchtigen Blick auf Männer von Stand zu werfen!
Aber weil hier durch Zufall Silbererz gefunden worden war, wuchs das entlegene Rodungsdorf mitten im Dunklen Wald geradezu unheimlich schnell. Und wenn auch der alte Markgraf von Meißen ein entschlossener und weitsichtiger Mann war, der die Erzförderung mit kühnen Befehlen schnell vorantrieb - in einem hatte sich der sonst so unnachgiebige Otto von Wettin Heinrichs Meinung nach beschwatzen lassen: als er den Christiansdorfern vor vier Jahren das Stadtrecht gewährte.
Mit den Folgen musste er, Heinrich, sich nun als Vogt auf der Freiberger Burg herumschlagen. Statt vor ihm im Staub zu kriechen, wählten die Ortsansässigen neuerdings Ratsherren, die glaubten, ihm in seine Angelegenheiten hineinreden zu können. Er hatte es schlichtweg abgelehnt, ins Dinghaus zu gehen und sich dort mit dem gesamten Rat zu treffen. So weit kam es noch! Also hatten die drei vor seiner Tür gewartet und um Einlass gebeten, als Bittsteller, wie es sich gehörte.
Der Tucher und der Gewandschneider hatten schon wieder den Schwanz eingezogen wie räudige Hunde. Doch da war noch dieser aufsässige Schwarzschmied, der schlimmste von allen! Seit wann waren Schmiede eigentlich ratswürdig, ausgenommen Gold- und Silberschmiede natürlich und vielleicht noch Waffenschmiede? Aber in diesem Rat versammelte sich wirklich das merkwürdigste Volk: Fassmacher, Wagener ... sogar ein Fuhrmann!
Da, schon wieder setzte dieser Jonas zu einer Entgegnung an. Heinrich konnte sich bereits denken, was als Nächstes kommen würde.
»Der Vater des Mädchens ist arm. Er kann es sich nicht leisten, die Ziege zu töten, die bei der Untat zugegen war, wie es das Gesetz vorschreibt.«
Ja, dazu ist das Gesetz da!, dachte Heinrich. Damit nicht jeder Knecht es wagt, einen Herrn vor Gericht zu beschuldigen. »Arm, ja? Erzählt man sich nicht im ganzen Land die unglaublichsten Geschichten vom Reichtum der jungen Silberstadt Freiberg und ihrer Bewohner?«, höhnte er. »Gesetz ist Gesetz. Wenn ihr wirklich widerfahren wäre, was hier Ungeheuerliches behauptet wird, hätte sie sich an den Richter wenden sollen, wie es sich gehört. An den Vogt. An mich. Sie sollte froh und dankbar sein, wenn ich ihr nicht wegen Verleumdung die lügnerische Zunge herausreißen und sie aus der Stadt jagen lasse!«
Jonas sah hilfesuchend zu Lukas, der ebenso wie der hochfahrend blickende, reich gekleidete Ritter neben ihm bisher kein Wort zu dieser Unterredung beigetragen hatte.
Doch der sonst nicht gerade für Schweigsamkeit und Zurückhaltung bekannte Lukas zuckte nur bedauernd mit den Schultern.
Da das Mädchen nicht auf der Stelle Anklage erhoben hatte, konnte sie es nun auch nicht mehr tun. Ihr war wohl klar gewesen, dass sie kaum recht bekommen würde gegen einen Ritter, der bloß ein paar Eideshelfer brauchte, die beteuerten, dass er dergleichen niemals tun würde. Um das Seelenheil nicht zu gefährden, würden sie für den Meineid jemanden mit einer Wallfahrt an ihrer statt beauftragen.
Sie hatte wohl einfach - und leider vergeblich - gehofft, dass ihr eine Schwangerschaft erspart bliebe.
»Wir werden die Ritter ermahnen, sich gegenüber den Frauen zu verhalten, wie es sich geziemt«, meinte Lukas nur und fing sich dafür einen wütenden Blick des Vogtes ein.
Das kümmerte ihn wenig. Er musste mit Marthe darüber reden. Sie würden das Mädchen als Magd in ihre Dienste nehmen, falls ihr Vater sie verstieß. Mehr konnte er nicht tun.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © November 2010, by Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Reglos und mit halb geschlossenen Augen beobachtete Lukas, wie sich seine Frau aus dem Bett stahl, obwohl der Tag kaum angebrochen war. Ohne zu ihm zu sehen, zog sie sich ihr Kleid über, flocht das Haar, bedeckte es mit einer schlichten Bundhaube und ging leise hinaus.
Er wusste, was sie vorhatte, und er wusste auch, dass sie dabei allein sein wollte. Heute war der Namenstag ihres früheren Mannes, seines besten Freundes.
Obwohl Christians Opfertod schon fast fünf Jahre zurücklag, trauerten sie beide noch um ihn, wenn auch auf sehr verschiedene Weise.
Marthe würde nun in der Kapelle für ihn beten. Christian war die Liebe ihres Lebens gewesen, und es verging kein Tag seit ihrer aus der Not heraus geborenen Heirat, an dem sich Lukas nicht fragte, ob der Geist des toten Freundes nicht unsichtbar zwischen ihnen im Bett lag.
Dabei machte Christians Tod auch ihn immer noch so wütend und verzweifelt, dass es ihm die Kehle zuschnürte. Manchmal rechnete er sogar damit, den Freund bei den Ställen oder im Haus vorzufinden. Oder auf der Burg, wo Christian über die
rasch gewachsene Bergmannssiedlung wachte, bis ihn seine Feinde auf Befehl des ältesten Sohnes des Meißner Markgrafen ermorden ließen.
Er, Lukas, hatte Marthe schon geliebt, lange bevor sie Christians Frau wurde. Doch ihre Hochzeit verlief unter Umständen, wie er sie sich nie gewünscht hätte. Ein alter und einflussreicher Feind - der Hauptmann der Leibwache des Meißner Markgrafen Otto von Wettin - hatte Marthe am Tag der Beerdigung von Christians Grab entführt und mit Gewalt zu seiner Frau gemacht. Als Lukas sie endlich fand, tötete er den anderen in maßlosem Zorn. Der einzige Weg, sich und seine Mitstreiter vor dem Todesurteil und Marthe vor dem Kloster zu retten, war die sofortige Heirat.
Als Marthes vorsichtige Schritte die Treppe hinab verklungen waren, stand Lukas auf, zog sich an und ging ebenfalls in das Erdgeschoss des Steinhauses, in dem sie wohnten. Fast alle schienen noch zu schlafen. Nur Anna, die junge Magd, war schon auf und schürte das Feuer. Sie grüßte ihn ehrfürchtig und bot ihm Bier und kalten Brei an.
»Wenn meine Frau zurückkommt, richte ihr aus, dass ich oben auf sie warte«, wies er sie an und stieg wieder in die Kammer. Dort setzte er sich an den Tisch und stützte die Stirn auf die verschränkten Hände, während dunkle Gedanken in ihm wühlten.
Christians Tod war bis heute nicht gerächt, sah man davon ab, dass Lukas dem künftigen Markgrafen unmittelbar nach der Bluttat den Kopf des Mannes vor die Füße geworfen hatte, der den todbringenden Pfeil geschossen hatte. Doch derjenige, der den Befehl zu dem Mord gegeben hatte, lebte weiter unbehelligt und würde in naher Zeit die Regentschaft über das Land übernehmen.
Und auf der Freiberger Burg herrschte nun ein launenhafter, unerbittlicher Mann.
Das war einer der Gründe, weshalb er und Marthe die junge Stadt nicht längst verlassen hatten. Eigentlich sollte er sich jetzt auch besser auf den Weg zur Burg begeben, um seinen Dienst als Kommandant der Wachmannschaft anzutreten. Aber diesmal würde er die Strafe für sein Zuspätkommen hinnehmen. Es gab Dinge, die ihm heute wichtiger waren als die gute oder schlechte Laune des Burgvogtes.
Lukas hätte nicht sagen können, wie viel Zeit verstrichen war, als Marthe eintrat. Trauer umwehte ihre zierliche Gestalt wie flirrender Wind, auch wenn sie sich Mühe gegeben hatte, die Spuren ihrer Tränen zu beseitigen. Jetzt lächelte sie ihm sogar zu, etwas gequält.
»Müsstest du nicht längst auf der Burg sein?«
Er beantwortete die Frage nicht, streckte stattdessen eine Hand aus und sah ihr in die Augen.
»Komm her!«
Entgegen ihrer Art wich sie seinem Blick aus, während sie auf ihn zuging, leicht verwundert über sein Ansinnen und in Gedanken wohl immer noch bei Christian.
Lukas zog sie an sich und setzte eine gespielt strenge Miene auf. »Es wird Zeit, Weib, dass du deinem Gemahl wieder einmal deinen Gehorsam erweist.«
Zu anderer Zeit hätte sie wohl gelacht oder wenigstens gelächelt; Lukas war ein spöttischer Geist und scherzte oft. Aber diesmal, das spürte sie, lag Ernst hinter den ironisch vorgebrachten Worten.
Um keinen Zweifel an der Art des Gehorsams aufkommen zu lassen, den er erwartete, schob er ihr den Rock hoch und strich mit seinen Händen begehrlich über ihre schlanken Schenkel. Lukas spürte, wie sie für einen Augenblick erstarrte. Doch er wollte ihr erst gar keine Zeit zum Nachdenken geben. Er musste es schaffen, Marthes Gedanken von Christians Grab loszureißen.
Seine Hände wanderten höher, umfassten ihre Hüften und zogen sie mit unnachgiebiger Kraft an sich, während er den Kopf senkte und jene Stelle mit Küssen bedeckte, wo Hals und Schulter ineinander übergingen - etwas, dem sie kaum widerstehen konnte, wie er wusste.
»Du musst auf die Burg, und jeden Moment kann jemand hereinkommen«, wandte sie halbherzig gegen sein für diese Tageszeit ungewöhnliches Vorhaben ein.
»Ich habe angewiesen, dass niemand uns stören soll«, murmelte er, zog ihr die Haube vom Kopf und strich durch ihr kastanienbraunes Haar.
Dann presste er mit der Linken ihren Leib gegen seinen, damit sie seine Erregung spüren konnte. Die Rechte legte er um ihren Nacken und küsste sie; nicht sanft und verspielt wie sonst meistens, sondern hart und fordernd.
Mittlerweile brachte ihn sein Begehren fast um den Verstand, und er spürte, dass auch sie vor Verlangen erschauderte.
Er zog sie zum Bett und nahm sich nicht erst die Zeit, ihr Untergewand und Bliaut auszuziehen; von seiner eigenen Kleidung löste er lediglich den Gürtel, der die Bruche hielt.
Sein aufgerichtetes Glied reckte sich ihr groß und begehrlich entgegen.
Marthe ließ Lukas nicht aus den Augen, während sie sich wortlos hinlegte, den Rock hochzog und die Beine leicht öffnete.
Er verharrte einen Moment, um das Bild in sich aufzunehmen. Dann kniete er sich über sie und glitt in sie hinein. Bereitwillig, wenngleich immer noch verwundert, nahm sie ihn in sich auf.
Sie hatten oft genug miteinander das Bett geteilt, um den anderen zu kennen; ihre Liebesnächte waren trotz der schrecklichen Umstände, die zu ihrer Ehe geführt hatten, voller Zärtlichkeit und Erfüllung gewesen. Doch diesmal war es anders.
Hart und besitzergreifend stieß Lukas in sie hinein, und bei jedem Stoß dachte er: Vergiss Christian! Vergiss ihn wenigstens, solange ich in dir bin! Du bist jetzt meine Frau!
Bald konnte er auch das nicht mehr denken, sondern nur noch fühlen, mit jedem winzigen Stück, das er tiefer in sie eindrang: Du ... bist ... mein ...
Er musste sie dazu bringen, aus der Vergangenheit zum Jetzt und Hier zurückzukehren, vom Tod ins Leben, von dem Toten zu ihm.
Immer schneller, kräftiger pflügte er sie, hörte mit grimmiger Befriedigung, dass nun auch sie ihre Lust herausschrie, spürte, wie sein Höhepunkt nahte, und holte noch einmal weit aus, bis er sich befreit aufstöhnend in sie ergoss.
Schweißnass ließ er sich auf sie sinken.
Flüchtig huschte ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er sich vielleicht doch besser vorher hätte ausziehen sollen. Die Bruche und die daran festgenestelten Beinlinge hingen ihm irgendwo zwischen den Knöcheln, was unweigerlich ein lächerliches Bild abgeben würde, wenn er aufstand. Er streifte beides mit einer Fußbewegung ab.
Still lag er zwischen ihren Schenkeln, genoss es, noch in ihr zu verharren, während er langsam erschlaffte, und fühlte sich geborgen, zufrieden und müde. Am liebsten würde er für den Rest des Tages so liegen bleiben.
Marthe riss ihn aus der Trägheit. Sanft strich sie mit ihrer schmalen Hand über sein vertrautes Gesicht, bis er ihr in die Augen sah. Ihr Blick sagte ihm, dass sie verstanden hatte - und ihm verzieh.
Nur mit Mühe widerstand Marthe der Versuchung, sich der Müdigkeit hinzugeben. Sie wusste, wenn sie jetzt die Augen schließen würde, schliefe sie ein. Und dabei war so viel zu tun! Ein halbes Dutzend Kranke wartete auf sie; vor allem aber musste sie ihren Mann dazu bringen, sich schleunigst auf seinen Posten zu begeben. Burgvogt Heinrich, der jede Gelegenheit nutzte, ihm etwas anzukreiden, schnaubte gewiss schon vor Wut. Doch das eben Erlebte hing immer noch unsichtbar zwischen ihnen und ließ sie zögern.
Er hat recht, dachte sie und sah mit wehmütigem Blick auf Lukas. Ich darf nicht länger in der Vergangenheit verweilen. Christian ist tot, unabwendbar, auch wenn ich ihn noch so sehr vermisse. Aber Lukas lebt, und er verdient meine Liebe.
Sie hob die Hand, die ihr bleiern vorkam, und strich damit erneut über Lukas' Wangen. Ein paar blonde Locken hingen ihm ins Gesicht, der sorgfältig gestutzte Bart, den er sich seit einiger Zeit stehenließ, fühlte sich weich unter ihren Händen an.
Abermals sah er sie an, und ein Blick in seine blauen Augen holte sie endlich in die Gegenwart zurück, in die Arme des Mannes, der sie liebte, ihr Schutz und Geborgenheit gab.
Sie lächelte, diesmal ganz ohne Wehmut.
Von draußen hörten sie Vogelgezwitscher, das Plappern der Mägde, weiter weg gackerten ein paar Hühner, ein Pferd wieherte. Wenn man in ihre Augen blickt, ist es, als würde man versinken, dachte Lukas nicht zum ersten Mal. Ihre graugrünen Augen und das kastanienfarbene Haar hatten ihn von Anfang an betört. Und je öfter er in diese Augen sah, umso mehr entdeckte er darin: uraltes, verborgenes Wissen, weitergereicht über Generationen weiser Frauen.
Er gehörte zu den wenigen, die wussten, dass seine Frau nicht nur eine erfahrene Heilerin und Wehmutter war, sondern gelegentlich auch von Vorahnungen heimgesucht wurde, die man besser ernst nahm.
Doch jetzt verriet nichts in ihren Zügen etwas von einer schrecklichen Vision.
Was wohl heißt, dass es beim Burgvogt so schlimm nicht werden wird, dachte er mit neu erwachter Spottlust. Aber dafür sollte ich ihn nicht noch länger warten lassen.
Marthe schien das Gleiche zu denken, denn ihr Blick richtete sich gerade auf den Gambeson, der auf einer der Stangen in der Kammer hing.
»Lass mich dir helfen«, bot sie an und richtete sich auf. »Ist heute nicht das Treffen mit den Ratsherren?«
»Bei allen Heiligen!«, stöhnte Lukas auf. »Das hätte ich fast vergessen.«
Seinem Befehl unterstanden die Bogenschützen, die städtischen Wachen und alle sonstigen Kämpfer, die nicht dem Ritterstand angehörten. Auch weil er sich als einer der ersten Christiansdorfer und Vertrauter des Dorfgründers unter den Stadtbewohnern gut auskannte, rief ihn der Vogt oft hinzu, wenn Angelegenheiten mit dem Rat zu besprechen waren.
Schon war er aus dem Bett, lehnte sich aus der Fensterluke und pfiff gellend auf zwei Fingern.
»Peter soll mein Pferd satteln!«, rief er hinab, bekam eine kurze Bestätigung des Befehls und wandte sich grinsend wieder Marthe zu.
»Irgendwelche Schreckensvisionen? Wird Heinrich mir den Kopf abreißen? Ein Dämon auf dem Weg zur Burg auf auern?«, fragte er mit gespielter Leichtigkeit.
Lächelnd schüttelte sie den Kopf, während sie ihm in den Gambeson half.
»Ich bin sicher, diesen Tag überstehst du lebend«, antwortete sie ebenso leichthin, während er sein Wehrgehänge gürtete.
Nachdem Lukas mit raschen Schritten die Treppe heruntergelaufen war, ließ sich Marthe auf die Bettkante sinken. Müde strich sie sich mit den Händen über die Augen, dann sah sie zum Fenster. Ihr war zumute, als senkten sich die grauen Wolken wie Blei auf ihre Schultern.
Christian hätte die Düsternis verstanden, die sie erfüllte, denn
auch er hatte finstere Zeiten durchleben müssen. Doch mit Lukas darüber zu sprechen, scheute sie sich. Er war leichtlebiger, manchmal schon fast leichtsinnig. Vielleicht würde er ihr nur mit einer spöttischen Bemerkung antworten.
Man musste nicht über die Gabe des zweiten Gesichts verfügen oder den Wanderpredigern zugehört haben, um zu befürchten, dass Unheil nahte, schlechte Zeiten für alle, die einst treu zu Christian gestanden hatten. Es würde schwierig für sie werden, wenn der alte Markgraf starb, der nun schon fast siebzig Jahre zählte.
Ein nicht mehr zu bezwingendes Gefühl sagte Marthe, dass diese schlechten Zeiten in greifbare Nähe rückten, mit jedem Tag mehr.
Auf der Freiberger Burg
»Das ist eine Unverschämtheit!«, tobte der Burgvogt. »Ich sollte euch alle mit Hunden vom Hof hetzen lassen!«
Vogt Heinrich - stiernackig, kahl und in der ganzen Stadt für seine Unerbittlichkeit gefürchtet - war vom Stuhl aufgesprungen und blickte wutentbrannt auf die drei Ratsherren. Er hatte sie auf deren Bitte hin empfangen, weil sie ein schwieriges Anliegen vorbringen wollten. Wie sich nun herausstellte, bestand dieses schwierige Anliegen darin, einen Ritter der Notzucht zu beschuldigen.
Die unverheiratete Tochter eines Häuers behauptete, dieser Mann habe ihr Gewalt angetan, als sie zwischen den Halden nach einer entlaufenen Ziege gesucht hatte.
»Das Mädchen wagte es nicht, darüber zu reden, bis die Schwangerschaft offensichtlich war«, erklärte der aufsässigste unter den Ratsherren, ein Schmied namens Jonas, beherrscht. »Es ist natürlich zu spät, um Klage zu erheben. Aber vielleicht könnt Ihr dafür sorgen, dass ihr Vater ein Wergeld bekommt. Und mäßigend auf Eure Ritter einwirken. Es häufen sich Beschwerden über ein paar unschöne Zwischenfälle an den Brotbänken, und zwei Eurer Männer haben eine Bademagd grün und blau geschlagen.«
Am liebsten wäre der Vogt dem dreisten Schwarzschmied für diese Worte an die Kehle gegangen. Noch lieber hätte er ihm mit einem einzigen Streich den Kopf von den Schultern geschlagen. Er konnte förmlich spüren, wie seine Galle überlief. Mühsam rang er nach Luft, während ihm das Blut in den müden Venen pochte. Wenn er sich nicht schnellstens beruhigte, traf ihn noch der Schlag. In Gedanken hörte er schon seine Frau, zu deren Tugenden nicht gerade Schweigsamkeit zählte, wie sie ihm wortreich die üblichen Vorhaltungen machte, er solle mehr auf seine Gesundheit und die Ausgeglichenheit seiner Säfte achten. Im schlimmsten Fall würde sie den Bader kommen lassen. Oder noch übler: das Weib seines Vorgängers, damit sie ihn kurierte, diese Marthe. Die war ihm erst recht nicht geheuer.
Schwitzend strich sich Heinrich über den kahlen Schädel und ließ die Hand kurz im fleischigen Nacken ruhen. Dann stützte er die Fingerknöchel auf die Tischplatte und beugte sich vor, um dem Schmied drohend in die Augen zu sehen.
»Die Bademägde sind Huren, die sich für derlei Dienste gut bezahlen lassen!«, fuhr er ihn an. »Und was diese Häuerstochter angeht: Suchte sie gleich nach der angeblichen Missetat einen Richter auf und erhob Klage mit zerzaustem Haar und zerrissenem Kleid, wie es das Gesetz vorschreibt? Anscheinend nicht, sonst wüsste ich davon. Also hat sie das Balg von wer weiß wem und erdreistet sich jetzt, herumzuschreien, um ihre Unzucht nicht eingestehen zu müssen.«
Immer noch kochend vor Wut, ließ er sich wieder auf seinen Platz sinken. War denn die ganze Welt aus den Fugen?
Vor kaum mehr als zwanzig Jahren waren die hier noch Knechte gewesen, Siedlergesindel, das auf allen vieren durch den Wald gekrochen kam, um nicht vor Hunger zu verrecken. Die hatten zu roden und zu säen und das Maul zu halten und höchstens von weitem und auf Knien einen ehrfürchtigen Blick auf Männer von Stand zu werfen!
Aber weil hier durch Zufall Silbererz gefunden worden war, wuchs das entlegene Rodungsdorf mitten im Dunklen Wald geradezu unheimlich schnell. Und wenn auch der alte Markgraf von Meißen ein entschlossener und weitsichtiger Mann war, der die Erzförderung mit kühnen Befehlen schnell vorantrieb - in einem hatte sich der sonst so unnachgiebige Otto von Wettin Heinrichs Meinung nach beschwatzen lassen: als er den Christiansdorfern vor vier Jahren das Stadtrecht gewährte.
Mit den Folgen musste er, Heinrich, sich nun als Vogt auf der Freiberger Burg herumschlagen. Statt vor ihm im Staub zu kriechen, wählten die Ortsansässigen neuerdings Ratsherren, die glaubten, ihm in seine Angelegenheiten hineinreden zu können. Er hatte es schlichtweg abgelehnt, ins Dinghaus zu gehen und sich dort mit dem gesamten Rat zu treffen. So weit kam es noch! Also hatten die drei vor seiner Tür gewartet und um Einlass gebeten, als Bittsteller, wie es sich gehörte.
Der Tucher und der Gewandschneider hatten schon wieder den Schwanz eingezogen wie räudige Hunde. Doch da war noch dieser aufsässige Schwarzschmied, der schlimmste von allen! Seit wann waren Schmiede eigentlich ratswürdig, ausgenommen Gold- und Silberschmiede natürlich und vielleicht noch Waffenschmiede? Aber in diesem Rat versammelte sich wirklich das merkwürdigste Volk: Fassmacher, Wagener ... sogar ein Fuhrmann!
Da, schon wieder setzte dieser Jonas zu einer Entgegnung an. Heinrich konnte sich bereits denken, was als Nächstes kommen würde.
»Der Vater des Mädchens ist arm. Er kann es sich nicht leisten, die Ziege zu töten, die bei der Untat zugegen war, wie es das Gesetz vorschreibt.«
Ja, dazu ist das Gesetz da!, dachte Heinrich. Damit nicht jeder Knecht es wagt, einen Herrn vor Gericht zu beschuldigen. »Arm, ja? Erzählt man sich nicht im ganzen Land die unglaublichsten Geschichten vom Reichtum der jungen Silberstadt Freiberg und ihrer Bewohner?«, höhnte er. »Gesetz ist Gesetz. Wenn ihr wirklich widerfahren wäre, was hier Ungeheuerliches behauptet wird, hätte sie sich an den Richter wenden sollen, wie es sich gehört. An den Vogt. An mich. Sie sollte froh und dankbar sein, wenn ich ihr nicht wegen Verleumdung die lügnerische Zunge herausreißen und sie aus der Stadt jagen lasse!«
Jonas sah hilfesuchend zu Lukas, der ebenso wie der hochfahrend blickende, reich gekleidete Ritter neben ihm bisher kein Wort zu dieser Unterredung beigetragen hatte.
Doch der sonst nicht gerade für Schweigsamkeit und Zurückhaltung bekannte Lukas zuckte nur bedauernd mit den Schultern.
Da das Mädchen nicht auf der Stelle Anklage erhoben hatte, konnte sie es nun auch nicht mehr tun. Ihr war wohl klar gewesen, dass sie kaum recht bekommen würde gegen einen Ritter, der bloß ein paar Eideshelfer brauchte, die beteuerten, dass er dergleichen niemals tun würde. Um das Seelenheil nicht zu gefährden, würden sie für den Meineid jemanden mit einer Wallfahrt an ihrer statt beauftragen.
Sie hatte wohl einfach - und leider vergeblich - gehofft, dass ihr eine Schwangerschaft erspart bliebe.
»Wir werden die Ritter ermahnen, sich gegenüber den Frauen zu verhalten, wie es sich geziemt«, meinte Lukas nur und fing sich dafür einen wütenden Blick des Vogtes ein.
Das kümmerte ihn wenig. Er musste mit Marthe darüber reden. Sie würden das Mädchen als Magd in ihre Dienste nehmen, falls ihr Vater sie verstieß. Mehr konnte er nicht tun.
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Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © November 2010, by Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Sabine Ebert
Sabine Ebert wurde in Aschersleben geboren und ist in Berlin aufgewachsen. Sie hat Lateinamerika- und Sprachwissenschaften in Rostock studiert und arbeitet als freie Journalistin in Freiberg - dort, wo auch ihre Romane spielen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sabine Ebert
- 708 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868005250
- ISBN-13: 9783868005257
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