Was davor geschah
Roman
Es ist eine gefährliche Frage, die bereits den Keim einer Eifersucht enthält: Wie war das eigentlich mit dir, bevor wir uns kannten? Die beiden sind seit Kurzem ein Paar, und sie stellt ihm jene Frage. Seine Antwort wird zu einem Gespinst aus Wahrheit und...
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Produktinformationen zu „Was davor geschah “
Klappentext zu „Was davor geschah “
Es ist eine gefährliche Frage, die bereits den Keim einer Eifersucht enthält: Wie war das eigentlich mit dir, bevor wir uns kannten? Die beiden sind seit Kurzem ein Paar, und sie stellt ihm jene Frage. Seine Antwort wird zu einem Gespinst aus Wahrheit und Dichtung, einem wahren Lügenpalast, errichtet aus soliden Bausteinen von Wirklichkeit. Auf der Bühne Frankfurts inszeniert Martin Mosebach, mit detektivischer Genauigkeit und meisterhafter Sprachkunst, ein böses Spiel von Liebe und Zufall.
Lese-Probe zu „Was davor geschah “
Was davor geschah von Martin Mosebach4.
Kunstwerke am Swimming-Pool
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Der Sonntag nachmittag verlief, wie die Hopsten-Familie das schätzte. Gerade auch im gesellschaftlichen Stil bewiesen die Familienmitglieder Einigkeit: Viele Leute sollten dasein, in einem lässigen Kommen und Gehen, nur zum Teil eingeladen, an schönen Tagen sagte man sich einfach bei den Hopstens an, auch das Mitbringen von Freunden war gern gesehen, jedenfalls wenn man Rosemaries Geschmack traf. Sie war ungeniert darin, fühlen zu lassen, ob ihr die Mitgebrachten gefielen oder mißfielen, man sprach allgemein von Rosemaries »erfrischender Offenheit«, wie das auch dann hieß, wenn die Deutlichkeit die Grobheit streifte. Wie Pilger um einen Tempelteich in Indien lagerten die Gäste um den Swimming-Pool, ein eher flaches Becken noch aus den zwanziger Jahren, das sie schwarz hatte kacheln lassen, in Helga Stolziers Lieblingsfarbe, wobei sie inzwischen selbst glaubte, türkise oder himmelblaue Schwimmbassins schon immer häßlich gefunden zu haben. Wie in feine Tinte tauchten die Körper in dieses Becken, es war immer eine kleine Überraschung, sie unter Wasser dann in heller Nacktheit aufleuchten zu sehen. Rosemarie Hopsten trug einen schwarzen einteiligen Badeanzug mit kleinem Beinansatz, der ihre kräftige, an eine Maillol-Skulptur erinnernde Figur mit deutlicher Taille und den geschwungenen Hüften prächtig herausstellte; sie tauchte und warf beim Auftauchen das nasse Haar mit einem Schwung aus der Stirn; als sie auf der Aluminiumleiter aus dem Becken stieg vor den Augen ihrer in Liegestühlen ruhenden und plaudernden Gäste, schimmerte der triefende Stoff wie ein Robbenfell, die Wassertropfen umsprühten sie blinkend, es war ein triumphaler Aufstieg aus feuchten Tiefen, die Gespräche rissen ab, man betrachtete sie, und die forcierte Munterkeit mancher Zurufe verriet, daß da jemand versuchte, seiner Bewunderung Herr zu werden. Rosemarie war mild gebräunt, sie achtete darauf, nicht ledern zu werden, über ihrer schönen festen Haut lag auch, als sie abgetrocknet war, ein feines Glitzern wie von Tautropfen. Bernward Hopsten erhob sich mit der für ihn bezeichnenden hölzernen Steifheit, er trat gegenüber seiner Frau genauso auf, als sei sie eine fremde Dame, mit ruhigem Lächeln, nahm ihr das nasse Handtuch ab und reichte ihr ein Glas Weißwein. Ein perfektes Paar, dachte ich, diese Höflichkeit nach so vielen Jahren und bei derart verschiedenen Temperamenten. Rosemarie war die einzige, die ins Wasser ging, es war warm, aber nicht heiß, und Silvi Schmidt-Flex im winzigen Bikini hielt die mädchenhaften Glieder in die Sonne, mit geschlossenen Augen und ohne sich am Gespräch zu beteiligen. Sie hatte erklärt, das Wasser sei zu kalt - »Siehst du«, sagte Bernward zu seiner Frau, aber die antwortete geradezu schroff, im Juni werde bei ihr kein Schwimmbad geheizt. Das war ein vernünftiger Standpunkt, und ungastliche Sparsamkeit konnte den Hopstens wahrlich niemand vorwerfen. Aus einer großen Silberschüssel ragten mehrere Weißweinflaschen, dieser Wein war frisch und säuerlich und trank sich wie Wasser, Phoebe hatte schon ein paarmal neue Flaschen aus dem Haus geholt. Joseph Salam war es gelungen, den alten Schmidt-Flex in ein Gespräch über den Balkan zu verwickeln, obwohl der Schwiegervater Silvis sich zunächst unnahbar zeigte und Salam sogar recht unverhüllt mit ironischen Blicken musterte; sein lebenslang bewährter Instinkt, Personen, die nicht im Hauptstrom politischer Wohl achtbarkeit schwammen oder sonstwie durch Geld und Einfluß ausgezeichnet waren, augenblicklich herauszuspüren und wegzuschieben, warnte ihn deutlich. Ihm mißfielen auch die sich unter Salams engem Sporthemd abzeichnenden Wölbungen von Muskulatur und Fett, aber aus einem tiefen Liegestuhl ist so leicht kein Entkommen. Salam beugte sich über ihn, trank den Wein mit großen Schlucken, ließ den alten Schmidt-Flex seinen Weinatem riechen und gab sich im übrigen sehr souverän, auch bereit, zu den trockenen Bröckchen, die sein unwilliger Gesprächspartner ihm hinstreute, ein herzliches Gelächter anzustimmen. Er gab vor, in den grundsätzlich unkomisch gemeinten Äußerungen des Alten eine Komik zu entdecken, die der dann doch nicht verleugnen mochte - wer besteht schon darauf, nicht so geistvoll zu sein, wie das offenbar vermutet wird? Schließlich war die Reserve dahingeschmolzen, obwohl Schmidt-Flex senior keinen Wein trank.
»Ich kannte Tito gut«, sagte er eben. Wäre er dem Marschall nicht begegnet, hätte er gesagt: »Wir haben uns komischerweise nie getroffen.« Salam nickte erfahren.
»Ja, der hatte den Balkan begriffen ... «
»Oder aber gerade nicht begriffen.« Schmidt-Flex geriet jetzt ins Pädagogische, damit war seine Selbstbeherrschung dahin.
»Köstlich«, Salam seufzte genießerisch, »er hatte ihn eben gerade nicht begriffen.« Aber das darauf folgende Lachen dämpfte er behutsam, um den alten Schmidt-Flex nicht ungeduldig zu machen. Hans-Jörg Schmidt-Flex, der Sohn, saß neben seiner Mutter, beide machten keinen Versuch, ihren Überdruß zu verbergen. Die Mutter war stoisch, unendliche Stunden, in denen sie sich in Gesellschaft gelangweilt hatte, zogen an ihrem inneren Auge vorüber, der Tag, an dem sie glaubte, vor Langeweile aus der Haut fahren zu müssen - er mochte mehr als dreißig Jahre zurückliegen -, an dem sie fürchtete, vor Langeweile zu ersticken, war auch dabei, auch jenes eigentümliche Gefühl von Abgestumpftheit und leerer Leichtigkeit, das zurückblieb, als sie diesen Augenblick der Panik überwunden hatte, es war ihr treu geblieben und hatte ihr Leben erträglich gemacht. Hans-Jörg war in anderer Lage. Er langweilte sich nicht, denn er langweilte sich nie, mißmutig folgte er den Gesprächen, sein Gesicht schien auszudrücken: »Mein Gott, was für Dummheiten, so kann man das wirklich nicht sagen«, vielleicht müßte er sich irgendwann doch noch einmischen, zum unpassendsten Moment natürlich und mit Worten, die ihn ins Unrecht setzen würden.
Vielleicht ist es ein Fehler, sich menschlicher Gesellschaft allzu sehr zu nähern, vor allem wenn sie, aus einer gewissen Entfernung jedenfalls, einen solch zauberhaften Anblick bietet. Das Grün der Wiesen, die sich jenseits des jetzt im hohen Gras beinahe unsichtbaren Zaunes fortsetzten, in sanften Hügeln, Wellungen und Schwellungen - vor zehn Jahren hatten hier noch Kühe geweidet -, der Blick hinab zum Turm der Kronberger Burg und dahinter im rauchfarbenen Dunst auf die Mainebene mit den im Sonnenlicht heraus-blitzenden Fassaden der verglasten Hochhäuser war wie ein großes Landschaftsgemälde, ja es glich jetzt einem der besten Werke der Kronberger Malerschule aus dem neunzehnten Jahrhundert, auf denen die Himmel immer ein wenig zu blitzeblau und die Wolken wie aus Schlagsahne sind, und mitten in den smaragdgrünen Samt wie Juwelen gebettet diese aus der Ferne so anmutig und heiter wirkenden Menschen, ja, am Gartenzaun stehend und auf diese Gesellschaft blickend, die sich in der bewegten Oberfläche des schwarzen Swimming-Pools spiegelte, dachte ich an Goethes Mandarine, die »am Wasser und im Grünen, fröhlich trinkend, geistig schreibend« den Frühlingstag verbringen. Aber um die alten und älteren Leute herum, die »Erwachsenen« eben, wie eine achtzehnjährige Freundin Phoebes ganz unschuldsvoll sagte, gab es noch sieben oder neun Jungen und Mädchen aus Titus' und Phoebes Generation - ich blieb bei der Zahl unsicher, weil sich alle so ähnlich sahen, oder sollten mir meine fünfunddreißig Jahre schon einen Altersblick auf eine mir im Ganzen fremd gewordene Generation verschafft haben? Alle hatten schönes Haar und perfekte Zähne, alle waren sie schlank und trainiert, die Jungen in gestreiften Hemden und Jeans hatten alle das hübsche, ein wenig mausehafte Gesicht von Titus mit dem unerschütterlichen Ernst in den Augen, Phoebe allerdings war durch ihren Haarwust, ihre goldene Filzmähne von den anderen Mädchen unterschieden, eine solche Arbeit machte sich nicht jede. Alle rauchten, was von den Erwachsenen niemand tat, als fürchteten sie die Mißbilligung des alten Schmidt-Flex, der sich nicht scheute, Raucher zu einem Privatissimum beiseite zu nehmen, um ihnen die ihnen gewiß noch unbekannten Gefahren des Rauchens zu eröffnen. Rosemarie und Joseph Salam habe ich bei anderer Gelegenheit durchaus mit Zigaretten gesehen.
Was die Szene aber zu einer neuartigen Schönheit gelangen ließ, das war die moderne Technik, das Mobiltelephon, das jeder der jungen Menschen mit sich führte und das von fern betrachtet Bilder hervorbrachte, wie sie im täglichen Leben für Jahrhunderte höchstens auf dem Theater zu erleben waren. Und selbst da schon länger nicht mehr. Denn von dem großen klassizistischen Alphabet ausdrucksvoller Körperhaltungen hat man sich seit langem verabschiedet. Die sprechenden Haltungen der antiken Kunst, in Renaissance und Barock gefeiert, die kühnen Drehungen des Körpers, die ausgestreckten Arme, das Kauern, das Den-Kopf-in-den-Nakken-Legen, die Gesten des Hauptverhüllens, der Melancholie und der Trauer, alle diese den Körper ausstellenden und den stummen Leib zu Beredsamkeit weckenden Haltungen, man sieht sie in Museen in Gold gerahmt, aus der Natur sind sie verschwunden. Nein, sie waren es, waren es bis zur Erfindung des Mobiltelephons. Bis dahin versank der einsame Mensch geradezu in sich selbst wie in einen Topf. Die Mienen wurden verschlossen bis zur Ausdruckslosigkeit. Sprach den Einsamen dann jemand an, mußte er aus seinem dumpfen Brunnen auf die Erde zurücksteigen, die Maske ablegen und zu seiner lebendigen Person zurückfinden. Jetzt sah ich dort drüben ein Mädchen, das abseits saß, das blonde Haar über die Stirn hängen ließ und mit den Locken spielte, eingerollt wie in einen hohlen Baum in einer versonnenen, tiefen Heiterkeit, und nun löste sich das Händchen aus den Locken und fuhr gespreizt in der Luft herum. Ein anderes Mädchen stand am Wasser und blickte hingerissen auf ihr Spiegelbild, die Beine hatte sie wie eine Tänzerin ineinandergedreht, der Kopf war auf die Schulter gesunken und die Hand beschrieb leichte Schmetterlingswellen in die Lüfte. Beide telephonierten, und das Apparätchen, das soviel Schönheit hervorbrachte und den Traum der Antike Wirklichkeit werden ließ: die lebendige Statue, blieb dabei fast unsichtbar. Ihre vorher teilnahmslosen Mienen waren jetzt gleichsam angezündet, die Wangen röteten sich, die Augen glänzten, eine neue Spannung erfüllte die Körper. Näher bei mir schritt - ja, es war ein Schreiten mit langen Beinen - ein junger Mann auf und ab und drehte sich hin und wieder auf den Absätzen. Seine Hände machten rhetorische Gesten, dann versenkte er sie in die Hosentaschen, stand wippend auf Zehenspitzen, legte den Kopf in den Nacken, der Sonne entgegengestreckt, dann fuhr es wie ein Schuß in den gerade gereckten Körper, er beugte den Kopf, er ging in die Knie - hätte ich doch nur ein einziges Mal einen Hamlet-Monolog so intensiv und in allem Ausdruck so beherrscht gesehen. Der Junge trug Kopfhörer und war deshalb noch freier in seinem Stolzieren, beide Arme hatte er zum Sprechen zur Verfügung. Aber das Schönste sah ich erst, als es zum allgemeinen Aufbruch kam, und es war diesmal nicht das Telephon, sondern eine Digitalkamera, was diese Schönheit möglich machte. Bernward stand unten am Tor, er hatte Gäste zu ihren draußen parkenden Autos begleitet, und nun rollte ihm das Kabriolett der jungen Schmidt-Flex entgegen, die oben vor dem Haus hatten parken dürfen. Hans-Jörg saß am Steuer, seine trüben Augen waren hinter Sonnengläsern verborgen, er war ein Mann der Ausrüstungen, des Zubehörs, und er trug auch durchlöcherte Autohandschuhe, neben ihm aber stand in einem wehenden weißen Leinenhemd, das über die Schulter gerutscht war und den Spaghettiträger des Bikini-Oberteils auf der bräunlichen Schulter freigab, Silvi und hielt mit den beiden nackten Armen ebendiesen Photoapparat in die Lüfte, den Blick fest auf das Bildfensterchen gerichtet, sie war wie ein schwebender Engel, eine Siegesgöttin mit goldenem Kranz in der Hand. Bernward stand still und sah mit entzücktem Lächeln auf diese Erscheinung. Als sie neben ihm anhielten, sagte Silvi: »Ich glaube, ich habe ein gutes Bild von dir gemacht.«
»Jetzt bin ich aber enttäuscht - ich dachte, ich erfahre etwas über deinen Herrn von Sláwina, und statt dessen schwärmst du mir von allen möglichen Damen vor.«
»Nein, Sláwina ist noch nicht an der Reihe. Es wäre aber falsch, ihn einfach wieder zu vergessen.«
»Dann ist dein Sláwina wohl eine Art Konserve, die erst im Bedarfsfall geöffnet wird ... ?«
5.
Eine weiße Feder
Die Salons der Hopstenschen Villa hatten zur Zeit der Erbauung des Hauses anders ausgesehen, wie, davon gab der Bildband aus den zwanziger Jahren, der auf dem Büchertisch für die Gäste deutlich sichtbar ausgelegt war, eine gewisse Vorstellung, allerdings mehr durch die Bildunterschriften als durch die undeutlichen, etwas verwaschenen Photographien auf dem vergilbten Papier. Die Bauherren damals hatten offenbar einen Schritt aus düsterem wilhelminischem Prunk in die nicht minder prunkvolle Dunkelheit eines starkfarbigen Art déco getan und die nicht besonders großen Räume in tresorartig üppige Kabinette verwandelte. Was sich auf den Photos grauschwärzlich präsentierte, waren einmal Lapislazuli-Kamine, blattvergoldete Plafonds und Wandbespannungen aus Pergament gewesen. Davon war nichts ans Ende des zwanzigsten Jahrhunderts gelangt, aber Rosemarie Hopsten wollte sich von der Vergangenheit durchaus inspirieren lassen. Helga Stolzier stieß bei Betrachtung des bewußten Bildbandes, der Bernward in einem Antiquariat in die Hände gefallen war, einen kleinen Entzückensschrei aus. Es kann durchaus sein, daß ihre mattschimmernden grauen StuccoLustro-Wände und die mit schwefelgelbem Ziegenleder bezogenen schwarzen Lacksessel den Erbauern gefallen hätten. Damals, soviel war einem Photo zu entnehmen, hatte ein Picasso der Blauen Periode in dem Zimmer gehangen, wo jetzt ein großer Botero einen zum Ballon aufgepumpten südamerikanischen General zeigte, der aussah, als foltere er seine Feinde nicht mit Elektroschocks, sondern mit Schlagsahne. Die Fülle kostbarer kleiner Sachen, die auf Tischchen, Fensterbänken und dem Kaminsims aufgestellt waren, machte den Raum zu einem idealen Wartezimmer, während vor den Fenstern sich die grünen Wiesen parkartig ausbreiteten, als hätten niemals Kühe auf ihnen gestanden.
Rosemarie Hopsten hatte mich allein gelassen, sie habe draußen noch etwas zu erledigen. Was, das erfuhr ich leicht, denn der Wirtschaftsraum, in dem eine zierliche schwarze Brasilianerin mit rosa Brille auf der Nase bügelte, lag nicht so weit, daß die dort geführte Unterhaltung unhörbar geworden wäre. Die Hausfrau klang verärgert, aber die Bra silianerin sprach ebenfalls mit erhobener Stimme. Ich brauchte gar nicht die Ohren zu spitzen, um den Wortwechsel zu verfolgen.
»Warum sind Sie gestern nicht gekommen?«
Die Brasilianerin sprach nicht gut deutsch. Sie sei krank gewesen.
»Warum haben Sie dann nicht angerufen?«
Das sei nicht gegangen, wie sie schon gesagt habe - »der Akku war leer«.
Moderne Menschen sagen einander nicht ins Gesicht, daß sie den anderen für einen Lügner halten, aber diese Rücksicht oder Vorsicht hatte bei Rosemarie eine Gefühlsstauung zur Folge: Sie glaubte dem Mädchen kein Wort und geriet noch mehr in Zorn.
»Wenn Sie nicht mehr kommen wollen, dann sagen Sie es offen.«
Sie habe schon mehrmals gesagt, daß sie kommen wolle, jetzt wieder das Mädchen, aber wenn sie krank sei, dann gehe es eben nicht.
»So geht das nicht weiter ... anrufen kann man immer ... «
Der Dialog hatte einen Rondo-Charakter, schraubte sich aber bei jeder vollendeten Umdrehung ein Stück höher. Jetzt fiel eine Tür ins Schloß, die Stimmen kamen nur noch gedämpft und unverständlich. Ich war wieder mir selbst und den Objekten dieser Schatzkammer überlassen.
Da räusperte sich jemand, ein eigentümliches Glucksen folgte. Jetzt erst entdeckte ich einen großen, wie eine chinesische Pagode geformten Käfig. Darin saß ein blütenweißer Kakadu. Er hatte den Kopf auf die Seite gelegt und sah mich an, während es in dem schieferfarbenen Schnabel leise knackte und knusperte, als habe er gerade ein Maiskörnchen aus der Porzellanschale seiner Sitzstange zu sich genommen.
Später erfuhr ich, wie der Kakadu ins Haus gekommen war: nicht aus Tierliebe, sondern weil Rosemarie in der Komposition ihrer Umgebung etwas Kostbar-Lebendiges vermißte, ein Objet d'art, das sich bewegte, auch ohne daß man es aufzog. Sogar an ein großes Aquarium mit seltenen Fischen hatte sie einen Augenblick lang gedacht, aber Helga riet davon ab: Und wenn es noch so edel sei - ein Aquarium wirke im Ergebnis dann doch immer spießig. Aber ein wundervoller Vogel?
»Federn sind jetzt sehr aktuell.« Von Helgas Seite stand einem Kakadu nichts im Wege. Und kaum war er im Haus, erwies sich, daß er genügend unvorhersehbare Lebenskraft besaß, um sich einen Platz unter den Hausbewohnern, nicht unter den Bibelots zu erobern. Rosemarie war von seinem Anblick befriedigt, und Bernward begann ihn zu lieben. Sogar an der zarten Fahne warm-süßen, nicht unangenehmen Geruchs von Vogelkot, der nun gelegentlich den Raum durchzog, nahm keiner Anstoß. Den Freunden des Hauses war es, wie ich später erfuhr, ein vertrautes Bild, den Kakadu auf Bernward Hopstens Schulter zu sehen, mit dem schneckenhausartigen steinernen Schnabel, der trotz seiner Rundung bös zuhacken konnte, nah an den ungeschützten weichen Lippen.
Der Sonntag nachmittag verlief, wie die Hopsten-Familie das schätzte. Gerade auch im gesellschaftlichen Stil bewiesen die Familienmitglieder Einigkeit: Viele Leute sollten dasein, in einem lässigen Kommen und Gehen, nur zum Teil eingeladen, an schönen Tagen sagte man sich einfach bei den Hopstens an, auch das Mitbringen von Freunden war gern gesehen, jedenfalls wenn man Rosemaries Geschmack traf. Sie war ungeniert darin, fühlen zu lassen, ob ihr die Mitgebrachten gefielen oder mißfielen, man sprach allgemein von Rosemaries »erfrischender Offenheit«, wie das auch dann hieß, wenn die Deutlichkeit die Grobheit streifte. Wie Pilger um einen Tempelteich in Indien lagerten die Gäste um den Swimming-Pool, ein eher flaches Becken noch aus den zwanziger Jahren, das sie schwarz hatte kacheln lassen, in Helga Stolziers Lieblingsfarbe, wobei sie inzwischen selbst glaubte, türkise oder himmelblaue Schwimmbassins schon immer häßlich gefunden zu haben. Wie in feine Tinte tauchten die Körper in dieses Becken, es war immer eine kleine Überraschung, sie unter Wasser dann in heller Nacktheit aufleuchten zu sehen. Rosemarie Hopsten trug einen schwarzen einteiligen Badeanzug mit kleinem Beinansatz, der ihre kräftige, an eine Maillol-Skulptur erinnernde Figur mit deutlicher Taille und den geschwungenen Hüften prächtig herausstellte; sie tauchte und warf beim Auftauchen das nasse Haar mit einem Schwung aus der Stirn; als sie auf der Aluminiumleiter aus dem Becken stieg vor den Augen ihrer in Liegestühlen ruhenden und plaudernden Gäste, schimmerte der triefende Stoff wie ein Robbenfell, die Wassertropfen umsprühten sie blinkend, es war ein triumphaler Aufstieg aus feuchten Tiefen, die Gespräche rissen ab, man betrachtete sie, und die forcierte Munterkeit mancher Zurufe verriet, daß da jemand versuchte, seiner Bewunderung Herr zu werden. Rosemarie war mild gebräunt, sie achtete darauf, nicht ledern zu werden, über ihrer schönen festen Haut lag auch, als sie abgetrocknet war, ein feines Glitzern wie von Tautropfen. Bernward Hopsten erhob sich mit der für ihn bezeichnenden hölzernen Steifheit, er trat gegenüber seiner Frau genauso auf, als sei sie eine fremde Dame, mit ruhigem Lächeln, nahm ihr das nasse Handtuch ab und reichte ihr ein Glas Weißwein. Ein perfektes Paar, dachte ich, diese Höflichkeit nach so vielen Jahren und bei derart verschiedenen Temperamenten. Rosemarie war die einzige, die ins Wasser ging, es war warm, aber nicht heiß, und Silvi Schmidt-Flex im winzigen Bikini hielt die mädchenhaften Glieder in die Sonne, mit geschlossenen Augen und ohne sich am Gespräch zu beteiligen. Sie hatte erklärt, das Wasser sei zu kalt - »Siehst du«, sagte Bernward zu seiner Frau, aber die antwortete geradezu schroff, im Juni werde bei ihr kein Schwimmbad geheizt. Das war ein vernünftiger Standpunkt, und ungastliche Sparsamkeit konnte den Hopstens wahrlich niemand vorwerfen. Aus einer großen Silberschüssel ragten mehrere Weißweinflaschen, dieser Wein war frisch und säuerlich und trank sich wie Wasser, Phoebe hatte schon ein paarmal neue Flaschen aus dem Haus geholt. Joseph Salam war es gelungen, den alten Schmidt-Flex in ein Gespräch über den Balkan zu verwickeln, obwohl der Schwiegervater Silvis sich zunächst unnahbar zeigte und Salam sogar recht unverhüllt mit ironischen Blicken musterte; sein lebenslang bewährter Instinkt, Personen, die nicht im Hauptstrom politischer Wohl achtbarkeit schwammen oder sonstwie durch Geld und Einfluß ausgezeichnet waren, augenblicklich herauszuspüren und wegzuschieben, warnte ihn deutlich. Ihm mißfielen auch die sich unter Salams engem Sporthemd abzeichnenden Wölbungen von Muskulatur und Fett, aber aus einem tiefen Liegestuhl ist so leicht kein Entkommen. Salam beugte sich über ihn, trank den Wein mit großen Schlucken, ließ den alten Schmidt-Flex seinen Weinatem riechen und gab sich im übrigen sehr souverän, auch bereit, zu den trockenen Bröckchen, die sein unwilliger Gesprächspartner ihm hinstreute, ein herzliches Gelächter anzustimmen. Er gab vor, in den grundsätzlich unkomisch gemeinten Äußerungen des Alten eine Komik zu entdecken, die der dann doch nicht verleugnen mochte - wer besteht schon darauf, nicht so geistvoll zu sein, wie das offenbar vermutet wird? Schließlich war die Reserve dahingeschmolzen, obwohl Schmidt-Flex senior keinen Wein trank.
»Ich kannte Tito gut«, sagte er eben. Wäre er dem Marschall nicht begegnet, hätte er gesagt: »Wir haben uns komischerweise nie getroffen.« Salam nickte erfahren.
»Ja, der hatte den Balkan begriffen ... «
»Oder aber gerade nicht begriffen.« Schmidt-Flex geriet jetzt ins Pädagogische, damit war seine Selbstbeherrschung dahin.
»Köstlich«, Salam seufzte genießerisch, »er hatte ihn eben gerade nicht begriffen.« Aber das darauf folgende Lachen dämpfte er behutsam, um den alten Schmidt-Flex nicht ungeduldig zu machen. Hans-Jörg Schmidt-Flex, der Sohn, saß neben seiner Mutter, beide machten keinen Versuch, ihren Überdruß zu verbergen. Die Mutter war stoisch, unendliche Stunden, in denen sie sich in Gesellschaft gelangweilt hatte, zogen an ihrem inneren Auge vorüber, der Tag, an dem sie glaubte, vor Langeweile aus der Haut fahren zu müssen - er mochte mehr als dreißig Jahre zurückliegen -, an dem sie fürchtete, vor Langeweile zu ersticken, war auch dabei, auch jenes eigentümliche Gefühl von Abgestumpftheit und leerer Leichtigkeit, das zurückblieb, als sie diesen Augenblick der Panik überwunden hatte, es war ihr treu geblieben und hatte ihr Leben erträglich gemacht. Hans-Jörg war in anderer Lage. Er langweilte sich nicht, denn er langweilte sich nie, mißmutig folgte er den Gesprächen, sein Gesicht schien auszudrücken: »Mein Gott, was für Dummheiten, so kann man das wirklich nicht sagen«, vielleicht müßte er sich irgendwann doch noch einmischen, zum unpassendsten Moment natürlich und mit Worten, die ihn ins Unrecht setzen würden.
Vielleicht ist es ein Fehler, sich menschlicher Gesellschaft allzu sehr zu nähern, vor allem wenn sie, aus einer gewissen Entfernung jedenfalls, einen solch zauberhaften Anblick bietet. Das Grün der Wiesen, die sich jenseits des jetzt im hohen Gras beinahe unsichtbaren Zaunes fortsetzten, in sanften Hügeln, Wellungen und Schwellungen - vor zehn Jahren hatten hier noch Kühe geweidet -, der Blick hinab zum Turm der Kronberger Burg und dahinter im rauchfarbenen Dunst auf die Mainebene mit den im Sonnenlicht heraus-blitzenden Fassaden der verglasten Hochhäuser war wie ein großes Landschaftsgemälde, ja es glich jetzt einem der besten Werke der Kronberger Malerschule aus dem neunzehnten Jahrhundert, auf denen die Himmel immer ein wenig zu blitzeblau und die Wolken wie aus Schlagsahne sind, und mitten in den smaragdgrünen Samt wie Juwelen gebettet diese aus der Ferne so anmutig und heiter wirkenden Menschen, ja, am Gartenzaun stehend und auf diese Gesellschaft blickend, die sich in der bewegten Oberfläche des schwarzen Swimming-Pools spiegelte, dachte ich an Goethes Mandarine, die »am Wasser und im Grünen, fröhlich trinkend, geistig schreibend« den Frühlingstag verbringen. Aber um die alten und älteren Leute herum, die »Erwachsenen« eben, wie eine achtzehnjährige Freundin Phoebes ganz unschuldsvoll sagte, gab es noch sieben oder neun Jungen und Mädchen aus Titus' und Phoebes Generation - ich blieb bei der Zahl unsicher, weil sich alle so ähnlich sahen, oder sollten mir meine fünfunddreißig Jahre schon einen Altersblick auf eine mir im Ganzen fremd gewordene Generation verschafft haben? Alle hatten schönes Haar und perfekte Zähne, alle waren sie schlank und trainiert, die Jungen in gestreiften Hemden und Jeans hatten alle das hübsche, ein wenig mausehafte Gesicht von Titus mit dem unerschütterlichen Ernst in den Augen, Phoebe allerdings war durch ihren Haarwust, ihre goldene Filzmähne von den anderen Mädchen unterschieden, eine solche Arbeit machte sich nicht jede. Alle rauchten, was von den Erwachsenen niemand tat, als fürchteten sie die Mißbilligung des alten Schmidt-Flex, der sich nicht scheute, Raucher zu einem Privatissimum beiseite zu nehmen, um ihnen die ihnen gewiß noch unbekannten Gefahren des Rauchens zu eröffnen. Rosemarie und Joseph Salam habe ich bei anderer Gelegenheit durchaus mit Zigaretten gesehen.
Was die Szene aber zu einer neuartigen Schönheit gelangen ließ, das war die moderne Technik, das Mobiltelephon, das jeder der jungen Menschen mit sich führte und das von fern betrachtet Bilder hervorbrachte, wie sie im täglichen Leben für Jahrhunderte höchstens auf dem Theater zu erleben waren. Und selbst da schon länger nicht mehr. Denn von dem großen klassizistischen Alphabet ausdrucksvoller Körperhaltungen hat man sich seit langem verabschiedet. Die sprechenden Haltungen der antiken Kunst, in Renaissance und Barock gefeiert, die kühnen Drehungen des Körpers, die ausgestreckten Arme, das Kauern, das Den-Kopf-in-den-Nakken-Legen, die Gesten des Hauptverhüllens, der Melancholie und der Trauer, alle diese den Körper ausstellenden und den stummen Leib zu Beredsamkeit weckenden Haltungen, man sieht sie in Museen in Gold gerahmt, aus der Natur sind sie verschwunden. Nein, sie waren es, waren es bis zur Erfindung des Mobiltelephons. Bis dahin versank der einsame Mensch geradezu in sich selbst wie in einen Topf. Die Mienen wurden verschlossen bis zur Ausdruckslosigkeit. Sprach den Einsamen dann jemand an, mußte er aus seinem dumpfen Brunnen auf die Erde zurücksteigen, die Maske ablegen und zu seiner lebendigen Person zurückfinden. Jetzt sah ich dort drüben ein Mädchen, das abseits saß, das blonde Haar über die Stirn hängen ließ und mit den Locken spielte, eingerollt wie in einen hohlen Baum in einer versonnenen, tiefen Heiterkeit, und nun löste sich das Händchen aus den Locken und fuhr gespreizt in der Luft herum. Ein anderes Mädchen stand am Wasser und blickte hingerissen auf ihr Spiegelbild, die Beine hatte sie wie eine Tänzerin ineinandergedreht, der Kopf war auf die Schulter gesunken und die Hand beschrieb leichte Schmetterlingswellen in die Lüfte. Beide telephonierten, und das Apparätchen, das soviel Schönheit hervorbrachte und den Traum der Antike Wirklichkeit werden ließ: die lebendige Statue, blieb dabei fast unsichtbar. Ihre vorher teilnahmslosen Mienen waren jetzt gleichsam angezündet, die Wangen röteten sich, die Augen glänzten, eine neue Spannung erfüllte die Körper. Näher bei mir schritt - ja, es war ein Schreiten mit langen Beinen - ein junger Mann auf und ab und drehte sich hin und wieder auf den Absätzen. Seine Hände machten rhetorische Gesten, dann versenkte er sie in die Hosentaschen, stand wippend auf Zehenspitzen, legte den Kopf in den Nacken, der Sonne entgegengestreckt, dann fuhr es wie ein Schuß in den gerade gereckten Körper, er beugte den Kopf, er ging in die Knie - hätte ich doch nur ein einziges Mal einen Hamlet-Monolog so intensiv und in allem Ausdruck so beherrscht gesehen. Der Junge trug Kopfhörer und war deshalb noch freier in seinem Stolzieren, beide Arme hatte er zum Sprechen zur Verfügung. Aber das Schönste sah ich erst, als es zum allgemeinen Aufbruch kam, und es war diesmal nicht das Telephon, sondern eine Digitalkamera, was diese Schönheit möglich machte. Bernward stand unten am Tor, er hatte Gäste zu ihren draußen parkenden Autos begleitet, und nun rollte ihm das Kabriolett der jungen Schmidt-Flex entgegen, die oben vor dem Haus hatten parken dürfen. Hans-Jörg saß am Steuer, seine trüben Augen waren hinter Sonnengläsern verborgen, er war ein Mann der Ausrüstungen, des Zubehörs, und er trug auch durchlöcherte Autohandschuhe, neben ihm aber stand in einem wehenden weißen Leinenhemd, das über die Schulter gerutscht war und den Spaghettiträger des Bikini-Oberteils auf der bräunlichen Schulter freigab, Silvi und hielt mit den beiden nackten Armen ebendiesen Photoapparat in die Lüfte, den Blick fest auf das Bildfensterchen gerichtet, sie war wie ein schwebender Engel, eine Siegesgöttin mit goldenem Kranz in der Hand. Bernward stand still und sah mit entzücktem Lächeln auf diese Erscheinung. Als sie neben ihm anhielten, sagte Silvi: »Ich glaube, ich habe ein gutes Bild von dir gemacht.«
»Jetzt bin ich aber enttäuscht - ich dachte, ich erfahre etwas über deinen Herrn von Sláwina, und statt dessen schwärmst du mir von allen möglichen Damen vor.«
»Nein, Sláwina ist noch nicht an der Reihe. Es wäre aber falsch, ihn einfach wieder zu vergessen.«
»Dann ist dein Sláwina wohl eine Art Konserve, die erst im Bedarfsfall geöffnet wird ... ?«
5.
Eine weiße Feder
Die Salons der Hopstenschen Villa hatten zur Zeit der Erbauung des Hauses anders ausgesehen, wie, davon gab der Bildband aus den zwanziger Jahren, der auf dem Büchertisch für die Gäste deutlich sichtbar ausgelegt war, eine gewisse Vorstellung, allerdings mehr durch die Bildunterschriften als durch die undeutlichen, etwas verwaschenen Photographien auf dem vergilbten Papier. Die Bauherren damals hatten offenbar einen Schritt aus düsterem wilhelminischem Prunk in die nicht minder prunkvolle Dunkelheit eines starkfarbigen Art déco getan und die nicht besonders großen Räume in tresorartig üppige Kabinette verwandelte. Was sich auf den Photos grauschwärzlich präsentierte, waren einmal Lapislazuli-Kamine, blattvergoldete Plafonds und Wandbespannungen aus Pergament gewesen. Davon war nichts ans Ende des zwanzigsten Jahrhunderts gelangt, aber Rosemarie Hopsten wollte sich von der Vergangenheit durchaus inspirieren lassen. Helga Stolzier stieß bei Betrachtung des bewußten Bildbandes, der Bernward in einem Antiquariat in die Hände gefallen war, einen kleinen Entzückensschrei aus. Es kann durchaus sein, daß ihre mattschimmernden grauen StuccoLustro-Wände und die mit schwefelgelbem Ziegenleder bezogenen schwarzen Lacksessel den Erbauern gefallen hätten. Damals, soviel war einem Photo zu entnehmen, hatte ein Picasso der Blauen Periode in dem Zimmer gehangen, wo jetzt ein großer Botero einen zum Ballon aufgepumpten südamerikanischen General zeigte, der aussah, als foltere er seine Feinde nicht mit Elektroschocks, sondern mit Schlagsahne. Die Fülle kostbarer kleiner Sachen, die auf Tischchen, Fensterbänken und dem Kaminsims aufgestellt waren, machte den Raum zu einem idealen Wartezimmer, während vor den Fenstern sich die grünen Wiesen parkartig ausbreiteten, als hätten niemals Kühe auf ihnen gestanden.
Rosemarie Hopsten hatte mich allein gelassen, sie habe draußen noch etwas zu erledigen. Was, das erfuhr ich leicht, denn der Wirtschaftsraum, in dem eine zierliche schwarze Brasilianerin mit rosa Brille auf der Nase bügelte, lag nicht so weit, daß die dort geführte Unterhaltung unhörbar geworden wäre. Die Hausfrau klang verärgert, aber die Bra silianerin sprach ebenfalls mit erhobener Stimme. Ich brauchte gar nicht die Ohren zu spitzen, um den Wortwechsel zu verfolgen.
»Warum sind Sie gestern nicht gekommen?«
Die Brasilianerin sprach nicht gut deutsch. Sie sei krank gewesen.
»Warum haben Sie dann nicht angerufen?«
Das sei nicht gegangen, wie sie schon gesagt habe - »der Akku war leer«.
Moderne Menschen sagen einander nicht ins Gesicht, daß sie den anderen für einen Lügner halten, aber diese Rücksicht oder Vorsicht hatte bei Rosemarie eine Gefühlsstauung zur Folge: Sie glaubte dem Mädchen kein Wort und geriet noch mehr in Zorn.
»Wenn Sie nicht mehr kommen wollen, dann sagen Sie es offen.«
Sie habe schon mehrmals gesagt, daß sie kommen wolle, jetzt wieder das Mädchen, aber wenn sie krank sei, dann gehe es eben nicht.
»So geht das nicht weiter ... anrufen kann man immer ... «
Der Dialog hatte einen Rondo-Charakter, schraubte sich aber bei jeder vollendeten Umdrehung ein Stück höher. Jetzt fiel eine Tür ins Schloß, die Stimmen kamen nur noch gedämpft und unverständlich. Ich war wieder mir selbst und den Objekten dieser Schatzkammer überlassen.
Da räusperte sich jemand, ein eigentümliches Glucksen folgte. Jetzt erst entdeckte ich einen großen, wie eine chinesische Pagode geformten Käfig. Darin saß ein blütenweißer Kakadu. Er hatte den Kopf auf die Seite gelegt und sah mich an, während es in dem schieferfarbenen Schnabel leise knackte und knusperte, als habe er gerade ein Maiskörnchen aus der Porzellanschale seiner Sitzstange zu sich genommen.
Später erfuhr ich, wie der Kakadu ins Haus gekommen war: nicht aus Tierliebe, sondern weil Rosemarie in der Komposition ihrer Umgebung etwas Kostbar-Lebendiges vermißte, ein Objet d'art, das sich bewegte, auch ohne daß man es aufzog. Sogar an ein großes Aquarium mit seltenen Fischen hatte sie einen Augenblick lang gedacht, aber Helga riet davon ab: Und wenn es noch so edel sei - ein Aquarium wirke im Ergebnis dann doch immer spießig. Aber ein wundervoller Vogel?
»Federn sind jetzt sehr aktuell.« Von Helgas Seite stand einem Kakadu nichts im Wege. Und kaum war er im Haus, erwies sich, daß er genügend unvorhersehbare Lebenskraft besaß, um sich einen Platz unter den Hausbewohnern, nicht unter den Bibelots zu erobern. Rosemarie war von seinem Anblick befriedigt, und Bernward begann ihn zu lieben. Sogar an der zarten Fahne warm-süßen, nicht unangenehmen Geruchs von Vogelkot, der nun gelegentlich den Raum durchzog, nahm keiner Anstoß. Den Freunden des Hauses war es, wie ich später erfuhr, ein vertrautes Bild, den Kakadu auf Bernward Hopstens Schulter zu sehen, mit dem schneckenhausartigen steinernen Schnabel, der trotz seiner Rundung bös zuhacken konnte, nah an den ungeschützten weichen Lippen.
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Autoren-Porträt von Martin Mosebach
Mosebach, MartinMartin Mosebach, 1951 geboren, lebt in Frankfurt am Main. Er wurdeu.a. mit dem Heimito von Doderer-Preis, dem Großen Literaturpreisder Bayerischen Akademie, dem Kleist-Preis, mit dem Georg-Büchner-Preis sowie 2015 mit der Goetheplakette ausgezeichnet. Bei Hanser erschienen zuletzt DerMond und das Mädchen (Roman, 2007), Stadt der wilden Hunde(Nachrichten aus dem alltäglichen Indien, 2008), Als das Reisen noch geholfen hat (Essays, 2011) und Das Blutbuchenfest (Roman, 2014).
Bibliographische Angaben
- Autor: Martin Mosebach
- 2010, 329 Seiten, Maße: 13,6 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446235620
- ISBN-13: 9783446235625
- Erscheinungsdatum: 16.08.2010
Rezension zu „Was davor geschah “
"Ein Meister auf der Höhe seines Könnens: Martin Mosebachs Roman 'Was davor geschah' gehört nicht nur zum Besten der neuen Saison, sondern der neuen deutschen Gegenwartsliteratur überhaupt." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.08.10"Ein Porträt der Frankfurter Gesellschaft, nachgeschärft und zum Funkeln gebracht - der Gesellschaftsroman des frühen 21. Jahrhunderts." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 26.08.10
"Ein Glücksfall, ein großer Wurf, ein heiter-zärtliches Vexierspiel von Liebe und Zufall ... Wer es liest, erfährt viel über den eigenen Pulsschlag in der Zeit." Hellmuth Karasek, Hamburger Abendblatt, 28.08.10
"Der große Gesellschaftsroman unserer Tage: Ein Karussell der Eitelkeiten und Affären, in dem wir uns wiedererkennen, so unerbittlich, mit soziologisch analytischem Blick, erfasst er das Milieu. Der überzeugendste und subtilste Roman, den Mosebach bisher geschrieben hat. Er ist einer unserer besten Schriftsteller." Ulrich Greiner, Die Zeit, 02.09.10
"Ein Roman, der mich außergewöhnlich begeistert, weil er glaubhaft darstellt, wie in der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2010 gelebt und gedacht und gehandelt wird. Dieser Roman hält uns einen Spiegel vor, in dem wir uns gelegentlich verzückt, öfter aber erschrocken, selbst erkennen. Dieser Roman gehört auf die Bestsellerliste." Denis Scheck, ARD, 30.08.10
"Man weiß gar nicht, wo man mit dem Loben anfangen soll, so geschickt sind hier alle Erzählstränge eingefädelt, so funkelt und glüht die Sprache. Die große Leistung dieses Schriftstellers besteht auch in diesem Roman darin, dass er unsere banale Gegenwart so behandelt, als sei sie längst Geschichte geworden und also kostbar." Hannes Stein, Die Welt, 04.09.10
"Ein Geduldsspiel, auf das man sich unbedingt einlassen sollte. ... Eine erzählerische Meisterleistung und ein grosses Leseerlebnis." Andreas Tobler, Tages-Anzeiger, 27.09.10"Das Spiel um Lüge und Wahrheit ... ist der geheime Antrieb dieses Romans. Ohne
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Zynismus, aber mit heiterster Ironie, mit großem Erzählwitz und dramaturgischem Geschick zeichnet Martin Mosebach das Sittenbild einer feinen Gesellschaft, die einen Augenblick ganz unentschlossen zwischen Noblesse und Dekadenz schwankt, ehe sie stürzt." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 04.10.10
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