Nachtgeboren / Darkborn Trilogie Bd.1
Roman. Deutsche Erstausgabe
Ein geheimnisvoller Fluch spaltet die Stadt Minhorne. Die Nachtgeborenen können nur in der Dunkelheit existieren, während die Lichtgeborenen die Sonne zum Leben brauchen. Eines Morgens steht eine hochschwangere Frau vor der Tür des nachtgeborenen Arztes...
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Klappentext zu „Nachtgeboren / Darkborn Trilogie Bd.1 “
Ein geheimnisvoller Fluch spaltet die Stadt Minhorne. Die Nachtgeborenen können nur in der Dunkelheit existieren, während die Lichtgeborenen die Sonne zum Leben brauchen. Eines Morgens steht eine hochschwangere Frau vor der Tür des nachtgeborenen Arztes Balthasar Hearne. Es ist Tercelle, die Verlobte von Balthasars verschollenem Bruder. Tercelle bringt Zwillinge zur Welt, die die ungewöhnliche Fähigkeit des Sehens besitzen. Kurz darauf wird Balthasars eigene Tochter entführt. Er ist mit seiner Familie in eine grausame Verschwörung geraten, die das Gleichgewicht von Licht und Dunkelheit gefährdet.
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Nachtgeboren von Alison SinclairBalthasar
Als es an Balthasars Tür klopfte, kündigte die Glocke bereits den Sonnenaufgang an. Für Imogenes Nachtgeborene war dies die Stunde der Verbrecher und Selbstmörder, die Stunde von Gewalt oder Verzweiflung. Das altehrwürdige Gesetz der Nothilfe war in der zivilisierten Stadt Minhorne fast in Vergessenheit geraten, und selbst bei unmittelbar bevorstehendem Tagesanbruch hätten viele auf das Klopfen eines Unbekannten hin ihre Tür nicht geöffnet.
Zu ihnen gehörte Balthasar Hearne jedoch nicht; er eilte zu der schweren Tür und zog sie auf. Direkt vor ihm stand eine Frau - eingehüllt in einen dicken Reiseumhang. Hinter ihr konnte er weder eine Kutsche peilen, noch war innerhalb der Reichweite seiner Ultraschallsinne - seines angeborenen Sonars - die Regung eines anderen menschlichen Lebewesens auszumachen. Nichts außer zwei Katzen und dem schemenhaften Flattern einiger Vögel. So kurz vor Sonnenaufgang waren die Straßen für gewöhnlich wie ausgestorben. »Um der Barmherzigkeit willen«, bat die Frau atemlos, »lasst mich ein.« Balthasar konnte bereits das Stechen des ersten Tageslichts spüren. Er trat zurück, und die Frau stolperte über die Schwelle und fing sich erst an dem kleinen Tisch im Flur. »Grundgütige Imogene!« Sie keuchte und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. »Ich dachte schon, ich würde nicht mehr rechtzeitig hierhergelangen. Ich war mir sicher, ich müsste verbrennen.« Er schloss die Tür und verriegelte sie gegen das Tageslicht. Ihm blieb gar keine andere Wahl. Denn draußen würde die Frau bei Sonnenaufgang in einem einzigen Augenblick zu Asche verbrennen, genau wie er. Das war das Schicksal der Nachtgeborenen, zu dem sie durch den Fluch der Erzmagierin Imogene verdammt waren.
Ihr schwerer Umhang drohte eines der
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Zierstücke von dem Tischchen zu reißen. Balthasar konnte es gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen - es war eins der Lieblingsstücke seiner Frau, eine Stute mit Fohlen, das sich eng an sie drückte. Er hielt die kleine Figur vorsichtig fest, während sich die Frau mühsam aufrichtete und zu ihm umdrehte. Er spürte, wie ihr Sonar über ihn hinwegstrich und er in ihrer Wahrnehmung Gestalt annahm: ein unscheinbarer, schlanker Mann, etwas kleiner als der Durchschnitt, manierlich, aber weder modisch noch vornehm gekleidet. Und sicherlich keineswegs so, wie es dem Ehemann einer Herzogstochter angemessen gewesen wäre - falls ihr überhaupt bewusst war, wem sie gegenüberstand. Er erwiderte ihre Peilung äußerst taktvoll, ganz so wie es sich gehörte, damit der Anstand der Dame gewahrt blieb. Das schmale Gesicht über dem Pelzbesatz ihres Umhangs wirkte verquollen. Sie trug Handschuhe und hielt mit ihrer zierlichen Hand den Verschluss des Plaids fest.
Noch immer ging ihr Atem schwer. Wie den meisten Frauen der Aristokratie mangelte es ihr an Kraft und Ausdauer, auch nur geringe Entfernungen zu Fuß zurückzulegen. Sie wirkte allerdings derart entkräftet, dass es dafür noch eine andere Ursache geben musste. Er fragte sich, was sie wohl ohne Begleitung hergeführt haben mochte. Denn das allein verhieß nichts Gutes, weder für sie noch für ihn. Falls es sich herumsprach, dass sie den Tag zusammen in seinem Haus verbracht hatten, würde es sowohl ihrem Ruf als auch seiner Ehe schaden.
Die Glocke verstummte. In wenigen Minuten würde die Sonne aufgehen. Also saßen sie hier bis zum Einbruch der nächsten Nacht zusammen fest. Gleichwohl, er vergaß seine guten Manieren nicht. »Zum Salon geht es dort entlang.« Er wies ihr den Weg. Sie rührte sich nicht. »Erkennst du mich denn nicht, Balthasar? «, fragte sie mit klarer, lieblicher Stimme. »Habe ich mich tatsächlich so sehr verändert?« Er tastete sie noch einmal mit seinem Ultraschall ab, aber an ihrer Stimme hatte er sie bereits erkannt, an ihrer melodiösen Sprechweise. »Tercelle Amberley«, sagte er tonlos.
»Ja«, erwiderte sie lächelnd. »Tercelle Amberley. Es ist schon sehr lange her.«
Die Echos seines Ultraschalls verebbten, zurück blieb nur der flüchtige Nebel aus Reflexionen zufälliger kleiner Laute um sie herum. Er schämte sich seiner Gefühle. Schließlich war es nicht ihre Schuld, dass er seit zehn Jahren oder länger versucht hatte, seinen Bruder und alle, die mit ihm in Verbindung standen, zu vergessen.
Ihren nächsten Ultraschallruf richtete sie auf den Korridor - eine Dame, die mit Würde über eine Peinlichkeit hinwegging.
»Dein Haus hat sich überhaupt nicht verändert«, sagte sie. »Obwohl du eine gute Partie gemacht hast.«
»Meine Frau und ich haben andernorts ein Haus für die Familie «, sagte er und versuchte, nicht allzu schroff zu klingen. Seine häuslichen Verhältnisse gingen sie nichts an. Seine Schroffheit war ihr jedoch nicht entgangen, und er hörte, wie sie einen schweren Schritt auf ihn zu machte. »Balthasar ... Balthasar, ich hätte mich dir bestimmt nicht aufgedrängt, wäre ich nicht dermaßen verzweifelt. Ich glaube wirklich, dass du der Einzige bist, der mir helfen kann.« Das Letzte, was er von Tercelle Amberley gehört hatte, war die Bekanntgabe ihrer Verlobung mit Ferdenzil Mycene vor einem Jahr gewesen. Ferdenzil war der Erbe eines der vier großen Herzogtümer und der Held im Feldzug zur Unterdrückung der Seeräuberei auf den Scallon-Inseln. Die Verlobung war ein gewaltiger Erfolg für die Tochter einer Familie, die sich erst drei Generationen zuvor den Weg in den Adel erkämpft hatte. Doch die Amberleys waren stark in der Rüstungswirtschaft und im Schiffbau engagiert, was den Erben des expansionsfreudigsten Herzogtums vermutlich mehr angezogen hatte als das hübsche Gesicht und der gesellschaftliche Schliff der jungen Dame. Unter Balthasars Forscherkollegen galt diese Verlobung als eines der vielen Anzeichen, die für die Unabhängigkeit der Scallon-Inseln nichts Gutes verhießen. Balthasar konnte sich kaum vorstellen, wieso Tercelle es nötig haben sollte, sich der Gnade eines unbekannten Mediziners und Forschers zu überlassen, selbst wenn es sich dabei um den Ehemann einer Cousine des Erzherzogs handelte. Oder besser gesagt, er konnte sich kaum einen guten Grund vorstellen, warum sie dies tun sollte. Doch die vielen Jahre anerzogener Höflichkeit behielten auch jetzt die Oberhand. »Bitte«, er wies mit dem Arm zum Salon, »nimm erst einmal Platz.«
Auf der Schwelle hielt sie inne, und in den Reflexionen ihres Peilrufs nahm er die spärliche Ausstattung seines Salons wahr, des besten Raumes im Haus eines verarmten Angehörigen des niederen Adels. Natürlich besaß er noch ein anderes Haus, ein stattliches Gebäude, wie es der Dame, die er geheiratet hatte, angemessen war. Obwohl sie es von ihrem Erbe gekauft hatten und nicht von seinem, fühlte er sich dort zu Hause, wenn sie bei ihm war. Wenn sie und die Kinder jedoch auf einem der Anwesen ihrer Familie weilten, kehrte er hierher zurück. Und dieses Haus hatte sich tatsächlich nicht verändert; wenn überhaupt, war es nur noch schäbiger geworden, als Tercelle es in Erinnerung haben mochte. Schon damals, während ihrer langen Liebelei mit seinem Bruder, hatte sie kein Geheimnis aus ihrer Missachtung gemacht. Balthasar fragte sich, ob Lysander gewusst hatte, wie wenig aussichtsreich sein Liebeswerben gewesen war, selbst damals. Und er fragte sich, was sein Bruder heute wohl wissen und denken mochte.
Sie blieb mitten im Raum stehen und drehte sich zu ihm um, wobei sie etwas Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. »Hast du je wieder von Lysander gehört?«
»Nein«, antwortete Balthasar und unterdrückte eine leichte Beunruhigung darüber, wie treffsicher sie seine Gedanken ansprach. Aber natürlich würde sie unweigerlich an Lysander denken müssen, wenn sie vor seinem Bruder stand. Sie war keine Magierin. Sie peilte ihn, und er spürte das zarte Züngeln des Ultraschalls.
»Bist du ihm immer noch böse?«
»Fortzugehen«, sagte Balthasar, »war das Beste, was er tun konnte. Für uns, für seine Familie und für dich.« »Wie streng«, sagte sie in dem für sie typischen, atemlosen Trällern. »Ich hätte nie gedacht, dass du zu einem so unversöhnlichen Mann werden würdest. Du warst doch immer so sanftmütig. Und du hast Lysander bewundert, genau wie ich.« Ja, das hatte er, früher einmal. »Bitte Tercelle, warum bist du hergekommen?«
Nach einem kurzen Moment des Schweigens hörte er ein Rascheln.
»Ich brauche deine Hilfe.« Sein Peilruf erreichte sie, als sie sich den geöffneten Umhang von den Schultern gleiten und zu Boden fallen ließ. Es überraschte ihn nicht sonderlich, dass sie schwanger war, doch die Größe und Tieflage ihres Bauches beunruhigten ihn. Der Zeitpunkt der Geburt musste unmittelbar bevorstehen. Nur war ihr Verlobter bereits vor über einem Jahr aufgebrochen, um die Seeräuber von den Scallons zu vertreiben und diplomatische Missionen zu den benachbarten Inselkönigreichen zu unternehmen, die den Anspruch des Herzogtums von Mycene auf die Inseln, ihr Territorium und ihren Export exotischer Früchte und Gewürze bekräftigen sollten.
»Das Kind ist nicht von deinem Zukünftigen«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. Es schien ihr zu missfallen, dass er es ausgesprochen hatte. Sie griff hinter sich und ließ sich vorsichtig auf einen Stuhl sinken, den er ihr nicht angeboten hatte. »Falls er je von diesem Kind erfährt, werden er und seine Familie mich bestenfalls verstoßen. Schlimmstenfalls wird er mich töten.« Sie verzog das Gesicht, als sie sich ihren Bauch auf dem Schoß zurechtrückte. »Ich wäre lieber tot, als zurückgewiesen zu werden.« »Wie ist es möglich«, fragte Balthasar, »dass ihm bisher noch niemand etwas gesagt hat?«
»Sobald ich wusste, dass ich schwanger war, habe ich mit allen Mitteln versucht, das Kind loszuwerden. Ich habe alles ausprobiert, was mir in den Sinn kam. Selbst einen Sturz vom Pferd habe ich zuwege gebracht.« Er schwieg und dachte an die schreckliche Zeit nach Telmaines Fehlgeburt. Er und Telmaine waren rastlos durch das Haus geschlichen wie die gequälten Seelen durchs Fegefeuer. »Auch das hat nicht funktioniert. Aber meine Verletzungen dienten mir immerhin als Vorwand, mich für eine ganze Weile zurückzuziehen.« Sie drückte sich eine Faust auf den Bauch und verzog das Gesicht. »Ich ... habe nur vier Mal das Lager mit ihm geteilt. Es war das letzte ...« Er wusste, dass sie ihm das Datum und die genaue Stunde hätte sagen können. Sie tat ihm leid in ihrer verliebten Torheit, obwohl er sie nicht mochte und die Situation für ihn selbst nicht ungefährlich war. Denn Ferdenzil würde mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie ihren Geliebten um Hilfe gebeten hatte.
»Er klopfte jedes Mal an die Haustür, um mich wissen zu lassen, dass er da sei. Darauf gab ich ihm meinerseits ein Klopfzeichen, verließ den Flur, schloss mindestens eine Tür hinter mir und wartete ... bis er im Haus war ... Verschiedentlich dachte ich darüber nach, die Haustür vor ihm zu verriegeln, und einmal tat ich es auch, aber dann habe ich sie doch wieder aufgeschlossen ... Ich konnte nicht anders. Und es war Tag, wenn er kam - er kam immer am Tag.«
Balthasar runzelte die Stirn. Nur Balladen und Schundblätter berichteten von lichtgeborenen Dämonenliebhabern, die die Tageslichtgrenze überschritten und nachtgeborene Mädchen verführten. Doch diese Geschichten waren absurd, da die Lichtgeborenen ebenso wenig die Dunkelheit ertragen konnten wie die Nachtgeborenen das Licht; denn gerade das besagte ja Imogenes Fluch. Ein Teil seiner unregelmäßig abgehaltenen Praxis als Arzt bestand in der Behandlung von Patienten, für gewöhnlich jungen Frauen, die unter einer gefährlichen Leidenschaft für das Licht litten. Die Krankheit wurde Lichtsucht genannt, eine Wahnvorstellung, die dazu führen konnte, dass die erkrankte Person impulsiv und mit für sie fatalem Ende ins Sonnenlicht hinaustrat. Er fragte sich, warum Tercelle ihm eine Geschichte auftischte, von der sie beide ganz genau wussten, dass sie unmöglich war. Ihr entging die Skepsis nicht, die sich hinter seinem Schweigen verbarg. »Und ich sage dir, er kam aus dem Licht!«, rief sie. Sein Ultraschallsinn zeigte ihm, wie sie sich auf ihrem Stuhl nach vorn zog. »Genau deswegen bin ich ja zu dir gekommen. Du hast Freunde unter den Lichtgeborenen. Du kannst dich des Kindes annehmen, was auch immer es sein wird. Und wenn es nicht zurück ins Licht gehen kann, dann gibt es gewisse Orte, wo ein Bastard mehr kaum auffallen wird, Orte, die du kennst.« Aha, darum ging es also, wenn er einmal den ganzen Rest bei seiteließ. Die Halbwelt, die Flussmark, wo gefallene Mädchen, Magier und Kriminelle zusammenkamen und ihren schändlichen Gewerben nachgingen. Der Auswurf der Gesellschaft. Als Student hatte er an einer Klinik der Halbwelt gearbeitet und tat es noch immer, wenn Telmaines aristokratische Familie ihn und auch sie in Ruhe ließ ...
Der Arzt in ihm war jedoch zunächst einmal besorgt über Tercelles Verfassung. Er fragte sich, wie weit sie wohl zu Fuß hatte gehen müssen, um sein Haus zu erreichen. Denn die Kutscher bestanden normalerweise darauf, eine sichere Unterkunft zu finden, noch bevor die Glocke zum Sonnenaufgang zu läuten begann. Er erhob sich. »Tercelle, alles Weitere kann warten. Du bist jetzt hier, und für eine Dame in deinem Zustand hast du einen anstrengenden Marsch hinter dir. Du solltest dich jetzt ausruhen.«
Er führte sie ins Schlafzimmer seiner Eltern, das er seit deren Tod vor sechs Jahren immer gut gelüftet hatte. Darin stand ein großes Himmelbett - es war dasselbe Bett, in dem er, sein Bruder und seine Schwester empfangen und geboren worden waren, das Bett, in dem seine Eltern innerhalb weniger Wochen einander folgend gestorben waren. Da Tercelle nichts weiter mitgebracht hatte, gab er ihr ein Nachthemd seiner Mutter. Außerdem brachte er ihr einen Krug Wasser, ein Glas und eine Schale und sagte, er würde die Tür nur anlehnen, sodass sie ihn nötigenfalls rufen könne. Dann ging er leise die Treppe hinauf zu seinem Arbeitszimmer im Obergeschoss. Sobald er die Tür geöffnet hatte, wusste er, dass Floria Weiße Hand in ihrem salle war. Er hörte, wie sie hinter der Wand leichtfüßig ihr einsames Training absolvierte. Nichts verstellte diese Wand, kein Tisch, kein Bücherregal. Sie bestand zum Großteil aus zwei Lagen dicken Papiers, zwischen denen sich ein feines Metallgeflecht als Schutz gegen unbeabsichtigte Zerstörung befand. Die niedrige Verlängerung eines Bücherschrankes bildete den restlichen Teil dieser Wand - eine Art Durchreiche mit einer lichtsicheren Tür auf jeder Seite.
Überall sonst in den getrennten Ländern hatten die Lichtgeborenen ihre ständig beleuchteten Dörfer und Städte, die Nachtgeborenen ihre immerwährend dunklen unterirdischen Höhlen und überirdischen Festungen. Hier in Minhorne dagegen lebten die Nachtgeborenen und die Lichtgeborenen Seite an Seite. Bei Nacht gehörten die Straßen den Nachtgeborenen, bei Tag den Lichtgeborenen, und beide Rassen hatten ihre eigenen Orte für jene Stunden, in denen ihre jeweiligen Angehörigen nicht draußen sein konnten. Die Reihenhäuser, von denen er eins bewohnte, teilten ihre Rückwand mit einer Reihe von Häusern, die an den Palast des Prinzen der Lichtgeborenen grenzte. Für die Nachtgeborenen war dies sicher keine vornehme Adresse, aber seit fünf Generationen hatte die Familie Balthasars und die lichtgeborene Familie Weiße Hand - ihres Zeichens Schwertkämpfer und Auftragsmörder - in Freundschaft und Vertrauen zusammengelebt, wie es diese dünne Papierwand bewies. Sollte diese Wand zerstört werden, würde das Licht, das Floria zum Leben brauchte, Balthasar zu Asche verbrennen.
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
ISBN: 978-3-8025-8335-3
Noch immer ging ihr Atem schwer. Wie den meisten Frauen der Aristokratie mangelte es ihr an Kraft und Ausdauer, auch nur geringe Entfernungen zu Fuß zurückzulegen. Sie wirkte allerdings derart entkräftet, dass es dafür noch eine andere Ursache geben musste. Er fragte sich, was sie wohl ohne Begleitung hergeführt haben mochte. Denn das allein verhieß nichts Gutes, weder für sie noch für ihn. Falls es sich herumsprach, dass sie den Tag zusammen in seinem Haus verbracht hatten, würde es sowohl ihrem Ruf als auch seiner Ehe schaden.
Die Glocke verstummte. In wenigen Minuten würde die Sonne aufgehen. Also saßen sie hier bis zum Einbruch der nächsten Nacht zusammen fest. Gleichwohl, er vergaß seine guten Manieren nicht. »Zum Salon geht es dort entlang.« Er wies ihr den Weg. Sie rührte sich nicht. »Erkennst du mich denn nicht, Balthasar? «, fragte sie mit klarer, lieblicher Stimme. »Habe ich mich tatsächlich so sehr verändert?« Er tastete sie noch einmal mit seinem Ultraschall ab, aber an ihrer Stimme hatte er sie bereits erkannt, an ihrer melodiösen Sprechweise. »Tercelle Amberley«, sagte er tonlos.
»Ja«, erwiderte sie lächelnd. »Tercelle Amberley. Es ist schon sehr lange her.«
Die Echos seines Ultraschalls verebbten, zurück blieb nur der flüchtige Nebel aus Reflexionen zufälliger kleiner Laute um sie herum. Er schämte sich seiner Gefühle. Schließlich war es nicht ihre Schuld, dass er seit zehn Jahren oder länger versucht hatte, seinen Bruder und alle, die mit ihm in Verbindung standen, zu vergessen.
Ihren nächsten Ultraschallruf richtete sie auf den Korridor - eine Dame, die mit Würde über eine Peinlichkeit hinwegging.
»Dein Haus hat sich überhaupt nicht verändert«, sagte sie. »Obwohl du eine gute Partie gemacht hast.«
»Meine Frau und ich haben andernorts ein Haus für die Familie «, sagte er und versuchte, nicht allzu schroff zu klingen. Seine häuslichen Verhältnisse gingen sie nichts an. Seine Schroffheit war ihr jedoch nicht entgangen, und er hörte, wie sie einen schweren Schritt auf ihn zu machte. »Balthasar ... Balthasar, ich hätte mich dir bestimmt nicht aufgedrängt, wäre ich nicht dermaßen verzweifelt. Ich glaube wirklich, dass du der Einzige bist, der mir helfen kann.« Das Letzte, was er von Tercelle Amberley gehört hatte, war die Bekanntgabe ihrer Verlobung mit Ferdenzil Mycene vor einem Jahr gewesen. Ferdenzil war der Erbe eines der vier großen Herzogtümer und der Held im Feldzug zur Unterdrückung der Seeräuberei auf den Scallon-Inseln. Die Verlobung war ein gewaltiger Erfolg für die Tochter einer Familie, die sich erst drei Generationen zuvor den Weg in den Adel erkämpft hatte. Doch die Amberleys waren stark in der Rüstungswirtschaft und im Schiffbau engagiert, was den Erben des expansionsfreudigsten Herzogtums vermutlich mehr angezogen hatte als das hübsche Gesicht und der gesellschaftliche Schliff der jungen Dame. Unter Balthasars Forscherkollegen galt diese Verlobung als eines der vielen Anzeichen, die für die Unabhängigkeit der Scallon-Inseln nichts Gutes verhießen. Balthasar konnte sich kaum vorstellen, wieso Tercelle es nötig haben sollte, sich der Gnade eines unbekannten Mediziners und Forschers zu überlassen, selbst wenn es sich dabei um den Ehemann einer Cousine des Erzherzogs handelte. Oder besser gesagt, er konnte sich kaum einen guten Grund vorstellen, warum sie dies tun sollte. Doch die vielen Jahre anerzogener Höflichkeit behielten auch jetzt die Oberhand. »Bitte«, er wies mit dem Arm zum Salon, »nimm erst einmal Platz.«
Auf der Schwelle hielt sie inne, und in den Reflexionen ihres Peilrufs nahm er die spärliche Ausstattung seines Salons wahr, des besten Raumes im Haus eines verarmten Angehörigen des niederen Adels. Natürlich besaß er noch ein anderes Haus, ein stattliches Gebäude, wie es der Dame, die er geheiratet hatte, angemessen war. Obwohl sie es von ihrem Erbe gekauft hatten und nicht von seinem, fühlte er sich dort zu Hause, wenn sie bei ihm war. Wenn sie und die Kinder jedoch auf einem der Anwesen ihrer Familie weilten, kehrte er hierher zurück. Und dieses Haus hatte sich tatsächlich nicht verändert; wenn überhaupt, war es nur noch schäbiger geworden, als Tercelle es in Erinnerung haben mochte. Schon damals, während ihrer langen Liebelei mit seinem Bruder, hatte sie kein Geheimnis aus ihrer Missachtung gemacht. Balthasar fragte sich, ob Lysander gewusst hatte, wie wenig aussichtsreich sein Liebeswerben gewesen war, selbst damals. Und er fragte sich, was sein Bruder heute wohl wissen und denken mochte.
Sie blieb mitten im Raum stehen und drehte sich zu ihm um, wobei sie etwas Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. »Hast du je wieder von Lysander gehört?«
»Nein«, antwortete Balthasar und unterdrückte eine leichte Beunruhigung darüber, wie treffsicher sie seine Gedanken ansprach. Aber natürlich würde sie unweigerlich an Lysander denken müssen, wenn sie vor seinem Bruder stand. Sie war keine Magierin. Sie peilte ihn, und er spürte das zarte Züngeln des Ultraschalls.
»Bist du ihm immer noch böse?«
»Fortzugehen«, sagte Balthasar, »war das Beste, was er tun konnte. Für uns, für seine Familie und für dich.« »Wie streng«, sagte sie in dem für sie typischen, atemlosen Trällern. »Ich hätte nie gedacht, dass du zu einem so unversöhnlichen Mann werden würdest. Du warst doch immer so sanftmütig. Und du hast Lysander bewundert, genau wie ich.« Ja, das hatte er, früher einmal. »Bitte Tercelle, warum bist du hergekommen?«
Nach einem kurzen Moment des Schweigens hörte er ein Rascheln.
»Ich brauche deine Hilfe.« Sein Peilruf erreichte sie, als sie sich den geöffneten Umhang von den Schultern gleiten und zu Boden fallen ließ. Es überraschte ihn nicht sonderlich, dass sie schwanger war, doch die Größe und Tieflage ihres Bauches beunruhigten ihn. Der Zeitpunkt der Geburt musste unmittelbar bevorstehen. Nur war ihr Verlobter bereits vor über einem Jahr aufgebrochen, um die Seeräuber von den Scallons zu vertreiben und diplomatische Missionen zu den benachbarten Inselkönigreichen zu unternehmen, die den Anspruch des Herzogtums von Mycene auf die Inseln, ihr Territorium und ihren Export exotischer Früchte und Gewürze bekräftigen sollten.
»Das Kind ist nicht von deinem Zukünftigen«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. Es schien ihr zu missfallen, dass er es ausgesprochen hatte. Sie griff hinter sich und ließ sich vorsichtig auf einen Stuhl sinken, den er ihr nicht angeboten hatte. »Falls er je von diesem Kind erfährt, werden er und seine Familie mich bestenfalls verstoßen. Schlimmstenfalls wird er mich töten.« Sie verzog das Gesicht, als sie sich ihren Bauch auf dem Schoß zurechtrückte. »Ich wäre lieber tot, als zurückgewiesen zu werden.« »Wie ist es möglich«, fragte Balthasar, »dass ihm bisher noch niemand etwas gesagt hat?«
»Sobald ich wusste, dass ich schwanger war, habe ich mit allen Mitteln versucht, das Kind loszuwerden. Ich habe alles ausprobiert, was mir in den Sinn kam. Selbst einen Sturz vom Pferd habe ich zuwege gebracht.« Er schwieg und dachte an die schreckliche Zeit nach Telmaines Fehlgeburt. Er und Telmaine waren rastlos durch das Haus geschlichen wie die gequälten Seelen durchs Fegefeuer. »Auch das hat nicht funktioniert. Aber meine Verletzungen dienten mir immerhin als Vorwand, mich für eine ganze Weile zurückzuziehen.« Sie drückte sich eine Faust auf den Bauch und verzog das Gesicht. »Ich ... habe nur vier Mal das Lager mit ihm geteilt. Es war das letzte ...« Er wusste, dass sie ihm das Datum und die genaue Stunde hätte sagen können. Sie tat ihm leid in ihrer verliebten Torheit, obwohl er sie nicht mochte und die Situation für ihn selbst nicht ungefährlich war. Denn Ferdenzil würde mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie ihren Geliebten um Hilfe gebeten hatte.
»Er klopfte jedes Mal an die Haustür, um mich wissen zu lassen, dass er da sei. Darauf gab ich ihm meinerseits ein Klopfzeichen, verließ den Flur, schloss mindestens eine Tür hinter mir und wartete ... bis er im Haus war ... Verschiedentlich dachte ich darüber nach, die Haustür vor ihm zu verriegeln, und einmal tat ich es auch, aber dann habe ich sie doch wieder aufgeschlossen ... Ich konnte nicht anders. Und es war Tag, wenn er kam - er kam immer am Tag.«
Balthasar runzelte die Stirn. Nur Balladen und Schundblätter berichteten von lichtgeborenen Dämonenliebhabern, die die Tageslichtgrenze überschritten und nachtgeborene Mädchen verführten. Doch diese Geschichten waren absurd, da die Lichtgeborenen ebenso wenig die Dunkelheit ertragen konnten wie die Nachtgeborenen das Licht; denn gerade das besagte ja Imogenes Fluch. Ein Teil seiner unregelmäßig abgehaltenen Praxis als Arzt bestand in der Behandlung von Patienten, für gewöhnlich jungen Frauen, die unter einer gefährlichen Leidenschaft für das Licht litten. Die Krankheit wurde Lichtsucht genannt, eine Wahnvorstellung, die dazu führen konnte, dass die erkrankte Person impulsiv und mit für sie fatalem Ende ins Sonnenlicht hinaustrat. Er fragte sich, warum Tercelle ihm eine Geschichte auftischte, von der sie beide ganz genau wussten, dass sie unmöglich war. Ihr entging die Skepsis nicht, die sich hinter seinem Schweigen verbarg. »Und ich sage dir, er kam aus dem Licht!«, rief sie. Sein Ultraschallsinn zeigte ihm, wie sie sich auf ihrem Stuhl nach vorn zog. »Genau deswegen bin ich ja zu dir gekommen. Du hast Freunde unter den Lichtgeborenen. Du kannst dich des Kindes annehmen, was auch immer es sein wird. Und wenn es nicht zurück ins Licht gehen kann, dann gibt es gewisse Orte, wo ein Bastard mehr kaum auffallen wird, Orte, die du kennst.« Aha, darum ging es also, wenn er einmal den ganzen Rest bei seiteließ. Die Halbwelt, die Flussmark, wo gefallene Mädchen, Magier und Kriminelle zusammenkamen und ihren schändlichen Gewerben nachgingen. Der Auswurf der Gesellschaft. Als Student hatte er an einer Klinik der Halbwelt gearbeitet und tat es noch immer, wenn Telmaines aristokratische Familie ihn und auch sie in Ruhe ließ ...
Der Arzt in ihm war jedoch zunächst einmal besorgt über Tercelles Verfassung. Er fragte sich, wie weit sie wohl zu Fuß hatte gehen müssen, um sein Haus zu erreichen. Denn die Kutscher bestanden normalerweise darauf, eine sichere Unterkunft zu finden, noch bevor die Glocke zum Sonnenaufgang zu läuten begann. Er erhob sich. »Tercelle, alles Weitere kann warten. Du bist jetzt hier, und für eine Dame in deinem Zustand hast du einen anstrengenden Marsch hinter dir. Du solltest dich jetzt ausruhen.«
Er führte sie ins Schlafzimmer seiner Eltern, das er seit deren Tod vor sechs Jahren immer gut gelüftet hatte. Darin stand ein großes Himmelbett - es war dasselbe Bett, in dem er, sein Bruder und seine Schwester empfangen und geboren worden waren, das Bett, in dem seine Eltern innerhalb weniger Wochen einander folgend gestorben waren. Da Tercelle nichts weiter mitgebracht hatte, gab er ihr ein Nachthemd seiner Mutter. Außerdem brachte er ihr einen Krug Wasser, ein Glas und eine Schale und sagte, er würde die Tür nur anlehnen, sodass sie ihn nötigenfalls rufen könne. Dann ging er leise die Treppe hinauf zu seinem Arbeitszimmer im Obergeschoss. Sobald er die Tür geöffnet hatte, wusste er, dass Floria Weiße Hand in ihrem salle war. Er hörte, wie sie hinter der Wand leichtfüßig ihr einsames Training absolvierte. Nichts verstellte diese Wand, kein Tisch, kein Bücherregal. Sie bestand zum Großteil aus zwei Lagen dicken Papiers, zwischen denen sich ein feines Metallgeflecht als Schutz gegen unbeabsichtigte Zerstörung befand. Die niedrige Verlängerung eines Bücherschrankes bildete den restlichen Teil dieser Wand - eine Art Durchreiche mit einer lichtsicheren Tür auf jeder Seite.
Überall sonst in den getrennten Ländern hatten die Lichtgeborenen ihre ständig beleuchteten Dörfer und Städte, die Nachtgeborenen ihre immerwährend dunklen unterirdischen Höhlen und überirdischen Festungen. Hier in Minhorne dagegen lebten die Nachtgeborenen und die Lichtgeborenen Seite an Seite. Bei Nacht gehörten die Straßen den Nachtgeborenen, bei Tag den Lichtgeborenen, und beide Rassen hatten ihre eigenen Orte für jene Stunden, in denen ihre jeweiligen Angehörigen nicht draußen sein konnten. Die Reihenhäuser, von denen er eins bewohnte, teilten ihre Rückwand mit einer Reihe von Häusern, die an den Palast des Prinzen der Lichtgeborenen grenzte. Für die Nachtgeborenen war dies sicher keine vornehme Adresse, aber seit fünf Generationen hatte die Familie Balthasars und die lichtgeborene Familie Weiße Hand - ihres Zeichens Schwertkämpfer und Auftragsmörder - in Freundschaft und Vertrauen zusammengelebt, wie es diese dünne Papierwand bewies. Sollte diese Wand zerstört werden, würde das Licht, das Floria zum Leben brauchte, Balthasar zu Asche verbrennen.
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
ISBN: 978-3-8025-8335-3
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Autoren-Porträt von Alison Sinclair
Alison Sinclair ist in Edinburgh aufgewachsen und hat in Kanada, den USA und Großbritannien gelebt. Sie besitzt drei Universitätsabschlüsse und arbeitet gegenwärtig an der Universität McGill in Montreal. Ihr erster Roman wurde 1995 veröffentlicht.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alison Sinclair
- 2011, 1. Aufl., 406 Seiten, Maße: 12,7 x 18,3 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzer: Michaela Link
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802583353
- ISBN-13: 9783802583353
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