Oktoberfest
Thriller
"Das Gas wirkte in Sekunden. Plötzlich war es in dem riesigen Bierzelt still. Totenstill." Ein Schreckensszenario, das jederzeit wahr werden könnte.
Der zweite Wiesn-Sonntag, zu Tausenden pilgern die Leute auf das...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
19.95 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Oktoberfest “
"Das Gas wirkte in Sekunden. Plötzlich war es in dem riesigen Bierzelt still. Totenstill." Ein Schreckensszenario, das jederzeit wahr werden könnte.
Der zweite Wiesn-Sonntag, zu Tausenden pilgern die Leute auf das größte Volksfest der Welt. Partystimmung, so weit das Auge reicht. Niemand ahnt, dass dieser Nachmittag um exakt vier Minuten vor sechs in einem Höllenszenario enden wird. Denn genau zu diesem Zeitpunkt gibt Oleg Blochin, der skrupellose Kommandant einer russischen Elite-Soldateska, seinen Männern den Befehl, das Betäubungsgas im ersten Bierzelt freizusetzen. Und das ist erst der Anfang: 70.000 Menschen werden zu Geiseln in einem hochriskanten Spiel auf Leben und Tod.
Klappentext zu „Oktoberfest “
Das Gas wirkte in Sekunden. Plötzlich war es in dem riesigen Bierzelt still. Totenstill.Der zweite Wiesn-Sonntag. Weiß-blau erstreckt sich der Himmel über München, Tausende strömen auf das größte Volksfest der Welt. Partystimmung, so weit das Auge reicht, ausgelassen tanzen die Leute in den riesigen Zelten. Niemand ahnt, dass dieser Nachmittag um exakt vier Minuten vor sechs in einem Höllenszenario enden wird. Denn genau zu diesem Zeitpunkt gibt Oleg Blochin, der skrupellose Kommandeur einer russischen Elite-Soldateska, seinen Männern den Befehl, das Betäubungsgas im ersten Bierzelt freizusetzen. Und das ist erst der Anfang: Schlag auf Schlag geht es weiter, 70 000 Menschen werden zu Geiseln in einem hochriskanten Spiel auf Leben und Tod ...
Lese-Probe zu „Oktoberfest “
Oktoberfest von Christoph Scholder5
In dem riesigen Zelt der Benediktiner-Brauerei ging es hoch her. Das Zelt war an diesem Sonntagnachmittag
nicht ganz gefüllt, aber gut zwei Drittel der Plätze waren mit singenden, trinkenden und lachenden Menschen besetzt.
Manche sah man durch den Alkohol in tiefsinnige Gespräche verwickelt, einige in heftigen Bemühungen um Vertreter des anderen Geschlechts. Die Kapelle hatte eine Pause gemacht, begann jetzt jedoch wieder zu spielen.
Die ersten Akkorde von Fürstenfeld erklangen. Einige der Besucher des Zeltes stellten sich auf die Bierbänke, schunkelten und grölten den Refrain lauthals mit.
I will wieda hoam ...
Professor Peter Heim war mit seinen Mitarbeitern und Doktoranden auf das Oktoberfest gegangen.
Betriebsausflug, sozusagen.
Ins Benediktiner-Zelt.
Ehrensache.
Das hatte bei ihm schon Tradition. Seit er den Lehrstuhl für Kulturtheorie an der Universität München übernommen hatte, machte er diesen Ausflug jedes Jahr. Nun saßen sie zu acht an einem Biertisch, und der Professor dozierte, von drei Maß Bier beflügelt. »Was man hier sehen kann«, sagte er mit geübter Vortrags stimme und wies mit einer ausladenden Geste durch das Zelt, »ist so etwas wie die Heimat der Weltgesellschaft. Hierher kommen sie aus allen Ländern und allen Schichten. Und sie einigen sich inexplizit auf einen kulturellen Kanon des Umgangs miteinander.« Der Professor hielt inne. »Aber man kann auch die Konfliktlinien erkennen. Denken Sie dar an, wer hier nicht herkommt. Muslime müssen qua ihrer religiösen Überzeugung dieses alkoholzentrierte Beisammensein als degeneriert empfinden. Dadurch, dass durch die Essenz dieses Festes ganze Kulturkreise ausgegrenzt werden ...« Der Professor brach ab.
»Die Heimat der Weltgesellschaft«, wiederholte Dr. Robert Hermanns, einer
... mehr
seiner Assistenten, etwas zu laut. »Das haben Sie mal wieder schön gesagt.« Seine Aussprache war bereits etwas undeutlich, was nach vier Maß Bier allerdings niemanden am Tisch überraschte. Dr. Hermanns trank für gewöhnlich nur wenig Alkohol.
Peter Heim dachte darüber nach, ob er diesen Terminus für sein nächstes Buch verwenden könnte. Vielleicht sogar als Titel. Die Heimat der Weltgesellschaft. Klang gar nicht mal so übel.
Vom Nachbartisch lehnte sich ein muskulöser Mann mit kurzgeschorenen grauen Haaren herüber und fragte auf Englisch nach der Uhrzeit. Seine Stimme hatte einen starken amerikanischen Akzent.
Peter Heim gab in bestem Akademikerenglisch Auskunft. Es war zwanzig vor sechs. Der Mann vom Nebentisch bedankte sich und prostete ihm zu.
»Auf geht’s zum Prosit der Gemütlichkeit!«, erschallte der Ruf von der Bühne.
»Die Krüge ...«, rief der Vorsänger gedehnt und mit ansteigender Stimme.
»Hoch!«, donnerte es ihm aus dem Zelt entgegen.
»Die Krüge ...«
»Hoch!«
»Die Krüge ...«
»Hoch!«
Während das Ritual seinen Lauf nahm, stellte Peter Heims historisch geschulter Verstand spontan einen Vergleich mit den Nürnberger Reichsparteitagen an. Hier wie da eine riesige Masse von Menschen, die scheinbar ohne Sinn und Verstand einfach nachbrüllten, was ihnen jemand vorsagte. Menschen, die sich an ihrer eigenen Massenhaftigkeit berauschten.
Eine Bedienung trug ein Tablett mit sechs halben Grillhendln an seinem Tisch vorbei.
Im Vergleich zu einem Reichsparteitag der NSDAP war das Oktoberfest jedoch wahrlich völlig harmlos, dachte der Professor. Er schnupperte dem appetitlichen Duft nach. Peter Heim musste schmunzeln.
Das Oktoberfest war ja eher ein »Triumph des Grillens«. Die Menschen im Zelt hoben die Bierkrüge. Die Kapelle begann erneut zu spielen, und das ganze Zelt sang mit.
»Ein Prosit, ein Prosit der Gemütlichkeit!
Ein Prosit, ein Pro-ho-sit der Ge-müüüüt-lich-keit!« »Oans, zwoa, drei, g’suffa!« Die Luft im Zelt vibrierte von fünftausend Stimmen.
Tausende von Bierkrügen rasselten aneinander.
»Auf die Heimat der Weltgesellschaft!«, rief Hermanns, und die anderen am Tisch stimmten ein. Es war Viertel vor sechs. Genau in diesem Moment knackten bei der patrouillierenden Polizei die Funkgeräte. Die Wiesn-Wache meldete sich bei den Patrouillen.
Bildausfall, hieß es.
Schon wieder.
Der Mann hatte sich einen Spaß daraus gemacht, eine Schießbude an den Rand des Ruins zu bringen. Jeder Schuss ein Treffer. Den großen Teddy schenkte er einem Kind.
»Wie heißt denn der Bär?«, fragte das Kind mit großen Augen.
Der Mann schaute verständnislos zurück.
»Wie heißt der Bär?«, fragte das Kind nochmals und zeigte dabei mit dem Finger auf den Bären.
Die Züge des Mannes hellten sich auf.
»Boris«, sagte er nickend.
»Boris«, echote das Kind und lächelte. Es sah dem großen Plüschtier in die Augen. »Boris!«, wiederholte das Kind noch einmal, sehr bestimmt. Da rief sein Vater nach ihm. Das Kind wandte sich ab und rannte los, den Bären im Arm. Nach drei Schritten hielt es inne und drehte sich noch einmal nach dem Mann um.
Doch der Mann war nirgends zu entdecken.
17:45 Uhr
Der Mann war pünktlich. Er war zusammen mit den anderen in der schmalen Gasse an der linken Seite des Benediktiner-Zeltes angekommen, als die Lastwagen eintrafen. Insgesamt neunzig Mann von Blochins persönlicher Kompanie waren in den letzten Stunden einzeln oder zu zweit auf das Festgelände eingesickert.
Sie liefen um die Fahrzeuge herum und sammelten sich zwischen den beiden Transportern, die mit gegenüberliegenden Rückseiten in die schmale Gasse eingefahren waren. So waren sie nach außen vor Blicken geschützt.
Die Männer öffneten die Türen der Kühllaster. Mit Spaten gruben zwei Männer eine Röhre frei, die unter der Erde verborgen lag. Ein Schlauch wurde aus einem der Wagen gerollt und mit dem Anschluss verschraubt. Zwei schlossen neben dem verborgenen Rohr ein 2Mbit-Interface an, dessen Kabel ebenfalls im Boden verschwand. Jeder der Männer wusste genau, was er zu tun hatte. Und jedem war klar, es ging um Sekunden.
Acht Männer zogen sich Uniformen des Sicherheitsdienstes vom Benediktiner-Zelt über, dann hasteten sie zu den Eingängen. Der Zugang zum Zelt wurde gesperrt. Sie brachten Schilder an den Türen an: »Wegen Überfüllung geschlossen«.
»Jetzt sind die Zelte schon am Sonntagnachmittag überfüllt«, hörten die Posten einen Besucher sagen, der kopfschüttelnd weiterging.
Blochin nickte Dr. Kusnezow zu, der in einen der Lastwagen gesprungen war. Der Arzt öffnete ein Ventil. Zischend entlud sich der Überdruck mehrerer Gasflaschen in den Schlauch. Die meisten anderen Männer hatten sich inzwischen ebenfalls umgezogen. Sie trugen schwarze Kampfanzüge. Kugelsichere Westen, Kehlkopfmikrofone und Kopfhörer wurden aus den Wagen verteilt. Die Bewegungen der Männer waren schnell und konzentriert.
Vier trugen mittlerweile Polizeiuniformen. Jeder der Männer erhielt eine Maschinenpistole MP 5.
Die Kampfkoppeln, die aus einem Gürtel und zwei Schultergurten bestanden, wurden angelegt. Jede Kampfkoppel trug eine Nummer. Die an den Gurten angebrachten Ausrüstungsgegenstände waren genau an die Aufgaben des jeweiligen Mannes angepasst.
Das Reißen der Klettverschlüsse und die metallischen Geräusche der Koppelschnallen gingen in den Bässen der aktuellen Wiesn-Hits völlig unter. Dagegen kam ja sogar eine Polizeisirene nur schwer an. Selbst als in einem der Lastwagen ein Generator ansprang, war das Geräusch bereits in fünf Metern Entfernung nicht mehr zu hören. Die Männer luden die Waffen durch.
Die falsche Polizeipatrouille machte sich auf den Weg.
Die Männer setzten sich Gasmasken auf und zogen die Riemen hinter ihren Köpfen fest. Noch immer konnten sie das Zischen hören, mit dem das Gas in dem Anschluss im Boden verschwand.
Schließlich setzten sie Kevlar-Helme auf. Auf den Helmen waren an Vorder- und Rückseite Nummern in einer reflektierenden Lackierung aufgemalt.
Okidadse startete die Wiedergabe der Videoaufzeichnungen vom letzten Sonntag.
17:52 Uhr
Alois Kroneder atmete in der Wiesn-Wache hörbar auf. Die Bilder waren wieder da. Fast sieben Minuten hatte der Ausfall diesmal gedauert. Die längste Zeit bisher. In der vergangenen Woche waren die Kameras und die Bildschirme wiederholte Male ausgefallen. Techniker hatten den Fehler gesucht, und sie hatten jedes Mal behauptet, ihn nun gefunden zu haben. Aber der Fehler hatte sich hartnäckig gehalten. Kroneder beobachtete, wie die Kühltransporter zu einem weiteren Zelt fuhren. Er konnte Romberg erkennen, der gerade mit einem der Küchenchefs vom Zelt der KorbinianBrauerei sprach. Alles in Ordnung. Die Bilder, die die Kameras lieferten, sahen genau so aus, wie sie an einem Sonntagnachmittag auszusehen hatten.
Er war kurz davor gewesen, zusätzliche Patrouillen auszuschicken, um das Festgelände zu kontrollieren. Aber das war jetzt nicht mehr nötig.
Sie hatten die Sache im Griff.
17:56 Uhr
Blochin blickte zu Dr. Kusnezow.
Ein kurzes Nicken. »Wir haben den nötigen Druck, General. Auf Ihr Kommando ...« Der Arzt vollendete den Satz nicht.
»Dann mal los, Herr Doktor.« Blochins Stimme war völlig ruhig.
Dr. Kusnezow drückte einen Knopf an einer Schalttafel, die im Wagen angebracht war. Die Keramikverschlüsse der einhundert Hochdruckventile, die in den Balken des Benediktiner-Zeltes verborgen waren, öffneten sich. Der ungeheure Druck sprengte die dünne Schicht Holzkitt, mit der die Ventile getarnt worden waren, einfach weg. Der gesamte Innenraum des Zeltes wurde gleichmäßig mit einem Narkosemittel begast.
Dr. Kusnezow hatte einige Zeit tüfteln müssen, bis er die richtige Mischung zwischen Narkosewirkstoff und HerzKreislauf-Mitteln gefunden hatte.
Die Menschen im Zelt sollten betäubt werden. Aber sie sollten nicht an Atemlähmung sterben. Dr. Kusnezow hatte das Betäubungsgas, das beim Sturm auf das Theater des Musicals »Nord-Ost« verwendet worden war, deutlich verbessern können.
Ganz ohne Verluste würde es dennoch nicht ablaufen. Eine gewisse Mortalität war eingeplant.
Die Wirkstoffe sanken auf die fünftausend Insassen des Zeltes herab. Die meisten kippten nach vorne auf die Tische. Einige schafften es noch, aufzustehen, bevor sie zusammenbrachen. Diejenigen, die an den Enden der Bierbänke saßen, fielen seitlich in die Gänge.
Die Bedienungen wurden im Stehen oder Laufen ohnmächtig. Geschirr und Krüge zerbrachen scheppernd. Bier floss und versickerte. Knöchel knacksten. Die groben Dielen rissen Schürfwunden. Das Küchenpersonal kollabierte vor den Grillstationen und Herdplatten. Tote Hühner glitschten über den Boden.
Den Musikern der Kapelle knickten die Knie ein. Das Lied Resi, i hol’ di’ mit mei’m Traktor ab endete abrupt in einem schaurigen Misston.
Das Gas wirkte in Sekunden.
Plötzlich war es in dem riesigen Bierzelt still.
Totenstill.
Blochin kannte diese Art der Stille. Er lauschte seinem eigenen, ruhigen Atem. Eine ganz besondere Art der Stille.
Der Klang des Todes selbst.
Mit einem Knacken erwachte Blochins Kopfhörer zum Leben. Es rauschte einige Sekunden. Noch ein Knacken. Dann hörte er Okidadses Stimme.
»Das interne Funksystem steht, General. Sie können sprechen.«
In den Kopfhörern der Männer war jetzt ein leises Rauschen zu hören. Kleine leistungsfähige 256bit-Scrambler verschlüsselten die Funksignale. Kein Außenstehender konnte mithören.
»Willkommen bei der ›Operation Freibier‹!« Die Männer mussten unter ihren Gasmasken lächeln. Vor einigen Tagen hatte Blochin ihnen die Bedeutung dieses deutschen Wortes erklärt.
»Phase eins beginnt. Über uns sind nur die Sterne.«
Die Männer wiederholten ihren Kampfruf wie ein Gebet. »Über uns sind nur die Sterne.«
Dann öffneten sie die seitlichen Notausgänge des Zeltes. Die ersten dreißig Mann rannten ins Zelt.
Jeder kannte seine Position genau. Sie hatten den Ablauf oft genug in der Halle der Import-Export-Firma geübt.
18:00 Uhr
Petra Gruber arbeitete seit vielen Jahren als Bedienung im Biergarten vor dem Benediktiner-Zelt. Aber so etwas war ihr noch nie passiert. Die Sicherheitsleute ließen sie nicht mehr ins Zelt, um Essen für die Gäste zu holen. Sie hatte sich schon überlegt, bei der Wiesn-Wache anzurufen. Diese Sicherheitsheinis nahmen sich jedes Jahr mehr heraus. Dabei waren die eigentlich nur ganz normale Angestellte. Sie dagegen war so etwas wie eine Subunternehmerin. Das musste sie sich nicht gefallen lassen.
Doch dann waren Polizisten aufgetaucht. Der Patrouillenführer hatte ihr erklärt, dass in dem Zelt einem wichtigen Hinweis nachgegangen werden müsse. Dass sie nicht ins Zelt dürfe, geschehe zu ihrer eigenen Sicherheit.
Merkwürdig war das trotzdem, denn die Kapelle spielte nicht mehr.
Was sollte sie den Gästen sagen, die auf ihr Essen warteten? Wenigstens Bier gab’s ja noch. Der Ausschank befand sich im Freien.
»In zehn bis fünfzehn Minuten wissen wir mehr«, sagte der Polizist gerade.
So, wie der sprach, kam der nicht aus Bayern.
Copyright © 2010 Droemer Verlag
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Peter Heim dachte darüber nach, ob er diesen Terminus für sein nächstes Buch verwenden könnte. Vielleicht sogar als Titel. Die Heimat der Weltgesellschaft. Klang gar nicht mal so übel.
Vom Nachbartisch lehnte sich ein muskulöser Mann mit kurzgeschorenen grauen Haaren herüber und fragte auf Englisch nach der Uhrzeit. Seine Stimme hatte einen starken amerikanischen Akzent.
Peter Heim gab in bestem Akademikerenglisch Auskunft. Es war zwanzig vor sechs. Der Mann vom Nebentisch bedankte sich und prostete ihm zu.
»Auf geht’s zum Prosit der Gemütlichkeit!«, erschallte der Ruf von der Bühne.
»Die Krüge ...«, rief der Vorsänger gedehnt und mit ansteigender Stimme.
»Hoch!«, donnerte es ihm aus dem Zelt entgegen.
»Die Krüge ...«
»Hoch!«
»Die Krüge ...«
»Hoch!«
Während das Ritual seinen Lauf nahm, stellte Peter Heims historisch geschulter Verstand spontan einen Vergleich mit den Nürnberger Reichsparteitagen an. Hier wie da eine riesige Masse von Menschen, die scheinbar ohne Sinn und Verstand einfach nachbrüllten, was ihnen jemand vorsagte. Menschen, die sich an ihrer eigenen Massenhaftigkeit berauschten.
Eine Bedienung trug ein Tablett mit sechs halben Grillhendln an seinem Tisch vorbei.
Im Vergleich zu einem Reichsparteitag der NSDAP war das Oktoberfest jedoch wahrlich völlig harmlos, dachte der Professor. Er schnupperte dem appetitlichen Duft nach. Peter Heim musste schmunzeln.
Das Oktoberfest war ja eher ein »Triumph des Grillens«. Die Menschen im Zelt hoben die Bierkrüge. Die Kapelle begann erneut zu spielen, und das ganze Zelt sang mit.
»Ein Prosit, ein Prosit der Gemütlichkeit!
Ein Prosit, ein Pro-ho-sit der Ge-müüüüt-lich-keit!« »Oans, zwoa, drei, g’suffa!« Die Luft im Zelt vibrierte von fünftausend Stimmen.
Tausende von Bierkrügen rasselten aneinander.
»Auf die Heimat der Weltgesellschaft!«, rief Hermanns, und die anderen am Tisch stimmten ein. Es war Viertel vor sechs. Genau in diesem Moment knackten bei der patrouillierenden Polizei die Funkgeräte. Die Wiesn-Wache meldete sich bei den Patrouillen.
Bildausfall, hieß es.
Schon wieder.
Der Mann hatte sich einen Spaß daraus gemacht, eine Schießbude an den Rand des Ruins zu bringen. Jeder Schuss ein Treffer. Den großen Teddy schenkte er einem Kind.
»Wie heißt denn der Bär?«, fragte das Kind mit großen Augen.
Der Mann schaute verständnislos zurück.
»Wie heißt der Bär?«, fragte das Kind nochmals und zeigte dabei mit dem Finger auf den Bären.
Die Züge des Mannes hellten sich auf.
»Boris«, sagte er nickend.
»Boris«, echote das Kind und lächelte. Es sah dem großen Plüschtier in die Augen. »Boris!«, wiederholte das Kind noch einmal, sehr bestimmt. Da rief sein Vater nach ihm. Das Kind wandte sich ab und rannte los, den Bären im Arm. Nach drei Schritten hielt es inne und drehte sich noch einmal nach dem Mann um.
Doch der Mann war nirgends zu entdecken.
17:45 Uhr
Der Mann war pünktlich. Er war zusammen mit den anderen in der schmalen Gasse an der linken Seite des Benediktiner-Zeltes angekommen, als die Lastwagen eintrafen. Insgesamt neunzig Mann von Blochins persönlicher Kompanie waren in den letzten Stunden einzeln oder zu zweit auf das Festgelände eingesickert.
Sie liefen um die Fahrzeuge herum und sammelten sich zwischen den beiden Transportern, die mit gegenüberliegenden Rückseiten in die schmale Gasse eingefahren waren. So waren sie nach außen vor Blicken geschützt.
Die Männer öffneten die Türen der Kühllaster. Mit Spaten gruben zwei Männer eine Röhre frei, die unter der Erde verborgen lag. Ein Schlauch wurde aus einem der Wagen gerollt und mit dem Anschluss verschraubt. Zwei schlossen neben dem verborgenen Rohr ein 2Mbit-Interface an, dessen Kabel ebenfalls im Boden verschwand. Jeder der Männer wusste genau, was er zu tun hatte. Und jedem war klar, es ging um Sekunden.
Acht Männer zogen sich Uniformen des Sicherheitsdienstes vom Benediktiner-Zelt über, dann hasteten sie zu den Eingängen. Der Zugang zum Zelt wurde gesperrt. Sie brachten Schilder an den Türen an: »Wegen Überfüllung geschlossen«.
»Jetzt sind die Zelte schon am Sonntagnachmittag überfüllt«, hörten die Posten einen Besucher sagen, der kopfschüttelnd weiterging.
Blochin nickte Dr. Kusnezow zu, der in einen der Lastwagen gesprungen war. Der Arzt öffnete ein Ventil. Zischend entlud sich der Überdruck mehrerer Gasflaschen in den Schlauch. Die meisten anderen Männer hatten sich inzwischen ebenfalls umgezogen. Sie trugen schwarze Kampfanzüge. Kugelsichere Westen, Kehlkopfmikrofone und Kopfhörer wurden aus den Wagen verteilt. Die Bewegungen der Männer waren schnell und konzentriert.
Vier trugen mittlerweile Polizeiuniformen. Jeder der Männer erhielt eine Maschinenpistole MP 5.
Die Kampfkoppeln, die aus einem Gürtel und zwei Schultergurten bestanden, wurden angelegt. Jede Kampfkoppel trug eine Nummer. Die an den Gurten angebrachten Ausrüstungsgegenstände waren genau an die Aufgaben des jeweiligen Mannes angepasst.
Das Reißen der Klettverschlüsse und die metallischen Geräusche der Koppelschnallen gingen in den Bässen der aktuellen Wiesn-Hits völlig unter. Dagegen kam ja sogar eine Polizeisirene nur schwer an. Selbst als in einem der Lastwagen ein Generator ansprang, war das Geräusch bereits in fünf Metern Entfernung nicht mehr zu hören. Die Männer luden die Waffen durch.
Die falsche Polizeipatrouille machte sich auf den Weg.
Die Männer setzten sich Gasmasken auf und zogen die Riemen hinter ihren Köpfen fest. Noch immer konnten sie das Zischen hören, mit dem das Gas in dem Anschluss im Boden verschwand.
Schließlich setzten sie Kevlar-Helme auf. Auf den Helmen waren an Vorder- und Rückseite Nummern in einer reflektierenden Lackierung aufgemalt.
Okidadse startete die Wiedergabe der Videoaufzeichnungen vom letzten Sonntag.
17:52 Uhr
Alois Kroneder atmete in der Wiesn-Wache hörbar auf. Die Bilder waren wieder da. Fast sieben Minuten hatte der Ausfall diesmal gedauert. Die längste Zeit bisher. In der vergangenen Woche waren die Kameras und die Bildschirme wiederholte Male ausgefallen. Techniker hatten den Fehler gesucht, und sie hatten jedes Mal behauptet, ihn nun gefunden zu haben. Aber der Fehler hatte sich hartnäckig gehalten. Kroneder beobachtete, wie die Kühltransporter zu einem weiteren Zelt fuhren. Er konnte Romberg erkennen, der gerade mit einem der Küchenchefs vom Zelt der KorbinianBrauerei sprach. Alles in Ordnung. Die Bilder, die die Kameras lieferten, sahen genau so aus, wie sie an einem Sonntagnachmittag auszusehen hatten.
Er war kurz davor gewesen, zusätzliche Patrouillen auszuschicken, um das Festgelände zu kontrollieren. Aber das war jetzt nicht mehr nötig.
Sie hatten die Sache im Griff.
17:56 Uhr
Blochin blickte zu Dr. Kusnezow.
Ein kurzes Nicken. »Wir haben den nötigen Druck, General. Auf Ihr Kommando ...« Der Arzt vollendete den Satz nicht.
»Dann mal los, Herr Doktor.« Blochins Stimme war völlig ruhig.
Dr. Kusnezow drückte einen Knopf an einer Schalttafel, die im Wagen angebracht war. Die Keramikverschlüsse der einhundert Hochdruckventile, die in den Balken des Benediktiner-Zeltes verborgen waren, öffneten sich. Der ungeheure Druck sprengte die dünne Schicht Holzkitt, mit der die Ventile getarnt worden waren, einfach weg. Der gesamte Innenraum des Zeltes wurde gleichmäßig mit einem Narkosemittel begast.
Dr. Kusnezow hatte einige Zeit tüfteln müssen, bis er die richtige Mischung zwischen Narkosewirkstoff und HerzKreislauf-Mitteln gefunden hatte.
Die Menschen im Zelt sollten betäubt werden. Aber sie sollten nicht an Atemlähmung sterben. Dr. Kusnezow hatte das Betäubungsgas, das beim Sturm auf das Theater des Musicals »Nord-Ost« verwendet worden war, deutlich verbessern können.
Ganz ohne Verluste würde es dennoch nicht ablaufen. Eine gewisse Mortalität war eingeplant.
Die Wirkstoffe sanken auf die fünftausend Insassen des Zeltes herab. Die meisten kippten nach vorne auf die Tische. Einige schafften es noch, aufzustehen, bevor sie zusammenbrachen. Diejenigen, die an den Enden der Bierbänke saßen, fielen seitlich in die Gänge.
Die Bedienungen wurden im Stehen oder Laufen ohnmächtig. Geschirr und Krüge zerbrachen scheppernd. Bier floss und versickerte. Knöchel knacksten. Die groben Dielen rissen Schürfwunden. Das Küchenpersonal kollabierte vor den Grillstationen und Herdplatten. Tote Hühner glitschten über den Boden.
Den Musikern der Kapelle knickten die Knie ein. Das Lied Resi, i hol’ di’ mit mei’m Traktor ab endete abrupt in einem schaurigen Misston.
Das Gas wirkte in Sekunden.
Plötzlich war es in dem riesigen Bierzelt still.
Totenstill.
Blochin kannte diese Art der Stille. Er lauschte seinem eigenen, ruhigen Atem. Eine ganz besondere Art der Stille.
Der Klang des Todes selbst.
Mit einem Knacken erwachte Blochins Kopfhörer zum Leben. Es rauschte einige Sekunden. Noch ein Knacken. Dann hörte er Okidadses Stimme.
»Das interne Funksystem steht, General. Sie können sprechen.«
In den Kopfhörern der Männer war jetzt ein leises Rauschen zu hören. Kleine leistungsfähige 256bit-Scrambler verschlüsselten die Funksignale. Kein Außenstehender konnte mithören.
»Willkommen bei der ›Operation Freibier‹!« Die Männer mussten unter ihren Gasmasken lächeln. Vor einigen Tagen hatte Blochin ihnen die Bedeutung dieses deutschen Wortes erklärt.
»Phase eins beginnt. Über uns sind nur die Sterne.«
Die Männer wiederholten ihren Kampfruf wie ein Gebet. »Über uns sind nur die Sterne.«
Dann öffneten sie die seitlichen Notausgänge des Zeltes. Die ersten dreißig Mann rannten ins Zelt.
Jeder kannte seine Position genau. Sie hatten den Ablauf oft genug in der Halle der Import-Export-Firma geübt.
18:00 Uhr
Petra Gruber arbeitete seit vielen Jahren als Bedienung im Biergarten vor dem Benediktiner-Zelt. Aber so etwas war ihr noch nie passiert. Die Sicherheitsleute ließen sie nicht mehr ins Zelt, um Essen für die Gäste zu holen. Sie hatte sich schon überlegt, bei der Wiesn-Wache anzurufen. Diese Sicherheitsheinis nahmen sich jedes Jahr mehr heraus. Dabei waren die eigentlich nur ganz normale Angestellte. Sie dagegen war so etwas wie eine Subunternehmerin. Das musste sie sich nicht gefallen lassen.
Doch dann waren Polizisten aufgetaucht. Der Patrouillenführer hatte ihr erklärt, dass in dem Zelt einem wichtigen Hinweis nachgegangen werden müsse. Dass sie nicht ins Zelt dürfe, geschehe zu ihrer eigenen Sicherheit.
Merkwürdig war das trotzdem, denn die Kapelle spielte nicht mehr.
Was sollte sie den Gästen sagen, die auf ihr Essen warteten? Wenigstens Bier gab’s ja noch. Der Ausschank befand sich im Freien.
»In zehn bis fünfzehn Minuten wissen wir mehr«, sagte der Polizist gerade.
So, wie der sprach, kam der nicht aus Bayern.
Copyright © 2010 Droemer Verlag
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
... weniger
Autoren-Porträt von Christoph Scholder
Christoph Scholder wurde 1967 in Tübingen geboren. Seinen ersten Krimi schrieb er im Alter von acht Jahren. Nach dem Studium der Soziologie, Philosophie und Psychologie lehrte er an verschiedenen Universitäten. Er lebt in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Christoph Scholder
- 2010, 603 Seiten, Maße: 15,2 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426198886
- ISBN-13: 9783426198889
Kommentare zu "Oktoberfest"
0 Gebrauchte Artikel zu „Oktoberfest“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 12Schreiben Sie einen Kommentar zu "Oktoberfest".
Kommentar verfassen