Zerstört / Grant County Bd.6
Thriller
"Der Höhepunkt wird Sie umwerfen!"
THE INDEPENDENT
Chief Tolliver und Sara Linton ermitteln in einem brisanten Fall: Tollivers Mitarbeiterin Lena steht unter Mordverdacht. Es scheint, dass Lenas Ex-Freund Ethan etwas damit zu tun...
THE INDEPENDENT
Chief Tolliver und Sara Linton ermitteln in einem brisanten Fall: Tollivers Mitarbeiterin Lena steht unter Mordverdacht. Es scheint, dass Lenas Ex-Freund Ethan etwas damit zu tun...
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Produktinformationen zu „Zerstört / Grant County Bd.6 “
"Der Höhepunkt wird Sie umwerfen!"
THE INDEPENDENT
Chief Tolliver und Sara Linton ermitteln in einem brisanten Fall: Tollivers Mitarbeiterin Lena steht unter Mordverdacht. Es scheint, dass Lenas Ex-Freund Ethan etwas damit zu tun hat. Offenbar ist er ins Drogengeschäft verwickelt.
THE INDEPENDENT
Chief Tolliver und Sara Linton ermitteln in einem brisanten Fall: Tollivers Mitarbeiterin Lena steht unter Mordverdacht. Es scheint, dass Lenas Ex-Freund Ethan etwas damit zu tun hat. Offenbar ist er ins Drogengeschäft verwickelt.
Klappentext zu „Zerstört / Grant County Bd.6 “
Eine Leiche in einem ausgebrannten Auto. Unter Mordverdacht: Lena Adams. Dann eine zweite Leiche. Mit Lenas Messer im Rücken. Chief Jeffrey Tolliver lässt alles stehen und liegen, um seiner besten, aber gefährlich labilen Mitarbeiterin zu Hilfe zu eilen. Dabei macht seine Frau Sara Linton gerade selbst die Hölle durch: Sie soll Schuld tragen am Tod eines Patienten. Sara und Jeffrey fahren in Lenas Heimatstadt Reese, wo Gewalt, Drogen und Lügen regieren. Und wo jeder, der sich einmischt, sein Leben riskiert
Lese-Probe zu „Zerstört / Grant County Bd.6 “
Zerstört von Karin Slaughter... mehr
Was hatten sie ihr gegeben? Was hatten sie ihr mit dieser Nadel in die Venen gejagt? Die Augen konnte sie kaum offen halten, die Ohren waren dagegen überempfindlich. Durch ein lautes, durchdringendes Klingeln hindurch konnte sie einen Aussetzer des Automotors hören, das Parump-parump der Reifen auf unebenem Gelände. Der Mann, der neben ihr auf dem Rücksitz saß, sprach leise, fast als würde er einem Kind ein Schlaflied singen. Sein Tonfall hatte etwas Beruhigendes, und sie merkte, wie ihr der Kopf auf die Brust sank, während er redete, und sie ihn dann, bei Lenas knappen, schneidenden Erwiderungen, wieder hochriss.
Ihre Schultern schmerzten, weil sie die Arme verkrampft auf dem Rücken hielt. Es war ein dumpfes Pochen, das dem Hämmern ihres Herzens entsprach. Sie versuchte, sich auf andere Dinge zu konzentrieren, auf das Gespräch zum Beispiel, das im Auto geführt wurde, oder wohin Lena das Auto steuerte. Stattdessen registrierte sie jedoch, dass sie sich fast wie eine Spirale in den eigenen Körper zurückzog, sich in jede neu aufkeimende Empfindung einhüllte wie ein kleines Kind in eine Kuscheldecke.
Die Rückseiten ihrer Schenkel brannten vom Leder des Autositzes, aber sie wusste nicht, warum. Draußen war es kühl. Im Nacken spürte sie sogar einen Zug. Sie erinnerte sich noch, wie sie einmal während einer langen Fahrt nach Florida in der Chevette ihres Vaters saß. Das Auto hatte keine Klimaanlage, und es war Mitte August. Alle vier Fenster waren geöffnet, doch die Hitze blieb unerträglich. Das Radio knisterte. Es lief keine Musik, denn es gab keinen Sender, auf den sie sich alle hätten einigen können. Vorne stritten sich die Eltern über die Fahrtroute, die Benzinkosten, ob sie zu schnell fuhren oder auch nicht. Hinter Opelika sagte dann ihre Mutter zu ihrem Vater, er solle an einem Laden anhalten, damit sie sich eisgekühltes Coke und Orangenkekse kaufen konnten. Dann erschraken alle, als sie aussteigen wollten, denn die Haut ihrer Arme und Beine klebte an den Sitzen, als hätte die Hitze ihre Körper mit dem Vinyl verschmolzen.
Jetzt spürte sie, wie das Auto ruckelte, als Lena die Automatikschaltung auf Parken stellte. Der Motor lief noch, und das leise Surren vibrierte in ihren Ohren.
Da war noch etwas - nicht im Auto, sondern weiter entfernt. Der Wagen stand auf einem Sportplatz. Sie erkannte die Anzeigentafel, riesige Buchstaben schrien: »GO, MUSTANGS!«
Lena hatte sich umgedreht und starrte sie beide an. Der Mann neben ihr bewegte sich. Er steckte seine Waffe in den Bund seiner Hose. Er trug eine Skimaske, wie man sie aus Horrorfilmen kennt, nur die Augen und der Mund waren zu sehen. Doch das reichte aus. Sie kannte ihn, könnte seinen Namen sagen, wenn nur ihr Mund sich bewegen würde.
Der Mann sagte, dass er Durst habe, und Lena reichte ihm einen großen Styroporbecher. Das Weiß des Bechers war intensiv, fast blendend. Plötzlich verspürte auch sie Durst wie noch nie in ihrem Leben. Allein der Gedanke an Wasser trieb ihr die Tränen in die Augen.
Lena versuchte ihr etwas mitzuteilen, ohne die Stimme zu benutzen.
Plötzlich rutschte der Mann über den Rücksitz, kam ihr so nahe, dass sie die Hitze seines Körpers spüren, den herben
Geruch seines Rasierwassers riechen konnte. Sie fühlte, wie seine Hand sich um ihren Nacken legte, seine Finger dort verweilten. Die Berührung war weich und sanft. Sie konzentrierte sich auf seine Stimme, wusste, dass wichtig war, was gesagt wurde, dass sie unbedingt zuhören musste.
»Haust du jetzt ab?«, fragte der Mann Lena. »Oder willst du lieber hierbleiben und dir anhören, was ich zu sagen habe?«
Lena hatte sich von ihnen abgewandt, vielleicht hatte sie die Hand am Türgriff. Jetzt drehte sie sich wieder um und sagte: »Reden Sie.«
»Wenn ich dich hätte umbringen wollen«, sagte er, »wärst du schon tot. Das weißt du.«
»Ja.«
»Deine Freundin hier Er sagte noch etwas, aber seine Wörter verschmolzen irgendwie miteinander, und als sie ihre Ohren erreichten, hatten sie keine Bedeutung mehr. Sie konnte nur Lena ansehen und an der Reaktion der anderen Frau abschätzen, wie ihre eigene sein sollte.
Angst. Sie sollte sich fürchten.
»Tun Sie ihr nichts«, flehte Lena. »Sie hat Kinder. Ihr Mann
»Ja, es ist traurig. Aber man muss seine Wahl treffen.«
»Sie nennen das eine Wahl?«, zischte Lena. Es kam noch mehr, aber alles, was sie erreichte, war Entsetzen. Der Wortwechsel ging noch weiter, dann spürte sie plötzlich Kälte auf ihrem Körper. Ein vertrauter Geruch erfüllte das Auto - schwer und stechend. Sie wusste, was es war. Sie hatte es schon einmal gerochen, aber ihr Verstand konnte ihr nicht sagen, wo und wann.
Die Tür ging auf. Der Mann stieg aus, stand dann da und sah sie an. Er wirkte weder traurig noch aufgeregt, sondern einfach resigniert. Sie hatte diesen Blick schon einmal gesehen. Sie kannte ihn - kannte die kalten Augen hinter der
Maske, die feuchten Lippen. Sie kannte ihn schon ihr ganzes Leben lang.
Was war das nur für ein Geruch? Sie konnte sich an diesen Geruch genau erinnern.
Er murmelte ein paar Worte. Etwas blitzte in seiner Hand auf - ein silberfarbenes Feuerzeug.
Jetzt begriff sie. Die Panik jagte Adrenalin durch ihren Körper, das den Nebel durchschnitt und ihr direkt ins Herz stach.
Feuerzeugbenzin. Der Becher hatte Feuerzeugbenzin enthalten. Er hatte es über ihren Körper gegossen. Sie war damit durchtränkt - sie triefte.
»Nein!«, schrie Lena und versuchte mit gespreizten Fingern über die Rückenlehne hinweg dazwischenzugehen.
Das Feuerzeug fiel ihr in den Schoß, die Flamme entzündete die Flüssigkeit, die Flüssigkeit verbrannte ihre Kleidung. Ein entsetzliches Kreischen war zu hören - es kam aus ihrer eigenen Kehle, während sie hilflos dasaß und zusah, wie die Flammen an ihrem Körper emporleckten. Ihre Arme schnellten in die Höhe, Zehen und Füße krümmten sich nach innen wie bei einem Baby. Noch einmal dachte sie an diese längst vergangene Fahrt nach Florida, die erschöpfende Hitze, den scharfen, unerträglichen Biss des Schmerzes, als ihr Fleisch mit dem Sitz verschmolz.
Montagnachmittag
I
Sara Linton blickte auf ihre Armbanduhr. Die Seiko war ein Geschenk ihrer Großmutter zu ihrer bestandenen Abschlussprüfung an der Highschool gewesen. Als Granny Emma selbst die Schule abgeschlossen hatte, lagen noch vier Monate bis zu ihrer Hochzeit vor ihr, eineinhalb Jahre bis zur Geburt ihres ersten von sechs Kindern und achtunddreißig Jahre bis zum Verlust ihres Mannes an den Krebs. Höhere Bildung war etwas, das Emmas Vater als Geld- und Zeitverschwendung betrachtet hatte, vor allem bei einer Frau. Emma hatte deswegen nicht gestritten - sie war in einer Zeit aufgewachsen, in der Kinder nicht einmal daran dachten, ihren Eltern zu widersprechen -, aber sie hatte dafür gesorgt, dass die vier ihrer Kinder, die überlebten, aufs College gingen.
»Trag sie, und denk an mich«, hatte Granny Emma gesagt, während sie das silberfarbene Uhrenarmband an Saras Handgelenk befestigte. »Du wirst alles schaffen, wovon du träumst, und du sollst wissen, dass ich immer bei dir sein werde.«
Als Studentin an der Emory University hatte Sara ständig auf die Uhr geschaut, vor allem in den Vorlesungen über Biochemie, angewandte Genetik und menschliche Anatomie, die anscheinend per Gesetz von den langweiligsten und einsilbigsten Professoren, die es gab, gehalten werden mussten. Während des Medizinstudiums dann hatte sie ungeduldig auf diese Uhr geblickt, wenn sie am Samstagvormittag vor dem Labor stand und wartete, dass der Professor kam und die Tür aufschloss, damit sie ihr Experiment abschließen konnte. In ihrer Zeit als Assistenzärztin am Grady Hospital hatte sie das weiße Zifferblatt mit verquollenen Augen angestarrt und versucht, die Zeigerstellung zu erkennen, damit sie wusste, wie viel von ihrer Sechsunddreißig-Stunden-Schicht noch vor ihr lag. In der Heartsdale Children's Clinic hatte sie den Sekundenzeiger nicht aus den Augen gelassen, während sie die Finger aufs dünne Handgelenk eines Kindes drückte, die Herzschläge zählte, die unter der Haut pochten, und herauszufinden versuchte, ob ein »Mir tut alles weh« eine ernsthafte Krankheit bedeutete oder nur, dass das Kind an diesem Tag nicht in die Schule gehen wollte.
Seit fast zwanzig Jahren trug Sara nun diese Uhr. Das Glas war zweimal ausgetauscht worden, die Batterie noch öfter, und einmal sogar das Armband, weil Sara den Gedanken nicht ertragen konnte, das getrocknete Blut einer Frau, die in ihren Armen gestorben war, nicht vollständig entfernen zu können. Auch bei Granny Emmas Begräbnis hatte Sara sich dabei ertappt, wie sie das glatte Gehäuse um das Glas herum berührte, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen und ihr bewusst wurde, dass sie nun nie mehr das schnelle, offene Lächeln und den funkelnden Blick ihrer Großmutter sehen würde, wenn sie von den neuesten Großtaten ihrer ältesten Enkelin erfuhr.
Als sie nun auf die Uhr schaute, war Sara zum ersten Mal in ihrem Leben froh, dass ihre Großmutter nicht bei ihr war, nicht den Zorn in Saras Augen sehen und die Demütigung spüren konnte, die in ihrer Brust brannte wie ein unkontrollierbares Feuer, während sie in einem Gerichtssaal saß und unter Eid in einem Kunstfehlerprozess aussagen musste, den die Eltern eines toten Patienten gegen sie angestrengt hatten. Alles, wofür Sara je gearbeitet hatte, jeder Schritt, der ihrer Großmutter noch unmöglich gewesen war, den sie aber getan hatte, jede Leistung, jedes Diplom wurde bedeutungslos gemacht von einer Frau, die Sara als Kindsmörderin bezeichnete.
Die gegnerische Anwältin beugte sich über den Tisch und starrte mit erhobenen Augenbrauen und gespitzten Lippen herüber, als Sara auf die Uhr schaute. »Dr. Linton, haben Sie eine dringendere Verpflichtung?«
»Nein.« Sara versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen, die Wut zu unterdrücken, die die Anwältin in den letzten vier Stunden ganz offensichtlich in ihr zu schüren versucht hatte. Sara wusste, dass sie manipuliert werden sollte, dass die Frau versuchte, sie zu ködern, sie zu einer unbedachten Aussage zu verleiten, die dann von dem kleinen Protokollführer, der sich in der Ecke über seinen Laptop beugte, für alle Ewigkeit aufgezeichnet werden würde.
»Ich habe Sie jetzt die ganze Zeit Dr. Linton genannt.« Die Anwältin las in der Akte, die aufgeschlagen vor ihr lag. »Sollte es nicht Dr. Tolliver heißen? Ich sehe, dass Sie vor sechs Monaten Ihren Exgatten, Jeffrey Tolliver, ein zweites Mal geheiratet haben.«
»Linton ist schon richtig.« Unter dem Tisch schlenkerte Sara den Fuß so heftig, dass sie beinahe ihren Schuh verloren hätte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Unterkiefer schmerzte, weil sie die Zähne so fest zusammenbiss. Eigentlich sollte sie gar nicht hier sein. Sie sollte jetzt zu Hause sein und ein Buch lesen oder mit ihrer Schwester telefonieren. Sie sollte Patientenakten studieren oder alte medizinische Fachzeitschriften sortieren, zu deren Lektüre sie nie ausreichend Zeit fand.
Sie sollte vertrauenswürdig sein.
»Nun gut«, fuhr die Anwältin fort. Die Frau hatte zu Beginn der Anhörung ihren Namen genannt, aber Sara hatte ihn vergessen. Das Einzige, worauf sie sich zu der Zeit hatte konzentrieren können, war der Ausdruck auf Beckey Powells
Gesicht gewesen. Jimmys Mutter. Die Frau, deren Hand Sara so oft gehalten hatte, die Freundin, die sie getröstet hatte, die Person, mit der sie unzählige Stunden telefoniert und dabei versucht hatte, in allgemein verständliche Sprache zu übersetzen, was die Onkologen in Atlanta der Mutter in Fachchinesisch an den Kopf warfen, um ihr zu erklären, warum ihr zwölfjähriger Sohn würde sterben müssen.
Von dem Augenblick an, als sie den Saal betreten hatten, hatte Beckey Sara angestarrt, als sei sie eine Mörderin. Der Vater des Jungen, ein Mann, mit dem Sara zur Schule gegangen war, hatte es nicht geschafft, ihr in die Augen zu schauen.
»Dr. Tolliver?«, fragte die Anwältin noch einmal.
»Linton«, korrigierte Sara, und die Frau lächelte, wie immer, wenn sie gegen Sara einen Punkt gemacht hatte. Das passierte so oft, dass Sara schon versucht war, die Anwältin zu fragen, ob sie an einer ungewöhnlich lächerlichen Form des Tourette-Syndroms leide.
»Am Morgen des Siebzehnten - das war der Tag nach Ostern - erhielten Sie die Laborergebnisse der Blastzellenanalyse, die Sie für James Powell in Auftrag gegeben hatten. Ist das korrekt?«
James. Sie ließ ihn so erwachsen klingen. Für Sara würde er immer der Sechsjährige bleiben, den sie vor so vielen Jahren kennengelernt hatte, der kleine Junge, der gerne mit seinen Plastikdinosauriern spielte und hin und wieder mal eine Malkreide verschluckte. Er war so stolz gewesen, als er ihr erzählte, er heiße Jimmy, so wie sein Dad.
»Dr. Tolliver?«
Buddy Conford, einer von Saras Anwälten, ergriff endlich das Wort. »Lassen wir doch den Blödsinn, Honey.«
»Honey?«, wiederholte die Anwältin. Sie hatte eine dieser heiseren, tiefen Stimmen, die die meisten Männer unwiderstehlich finden. Sara merkte, dass Buddy zu dieser Sorte gehörte, sie merkte aber auch, wie die Tatsache, dass der Mann seine Gegnerin begehrenswert fand, seine Streitlust verstärkte.
Buddy lächelte, weil nun er einen Punkt gemacht hatte.
»Bitte weisen Sie Ihre Mandantin an, die Frage zu beantworten, Mr. Conford.«
»Ja«, antwortete Sara, bevor die beiden noch weitere Sticheleien austauschen konnten. Sie hatte festgestellt, dass Anwälte bei dreihundertfünfzig Dollar pro Stunde ziemlich wortreich sein konnten. Wenn die Uhr tickte, würden sie sogar die Definition des Wortes »Definition« hinterfragen. Und Sara hatte zwei Anwälte: Melinda Stiles war die rechtliche Vertreterin der Global Medical Indemnity, einer Versicherungsgesellschaft, an die Sara im Verlauf ihrer medizinischen Karriere fast dreieinhalb Millionen Dollar gezahlt hatte. Buddy Conford war Saras persönlicher Anwalt, den sie engagiert hatte, damit er sie vor der Versicherungsgesellschaft beschützte. Das Kleingedruckte in den Kunstfehlerpolicen der Versicherung schränkte die Haftbarkeit der Gesellschaft ein, wenn die Schädigung eines Patienten die direkte Folge einer bewussten Leichtfertigkeit des Arztes war. Buddy war hier, um dafür zu sorgen, dass es dazu nicht kam.
»Dr. Linton? Der Morgen des Siebzehnten?«
»Ja«, antwortete Sara. »Nach meinen Unterlagen erhielt ich an diesem Morgen die Laborergebnisse.«
Sharon, fiel Sara jetzt wieder ein. Die Anwältin hieß Sharon Connor. So ein harmloser Name für eine so grässliche Person.
»Und was haben die Laborergebnisse Ihnen gezeigt?«
»Dass Jimmy mit großer Wahrscheinlichkeit an akuter lymphatischer Leukämie litt.«
»Und die Prognose?«
»Das fällt nicht in mein Gebiet. Ich bin keine Onkologin.« »Nein. Sie überwiesen die Powells an einen Onkologen, einen Freund von Ihnen aus dem College, einen Dr. William Harris in Atlanta?«
»Ja.« Der arme Bill. Auch sein Name tauchte in dem Verfahren auf, auch er hatte einen Anwalt engagieren müssen und stritt sich jetzt mit seiner Versicherungsgesellschaft.
»Aber Sie sind Ärztin?«
Sara atmete einmal tief durch. Buddy hatte ihr eingeschärft, nur auf Fragen zu reagieren, nicht auf spitze Kommentare. Sie bezahlte ihm bei Gott genug für seinen Rat. Da konnte sie ja jetzt anfangen, ihn zu befolgen.
»Und als Ärztin wissen Sie doch sicher, was eine akute
Myelodysplasie ist?«
»Darunter versteht man eine Gruppe maligner Erkrankungen, für die es charakteristisch ist, dass normales Knochenmark durch abnormale Zellen ersetzt wird.«
Connor lächelte und rasselte die Fachterminologie herunter. »Und es beginnt mit einer einzelnen, somatischen, hämatopoetischen Progenitorzelle, die sich in eine Zelle verwandelt, die zu normaler Differenzierung nicht mehr in der Lage ist?«
»Die Zelle verliert die Fähigkeit zur Apoptose.«
Noch ein Lächeln, wieder ein Punkt für die Anwältin. »Und bei dieser Krankheit gibt es eine fünfzigprozentige Überlebenschance.«
Sara schwieg, wartete, dass die Axt heruntersauste.
»Und das Timing ist von grundlegender Bedeutung für die Behandlung, ist das korrekt? Bei einer solchen Krankheit - einer Krankheit, bei der die Zellen des Körpers sich buchstäblich gegen sich selber wenden, die Apoptose abschalten, wie Sie es nennen, was der normale genetische Prozess des Zelltodes ist - ist das Timing von grundlegender Bedeutung.«
Achtundvierzig Stunden hätten dem Jungen das Leben nicht gerettet, aber Sara hatte nicht vor, das laut auszusprechen, wollte nicht, dass es in einem juristischen Dokument protokolliert wurde, nur damit Sharon Connor es ihr später mit all der Gefühllosigkeit, die sie aufbringen konnte, ins Gesicht schleuderte.
Die Anwältin blätterte in einigen Papieren, als suche sie ihre Notizen. »Und Sie studierten an der Emory Medical School. Und wie Sie mich zuvor so freundlich korrigierten, gehörten Sie nicht nur zu den besten zehn Prozent Ihres Jahrgangs, sondern schlossen Ihr Studium als Sechstbeste Ihrer Klasse ab.«
Buddy klang, als würden ihn die Mätzchen der Frau langweilen. »Dr. Lintons Qualifikationen und Referenzen haben wir doch bereits hinreichend diskutiert.«
»Ich versuche mir nur ein Bild zu machen«, entgegnete die Frau. Sie hielt eins der Blätter in die Höhe und überflog die Zeilen. Schließlich legte sie es wieder weg. »Und, Dr. Linton, Sie bekamen diese Information - diese Laborergebnisse, die so gut wie sicher einem Todesurteil gleichkamen - am Morgen des Siebzehnten, und dennoch hielten Sie es nicht für nötig, den Eltern die Information sofort mitzuteilen, sondern erst zwei Tage später. Und zwar weil
Sara hatte noch nie so viele Sätze gehört, die mit dem Wörtchen »und« anfingen. Sie nahm an, dass Grammatik im Lehrplan der Fakultät, die diese fiese Anwältin hervorgebracht hatte, keinen sehr großen Stellenwert eingenommen hatte.
Dennoch antwortete sie: »Sie waren in Disney World, um Jimmys Geburtstag zu feiern. Ich wollte, dass sie diesen Ausflug genossen, weil ich glaubte, dass es für eine ziemlich lange Zeit der letzte gemeinsame Familienausflug sein würde. Ich traf deshalb die Entscheidung, es ihnen erst bei ihrer Rückkehr zu sagen.«
»Sie kamen am Abend des Siebzehnten zurück, aber Sie sagten es ihnen erst am Morgen des Neunzehnten, zwei Tage später.«
Sara öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber die Frau schnitt ihr das Wort ab.
»Und Ihnen kam nie der Gedanke, dass sie für eine sofortige Behandlung zurückkehren und so vielleicht das Leben ihres Kindes retten könnten?« Es war klar, dass sie keine Antwort erwartete. »Ich könnte mir vorstellen, dass die Powells, wenn sie die Wahl hätten, heute ihren lebendigen Sohn den Fotos von ihm, wie er im Magic Kingdom herumsteht, vorziehen würden.« Sie schob das fragliche Foto über den Tisch. Es glitt an Beckey und Jim Powell und an Saras beiden Anwälten vorbei und blieb wenige Zentimeter vor Sara liegen.
Sie hätte nicht hinschauen sollen, aber sie tat es.
Der kleine Jimmy drückte sich an seinen Vater, beide trugen Mickey-Mouse-Ohren und hielten Wunderkerzen in der Hand. Hinter ihnen marschierte eine Parade von Schneewittchens Zwergen. Sogar auf dem Foto sah man, dass der Junge krank war. Seine Augen waren dunkel umrandet, und er war so dünn, dass sein zartes Ärmchen aussah wie ein Stück Seil.
Sie waren einen Tag früher von dem Ausflug zurückgekehrt, weil Jimmy lieber zu Hause sein wollte. Sara wusste nicht, warum die Powells sie nicht angerufen oder Jimmy noch am selben Tag in die Klinik gebracht hatten, damit sie ihn untersuchen konnte. Vielleicht hatten seine Eltern auch ohne die Testergebnisse, auch ohne die endgültige Diagnose gewusst, dass die Zeit, in der sie ein normales, gesundes Kind hatten, vorüber war. Vielleicht hatten sie ihn nur noch für einen letzten Tag bei sich behalten wollen. Er war so ein wunderbarer Junge gewesen: liebenswürdig, intelligent, fröhlich - alles, was Eltern sich erhoffen konnten. Und jetzt war er nicht mehr da.
Sara spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, und sie biss sich auf die Lippe, damit die Tränen vor Schmerz und nicht vor Kummer rollten.
Buddy schnappte sich verärgert das Foto. Er schob es Sharon Connor wieder zurück. »Sie können Ihr nächstes Eröffnungsplädoyer auch zu Hause vor dem Spiegel einstudieren, Sweatheart.«
Connors Mund verzerrte sich zu einem Grinsen, als sie das Foto wieder an sich nahm. Sie war der lebende Beweis dafür, dass die Theorie, nach der Frauen fürsorgliche Brutpflegerinnen waren, absoluter Blödsinn war. Sara erwartete beinahe, verfaulendes Fleisch zwischen ihren Zähnen zu sehen.
Die Frau sagte: »Dr. Linton, an diesem speziellen Tag, dem Tag, an dem Sie James' Laborergebnisse erhielten, passierte da sonst noch etwas, das Sie besonders beschäftigte?«
Sara spürte ein Prickeln am Rückgrat, ein warnendes Kribbeln, das sie nicht unterdrücken konnte. »Ja.«
»Und können Sie uns sagen, worum es sich dabei handelte?«
»In der Toilette unseres örtlichen Diners fand ich eine Frau, die ermordet worden war.«
»Vergewaltigt und ermordet. Ist das korrekt?«
»Ja.«
»Das bringt uns zu Ihrer Nebenbeschäftigung als Coroner für unser County. Ich glaube, Ihr Ehemann - zum Zeitpunkt dieser Vergewaltigung und Ermordung noch Ihr Exehemann - ist der Polizeichef dieses Bezirks. Bei derartigen Fällen arbeiten Sie beide eng zusammen.«
Sara wartete auf mehr, aber die Frau hatte das offensichtlich nur gesagt, damit es ins Protokoll kam.
»Frau Kollegin?«, fragte Buddy.
»Einen Augenblick, bitte«, murmelte die Anwältin, nahm einen dicken Ordner zur Hand und blätterte ihn durch.
Sara schaute auf ihre Hände hinunter, um sich zu beschäftigen. Os pisiforme, Erbsenbein. Os triquetrum, Dreiecksbein. Os hamatum, Hakenbein. Os capitatum, Kopfbein. Os trape- zoideum, kleines Vieleckbein. Os trapezium, großes Vieleckbein. Os lunatum, Mondbein. Os scaphoideum, Kahnbein ^ Sie zählte alle Knochen in ihrer Hand auf, damit sie nicht in die Falle tappte, die ihr die Anwältin so geschickt stellte.
Während Saras Assistenzzeit am Grady hatten Headhunter sie so gnadenlos verfolgt, dass sie nicht mehr ans Telefon gegangen war. Partnerschaften. Sechsstellige Gehälter mit Boni am Jahresende. Chirurgische Privilegien an jedem Krankenhaus ihrer Wahl. Persönliche Assistenten, Laborkapazitäten, voll ausgestattetes Sekretariat, sogar ein eigener Parkplatz. Sie hatten ihr alles angeboten, und doch hatte sie sich am Ende entschieden, nach Grant zurückzukehren, um für beträchtlich weniger Geld und noch weniger Achtung als Ärztin zu praktizieren, weil sie es wichtig fand, dass auch ländliche Gegenden medizinisch versorgt wurden.
War ein Teil davon auch Eitelkeit? Sara hatte sich selbst als Rollenmodell für die Mädchen der Stadt gesehen. Die meisten von ihnen kannten nur männliche Ärzte. Die einzigen Frauen, die etwas zu sagen hatten, waren Krankenschwestern, Lehrerinnen und Mütter. In ihren ersten fünf Jahren in der Heartsdale Children's Clinic hatte sie fast die halbe Zeit damit zugebracht, junge Patienten - und oft auch ihre Mütter - davon zu überzeugen, dass sie tatsächlich eine voll ausgebildete Ärztin war. Kein Mensch glaubte, dass eine Frau intelligent genug und gut genug sein konnte, um eine solche Position zu erreichen. Auch als Sara ihrem älteren Partner die Klinik abkaufte, als der in den Ruhestand ging, blieben die Leute skeptisch. Sie hatte Jahre gebraucht, um sich am Ort Respekt zu verschaffen.
Und jetzt das hier.
Sharon Connor schaute endlich von ihren Papieren hoch.
Sie runzelte die Stirn. »Dr. Linton, Sie wurden selbst auch Opfer einer Vergewaltigung. Oder etwa nicht?«
Sarah spürte, wie ihr der Mund trocken wurde. Die Kehle wurde ihr eng, und die Haut brannte, während sie mit einer unangenehmen Scham kämpfte, die sie nicht mehr empfunden hatte, seit sie das letzte Mal von einem Anwalt nach ihrer Vergewaltigung befragt worden war. So wie damals bekam sie erst einen Tunnelblick, und dann verschwamm ihr alles vor Augen, sodass sie nichts mehr sah, nur noch die Wörter hörte, die ihr in den Ohren schrillten.
Buddy sprang auf, protestierte wütend und deutete mit dem Finger auf die Anwältin, die Powells. Melinda Stiles von Global Medical Indemnity, die neben ihm saß, sagte nichts. Buddy hatte Sara vorhergesagt, dass dies passieren würde, dass Stiles nur stumm dabeisitzen und zulassen würde, dass die Gegenseite Sara zerfleischte, dass sie nur den Mund aufmachen würde, wenn Global eine Gefahr drohte. Noch eine Frau, noch ein misslungenes Rollenmodell.
»Und das will ich in dem gottverdammten Protokoll sehen!«, rief Buddy zum Abschluss und setzte sich so heftig, dass sein Stuhl vom Tisch wegrutschte.
»Notiert«, sagte Connor. »Dr. Linton?«
Saras Sicht wurde wieder klar. Es rauschte in ihren Ohren, als wäre sie unter Wasser geschwommen und plötzlich wieder aufgetaucht.
»Dr. Linton?«, wiederholte Connor. Sie benutzte weiterhin den Titel, doch bei ihr klang es wie etwas Böses, nicht wie etwas, wofür Sara ihr Leben lang gearbeitet hatte.
Sara schaute Buddy an, doch der zuckte nur die Achseln und schüttelte den Kopf. Er hatte prophezeit, dass diese Anhörung nichts als ein Fischen im Trüben sein würde, mit Saras Leben als Köder.
Connor sagte: »Doktor, brauchen Sie ein paar Minuten, um mit Ihren Gefühlen ins Reine zu kommen? Ich weiß, dass es Ihnen schwerfällt, über diese Vergewaltigung zu sprechen.« Sie deutete auf eine dicke Akte vor ihr auf dem Tisch. Es musste das Gerichtsprotokoll von Saras Fall sein. Die Frau hatte alles gelesen, kannte jedes widerliche Detail. »Wie ich gelesen habe, war der Angriff auf Sie äußerst brutal.«
Sara räusperte sich und zwang sich, nicht nur mit verständlicher, sondern auch starker und furchtloser Stimme zu sprechen. »Ja, das war er.«
Connors Ton wurde nun fast versöhnlich. »Ich habe früher im Büro des Bezirksstaatsanwalts in Baton Rouge gearbeitet. Ich kann ehrlich sagen, dass ich in meinen zwölf Jahren als Staatsanwältin noch nie etwas so Brutales und Sadistisches mitbekommen habe wie das, was Sie erlebt haben.«
Buddy blaffte: »Sweetheart, können Sie sich die Krokodilstränen abwischen und zu der Frage kommen?«
Die Anwältin zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Nur fürs Protokoll: Dr. Linton wurde in der Toilette des Grady Hospitals, wo sie als Assistentin in der Notaufnahme arbeitete, vergewaltigt. Offensichtlich drang der Täter über die Zwischendecke in die Damentoilette ein. Dr. Linton befand sich in einer der Kabinen, als er sich buchstäblich auf sie herabstürzte.«
»Notiert«, sagte Buddy. »Führt das zu einer Frage, oder halten Sie nur gerne Ansprachen?«
»Dr. Linton, die Tatsache, dass Sie brutal vergewaltigt wurden, hatte großen Einfluss auf Ihre Entscheidung, ins Grant County zurückzukehren, oder etwa nicht?«
»Es gab auch andere Gründe.«
»Aber würden Sie sagen, dass die Vergewaltigung der Hauptgrund war?«
»Ich würde sagen, das war einer von vielen Gründen für meine Entscheidung zur Rückkehr.«
»Führt das irgendwohin?«, fragte Buddy. Die Anwälte diskutierten wieder, und Sara versuchte, nicht zu zittern, als sie nach dem Wasserkrug auf dem Tisch griff und sich ein Glas einschenkte.
Sie spürte eher als dass sie sah, wie Beckey Powell sich bewegte, und fragte sich, ob die Frau ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie Sara nun als menschliches Wesen sah und nicht als Monster. Sara hoffte es. Sie hoffte, dass Beckey sich an diesem Abend in ihrem Bett herumwerfen würde und erkannte, dass, gleichgültig wie schlecht sie und ihre Anwältin Sara auch machten, nichts ihren Sohn zurückbringen würde. An der Tatsache, dass Sara alles für Jimmy getan hatte, was sie hatte tun können, war nicht zu rütteln.
»Dr. Linton?«, fuhr Connor fort. »Ich kann mir vorstellen, dass es angesichts der brutalen Vergewaltigung, die Sie selbst durchlitten haben, für Sie emotional eine ziemliche Qual gewesen sein muss, in diese Toilette zu gehen und eine Frau zu finden, die ebenfalls sexuell angegriffen worden war. Vor allem, da es fast auf den Tag genau zehn Jahre her war, dass Sie vergewaltigt wurden.«
»Ist das eine Frage?«, blaffte Buddy.
»Dr. Linton, Sie und ihr Exehemann - verzeihen Sie, Ehemann - versuchen jetzt, ein Kind zu adoptieren, nicht wahr? Weil Sie als Folge dieser brutalen Vergewaltigung keine eigenen Kinder mehr bekommen können?«
Beckeys Reaktion war unmissverständlich. Zum ersten Mal seit Beginn dieser Anhörung konnte Sara die Frau in ihr sehen. Sie sah Beckeys Blick sanfter werden, ein Aufwallen des Mitgefühls für eine Freundin, aber diese Empfindung verschwand ebenso schnell, wie sie gekommen war, und Sara konnte den Vorwurf, der sie wieder auslöschte, beinahe lesen: Du hast kein Recht, Mutter eines Kindes zu sein, wo du meinen Sohn umgebracht hast.
Was hatten sie ihr gegeben? Was hatten sie ihr mit dieser Nadel in die Venen gejagt? Die Augen konnte sie kaum offen halten, die Ohren waren dagegen überempfindlich. Durch ein lautes, durchdringendes Klingeln hindurch konnte sie einen Aussetzer des Automotors hören, das Parump-parump der Reifen auf unebenem Gelände. Der Mann, der neben ihr auf dem Rücksitz saß, sprach leise, fast als würde er einem Kind ein Schlaflied singen. Sein Tonfall hatte etwas Beruhigendes, und sie merkte, wie ihr der Kopf auf die Brust sank, während er redete, und sie ihn dann, bei Lenas knappen, schneidenden Erwiderungen, wieder hochriss.
Ihre Schultern schmerzten, weil sie die Arme verkrampft auf dem Rücken hielt. Es war ein dumpfes Pochen, das dem Hämmern ihres Herzens entsprach. Sie versuchte, sich auf andere Dinge zu konzentrieren, auf das Gespräch zum Beispiel, das im Auto geführt wurde, oder wohin Lena das Auto steuerte. Stattdessen registrierte sie jedoch, dass sie sich fast wie eine Spirale in den eigenen Körper zurückzog, sich in jede neu aufkeimende Empfindung einhüllte wie ein kleines Kind in eine Kuscheldecke.
Die Rückseiten ihrer Schenkel brannten vom Leder des Autositzes, aber sie wusste nicht, warum. Draußen war es kühl. Im Nacken spürte sie sogar einen Zug. Sie erinnerte sich noch, wie sie einmal während einer langen Fahrt nach Florida in der Chevette ihres Vaters saß. Das Auto hatte keine Klimaanlage, und es war Mitte August. Alle vier Fenster waren geöffnet, doch die Hitze blieb unerträglich. Das Radio knisterte. Es lief keine Musik, denn es gab keinen Sender, auf den sie sich alle hätten einigen können. Vorne stritten sich die Eltern über die Fahrtroute, die Benzinkosten, ob sie zu schnell fuhren oder auch nicht. Hinter Opelika sagte dann ihre Mutter zu ihrem Vater, er solle an einem Laden anhalten, damit sie sich eisgekühltes Coke und Orangenkekse kaufen konnten. Dann erschraken alle, als sie aussteigen wollten, denn die Haut ihrer Arme und Beine klebte an den Sitzen, als hätte die Hitze ihre Körper mit dem Vinyl verschmolzen.
Jetzt spürte sie, wie das Auto ruckelte, als Lena die Automatikschaltung auf Parken stellte. Der Motor lief noch, und das leise Surren vibrierte in ihren Ohren.
Da war noch etwas - nicht im Auto, sondern weiter entfernt. Der Wagen stand auf einem Sportplatz. Sie erkannte die Anzeigentafel, riesige Buchstaben schrien: »GO, MUSTANGS!«
Lena hatte sich umgedreht und starrte sie beide an. Der Mann neben ihr bewegte sich. Er steckte seine Waffe in den Bund seiner Hose. Er trug eine Skimaske, wie man sie aus Horrorfilmen kennt, nur die Augen und der Mund waren zu sehen. Doch das reichte aus. Sie kannte ihn, könnte seinen Namen sagen, wenn nur ihr Mund sich bewegen würde.
Der Mann sagte, dass er Durst habe, und Lena reichte ihm einen großen Styroporbecher. Das Weiß des Bechers war intensiv, fast blendend. Plötzlich verspürte auch sie Durst wie noch nie in ihrem Leben. Allein der Gedanke an Wasser trieb ihr die Tränen in die Augen.
Lena versuchte ihr etwas mitzuteilen, ohne die Stimme zu benutzen.
Plötzlich rutschte der Mann über den Rücksitz, kam ihr so nahe, dass sie die Hitze seines Körpers spüren, den herben
Geruch seines Rasierwassers riechen konnte. Sie fühlte, wie seine Hand sich um ihren Nacken legte, seine Finger dort verweilten. Die Berührung war weich und sanft. Sie konzentrierte sich auf seine Stimme, wusste, dass wichtig war, was gesagt wurde, dass sie unbedingt zuhören musste.
»Haust du jetzt ab?«, fragte der Mann Lena. »Oder willst du lieber hierbleiben und dir anhören, was ich zu sagen habe?«
Lena hatte sich von ihnen abgewandt, vielleicht hatte sie die Hand am Türgriff. Jetzt drehte sie sich wieder um und sagte: »Reden Sie.«
»Wenn ich dich hätte umbringen wollen«, sagte er, »wärst du schon tot. Das weißt du.«
»Ja.«
»Deine Freundin hier Er sagte noch etwas, aber seine Wörter verschmolzen irgendwie miteinander, und als sie ihre Ohren erreichten, hatten sie keine Bedeutung mehr. Sie konnte nur Lena ansehen und an der Reaktion der anderen Frau abschätzen, wie ihre eigene sein sollte.
Angst. Sie sollte sich fürchten.
»Tun Sie ihr nichts«, flehte Lena. »Sie hat Kinder. Ihr Mann
»Ja, es ist traurig. Aber man muss seine Wahl treffen.«
»Sie nennen das eine Wahl?«, zischte Lena. Es kam noch mehr, aber alles, was sie erreichte, war Entsetzen. Der Wortwechsel ging noch weiter, dann spürte sie plötzlich Kälte auf ihrem Körper. Ein vertrauter Geruch erfüllte das Auto - schwer und stechend. Sie wusste, was es war. Sie hatte es schon einmal gerochen, aber ihr Verstand konnte ihr nicht sagen, wo und wann.
Die Tür ging auf. Der Mann stieg aus, stand dann da und sah sie an. Er wirkte weder traurig noch aufgeregt, sondern einfach resigniert. Sie hatte diesen Blick schon einmal gesehen. Sie kannte ihn - kannte die kalten Augen hinter der
Maske, die feuchten Lippen. Sie kannte ihn schon ihr ganzes Leben lang.
Was war das nur für ein Geruch? Sie konnte sich an diesen Geruch genau erinnern.
Er murmelte ein paar Worte. Etwas blitzte in seiner Hand auf - ein silberfarbenes Feuerzeug.
Jetzt begriff sie. Die Panik jagte Adrenalin durch ihren Körper, das den Nebel durchschnitt und ihr direkt ins Herz stach.
Feuerzeugbenzin. Der Becher hatte Feuerzeugbenzin enthalten. Er hatte es über ihren Körper gegossen. Sie war damit durchtränkt - sie triefte.
»Nein!«, schrie Lena und versuchte mit gespreizten Fingern über die Rückenlehne hinweg dazwischenzugehen.
Das Feuerzeug fiel ihr in den Schoß, die Flamme entzündete die Flüssigkeit, die Flüssigkeit verbrannte ihre Kleidung. Ein entsetzliches Kreischen war zu hören - es kam aus ihrer eigenen Kehle, während sie hilflos dasaß und zusah, wie die Flammen an ihrem Körper emporleckten. Ihre Arme schnellten in die Höhe, Zehen und Füße krümmten sich nach innen wie bei einem Baby. Noch einmal dachte sie an diese längst vergangene Fahrt nach Florida, die erschöpfende Hitze, den scharfen, unerträglichen Biss des Schmerzes, als ihr Fleisch mit dem Sitz verschmolz.
Montagnachmittag
I
Sara Linton blickte auf ihre Armbanduhr. Die Seiko war ein Geschenk ihrer Großmutter zu ihrer bestandenen Abschlussprüfung an der Highschool gewesen. Als Granny Emma selbst die Schule abgeschlossen hatte, lagen noch vier Monate bis zu ihrer Hochzeit vor ihr, eineinhalb Jahre bis zur Geburt ihres ersten von sechs Kindern und achtunddreißig Jahre bis zum Verlust ihres Mannes an den Krebs. Höhere Bildung war etwas, das Emmas Vater als Geld- und Zeitverschwendung betrachtet hatte, vor allem bei einer Frau. Emma hatte deswegen nicht gestritten - sie war in einer Zeit aufgewachsen, in der Kinder nicht einmal daran dachten, ihren Eltern zu widersprechen -, aber sie hatte dafür gesorgt, dass die vier ihrer Kinder, die überlebten, aufs College gingen.
»Trag sie, und denk an mich«, hatte Granny Emma gesagt, während sie das silberfarbene Uhrenarmband an Saras Handgelenk befestigte. »Du wirst alles schaffen, wovon du träumst, und du sollst wissen, dass ich immer bei dir sein werde.«
Als Studentin an der Emory University hatte Sara ständig auf die Uhr geschaut, vor allem in den Vorlesungen über Biochemie, angewandte Genetik und menschliche Anatomie, die anscheinend per Gesetz von den langweiligsten und einsilbigsten Professoren, die es gab, gehalten werden mussten. Während des Medizinstudiums dann hatte sie ungeduldig auf diese Uhr geblickt, wenn sie am Samstagvormittag vor dem Labor stand und wartete, dass der Professor kam und die Tür aufschloss, damit sie ihr Experiment abschließen konnte. In ihrer Zeit als Assistenzärztin am Grady Hospital hatte sie das weiße Zifferblatt mit verquollenen Augen angestarrt und versucht, die Zeigerstellung zu erkennen, damit sie wusste, wie viel von ihrer Sechsunddreißig-Stunden-Schicht noch vor ihr lag. In der Heartsdale Children's Clinic hatte sie den Sekundenzeiger nicht aus den Augen gelassen, während sie die Finger aufs dünne Handgelenk eines Kindes drückte, die Herzschläge zählte, die unter der Haut pochten, und herauszufinden versuchte, ob ein »Mir tut alles weh« eine ernsthafte Krankheit bedeutete oder nur, dass das Kind an diesem Tag nicht in die Schule gehen wollte.
Seit fast zwanzig Jahren trug Sara nun diese Uhr. Das Glas war zweimal ausgetauscht worden, die Batterie noch öfter, und einmal sogar das Armband, weil Sara den Gedanken nicht ertragen konnte, das getrocknete Blut einer Frau, die in ihren Armen gestorben war, nicht vollständig entfernen zu können. Auch bei Granny Emmas Begräbnis hatte Sara sich dabei ertappt, wie sie das glatte Gehäuse um das Glas herum berührte, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen und ihr bewusst wurde, dass sie nun nie mehr das schnelle, offene Lächeln und den funkelnden Blick ihrer Großmutter sehen würde, wenn sie von den neuesten Großtaten ihrer ältesten Enkelin erfuhr.
Als sie nun auf die Uhr schaute, war Sara zum ersten Mal in ihrem Leben froh, dass ihre Großmutter nicht bei ihr war, nicht den Zorn in Saras Augen sehen und die Demütigung spüren konnte, die in ihrer Brust brannte wie ein unkontrollierbares Feuer, während sie in einem Gerichtssaal saß und unter Eid in einem Kunstfehlerprozess aussagen musste, den die Eltern eines toten Patienten gegen sie angestrengt hatten. Alles, wofür Sara je gearbeitet hatte, jeder Schritt, der ihrer Großmutter noch unmöglich gewesen war, den sie aber getan hatte, jede Leistung, jedes Diplom wurde bedeutungslos gemacht von einer Frau, die Sara als Kindsmörderin bezeichnete.
Die gegnerische Anwältin beugte sich über den Tisch und starrte mit erhobenen Augenbrauen und gespitzten Lippen herüber, als Sara auf die Uhr schaute. »Dr. Linton, haben Sie eine dringendere Verpflichtung?«
»Nein.« Sara versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen, die Wut zu unterdrücken, die die Anwältin in den letzten vier Stunden ganz offensichtlich in ihr zu schüren versucht hatte. Sara wusste, dass sie manipuliert werden sollte, dass die Frau versuchte, sie zu ködern, sie zu einer unbedachten Aussage zu verleiten, die dann von dem kleinen Protokollführer, der sich in der Ecke über seinen Laptop beugte, für alle Ewigkeit aufgezeichnet werden würde.
»Ich habe Sie jetzt die ganze Zeit Dr. Linton genannt.« Die Anwältin las in der Akte, die aufgeschlagen vor ihr lag. »Sollte es nicht Dr. Tolliver heißen? Ich sehe, dass Sie vor sechs Monaten Ihren Exgatten, Jeffrey Tolliver, ein zweites Mal geheiratet haben.«
»Linton ist schon richtig.« Unter dem Tisch schlenkerte Sara den Fuß so heftig, dass sie beinahe ihren Schuh verloren hätte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Unterkiefer schmerzte, weil sie die Zähne so fest zusammenbiss. Eigentlich sollte sie gar nicht hier sein. Sie sollte jetzt zu Hause sein und ein Buch lesen oder mit ihrer Schwester telefonieren. Sie sollte Patientenakten studieren oder alte medizinische Fachzeitschriften sortieren, zu deren Lektüre sie nie ausreichend Zeit fand.
Sie sollte vertrauenswürdig sein.
»Nun gut«, fuhr die Anwältin fort. Die Frau hatte zu Beginn der Anhörung ihren Namen genannt, aber Sara hatte ihn vergessen. Das Einzige, worauf sie sich zu der Zeit hatte konzentrieren können, war der Ausdruck auf Beckey Powells
Gesicht gewesen. Jimmys Mutter. Die Frau, deren Hand Sara so oft gehalten hatte, die Freundin, die sie getröstet hatte, die Person, mit der sie unzählige Stunden telefoniert und dabei versucht hatte, in allgemein verständliche Sprache zu übersetzen, was die Onkologen in Atlanta der Mutter in Fachchinesisch an den Kopf warfen, um ihr zu erklären, warum ihr zwölfjähriger Sohn würde sterben müssen.
Von dem Augenblick an, als sie den Saal betreten hatten, hatte Beckey Sara angestarrt, als sei sie eine Mörderin. Der Vater des Jungen, ein Mann, mit dem Sara zur Schule gegangen war, hatte es nicht geschafft, ihr in die Augen zu schauen.
»Dr. Tolliver?«, fragte die Anwältin noch einmal.
»Linton«, korrigierte Sara, und die Frau lächelte, wie immer, wenn sie gegen Sara einen Punkt gemacht hatte. Das passierte so oft, dass Sara schon versucht war, die Anwältin zu fragen, ob sie an einer ungewöhnlich lächerlichen Form des Tourette-Syndroms leide.
»Am Morgen des Siebzehnten - das war der Tag nach Ostern - erhielten Sie die Laborergebnisse der Blastzellenanalyse, die Sie für James Powell in Auftrag gegeben hatten. Ist das korrekt?«
James. Sie ließ ihn so erwachsen klingen. Für Sara würde er immer der Sechsjährige bleiben, den sie vor so vielen Jahren kennengelernt hatte, der kleine Junge, der gerne mit seinen Plastikdinosauriern spielte und hin und wieder mal eine Malkreide verschluckte. Er war so stolz gewesen, als er ihr erzählte, er heiße Jimmy, so wie sein Dad.
»Dr. Tolliver?«
Buddy Conford, einer von Saras Anwälten, ergriff endlich das Wort. »Lassen wir doch den Blödsinn, Honey.«
»Honey?«, wiederholte die Anwältin. Sie hatte eine dieser heiseren, tiefen Stimmen, die die meisten Männer unwiderstehlich finden. Sara merkte, dass Buddy zu dieser Sorte gehörte, sie merkte aber auch, wie die Tatsache, dass der Mann seine Gegnerin begehrenswert fand, seine Streitlust verstärkte.
Buddy lächelte, weil nun er einen Punkt gemacht hatte.
»Bitte weisen Sie Ihre Mandantin an, die Frage zu beantworten, Mr. Conford.«
»Ja«, antwortete Sara, bevor die beiden noch weitere Sticheleien austauschen konnten. Sie hatte festgestellt, dass Anwälte bei dreihundertfünfzig Dollar pro Stunde ziemlich wortreich sein konnten. Wenn die Uhr tickte, würden sie sogar die Definition des Wortes »Definition« hinterfragen. Und Sara hatte zwei Anwälte: Melinda Stiles war die rechtliche Vertreterin der Global Medical Indemnity, einer Versicherungsgesellschaft, an die Sara im Verlauf ihrer medizinischen Karriere fast dreieinhalb Millionen Dollar gezahlt hatte. Buddy Conford war Saras persönlicher Anwalt, den sie engagiert hatte, damit er sie vor der Versicherungsgesellschaft beschützte. Das Kleingedruckte in den Kunstfehlerpolicen der Versicherung schränkte die Haftbarkeit der Gesellschaft ein, wenn die Schädigung eines Patienten die direkte Folge einer bewussten Leichtfertigkeit des Arztes war. Buddy war hier, um dafür zu sorgen, dass es dazu nicht kam.
»Dr. Linton? Der Morgen des Siebzehnten?«
»Ja«, antwortete Sara. »Nach meinen Unterlagen erhielt ich an diesem Morgen die Laborergebnisse.«
Sharon, fiel Sara jetzt wieder ein. Die Anwältin hieß Sharon Connor. So ein harmloser Name für eine so grässliche Person.
»Und was haben die Laborergebnisse Ihnen gezeigt?«
»Dass Jimmy mit großer Wahrscheinlichkeit an akuter lymphatischer Leukämie litt.«
»Und die Prognose?«
»Das fällt nicht in mein Gebiet. Ich bin keine Onkologin.« »Nein. Sie überwiesen die Powells an einen Onkologen, einen Freund von Ihnen aus dem College, einen Dr. William Harris in Atlanta?«
»Ja.« Der arme Bill. Auch sein Name tauchte in dem Verfahren auf, auch er hatte einen Anwalt engagieren müssen und stritt sich jetzt mit seiner Versicherungsgesellschaft.
»Aber Sie sind Ärztin?«
Sara atmete einmal tief durch. Buddy hatte ihr eingeschärft, nur auf Fragen zu reagieren, nicht auf spitze Kommentare. Sie bezahlte ihm bei Gott genug für seinen Rat. Da konnte sie ja jetzt anfangen, ihn zu befolgen.
»Und als Ärztin wissen Sie doch sicher, was eine akute
Myelodysplasie ist?«
»Darunter versteht man eine Gruppe maligner Erkrankungen, für die es charakteristisch ist, dass normales Knochenmark durch abnormale Zellen ersetzt wird.«
Connor lächelte und rasselte die Fachterminologie herunter. »Und es beginnt mit einer einzelnen, somatischen, hämatopoetischen Progenitorzelle, die sich in eine Zelle verwandelt, die zu normaler Differenzierung nicht mehr in der Lage ist?«
»Die Zelle verliert die Fähigkeit zur Apoptose.«
Noch ein Lächeln, wieder ein Punkt für die Anwältin. »Und bei dieser Krankheit gibt es eine fünfzigprozentige Überlebenschance.«
Sara schwieg, wartete, dass die Axt heruntersauste.
»Und das Timing ist von grundlegender Bedeutung für die Behandlung, ist das korrekt? Bei einer solchen Krankheit - einer Krankheit, bei der die Zellen des Körpers sich buchstäblich gegen sich selber wenden, die Apoptose abschalten, wie Sie es nennen, was der normale genetische Prozess des Zelltodes ist - ist das Timing von grundlegender Bedeutung.«
Achtundvierzig Stunden hätten dem Jungen das Leben nicht gerettet, aber Sara hatte nicht vor, das laut auszusprechen, wollte nicht, dass es in einem juristischen Dokument protokolliert wurde, nur damit Sharon Connor es ihr später mit all der Gefühllosigkeit, die sie aufbringen konnte, ins Gesicht schleuderte.
Die Anwältin blätterte in einigen Papieren, als suche sie ihre Notizen. »Und Sie studierten an der Emory Medical School. Und wie Sie mich zuvor so freundlich korrigierten, gehörten Sie nicht nur zu den besten zehn Prozent Ihres Jahrgangs, sondern schlossen Ihr Studium als Sechstbeste Ihrer Klasse ab.«
Buddy klang, als würden ihn die Mätzchen der Frau langweilen. »Dr. Lintons Qualifikationen und Referenzen haben wir doch bereits hinreichend diskutiert.«
»Ich versuche mir nur ein Bild zu machen«, entgegnete die Frau. Sie hielt eins der Blätter in die Höhe und überflog die Zeilen. Schließlich legte sie es wieder weg. »Und, Dr. Linton, Sie bekamen diese Information - diese Laborergebnisse, die so gut wie sicher einem Todesurteil gleichkamen - am Morgen des Siebzehnten, und dennoch hielten Sie es nicht für nötig, den Eltern die Information sofort mitzuteilen, sondern erst zwei Tage später. Und zwar weil
Sara hatte noch nie so viele Sätze gehört, die mit dem Wörtchen »und« anfingen. Sie nahm an, dass Grammatik im Lehrplan der Fakultät, die diese fiese Anwältin hervorgebracht hatte, keinen sehr großen Stellenwert eingenommen hatte.
Dennoch antwortete sie: »Sie waren in Disney World, um Jimmys Geburtstag zu feiern. Ich wollte, dass sie diesen Ausflug genossen, weil ich glaubte, dass es für eine ziemlich lange Zeit der letzte gemeinsame Familienausflug sein würde. Ich traf deshalb die Entscheidung, es ihnen erst bei ihrer Rückkehr zu sagen.«
»Sie kamen am Abend des Siebzehnten zurück, aber Sie sagten es ihnen erst am Morgen des Neunzehnten, zwei Tage später.«
Sara öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber die Frau schnitt ihr das Wort ab.
»Und Ihnen kam nie der Gedanke, dass sie für eine sofortige Behandlung zurückkehren und so vielleicht das Leben ihres Kindes retten könnten?« Es war klar, dass sie keine Antwort erwartete. »Ich könnte mir vorstellen, dass die Powells, wenn sie die Wahl hätten, heute ihren lebendigen Sohn den Fotos von ihm, wie er im Magic Kingdom herumsteht, vorziehen würden.« Sie schob das fragliche Foto über den Tisch. Es glitt an Beckey und Jim Powell und an Saras beiden Anwälten vorbei und blieb wenige Zentimeter vor Sara liegen.
Sie hätte nicht hinschauen sollen, aber sie tat es.
Der kleine Jimmy drückte sich an seinen Vater, beide trugen Mickey-Mouse-Ohren und hielten Wunderkerzen in der Hand. Hinter ihnen marschierte eine Parade von Schneewittchens Zwergen. Sogar auf dem Foto sah man, dass der Junge krank war. Seine Augen waren dunkel umrandet, und er war so dünn, dass sein zartes Ärmchen aussah wie ein Stück Seil.
Sie waren einen Tag früher von dem Ausflug zurückgekehrt, weil Jimmy lieber zu Hause sein wollte. Sara wusste nicht, warum die Powells sie nicht angerufen oder Jimmy noch am selben Tag in die Klinik gebracht hatten, damit sie ihn untersuchen konnte. Vielleicht hatten seine Eltern auch ohne die Testergebnisse, auch ohne die endgültige Diagnose gewusst, dass die Zeit, in der sie ein normales, gesundes Kind hatten, vorüber war. Vielleicht hatten sie ihn nur noch für einen letzten Tag bei sich behalten wollen. Er war so ein wunderbarer Junge gewesen: liebenswürdig, intelligent, fröhlich - alles, was Eltern sich erhoffen konnten. Und jetzt war er nicht mehr da.
Sara spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, und sie biss sich auf die Lippe, damit die Tränen vor Schmerz und nicht vor Kummer rollten.
Buddy schnappte sich verärgert das Foto. Er schob es Sharon Connor wieder zurück. »Sie können Ihr nächstes Eröffnungsplädoyer auch zu Hause vor dem Spiegel einstudieren, Sweatheart.«
Connors Mund verzerrte sich zu einem Grinsen, als sie das Foto wieder an sich nahm. Sie war der lebende Beweis dafür, dass die Theorie, nach der Frauen fürsorgliche Brutpflegerinnen waren, absoluter Blödsinn war. Sara erwartete beinahe, verfaulendes Fleisch zwischen ihren Zähnen zu sehen.
Die Frau sagte: »Dr. Linton, an diesem speziellen Tag, dem Tag, an dem Sie James' Laborergebnisse erhielten, passierte da sonst noch etwas, das Sie besonders beschäftigte?«
Sara spürte ein Prickeln am Rückgrat, ein warnendes Kribbeln, das sie nicht unterdrücken konnte. »Ja.«
»Und können Sie uns sagen, worum es sich dabei handelte?«
»In der Toilette unseres örtlichen Diners fand ich eine Frau, die ermordet worden war.«
»Vergewaltigt und ermordet. Ist das korrekt?«
»Ja.«
»Das bringt uns zu Ihrer Nebenbeschäftigung als Coroner für unser County. Ich glaube, Ihr Ehemann - zum Zeitpunkt dieser Vergewaltigung und Ermordung noch Ihr Exehemann - ist der Polizeichef dieses Bezirks. Bei derartigen Fällen arbeiten Sie beide eng zusammen.«
Sara wartete auf mehr, aber die Frau hatte das offensichtlich nur gesagt, damit es ins Protokoll kam.
»Frau Kollegin?«, fragte Buddy.
»Einen Augenblick, bitte«, murmelte die Anwältin, nahm einen dicken Ordner zur Hand und blätterte ihn durch.
Sara schaute auf ihre Hände hinunter, um sich zu beschäftigen. Os pisiforme, Erbsenbein. Os triquetrum, Dreiecksbein. Os hamatum, Hakenbein. Os capitatum, Kopfbein. Os trape- zoideum, kleines Vieleckbein. Os trapezium, großes Vieleckbein. Os lunatum, Mondbein. Os scaphoideum, Kahnbein ^ Sie zählte alle Knochen in ihrer Hand auf, damit sie nicht in die Falle tappte, die ihr die Anwältin so geschickt stellte.
Während Saras Assistenzzeit am Grady hatten Headhunter sie so gnadenlos verfolgt, dass sie nicht mehr ans Telefon gegangen war. Partnerschaften. Sechsstellige Gehälter mit Boni am Jahresende. Chirurgische Privilegien an jedem Krankenhaus ihrer Wahl. Persönliche Assistenten, Laborkapazitäten, voll ausgestattetes Sekretariat, sogar ein eigener Parkplatz. Sie hatten ihr alles angeboten, und doch hatte sie sich am Ende entschieden, nach Grant zurückzukehren, um für beträchtlich weniger Geld und noch weniger Achtung als Ärztin zu praktizieren, weil sie es wichtig fand, dass auch ländliche Gegenden medizinisch versorgt wurden.
War ein Teil davon auch Eitelkeit? Sara hatte sich selbst als Rollenmodell für die Mädchen der Stadt gesehen. Die meisten von ihnen kannten nur männliche Ärzte. Die einzigen Frauen, die etwas zu sagen hatten, waren Krankenschwestern, Lehrerinnen und Mütter. In ihren ersten fünf Jahren in der Heartsdale Children's Clinic hatte sie fast die halbe Zeit damit zugebracht, junge Patienten - und oft auch ihre Mütter - davon zu überzeugen, dass sie tatsächlich eine voll ausgebildete Ärztin war. Kein Mensch glaubte, dass eine Frau intelligent genug und gut genug sein konnte, um eine solche Position zu erreichen. Auch als Sara ihrem älteren Partner die Klinik abkaufte, als der in den Ruhestand ging, blieben die Leute skeptisch. Sie hatte Jahre gebraucht, um sich am Ort Respekt zu verschaffen.
Und jetzt das hier.
Sharon Connor schaute endlich von ihren Papieren hoch.
Sie runzelte die Stirn. »Dr. Linton, Sie wurden selbst auch Opfer einer Vergewaltigung. Oder etwa nicht?«
Sarah spürte, wie ihr der Mund trocken wurde. Die Kehle wurde ihr eng, und die Haut brannte, während sie mit einer unangenehmen Scham kämpfte, die sie nicht mehr empfunden hatte, seit sie das letzte Mal von einem Anwalt nach ihrer Vergewaltigung befragt worden war. So wie damals bekam sie erst einen Tunnelblick, und dann verschwamm ihr alles vor Augen, sodass sie nichts mehr sah, nur noch die Wörter hörte, die ihr in den Ohren schrillten.
Buddy sprang auf, protestierte wütend und deutete mit dem Finger auf die Anwältin, die Powells. Melinda Stiles von Global Medical Indemnity, die neben ihm saß, sagte nichts. Buddy hatte Sara vorhergesagt, dass dies passieren würde, dass Stiles nur stumm dabeisitzen und zulassen würde, dass die Gegenseite Sara zerfleischte, dass sie nur den Mund aufmachen würde, wenn Global eine Gefahr drohte. Noch eine Frau, noch ein misslungenes Rollenmodell.
»Und das will ich in dem gottverdammten Protokoll sehen!«, rief Buddy zum Abschluss und setzte sich so heftig, dass sein Stuhl vom Tisch wegrutschte.
»Notiert«, sagte Connor. »Dr. Linton?«
Saras Sicht wurde wieder klar. Es rauschte in ihren Ohren, als wäre sie unter Wasser geschwommen und plötzlich wieder aufgetaucht.
»Dr. Linton?«, wiederholte Connor. Sie benutzte weiterhin den Titel, doch bei ihr klang es wie etwas Böses, nicht wie etwas, wofür Sara ihr Leben lang gearbeitet hatte.
Sara schaute Buddy an, doch der zuckte nur die Achseln und schüttelte den Kopf. Er hatte prophezeit, dass diese Anhörung nichts als ein Fischen im Trüben sein würde, mit Saras Leben als Köder.
Connor sagte: »Doktor, brauchen Sie ein paar Minuten, um mit Ihren Gefühlen ins Reine zu kommen? Ich weiß, dass es Ihnen schwerfällt, über diese Vergewaltigung zu sprechen.« Sie deutete auf eine dicke Akte vor ihr auf dem Tisch. Es musste das Gerichtsprotokoll von Saras Fall sein. Die Frau hatte alles gelesen, kannte jedes widerliche Detail. »Wie ich gelesen habe, war der Angriff auf Sie äußerst brutal.«
Sara räusperte sich und zwang sich, nicht nur mit verständlicher, sondern auch starker und furchtloser Stimme zu sprechen. »Ja, das war er.«
Connors Ton wurde nun fast versöhnlich. »Ich habe früher im Büro des Bezirksstaatsanwalts in Baton Rouge gearbeitet. Ich kann ehrlich sagen, dass ich in meinen zwölf Jahren als Staatsanwältin noch nie etwas so Brutales und Sadistisches mitbekommen habe wie das, was Sie erlebt haben.«
Buddy blaffte: »Sweetheart, können Sie sich die Krokodilstränen abwischen und zu der Frage kommen?«
Die Anwältin zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Nur fürs Protokoll: Dr. Linton wurde in der Toilette des Grady Hospitals, wo sie als Assistentin in der Notaufnahme arbeitete, vergewaltigt. Offensichtlich drang der Täter über die Zwischendecke in die Damentoilette ein. Dr. Linton befand sich in einer der Kabinen, als er sich buchstäblich auf sie herabstürzte.«
»Notiert«, sagte Buddy. »Führt das zu einer Frage, oder halten Sie nur gerne Ansprachen?«
»Dr. Linton, die Tatsache, dass Sie brutal vergewaltigt wurden, hatte großen Einfluss auf Ihre Entscheidung, ins Grant County zurückzukehren, oder etwa nicht?«
»Es gab auch andere Gründe.«
»Aber würden Sie sagen, dass die Vergewaltigung der Hauptgrund war?«
»Ich würde sagen, das war einer von vielen Gründen für meine Entscheidung zur Rückkehr.«
»Führt das irgendwohin?«, fragte Buddy. Die Anwälte diskutierten wieder, und Sara versuchte, nicht zu zittern, als sie nach dem Wasserkrug auf dem Tisch griff und sich ein Glas einschenkte.
Sie spürte eher als dass sie sah, wie Beckey Powell sich bewegte, und fragte sich, ob die Frau ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie Sara nun als menschliches Wesen sah und nicht als Monster. Sara hoffte es. Sie hoffte, dass Beckey sich an diesem Abend in ihrem Bett herumwerfen würde und erkannte, dass, gleichgültig wie schlecht sie und ihre Anwältin Sara auch machten, nichts ihren Sohn zurückbringen würde. An der Tatsache, dass Sara alles für Jimmy getan hatte, was sie hatte tun können, war nicht zu rütteln.
»Dr. Linton?«, fuhr Connor fort. »Ich kann mir vorstellen, dass es angesichts der brutalen Vergewaltigung, die Sie selbst durchlitten haben, für Sie emotional eine ziemliche Qual gewesen sein muss, in diese Toilette zu gehen und eine Frau zu finden, die ebenfalls sexuell angegriffen worden war. Vor allem, da es fast auf den Tag genau zehn Jahre her war, dass Sie vergewaltigt wurden.«
»Ist das eine Frage?«, blaffte Buddy.
»Dr. Linton, Sie und ihr Exehemann - verzeihen Sie, Ehemann - versuchen jetzt, ein Kind zu adoptieren, nicht wahr? Weil Sie als Folge dieser brutalen Vergewaltigung keine eigenen Kinder mehr bekommen können?«
Beckeys Reaktion war unmissverständlich. Zum ersten Mal seit Beginn dieser Anhörung konnte Sara die Frau in ihr sehen. Sie sah Beckeys Blick sanfter werden, ein Aufwallen des Mitgefühls für eine Freundin, aber diese Empfindung verschwand ebenso schnell, wie sie gekommen war, und Sara konnte den Vorwurf, der sie wieder auslöschte, beinahe lesen: Du hast kein Recht, Mutter eines Kindes zu sein, wo du meinen Sohn umgebracht hast.
... weniger
Autoren-Porträt von Karin Slaughter
Karin Slaughter, Jahrgang 1971, stammt aus Atlanta, Georgia. 2003 erschien ihr Debütroman "Belladonna", der sie sofort an die Spitze der internationalen Bestsellerlisten und auf den Thriller-Olymp katapultierte. Ihre "Grant County"-Romane um die Rechtsmedizinerin Sara Linton und Polizeichef Jeffrey Tolliver sind inzwischen in 30 Sprachen übersetzt und weltweit mehr als 20 Millionen mal gelesen worden.
Bibliographische Angaben
- Autor: Karin Slaughter
- 2010, 510 Seiten, Maße: 11,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Berr, Klaus
- Übersetzer: Klaus Berr
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442372208
- ISBN-13: 9783442372201
- Erscheinungsdatum: 09.11.2010
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