Sommerlügen
Geschichten
Schlink, einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren, erzählt in seinem neuen Buch sieben bewegende Geschichten - über Lebenslügen und Alterseinsichten, über Liebeshoffnungen und Lebensentwürfe. Und über die Frage, was...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Sommerlügen “
Schlink, einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren, erzählt in seinem neuen Buch sieben bewegende Geschichten - über Lebenslügen und Alterseinsichten, über Liebeshoffnungen und Lebensentwürfe. Und über die Frage, was passiert, wenn unsere Illusionen platzen.
Klappentext zu „Sommerlügen “
Lebensentwürfe, Liebeshoffnungen, Alterseinsichten - was ist Illusion, und was stimmt? Was bleibt, wenn eine Illusion zerplatzt? Die Flucht in eine andere? Weil das Leben ohne Lebenslügen nicht zu bewältigen ist? Sieben irritierend-bewegende Geschichten von Bernhard Schlink.
Lese-Probe zu „Sommerlügen “
Sommerlügen - Geschichten von Bernhard SchlinkDie Reise nach Süden
1
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Der Tag, an dem sie aufhörte, ihre Kinder zu lieben, war nicht anders als andere Tage. Als sie sich am nächsten
Morgen fragte, was den Verlust der Liebe ausgelöst hatte, fand sie keine Antwort. Hatten ihre Rückenschmerzen sie besonders gequält? Hatte das Scheitern an einer einfachen häuslichen Aufgabe sie besonders gedemütigt? Hatte eine Auseinandersetzung mit dem Personal sie besonders gekränkt? So etwas Kleines musste es gewesen sein. Etwas Großes passierte in ihrem Leben nicht mehr.
Aber was es auch war, der Verlust war da. Sie hatte den Hörer abgenommen, um ihre Tochter anzurufen und ihren Geburtstag zu besprechen, die Gäste, den Ort, das Essen, und legte wieder auf. Sie wollte nicht mit ihrer Tochter sprechen. Sie wollte auch mit keinem anderen Kind sprechen. Sie wollte ihre Kinder nicht sehen, nicht an ihrem Geburtstag und nicht davor und nicht danach. Dann saß sie neben dem Telefon und wartete, dass die Lust zum Telefonieren sich einstellen würde. Aber sie stellte sich nicht ein. Als am Abend das Telefon klingelte, nahm sie nur ab, weil ihre Kinder sonst besorgt bei der Pforte angerufen und das Personal auf sie gehetzt hätten. Da log sie lieber gleich, sie könne nicht reden, sie habe Besuch.
Sie hatte nichts an ihren Kindern auszusetzen. Sie hatte es gut mit ihnen. Auch die anderen Frauen im Sti^ sagten ihr, wie gut sie es mit ihnen habe. Wie wohlgeraten ihre Kinder seien: der eine Sohn ein hoher Richter und der andere ein Museumsdirektor, die eine Tochter mit einem Professor verheiratet und die andere mit einem bekannten Dirigenten! Wie aufmerksam sie sich um sie kümmerten! Sie kamen zu Besuch, ließen zwischen dem Besuch des einen und des anderen Kinds nicht zu viel Zeit verstreichen, blieben für ein oder zwei Nächte, holten sie manchmal für zwei oder drei Tage zu sich und brachten zum Geburtstag ihre Familien mit. Sie halfen ihr bei Steuererklärung, Versicherung und Beihilfe, begleiteten sie zum Arzt und beim Kauf von Brille und Hörgerät. Sie hatten ihre Familien, ihre Berufe, ihre Leben. Aber sie ließen ihre Mutter daran teilhaben.
So ging sie mit dem Gefühl einer Verstimmung ins Bett, wie man mit einer Magenverstimmung und Rennie oder dem An¬ug einer Erkältung und Aspirin ins Bett geht, um am nächsten Morgen aufzuwachen, als sei nichts gewesen. Sie hatte kein Mittel gegen Liebesverstimmung, aber sie machte Tee, eine Mischung aus Kamille und Minze, und war gewiss, am nächsten Morgen werde alles wieder in Ordnung sein. Aber am nächsten Morgen war ihr die Vorstellung, ihre Kinder zu sehen oder am Telefon zu sprechen, so fremd wie am Abend davor.
2
Sie machte den Spaziergang, den sie jeden Morgen machte: vorbei an Schule und Post, Apotheke und Obstladen, durch die Siedlung zum Wald, am Hang bis zum Bierer Hof und wieder zurück. Die Strecke bot immer wieder den Blick in die Ebene, den sie liebte. Sie war eben und in einer Stunde zu bewältigen. Der Arzt hatte ihr gesagt, sie müsse jeden Tag mindestens eine Stunde laufen.
Der Regen der letzten Tage hatte nachts aufgehört, der Himmel war blau und die Lu^ frisch. Der Tag würde heiß werden. Sie hörte die Geräusche des Walds: den Wind in den Bäumen, Specht und Kuckuck, knackendes Geäst und raschelnde Blätter. Sie hielt nach Rehen und Hasen Ausschau; sie waren hier zahlreich und ohne Scheu. Sie hätte den Wald gerne gerochen; noch regennass und schon sonnenwarm roch er am besten. Aber sie konnte seit einigen Jahren nicht mehr riechen. Der Geruchssinn war eines Tages einfach ausgefallen, wie die Liebe zu den Kindern. Ein Virus, hatte der Arzt gesagt.
Mit dem Geruchssinn war auch der Geschmackssinn verlorengegangen. Essen hatte ihr nie viel bedeutet, und dass sie nicht mehr schmecken konnte, war nicht schlimm. Schlimm war, dass sie die Natur nicht mehr riechen konnte, nicht nur den Wald, auch die blühenden Obstbäume, die Blumen auf dem Balkon und in der Vase, den warmen und trockenen Straßenstaub, auf den die ersten Regentropfen fallen.
Außerdem empfand sie, nicht mehr riechen zu können, als Schmach. Dass man riechen kann, gehört einfach dazu. Wie Sehen und Hören und Laufen und Lesen und Schreiben und Rechnen. Sie hatte immer funktioniert, und auf einmal funktionierte sie nicht mehr, nicht weil ihr etwas von außen zugestoßen wäre, sondern weil ihre Ausstattung versagt hatte. Dazu kam die Angst, sie würde stinken. Sie erinnerte sich an ihre Besuche bei ihrer Mutter im Altersheim. »Sie können nicht mehr riechen«, hatte ihre Mutter ihr erklärt, als sie eine Bemerkung über den Geruch der anderen Alten gemacht hatte. Stank sie jetzt auch so? Sie war auf peinliche Sauberkeit bedacht und benutzte ein Eau de Toilette, das ihre Enkelinnen mochten. »Wie gut du riechst, Großmutter! « Aber man weiß nie, und wenn man zu viel davon nimmt, stinkt man auch nach Eau de Toilette.
Außer ihrem Arzt wusste niemand, dass sie nicht mehr riechen und schmecken konnte. Sie lobte das Essen, wenn ihre Kinder sie ausführten, und roch an den Sträußen, die sie ihr mitbrachten. Wenn sie ihnen die Blüten auf dem Balkon zeigte, sagte sie: »Riecht mal, sie riechen wunderbar!«
So musste sie es auch mit der verlorenen Liebe halten. Zum Sehen und Hören und Riechen und Laufen und Lesen und Schreiben und Rechnen gehört auch, dass man seine Kinder und Enkel und Enkelinnen liebt. Sich dem Telefonieren verweigern, wie sie es gestern getan hatte - nein, das würde sie sich nicht noch einmal erlauben. Der Geburtstag würde normal gefeiert werden, und die Besuche würden normal weitergehen. Wieder kam eine Erinnerung hoch. Als sie ein kleines Mädchen war, hatte sie ihre Mutter, die einen Witwer mit zwei Kindern und schwierigen, fordernden Schwiegereltern, Schwägern und Schwägerinnen geheiratet hatte, gefragt, ob sie diese Verwandten der ersten Frau, um die sie sich kümmern musste, eigentlich liebe.
Ihre Mutter hatte gelächelt. »Ja, mein Liebes.«
»Aber ... «
»Liebe ist keine Sache des Gefühls, sondern des Willens.«
Sie hatte es über Jahre und Jahrzehnte gescha^t und scha^te es nicht mehr. Wenn man nur richtig will, kann man aus einer P¬icht eine Neigung und aus einer Verantwortung eine Liebe machen. Aber sie hatte keine Verantwortung mehr für ihre Kinder, keine P¬ichten gegenüber ihren Enkeln und Enkelinnen. Da war nichts, was sie zur Liebe hätte wollen können. Aber die Kinder, die so wohlgeraten waren, zu kränken und die anderen Frauen im Sti^ zu irritieren und sich selbst zu blamieren bestand kein Anlass.
Sie hatte ihren Spaziergang beschwingt begonnen. Die Leere, nachdem die Liebe zu den Kindern abhandengekommen war, hatte sie erschreckt, aber auch erleichtert. Sie war beschwingt, wie man mit hohem Fieber beschwingt sein kann oder nach langem Fasten - es ist ein Zustand, der behoben werden muss und doch wohltut. Als sie auf der Bank beim Bierer Hof saß, merkte sie, wie sie schwer und müde wurde und wieder auf die Erde kam.
Sollte sie den Geburtstag hier im Bierer Hof feiern? Als sie noch verheiratet war, waren ihr Mann und sie manchmal auf einen Spaziergang und einen Ka^ee hierhergefahren. Es waren Stunden, die er sich vom Beruf und sie sich von den Kindern freinahm, um über das zu reden, worüber zu reden der Alltag keinen Raum ließ. Bis er eines Tages mit ihr hierherfuhr, um ihr zu beichten, dass er seit zwei Jahren mit seiner Assistentin schlief.
Seitdem war angebaut, umgebaut, verschönt worden. Der Hof, damals ärmlich, sah stattlich aus, und innen würde gewiss auch nichts mehr an die Stube erinnern, in der ihr Mann ihr gegenübersaß und rumdruckste und für sein großes Herz, das zwei Frauen liebte, bemitleidet werden wollte. Die Erinnerung, die so lange weh getan hatte, tat nicht mehr weh. Auch jetzt fühlte sie nicht das Mitleid, das ihr Mann gesucht hatte, aber eine traurige Gleichgültigkeit gegenüber diesem Menschen, der sich's im Leben immer leichtgemacht und dabei gemeint hatte, er mache es sich schwer und kämpfe und ringe. Sie hätte sich die späten Jahre der Ehe gerne erspart. Aber er bestand darauf, bei ihr zu bleiben, bis das letzte Kind die Schule abschloss. Im letzten Jahr been - dete er sogar die A^äre mit der Assistentin. Für beide Opfer von seiner Frau nicht gehörig belohnt, begann er die nächste A^äre mit der nächsten Assistentin.
Sie stand auf und machte sich auf den Heimweg. Ja, das Leben würde weitergehen, als sei nichts geschehen. Wenn sie aufhören könnte, für die anderen zu leben, um endlich ihr eigenes Leben zu leben! Aber dafür war sie nicht nur zu alt. Sie hatte keine Ahnung, was ihr eigenes Leben war. Endlich machen, woran sie Freude hatte? Die einzige Freude, die sie gelernt hatte, war, mit Liebe ihrer Verantwortung zu genügen und ihre P¬icht zu erfüllen. Dann gab es noch die Natur. Aber die konnte sie nicht mehr riechen.
© Diogenes Verlag AG
Der Tag, an dem sie aufhörte, ihre Kinder zu lieben, war nicht anders als andere Tage. Als sie sich am nächsten
Morgen fragte, was den Verlust der Liebe ausgelöst hatte, fand sie keine Antwort. Hatten ihre Rückenschmerzen sie besonders gequält? Hatte das Scheitern an einer einfachen häuslichen Aufgabe sie besonders gedemütigt? Hatte eine Auseinandersetzung mit dem Personal sie besonders gekränkt? So etwas Kleines musste es gewesen sein. Etwas Großes passierte in ihrem Leben nicht mehr.
Aber was es auch war, der Verlust war da. Sie hatte den Hörer abgenommen, um ihre Tochter anzurufen und ihren Geburtstag zu besprechen, die Gäste, den Ort, das Essen, und legte wieder auf. Sie wollte nicht mit ihrer Tochter sprechen. Sie wollte auch mit keinem anderen Kind sprechen. Sie wollte ihre Kinder nicht sehen, nicht an ihrem Geburtstag und nicht davor und nicht danach. Dann saß sie neben dem Telefon und wartete, dass die Lust zum Telefonieren sich einstellen würde. Aber sie stellte sich nicht ein. Als am Abend das Telefon klingelte, nahm sie nur ab, weil ihre Kinder sonst besorgt bei der Pforte angerufen und das Personal auf sie gehetzt hätten. Da log sie lieber gleich, sie könne nicht reden, sie habe Besuch.
Sie hatte nichts an ihren Kindern auszusetzen. Sie hatte es gut mit ihnen. Auch die anderen Frauen im Sti^ sagten ihr, wie gut sie es mit ihnen habe. Wie wohlgeraten ihre Kinder seien: der eine Sohn ein hoher Richter und der andere ein Museumsdirektor, die eine Tochter mit einem Professor verheiratet und die andere mit einem bekannten Dirigenten! Wie aufmerksam sie sich um sie kümmerten! Sie kamen zu Besuch, ließen zwischen dem Besuch des einen und des anderen Kinds nicht zu viel Zeit verstreichen, blieben für ein oder zwei Nächte, holten sie manchmal für zwei oder drei Tage zu sich und brachten zum Geburtstag ihre Familien mit. Sie halfen ihr bei Steuererklärung, Versicherung und Beihilfe, begleiteten sie zum Arzt und beim Kauf von Brille und Hörgerät. Sie hatten ihre Familien, ihre Berufe, ihre Leben. Aber sie ließen ihre Mutter daran teilhaben.
So ging sie mit dem Gefühl einer Verstimmung ins Bett, wie man mit einer Magenverstimmung und Rennie oder dem An¬ug einer Erkältung und Aspirin ins Bett geht, um am nächsten Morgen aufzuwachen, als sei nichts gewesen. Sie hatte kein Mittel gegen Liebesverstimmung, aber sie machte Tee, eine Mischung aus Kamille und Minze, und war gewiss, am nächsten Morgen werde alles wieder in Ordnung sein. Aber am nächsten Morgen war ihr die Vorstellung, ihre Kinder zu sehen oder am Telefon zu sprechen, so fremd wie am Abend davor.
2
Sie machte den Spaziergang, den sie jeden Morgen machte: vorbei an Schule und Post, Apotheke und Obstladen, durch die Siedlung zum Wald, am Hang bis zum Bierer Hof und wieder zurück. Die Strecke bot immer wieder den Blick in die Ebene, den sie liebte. Sie war eben und in einer Stunde zu bewältigen. Der Arzt hatte ihr gesagt, sie müsse jeden Tag mindestens eine Stunde laufen.
Der Regen der letzten Tage hatte nachts aufgehört, der Himmel war blau und die Lu^ frisch. Der Tag würde heiß werden. Sie hörte die Geräusche des Walds: den Wind in den Bäumen, Specht und Kuckuck, knackendes Geäst und raschelnde Blätter. Sie hielt nach Rehen und Hasen Ausschau; sie waren hier zahlreich und ohne Scheu. Sie hätte den Wald gerne gerochen; noch regennass und schon sonnenwarm roch er am besten. Aber sie konnte seit einigen Jahren nicht mehr riechen. Der Geruchssinn war eines Tages einfach ausgefallen, wie die Liebe zu den Kindern. Ein Virus, hatte der Arzt gesagt.
Mit dem Geruchssinn war auch der Geschmackssinn verlorengegangen. Essen hatte ihr nie viel bedeutet, und dass sie nicht mehr schmecken konnte, war nicht schlimm. Schlimm war, dass sie die Natur nicht mehr riechen konnte, nicht nur den Wald, auch die blühenden Obstbäume, die Blumen auf dem Balkon und in der Vase, den warmen und trockenen Straßenstaub, auf den die ersten Regentropfen fallen.
Außerdem empfand sie, nicht mehr riechen zu können, als Schmach. Dass man riechen kann, gehört einfach dazu. Wie Sehen und Hören und Laufen und Lesen und Schreiben und Rechnen. Sie hatte immer funktioniert, und auf einmal funktionierte sie nicht mehr, nicht weil ihr etwas von außen zugestoßen wäre, sondern weil ihre Ausstattung versagt hatte. Dazu kam die Angst, sie würde stinken. Sie erinnerte sich an ihre Besuche bei ihrer Mutter im Altersheim. »Sie können nicht mehr riechen«, hatte ihre Mutter ihr erklärt, als sie eine Bemerkung über den Geruch der anderen Alten gemacht hatte. Stank sie jetzt auch so? Sie war auf peinliche Sauberkeit bedacht und benutzte ein Eau de Toilette, das ihre Enkelinnen mochten. »Wie gut du riechst, Großmutter! « Aber man weiß nie, und wenn man zu viel davon nimmt, stinkt man auch nach Eau de Toilette.
Außer ihrem Arzt wusste niemand, dass sie nicht mehr riechen und schmecken konnte. Sie lobte das Essen, wenn ihre Kinder sie ausführten, und roch an den Sträußen, die sie ihr mitbrachten. Wenn sie ihnen die Blüten auf dem Balkon zeigte, sagte sie: »Riecht mal, sie riechen wunderbar!«
So musste sie es auch mit der verlorenen Liebe halten. Zum Sehen und Hören und Riechen und Laufen und Lesen und Schreiben und Rechnen gehört auch, dass man seine Kinder und Enkel und Enkelinnen liebt. Sich dem Telefonieren verweigern, wie sie es gestern getan hatte - nein, das würde sie sich nicht noch einmal erlauben. Der Geburtstag würde normal gefeiert werden, und die Besuche würden normal weitergehen. Wieder kam eine Erinnerung hoch. Als sie ein kleines Mädchen war, hatte sie ihre Mutter, die einen Witwer mit zwei Kindern und schwierigen, fordernden Schwiegereltern, Schwägern und Schwägerinnen geheiratet hatte, gefragt, ob sie diese Verwandten der ersten Frau, um die sie sich kümmern musste, eigentlich liebe.
Ihre Mutter hatte gelächelt. »Ja, mein Liebes.«
»Aber ... «
»Liebe ist keine Sache des Gefühls, sondern des Willens.«
Sie hatte es über Jahre und Jahrzehnte gescha^t und scha^te es nicht mehr. Wenn man nur richtig will, kann man aus einer P¬icht eine Neigung und aus einer Verantwortung eine Liebe machen. Aber sie hatte keine Verantwortung mehr für ihre Kinder, keine P¬ichten gegenüber ihren Enkeln und Enkelinnen. Da war nichts, was sie zur Liebe hätte wollen können. Aber die Kinder, die so wohlgeraten waren, zu kränken und die anderen Frauen im Sti^ zu irritieren und sich selbst zu blamieren bestand kein Anlass.
Sie hatte ihren Spaziergang beschwingt begonnen. Die Leere, nachdem die Liebe zu den Kindern abhandengekommen war, hatte sie erschreckt, aber auch erleichtert. Sie war beschwingt, wie man mit hohem Fieber beschwingt sein kann oder nach langem Fasten - es ist ein Zustand, der behoben werden muss und doch wohltut. Als sie auf der Bank beim Bierer Hof saß, merkte sie, wie sie schwer und müde wurde und wieder auf die Erde kam.
Sollte sie den Geburtstag hier im Bierer Hof feiern? Als sie noch verheiratet war, waren ihr Mann und sie manchmal auf einen Spaziergang und einen Ka^ee hierhergefahren. Es waren Stunden, die er sich vom Beruf und sie sich von den Kindern freinahm, um über das zu reden, worüber zu reden der Alltag keinen Raum ließ. Bis er eines Tages mit ihr hierherfuhr, um ihr zu beichten, dass er seit zwei Jahren mit seiner Assistentin schlief.
Seitdem war angebaut, umgebaut, verschönt worden. Der Hof, damals ärmlich, sah stattlich aus, und innen würde gewiss auch nichts mehr an die Stube erinnern, in der ihr Mann ihr gegenübersaß und rumdruckste und für sein großes Herz, das zwei Frauen liebte, bemitleidet werden wollte. Die Erinnerung, die so lange weh getan hatte, tat nicht mehr weh. Auch jetzt fühlte sie nicht das Mitleid, das ihr Mann gesucht hatte, aber eine traurige Gleichgültigkeit gegenüber diesem Menschen, der sich's im Leben immer leichtgemacht und dabei gemeint hatte, er mache es sich schwer und kämpfe und ringe. Sie hätte sich die späten Jahre der Ehe gerne erspart. Aber er bestand darauf, bei ihr zu bleiben, bis das letzte Kind die Schule abschloss. Im letzten Jahr been - dete er sogar die A^äre mit der Assistentin. Für beide Opfer von seiner Frau nicht gehörig belohnt, begann er die nächste A^äre mit der nächsten Assistentin.
Sie stand auf und machte sich auf den Heimweg. Ja, das Leben würde weitergehen, als sei nichts geschehen. Wenn sie aufhören könnte, für die anderen zu leben, um endlich ihr eigenes Leben zu leben! Aber dafür war sie nicht nur zu alt. Sie hatte keine Ahnung, was ihr eigenes Leben war. Endlich machen, woran sie Freude hatte? Die einzige Freude, die sie gelernt hatte, war, mit Liebe ihrer Verantwortung zu genügen und ihre P¬icht zu erfüllen. Dann gab es noch die Natur. Aber die konnte sie nicht mehr riechen.
© Diogenes Verlag AG
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Autoren-Porträt von Bernhard Schlink
Bernhard Schlink, geboren 1944 bei Bielefeld, ist Jurist und lebt in Berlin und New York. Der 1995 erschienene Roman 'Der Vorleser', 2009 von Stephen Daldry unter dem Titel 'The Reader' verfilmt, in über 50 Sprachen übersetzt und mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, begründete seinen schriftstellerischen Weltruhm.
Bibliographische Angaben
- Autor: Bernhard Schlink
- 2010, 4. Aufl., 288 Seiten, Leinen, Deutsch
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257067534
- ISBN-13: 9783257067538
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