Teufelsleib / Peter Brandt Bd.4
Ein neuer Fall für Peter Brandt. Kriminalroman. Originalausgabe
Eine Tote am Mainufer. Ein Olivenzweig. Und ein Geheimnis, das in eine düstere Unterwelt führt.
Gerade aus dem Urlaub zurückgekommen, bekommt es Kommissar Peter Brandt schon wieder mit einem neuen Mordfall zu tun. Eine...
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Produktinformationen zu „Teufelsleib / Peter Brandt Bd.4 “
Eine Tote am Mainufer. Ein Olivenzweig. Und ein Geheimnis, das in eine düstere Unterwelt führt.
Gerade aus dem Urlaub zurückgekommen, bekommt es Kommissar Peter Brandt schon wieder mit einem neuen Mordfall zu tun. Eine Hausfrau wurde ermordet. In ihrer Hand hält sie einen Olivenzweig, in ihrem Mund findet man eine Olive und eine Taubenfeder. Was ist das Geheimnis der Toten? Bei den Ermittlungen taucht Brandt in eine Welt aus Gewalt, religiösem Fanatismus und Rache ein.
Klappentext zu „Teufelsleib / Peter Brandt Bd.4 “
Kommissar Peter Brandt ist gerade aus einem Kurzurlaub mit seiner Freundin, der Staatsanwältin Elvira Klein, zurück, als er mit einem besonders seltsamen Mordfall konfrontiert wird. Am Mainufer in Offenbach wird eine Hausfrau tot aufgefunden. Das Merkwürdige daran: In ihrer Hand hält sie einen Olivenzweig, und in ihrem Mund findet man eine Olive und eine Taubenfeder. Sehr schnell stößt der Kommissar auf das Geheimnis der Toten: Sie ging offenbar einem äußerst lukrativen Nebenerwerb nach, genau wie zwei weitere Frauen, die in den letzten zwölf Monaten ermordet wurden. Peter Brandt betritt eine Welt aus religiösem Fanatismus, Gewalt und Rache.
Lese-Probe zu „Teufelsleib / Peter Brandt Bd.4 “
Teufelsleib von Andreas FranzPROLOG
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Seine Miene war düster. Seine Gedanken waren düster. Alles um ihn herum war düster, obgleich die Sonne schien und viele fröhliche Menschen in seiner Nähe waren. Düster starrte er in die noch halbvolle Tasse Kaffee, düster auf das Stück Kuchen, das er bestellt hatte und das noch so auf dem Teller lag, wie die junge, hübsche Bedienung es ihm vor zehn Minuten gebracht hatte. Eine brünette junge Frau, die zu den vielen hübschen jungen Frauen zählte, die ihm tagtäglich über den Weg liefen und mit denen er so viel zu tun hatte.
Er hatte sich in die hinterste Ecke des Cafés zurückgezogen, während die meisten Gäste die warmen Strahlen des Frühlings auf den vor dem Café aufgestellten Stühlen genossen. Manche lasen Zeitung, manche unterhielten sich, manche hielten einfach nur das Gesicht in die Sonne. Singles, Pärchen, Ehepaare, Geschäftsleute, die für einen Moment hier Rast machten, als wollten sie den Winter abschütteln.
Doch ihm war nicht nach Sonne, in ihm waren keine Frühlingsgefühle, in ihm waren nur Dunkelheit und Hass. Hass auf die Welt, die Menschen, auf sich selbst.
Er nahm einen Schluck von dem Kaffee, biss von dem Kuchen ab und legte den Rest wieder auf den Teller. Seine Gedanken waren weit weg, auch wenn er alles um sich herum wahrnahm, die Geräusche von der Straße, die Unterhaltungen, das Klappern von Geschirr, die Espressomaschine, die ein ums andere Mal angeworfen wurde ...
Er war allein, war immer allein gewesen. Seit seiner frühesten Kindheit abgestellt wie ein altes Möbelstück. Doch er hatte sich schon vor vielen, vielen Jahren damit abgefunden. Er ging seiner Arbeit nach, aber er pflegte kaum Kontakt zu seinen Kollegen, es gab lediglich eine Kollegin, die er gemocht hatte und mit der er einige Male ausgegangen war, ins Kino, ins Theater oder ins Restaurant. Einmal hatte er mit ihr geschlafen. Aber dann hatte er erfahren müssen, dass sie nur Freundschaft für ihn empfand und keine Liebe, dabei liebte er sie, ohne es ihr je gesagt zu haben. Als er sie fragte, ob sie sich vorstellen könne, dass mehr zwischen ihnen sein könnte, lachte sie, streichelte ihm über die Wange und antwortete, dies sei die falsche Frage. »Belassen wir's so, wie es ist. Mehr möchte ich nicht, es würde unsere Freundschaft nur zerstören. Vielleicht wäre es auch ganz gut, wenn wir uns für eine Weile nicht treffen würden.« »Warum?«, hatte er gefragt und gemeint, eine eiserne Faust in seinem Magen zu spüren.
»Warum was?«
»Was hast du gegen mich?«
»Ich habe doch nichts gegen dich, ich mag dich, aber Liebe ... Mein Gott, was für ein großes Wort. Es gibt keine Liebe, das ist alles nur Chemie und Biologie, und das weißt du doch auch. Tut mir leid, aber es würde zwischen uns niemals funktionieren. Ich bin wie ein Schmetterling, der von Blüte zu Blüte fliegt. Akzeptiere das bitte. Du würdest nur unglücklich mit mir werden, oder, anders ausgedrückt, ich würde dich nur unglücklich machen. Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Sei nicht traurig, es war eine schöne Zeit.«
»Heißt das, du willst mich nicht mehr sehen? Nie mehr?« »Ich weiß es nicht. Lassen wir es doch am besten, wie es einmal war - rein beruflich ... Moment, mein Handy klingelt.«
Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie Liane das Telefon aus ihrer Handtasche holte, wie ihre Miene sich aufhellte und ihr Gesicht aufzuleuchten schien. Wie sie sagte, sie werde in zehn Minuten da sein. Wie sie hinzufügte: »Nein, nicht jetzt, das erzähl ich dir später.« Wie sie das Telefon wieder in die Tasche steckte und meinte: »Ich muss leider los, eine Freundin braucht mich. Und denk noch mal über meine Worte nach. Ich will doch nur nicht, dass du verletzt bist. Wie gesagt, es würde nie funktionieren, weil diese ganz bestimmte Chemie bei uns nicht hinhaut. Und jetzt zieh nicht so 'ne Flunsch, es ist besser, wenn ich es dir jetzt sage als in ein paar Wochen oder Monaten. Und es war auch ganz gut so, dass wir nur einmal miteinander geschlafen haben. Im Nachhinein betrachtet war es ein Fehler.«
Sie war aufgestanden, hatte ihre Tasche genommen, ihm ein »Ciao, ciao« zugeworfen und war gegangen. Eine wunderschöne junge Frau, intelligent, aufgeschlossen, extrovertiert - und verlogen. Ein Fehler war es also gewesen, mit ihm geschlafen zu haben. Dabei war es für ihn die Erfüllung gewesen und die Hoffnung auf eine schöne Zukunft. Und nun hatte sie alles zunichte gemacht mit ein paar dahingeworfenen Worten, wie ein paar vergammelte Fleischhappen, die man einem verrotteten Köter zuwirft.
Liane hatte nicht gemerkt, wie er ihr gefolgt war, wie er beobachtete, dass sie zu einem älteren Mann in einen Porsche einstieg und diesen lange und innig küsste, bevor sie losfuhren.
Danach hatten sie sich nur noch bei der Arbeit gesehen, sie hatten sich hin und wieder unterhalten, Kaffee getrunken, und er hatte ihr erklärt, dass sie wohl recht gehabt hatte mit ihrem Vorschlag einer Auszeit.
Aber er hatte sie weiterhin beobachtet, sie wie ein Phantom auf Schritt und Tritt verfolgt, ohne dass sie davon etwas ahnte. Und immer traf sie sich mit diesem Mann, der mindestens fünfzehn, eher zwanzig Jahre älter war und ganz offensichtlich steinreich. Er hatte ihn in einem Porsche, einem Jaguar, einmal sogar in einem Bentley kommen sehen. Ein dekadenter alter Mann, dessen Geld für Liane wie ein Aphrodisiakum gewirkt haben musste.
Er war geduldig und ließ fast vier Monate verstreichen, bevor er sie an einem späten Mittwochabend, nachdem ihr Liebhaber gegangen war, zu Hause aufsuchte. Es war so leicht gewesen, er hatte um kurz nach halb elf geklingelt und gefragt, ob er kurz hochkommen könne, es ginge um etwas Berufliches und sei sehr dringend, er bräuchte unbedingt ihre Meinung. Er würde ihre Zeit auch nicht allzu lange in Anspruch nehmen. Er solle hochkommen, hatte sie gesagt und die Tür geöffnet und ihn angelächelt. Ein Lächeln, das wie ein Zauber auf ihren Lippen lag und doch nicht aufrichtig war. Ein Lächeln, so verlogen wie alles an und in ihr. Das verlogene Lächeln eines Miststücks, einer geldgeilen Hure, die sich mit einem wie ihm nie länger abgeben würde. Zum Zeitvertreib war er gut genug gewesen, aber nur, damit sie keine Langeweile hatte. Wie in seinem ganzen Leben zuvor fühlte er sich auch von ihr benutzt.
Er trat in die Wohnung, in der er schon so oft gewesen war, wo sie sogar einmal miteinander geschlafen hatten, und nun kam es ihm so vor, als hatte sie ihn testen wollen, ob er gut genug für sie war. Oder sie hatten es einfach nur miteinander getrieben, weil sie ein paar Gläser Wein zu viel getrunken hatten. Für ihn war es trotzdem schön gewesen, weil er das erste Mal in seinem Leben richtig mit einer Frau geschlafen hatte.
»Was gibt es so Wichtiges?«, fragte sie und schenkte sich ein Glas Wein ein, ohne ihn zu fragen, ob er auch eines möchte. Ihre Stimme klang kühl, ein wenig abweisend sogar.
»Nur eine Kleinigkeit, bin auch gleich wieder weg.« Er war nur knapp zehn Minuten geblieben.
Ihre Leiche wurde am nächsten Tag entdeckt. Zwei Messerstiche in Bauch und Herz. Vom Täter fehlte jede Spur. Alle, die mit ihr zu tun gehabt hatten, wurden von der Polizei vernommen, auch er. Die Befragung dauerte fünf, vielleicht sechs Minuten, dann wandten die Beamten sich anderen Kollegen zu. Bis heute hatte niemand auch nur die leiseste Ahnung, dass er sie umgebracht hatte.
Dieser Mord, den er in Darmstadt begangen hatte, lag nur knapp fünf Monate zurück, doch in den letzten Wochen, eigentlich schon seit Weihnachten, hatte eine unerklärliche Unruhe von ihm Besitz ergriffen, die er nicht unter Kontrolle bekam.
Die hübsche Bedienung kam an seinen Tisch und fragte ihn lächelnd, ob sie ihm noch einen Kaffee bringen solle. Seine düstere Miene hellte sich schlagartig auf, und er antwortete, dass er gerne noch einen Kaffee hätte. Sie ging an den Tresen, ein junger Mann schlich sich von hinten an sie heran, gab ihr einen Kuss auf den Hals und fasste sie kurz, doch kräftig an den Po. Sie lachte auf und meinte so leise, dass kaum einer es hören konnte, dass er sich das für später aufheben solle.
Sie brachte ihm den Kaffee, er bat um die Rechnung. Als er nach einer weiteren Viertelstunde das Café verließ, war ihm klar, dass er gewisse Gefühle und Triebe nie würde unterdrücken können. Und er wollte es gar nicht mehr, zu lange hatte er es versucht.
Auf dem Weg nach Hause begegnete er drei Menschen, die er kannte. Er unterhielt sich mit ihnen, war freundlich und zuvorkommend wie immer. Eine Maske, die er schnell aufgesetzt hatte und von der keiner wusste, dass es nur eine Maske war. Eine Maske, hinter der sich Abgründe auftaten.
Zu Hause angekommen, legte er eine CD ein, Ravels Bolero. Er dachte an den Film Zehn - die Traumfrau mit Dudley Moore und Bo Derek und schloss die Augen. Er würde es tun, er musste es tun. Und je länger diese Gedanken ihn beherrschten, desto stärker, ja unerträglich wurde dieser Druck. Im Kopf und in den Lenden.
Ihr werdet euch wundern, dachte er und stellte die Musik ein wenig lauter, während er mit geschlossenen Augen masturbierte. Er ejakulierte, doch der Druck blieb, und er wusste, es gab nur ein Mittel, diesen Druck loszuwerden. Er musste töten. Am nächsten Abend wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden, die als Bedienung in einem Café in Frankfurt gearbeitet hatte. Der Druck war für eine Weile gewichen.
MONTAG, 4. JANUAR 2010
Peter Brandt und Elvira Klein hatten neun erholsame Tage an der Algarve verbracht. Es war bereits das vierte Mal, dass Brandt ohne seine Töchter Sarah und Michelle in Urlaub fuhr. Diese hatten es vorgezogen, den größten Teil der Weihnachtsferien bei ihrer Mutter in Spanien zu verbringen. Nur Heiligabend hatten sie noch gemeinsam begangen, Brandt, seine Eltern, Elvira Klein, Sarah, Michelle und Brandts Ex-Frau, die es sich nicht nehmen ließ, die Neue an seiner Seite zu begutachten, mit der er nun schon geraume Zeit zusammen war. Doch Brandt merkte schnell, dass sie lieber in Spanien geblieben wäre, denn so attraktiv und hübsch hatte sie sich die Klein, wie sie sie etwas abfällig nannte, nicht vorgestellt, auch wenn Sarah und Michelle ihr mit Sicherheit schon einiges über sie erzählt hatten. Nun, Erzählungen und das Sehen mit eigenen Augen waren zwei verschiedene Paar Schuhe. Obwohl sie sich bemühte, es gelang ihr nicht, den Neid auf die so deutlich Jüngere zu unterdrücken, und so ließ sie sich ein paarmal zu spöttischen Bemerkungen hinreißen (was Brandt aus früheren Zeiten nur zu gut kannte), die Elvira souverän ignorierte.
Als seine Ex ihn schließlich zur Seite nahm und mit einem maliziösen Unterton flüsterte: »Ist sie nicht um einiges zu jung und vor allem zu groß für dich, ich meine, sie ist doch bestimmt zehn Zentimeter größer?«, hatte er in seiner gewohnt gelassenen Art gekontert: »Acht Zentimeter. Und damit du dir keine Gedanken mehr zu machen brauchst, für mich ist sie die Größte, und damit meine ich: die beste Frau, die mir je begegnet ist.«
Daraufhin hatte seine Ex beleidigt den Mund gehalten. Dennoch war es insgesamt gesehen ein schöner Heiligabend gewesen, sie hatten gut gegessen und waren gegen Mitternacht zu Bett gegangen, da Sarah, Michelle und ihre Mutter bereits am Vormittag des ersten Weihnachtstages nach Spanien und Brandt und Klein nach Portugal fliegen wollten. Brandt und Klein hatten in einem direkt über dem Meer liegenden Luxushotel gewohnt, hatten ausgedehnte Spaziergänge am schier endlosen Strand unternommen, waren an den südwestlichsten Punkt Europas gefahren, um sich den würzigen Duft des Meeres um die Nase wehen zu lassen, und sie hatten an einer großen Silvesterparty teilgenommen, wie Brandt noch keine zuvor erlebt hatte. Das Wetter hatte wunderbar mitgespielt, es gab nicht einen Moment, der ihnen den Urlaub vermiest hätte. Doch als sie am Sonntag, dem 3. Januar, spätabends zurückkehrten, kamen sie in die Kälte, es hatte geschneit, überhaupt war es bereits seit Mitte Dezember für die hiesigen Verhältnisse überaus kalt und schneereich gewesen. Sie fuhren mit dem Taxi vom Flughafen in Elviras Wohnung in der Frankfurter Innenstadt, wo Brandt sich schon seit längerem mindestens genauso oft aufhielt wie in seiner Wohnung in der Elisabethenstraße in Offenbach.
Seit über zwei Jahren waren er und Elvira Klein nun zusammen, und noch immer war da dieses Feuer, dieses Prickeln zwischen ihnen, was in erster Linie daran lag, dass sie auf einer Wellenlänge funkten und sich über fast alles unterhalten konnten. Zudem hatte Elvira Klein in ihm endlich einen Partner gefunden, an den sie sich anlehnen konnte und bei dem sie sich behütet fühlte. Der Bulle und die Staatsanwältin, wie Brandt ihre Beziehung scherzhaft nannte. Der Bulle und die Staatsanwältin, die sich anfangs überhaupt nicht hatten ausstehen können, zumindest gaben sie dies dem jeweils anderen zu verstehen, doch in ihrem tiefsten Innern hatten sie sich vom ersten Moment an gemocht. Brandt hatte gespürt, dass hinter der rauhen Schale, die Elvira Klein umgab, eine liebenswürdige, zuverlässige, aber auch verletzliche Frau steckte, was sie sogar im Beruf inzwischen einige Male gezeigt hatte, auch wenn sie sich gerne hart, unnachgiebig und tough gab. Die rauhe Schale diente einzig dazu, ihre Unsicherheit zu überspielen. Weder er noch sie hatten bei ihrem ersten Aufeinandertreffen geahnt, dass das Schicksal sie eines Tages zusammenführen würde.
Mittlerweile verstanden sie sich nahezu blind, es war, als hätten sie sich seit einer Ewigkeit gesucht, sich aber erst nach mehreren Jahren der Zusammenarbeit, die nicht immer einfach gewesen war, gefunden. Sie, die Anwaltstochter aus reichem Hause, und er, der im Vergleich zu ihrer Herkunft einfache Hauptkommissar, dessen Vater auch »nur« bei der Polizei gewesen war. Sie hatte nie in einer festen Beziehung gelebt, eine Singlefrau, wie man sie heutzutage haufenweise fand. Es hatte vor ihm auch nur einen Mann in ihrem Leben gegeben, doch die Sache, wie sie es nannte, war angeblich zu unbedeutend, als dass es sich gelohnt hätte, darüber zu sprechen. Er wusste nur, dass es eine lose Beziehung gewesen war, die nicht lange hielt.
Er hatte eine gescheiterte Ehe hinter sich, war alleinerziehender Vater von zwei mittlerweile fast erwachsenen und - wie er fand - bildhübschen Töchtern, das einzig Positive, was sie seiner Ansicht nach von ihrer Mutter hatten, einer rast- und ruhelosen Person, die nicht einmal jetzt zufrieden war, obwohl sie endlich mit dem Mann ihrer Träume, einem steinreichen Immobilienmakler, liiert war. Er bot ihr vor allem eines - Geld. Geld, das Brandt nie hatte, das sie aber trotzdem mit vollen Händen ausgegeben hatte. Zudem hatte sie sich ständig beschwert, dass er zu wenig tue, um auf der Karriereleiter nach oben zu klettern. Die Ehe war durch die ständige Nörgelei und Unzufriedenheit von Brandts Gattin schon früh zum Scheitern verurteilt gewesen, hatte aber immerhin fast zehn Jahre Bestand gehabt. Dann war sie eines Tages mir nichts, dir nichts verschwunden, nur einen Zettel hatte sie auf dem Tisch hinterlassen, auf dem sie ihm mitteilte, dass sie es mit ihm nicht mehr aushalte. Am Ende waren viele Gehässigkeiten im Spiel gewesen, vor allem, als Brandt mit Zähnen und Klauen um das alleinige Sorgerecht für seine Töchter kämpfte und es schließlich auch bekam. Da er sie nicht gänzlich ihrer Mutter entziehen wollte, überließ er ihnen die Entscheidung, ob und wann sie ihre Mutter sehen wollten. Anfangs sahen sie ihre Mutter nur in unregelmäßigen Abständen, doch mittlerweile besuchten sie sie regelmäßig in ihrem Domizil in Spanien, wo sie, sofern sie nicht gerade auf Reisen war und in einem der fünf anderen über den Globus verteilten Häuser residierte, mit ihrem Mann eine mondäne Villa mit phantastischem Mittelmeerblick bewohnte.
Sie verwöhnte Sarah und Michelle nach allen Regeln der Kunst, und die Mädchen genossen es, vergaßen jedoch nie, wo ihre eigentliche Heimat war - in Offenbach, wo sie geboren und aufgewachsen waren. Sie waren nicht käuflich, aber warum sollten sie nicht annehmen, was ihre Mutter ihnen nicht auf einem silbernen, sondern einem goldenen Tablett servierte?
Seit Brandt mit Elvira zusammen war, verlief sein Leben in ruhigen und doch alles andere als langweiligen Bahnen. Zum ersten Mal meinte er, auf seinem Weg zu gehen und seinen Platz im Leben gefunden zu haben und dieses Leben auch endlich genießen zu dürfen. Er musste nicht mehr nur funktionieren und tun, was andere von ihm erwarteten und verlangten, sondern durfte sich auch einmal fallen lassen und die wenige freie Zeit genießen.
Brandt und Klein trennten Berufliches und Privates strikt, was anfangs nicht ganz einfach war, schließlich aber doch weitestgehend klappte. Sie war die Staatsanwältin, er der Ermittler. Sie stand über ihm, und er akzeptierte es, denn so hatten sie sich kennengelernt. Sie war Akademikerin, er ein »normaler« Kriminalkommissar. Aber nicht selten kam es vor - wie schon in der Zeit, bevor sie zusammenkamen -, dass sie unterschiedlicher Meinung waren, sie ihn anfauchte, was er gewöhnlich mit einem Schmunzeln oder einer lässigen Bemerkung abtat. Und nur wenige Stunden später war alles, was während des Tages gewesen war, so gut wie vergessen, und eigentlich, so hatten sie es sich vorgenommen, sprachen sie außerhalb der Dienstzeiten kaum über den Beruf und die Fälle, an denen sie gerade arbeiteten.
Seit einiger Zeit jedoch kamen sie nicht zur Ruhe, wes - halb das Berufliche immer häufiger auch in ihr Privatleben eindrang. Sie hatten es mit einer ständigen Zunahme von Gewalttaten zu tun, die meisten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen begangen, selbst Kinder, die noch nicht strafmündig waren, befanden sich darunter. Kinder - acht, neun, zehn Jahre alt -, die zum Teil eine für Beamte, Pädagogen und Psychologen erschreckende Grausamkeit an den Tag legten. Dabei handelte es sich nicht um kleinere Keilereien oder Ladendiebstähle, sondern um Kapitalverbrechen, für die die Kinder noch nicht belangt werden konnten.
Ein besonders erschreckender Fall betraf einen Elfjährigen, der Tränengas, einen Schlagring, ein Butterfly-Messer sowie einen Taser und einen Elektroschocker in seinem Schulranzen bei sich führte, als die Polizei den Schulranzen durchsuchte. Er behauptete, die Waffen von einem Mann gekauft zu haben, den er nicht näher kenne. Ins Visier der Fahnder war er geraten, nachdem eine Vierzehnjährige auf dem Nachhauseweg mit vorgehaltenem Messer gezwungen worden war, sich auszuziehen. Um sie mundtot zu machen, hatte der Täter mehrfach auf sie eingestochen und ihr Gesicht zerschnitten und sie anschließend neben dem Fußweg liegen gelassen. Das Mädchen überlebte, auch wenn sie fast drei Wochen im künstlichen Koma lag und ihr Gesicht erst in einigen Jahren nach zahlreichen Operationen einigermaßen wiederhergestellt sein würde. Doch ihre Seele würde diesen Nachmittag im April 2009 nie vergessen. Nachdem sie aufgewacht war, konnte sie sich an ihren Angreifer erinnern und aussagen, dass er auf dieselbe Schule ging wie sie. Warum der Junge diese brutale Tat begangen hatte, war bis heute im Dunkeln geblieben, da er schwieg, doch die Psychologen fanden nur eine Erklärung: Sie war hübsch und bei allen beliebt, während der Täter schon kurz nach seiner Einschulung von den Lehrern als schwer erziehbar eingestuft worden war. Obwohl sein IQ überdurchschnittlich hoch war, erhielt er keine entsprechende Förderung. Präpubertäre Frustration aufgrund Nichtbeachtetwerdens lautete die gutachterliche Diagnose, die so gut wie nichts über die Person aussagte. Unter präpubertärer Frustration und einer damit verbundenen Anstauung von Wut, Zorn und Hass litten mittlerweile viele Kinder. Doch bekämpft wurden meist nur die Symptome und nicht die Ursachen, und letztlich glaubte Brandt nicht an das Geschwafel einer präpubertären Frustration, sondern vermutete die Ursachen im sozialen Umfeld, doch die Mühe, das zu durchleuchten, machte sich keiner, da die chronische Unterbesetzung dies nicht zuließ.
Der Elfjährige lebte allein mit seiner Mutter und den sechs Geschwistern in einem heruntergekommenen Sozialbau in Lauterborn - wie so viele durch Straftaten auffällig gewordene Kinder stammte er aus miserablen sozialen Verhältnissen und hatte sich einem brutalen Leben auf der Straße schon früh angepasst, weil es für ihn keinen anderen, vernünftigen Lebensraum gab und die Zukunftschancen schon früh verbaut worden waren. Ein Leben auf der Straße, das seinen Anfang meist im Elternhaus nahm. Und nicht selten wurde das Klischee des saufenden Vaters, der schlampigen Mutter und der vermüllten Wohnung erfüllt.
In den vergangenen zwei Jahren hatten die Gewalttaten unter und von Jugendlichen überproportional zugenommen, ohne dass die Polizei oder das Jugendamt große Spielräume hatte, da in der Regel nur die Symptome, nicht aber die Ursachen bekämpft wurden. Viele Streifenpolizisten schoben Überstunden, auch Brandt und seine Kollegen hatten zahlreiche Zwölf- oder gar Vierzehnstundentage zu bewältigen. Dabei waren er und seine Kollegen vom K 11 für Kinder- und Jugendkriminalität in der Regel gar nicht zuständig, es sei denn, es handelte sich um ein Tötungsdelikt wie Mord, Totschlag oder fahrlässige Körperverletzung mit Todesfolge. Aber schon bald würde eine neue Abteilung geschaffen werden, mit einem Jugendkoordinator an der Spitze, verantwortlich für die Zusammenarbeit zwischen Schulen, Jugendeinrichtungen, Sozialämtern und Jugendämtern. Vielleicht würde es helfen, die zunehmende Gewaltbereitschaft und Kriminalität langfristig im Keim zu ersticken, sollten alle Behörden und Institutionen an einem Strang ziehen und Präventionsmaßnahmen ergreifen.
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Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Seine Miene war düster. Seine Gedanken waren düster. Alles um ihn herum war düster, obgleich die Sonne schien und viele fröhliche Menschen in seiner Nähe waren. Düster starrte er in die noch halbvolle Tasse Kaffee, düster auf das Stück Kuchen, das er bestellt hatte und das noch so auf dem Teller lag, wie die junge, hübsche Bedienung es ihm vor zehn Minuten gebracht hatte. Eine brünette junge Frau, die zu den vielen hübschen jungen Frauen zählte, die ihm tagtäglich über den Weg liefen und mit denen er so viel zu tun hatte.
Er hatte sich in die hinterste Ecke des Cafés zurückgezogen, während die meisten Gäste die warmen Strahlen des Frühlings auf den vor dem Café aufgestellten Stühlen genossen. Manche lasen Zeitung, manche unterhielten sich, manche hielten einfach nur das Gesicht in die Sonne. Singles, Pärchen, Ehepaare, Geschäftsleute, die für einen Moment hier Rast machten, als wollten sie den Winter abschütteln.
Doch ihm war nicht nach Sonne, in ihm waren keine Frühlingsgefühle, in ihm waren nur Dunkelheit und Hass. Hass auf die Welt, die Menschen, auf sich selbst.
Er nahm einen Schluck von dem Kaffee, biss von dem Kuchen ab und legte den Rest wieder auf den Teller. Seine Gedanken waren weit weg, auch wenn er alles um sich herum wahrnahm, die Geräusche von der Straße, die Unterhaltungen, das Klappern von Geschirr, die Espressomaschine, die ein ums andere Mal angeworfen wurde ...
Er war allein, war immer allein gewesen. Seit seiner frühesten Kindheit abgestellt wie ein altes Möbelstück. Doch er hatte sich schon vor vielen, vielen Jahren damit abgefunden. Er ging seiner Arbeit nach, aber er pflegte kaum Kontakt zu seinen Kollegen, es gab lediglich eine Kollegin, die er gemocht hatte und mit der er einige Male ausgegangen war, ins Kino, ins Theater oder ins Restaurant. Einmal hatte er mit ihr geschlafen. Aber dann hatte er erfahren müssen, dass sie nur Freundschaft für ihn empfand und keine Liebe, dabei liebte er sie, ohne es ihr je gesagt zu haben. Als er sie fragte, ob sie sich vorstellen könne, dass mehr zwischen ihnen sein könnte, lachte sie, streichelte ihm über die Wange und antwortete, dies sei die falsche Frage. »Belassen wir's so, wie es ist. Mehr möchte ich nicht, es würde unsere Freundschaft nur zerstören. Vielleicht wäre es auch ganz gut, wenn wir uns für eine Weile nicht treffen würden.« »Warum?«, hatte er gefragt und gemeint, eine eiserne Faust in seinem Magen zu spüren.
»Warum was?«
»Was hast du gegen mich?«
»Ich habe doch nichts gegen dich, ich mag dich, aber Liebe ... Mein Gott, was für ein großes Wort. Es gibt keine Liebe, das ist alles nur Chemie und Biologie, und das weißt du doch auch. Tut mir leid, aber es würde zwischen uns niemals funktionieren. Ich bin wie ein Schmetterling, der von Blüte zu Blüte fliegt. Akzeptiere das bitte. Du würdest nur unglücklich mit mir werden, oder, anders ausgedrückt, ich würde dich nur unglücklich machen. Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Sei nicht traurig, es war eine schöne Zeit.«
»Heißt das, du willst mich nicht mehr sehen? Nie mehr?« »Ich weiß es nicht. Lassen wir es doch am besten, wie es einmal war - rein beruflich ... Moment, mein Handy klingelt.«
Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie Liane das Telefon aus ihrer Handtasche holte, wie ihre Miene sich aufhellte und ihr Gesicht aufzuleuchten schien. Wie sie sagte, sie werde in zehn Minuten da sein. Wie sie hinzufügte: »Nein, nicht jetzt, das erzähl ich dir später.« Wie sie das Telefon wieder in die Tasche steckte und meinte: »Ich muss leider los, eine Freundin braucht mich. Und denk noch mal über meine Worte nach. Ich will doch nur nicht, dass du verletzt bist. Wie gesagt, es würde nie funktionieren, weil diese ganz bestimmte Chemie bei uns nicht hinhaut. Und jetzt zieh nicht so 'ne Flunsch, es ist besser, wenn ich es dir jetzt sage als in ein paar Wochen oder Monaten. Und es war auch ganz gut so, dass wir nur einmal miteinander geschlafen haben. Im Nachhinein betrachtet war es ein Fehler.«
Sie war aufgestanden, hatte ihre Tasche genommen, ihm ein »Ciao, ciao« zugeworfen und war gegangen. Eine wunderschöne junge Frau, intelligent, aufgeschlossen, extrovertiert - und verlogen. Ein Fehler war es also gewesen, mit ihm geschlafen zu haben. Dabei war es für ihn die Erfüllung gewesen und die Hoffnung auf eine schöne Zukunft. Und nun hatte sie alles zunichte gemacht mit ein paar dahingeworfenen Worten, wie ein paar vergammelte Fleischhappen, die man einem verrotteten Köter zuwirft.
Liane hatte nicht gemerkt, wie er ihr gefolgt war, wie er beobachtete, dass sie zu einem älteren Mann in einen Porsche einstieg und diesen lange und innig küsste, bevor sie losfuhren.
Danach hatten sie sich nur noch bei der Arbeit gesehen, sie hatten sich hin und wieder unterhalten, Kaffee getrunken, und er hatte ihr erklärt, dass sie wohl recht gehabt hatte mit ihrem Vorschlag einer Auszeit.
Aber er hatte sie weiterhin beobachtet, sie wie ein Phantom auf Schritt und Tritt verfolgt, ohne dass sie davon etwas ahnte. Und immer traf sie sich mit diesem Mann, der mindestens fünfzehn, eher zwanzig Jahre älter war und ganz offensichtlich steinreich. Er hatte ihn in einem Porsche, einem Jaguar, einmal sogar in einem Bentley kommen sehen. Ein dekadenter alter Mann, dessen Geld für Liane wie ein Aphrodisiakum gewirkt haben musste.
Er war geduldig und ließ fast vier Monate verstreichen, bevor er sie an einem späten Mittwochabend, nachdem ihr Liebhaber gegangen war, zu Hause aufsuchte. Es war so leicht gewesen, er hatte um kurz nach halb elf geklingelt und gefragt, ob er kurz hochkommen könne, es ginge um etwas Berufliches und sei sehr dringend, er bräuchte unbedingt ihre Meinung. Er würde ihre Zeit auch nicht allzu lange in Anspruch nehmen. Er solle hochkommen, hatte sie gesagt und die Tür geöffnet und ihn angelächelt. Ein Lächeln, das wie ein Zauber auf ihren Lippen lag und doch nicht aufrichtig war. Ein Lächeln, so verlogen wie alles an und in ihr. Das verlogene Lächeln eines Miststücks, einer geldgeilen Hure, die sich mit einem wie ihm nie länger abgeben würde. Zum Zeitvertreib war er gut genug gewesen, aber nur, damit sie keine Langeweile hatte. Wie in seinem ganzen Leben zuvor fühlte er sich auch von ihr benutzt.
Er trat in die Wohnung, in der er schon so oft gewesen war, wo sie sogar einmal miteinander geschlafen hatten, und nun kam es ihm so vor, als hatte sie ihn testen wollen, ob er gut genug für sie war. Oder sie hatten es einfach nur miteinander getrieben, weil sie ein paar Gläser Wein zu viel getrunken hatten. Für ihn war es trotzdem schön gewesen, weil er das erste Mal in seinem Leben richtig mit einer Frau geschlafen hatte.
»Was gibt es so Wichtiges?«, fragte sie und schenkte sich ein Glas Wein ein, ohne ihn zu fragen, ob er auch eines möchte. Ihre Stimme klang kühl, ein wenig abweisend sogar.
»Nur eine Kleinigkeit, bin auch gleich wieder weg.« Er war nur knapp zehn Minuten geblieben.
Ihre Leiche wurde am nächsten Tag entdeckt. Zwei Messerstiche in Bauch und Herz. Vom Täter fehlte jede Spur. Alle, die mit ihr zu tun gehabt hatten, wurden von der Polizei vernommen, auch er. Die Befragung dauerte fünf, vielleicht sechs Minuten, dann wandten die Beamten sich anderen Kollegen zu. Bis heute hatte niemand auch nur die leiseste Ahnung, dass er sie umgebracht hatte.
Dieser Mord, den er in Darmstadt begangen hatte, lag nur knapp fünf Monate zurück, doch in den letzten Wochen, eigentlich schon seit Weihnachten, hatte eine unerklärliche Unruhe von ihm Besitz ergriffen, die er nicht unter Kontrolle bekam.
Die hübsche Bedienung kam an seinen Tisch und fragte ihn lächelnd, ob sie ihm noch einen Kaffee bringen solle. Seine düstere Miene hellte sich schlagartig auf, und er antwortete, dass er gerne noch einen Kaffee hätte. Sie ging an den Tresen, ein junger Mann schlich sich von hinten an sie heran, gab ihr einen Kuss auf den Hals und fasste sie kurz, doch kräftig an den Po. Sie lachte auf und meinte so leise, dass kaum einer es hören konnte, dass er sich das für später aufheben solle.
Sie brachte ihm den Kaffee, er bat um die Rechnung. Als er nach einer weiteren Viertelstunde das Café verließ, war ihm klar, dass er gewisse Gefühle und Triebe nie würde unterdrücken können. Und er wollte es gar nicht mehr, zu lange hatte er es versucht.
Auf dem Weg nach Hause begegnete er drei Menschen, die er kannte. Er unterhielt sich mit ihnen, war freundlich und zuvorkommend wie immer. Eine Maske, die er schnell aufgesetzt hatte und von der keiner wusste, dass es nur eine Maske war. Eine Maske, hinter der sich Abgründe auftaten.
Zu Hause angekommen, legte er eine CD ein, Ravels Bolero. Er dachte an den Film Zehn - die Traumfrau mit Dudley Moore und Bo Derek und schloss die Augen. Er würde es tun, er musste es tun. Und je länger diese Gedanken ihn beherrschten, desto stärker, ja unerträglich wurde dieser Druck. Im Kopf und in den Lenden.
Ihr werdet euch wundern, dachte er und stellte die Musik ein wenig lauter, während er mit geschlossenen Augen masturbierte. Er ejakulierte, doch der Druck blieb, und er wusste, es gab nur ein Mittel, diesen Druck loszuwerden. Er musste töten. Am nächsten Abend wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden, die als Bedienung in einem Café in Frankfurt gearbeitet hatte. Der Druck war für eine Weile gewichen.
MONTAG, 4. JANUAR 2010
Peter Brandt und Elvira Klein hatten neun erholsame Tage an der Algarve verbracht. Es war bereits das vierte Mal, dass Brandt ohne seine Töchter Sarah und Michelle in Urlaub fuhr. Diese hatten es vorgezogen, den größten Teil der Weihnachtsferien bei ihrer Mutter in Spanien zu verbringen. Nur Heiligabend hatten sie noch gemeinsam begangen, Brandt, seine Eltern, Elvira Klein, Sarah, Michelle und Brandts Ex-Frau, die es sich nicht nehmen ließ, die Neue an seiner Seite zu begutachten, mit der er nun schon geraume Zeit zusammen war. Doch Brandt merkte schnell, dass sie lieber in Spanien geblieben wäre, denn so attraktiv und hübsch hatte sie sich die Klein, wie sie sie etwas abfällig nannte, nicht vorgestellt, auch wenn Sarah und Michelle ihr mit Sicherheit schon einiges über sie erzählt hatten. Nun, Erzählungen und das Sehen mit eigenen Augen waren zwei verschiedene Paar Schuhe. Obwohl sie sich bemühte, es gelang ihr nicht, den Neid auf die so deutlich Jüngere zu unterdrücken, und so ließ sie sich ein paarmal zu spöttischen Bemerkungen hinreißen (was Brandt aus früheren Zeiten nur zu gut kannte), die Elvira souverän ignorierte.
Als seine Ex ihn schließlich zur Seite nahm und mit einem maliziösen Unterton flüsterte: »Ist sie nicht um einiges zu jung und vor allem zu groß für dich, ich meine, sie ist doch bestimmt zehn Zentimeter größer?«, hatte er in seiner gewohnt gelassenen Art gekontert: »Acht Zentimeter. Und damit du dir keine Gedanken mehr zu machen brauchst, für mich ist sie die Größte, und damit meine ich: die beste Frau, die mir je begegnet ist.«
Daraufhin hatte seine Ex beleidigt den Mund gehalten. Dennoch war es insgesamt gesehen ein schöner Heiligabend gewesen, sie hatten gut gegessen und waren gegen Mitternacht zu Bett gegangen, da Sarah, Michelle und ihre Mutter bereits am Vormittag des ersten Weihnachtstages nach Spanien und Brandt und Klein nach Portugal fliegen wollten. Brandt und Klein hatten in einem direkt über dem Meer liegenden Luxushotel gewohnt, hatten ausgedehnte Spaziergänge am schier endlosen Strand unternommen, waren an den südwestlichsten Punkt Europas gefahren, um sich den würzigen Duft des Meeres um die Nase wehen zu lassen, und sie hatten an einer großen Silvesterparty teilgenommen, wie Brandt noch keine zuvor erlebt hatte. Das Wetter hatte wunderbar mitgespielt, es gab nicht einen Moment, der ihnen den Urlaub vermiest hätte. Doch als sie am Sonntag, dem 3. Januar, spätabends zurückkehrten, kamen sie in die Kälte, es hatte geschneit, überhaupt war es bereits seit Mitte Dezember für die hiesigen Verhältnisse überaus kalt und schneereich gewesen. Sie fuhren mit dem Taxi vom Flughafen in Elviras Wohnung in der Frankfurter Innenstadt, wo Brandt sich schon seit längerem mindestens genauso oft aufhielt wie in seiner Wohnung in der Elisabethenstraße in Offenbach.
Seit über zwei Jahren waren er und Elvira Klein nun zusammen, und noch immer war da dieses Feuer, dieses Prickeln zwischen ihnen, was in erster Linie daran lag, dass sie auf einer Wellenlänge funkten und sich über fast alles unterhalten konnten. Zudem hatte Elvira Klein in ihm endlich einen Partner gefunden, an den sie sich anlehnen konnte und bei dem sie sich behütet fühlte. Der Bulle und die Staatsanwältin, wie Brandt ihre Beziehung scherzhaft nannte. Der Bulle und die Staatsanwältin, die sich anfangs überhaupt nicht hatten ausstehen können, zumindest gaben sie dies dem jeweils anderen zu verstehen, doch in ihrem tiefsten Innern hatten sie sich vom ersten Moment an gemocht. Brandt hatte gespürt, dass hinter der rauhen Schale, die Elvira Klein umgab, eine liebenswürdige, zuverlässige, aber auch verletzliche Frau steckte, was sie sogar im Beruf inzwischen einige Male gezeigt hatte, auch wenn sie sich gerne hart, unnachgiebig und tough gab. Die rauhe Schale diente einzig dazu, ihre Unsicherheit zu überspielen. Weder er noch sie hatten bei ihrem ersten Aufeinandertreffen geahnt, dass das Schicksal sie eines Tages zusammenführen würde.
Mittlerweile verstanden sie sich nahezu blind, es war, als hätten sie sich seit einer Ewigkeit gesucht, sich aber erst nach mehreren Jahren der Zusammenarbeit, die nicht immer einfach gewesen war, gefunden. Sie, die Anwaltstochter aus reichem Hause, und er, der im Vergleich zu ihrer Herkunft einfache Hauptkommissar, dessen Vater auch »nur« bei der Polizei gewesen war. Sie hatte nie in einer festen Beziehung gelebt, eine Singlefrau, wie man sie heutzutage haufenweise fand. Es hatte vor ihm auch nur einen Mann in ihrem Leben gegeben, doch die Sache, wie sie es nannte, war angeblich zu unbedeutend, als dass es sich gelohnt hätte, darüber zu sprechen. Er wusste nur, dass es eine lose Beziehung gewesen war, die nicht lange hielt.
Er hatte eine gescheiterte Ehe hinter sich, war alleinerziehender Vater von zwei mittlerweile fast erwachsenen und - wie er fand - bildhübschen Töchtern, das einzig Positive, was sie seiner Ansicht nach von ihrer Mutter hatten, einer rast- und ruhelosen Person, die nicht einmal jetzt zufrieden war, obwohl sie endlich mit dem Mann ihrer Träume, einem steinreichen Immobilienmakler, liiert war. Er bot ihr vor allem eines - Geld. Geld, das Brandt nie hatte, das sie aber trotzdem mit vollen Händen ausgegeben hatte. Zudem hatte sie sich ständig beschwert, dass er zu wenig tue, um auf der Karriereleiter nach oben zu klettern. Die Ehe war durch die ständige Nörgelei und Unzufriedenheit von Brandts Gattin schon früh zum Scheitern verurteilt gewesen, hatte aber immerhin fast zehn Jahre Bestand gehabt. Dann war sie eines Tages mir nichts, dir nichts verschwunden, nur einen Zettel hatte sie auf dem Tisch hinterlassen, auf dem sie ihm mitteilte, dass sie es mit ihm nicht mehr aushalte. Am Ende waren viele Gehässigkeiten im Spiel gewesen, vor allem, als Brandt mit Zähnen und Klauen um das alleinige Sorgerecht für seine Töchter kämpfte und es schließlich auch bekam. Da er sie nicht gänzlich ihrer Mutter entziehen wollte, überließ er ihnen die Entscheidung, ob und wann sie ihre Mutter sehen wollten. Anfangs sahen sie ihre Mutter nur in unregelmäßigen Abständen, doch mittlerweile besuchten sie sie regelmäßig in ihrem Domizil in Spanien, wo sie, sofern sie nicht gerade auf Reisen war und in einem der fünf anderen über den Globus verteilten Häuser residierte, mit ihrem Mann eine mondäne Villa mit phantastischem Mittelmeerblick bewohnte.
Sie verwöhnte Sarah und Michelle nach allen Regeln der Kunst, und die Mädchen genossen es, vergaßen jedoch nie, wo ihre eigentliche Heimat war - in Offenbach, wo sie geboren und aufgewachsen waren. Sie waren nicht käuflich, aber warum sollten sie nicht annehmen, was ihre Mutter ihnen nicht auf einem silbernen, sondern einem goldenen Tablett servierte?
Seit Brandt mit Elvira zusammen war, verlief sein Leben in ruhigen und doch alles andere als langweiligen Bahnen. Zum ersten Mal meinte er, auf seinem Weg zu gehen und seinen Platz im Leben gefunden zu haben und dieses Leben auch endlich genießen zu dürfen. Er musste nicht mehr nur funktionieren und tun, was andere von ihm erwarteten und verlangten, sondern durfte sich auch einmal fallen lassen und die wenige freie Zeit genießen.
Brandt und Klein trennten Berufliches und Privates strikt, was anfangs nicht ganz einfach war, schließlich aber doch weitestgehend klappte. Sie war die Staatsanwältin, er der Ermittler. Sie stand über ihm, und er akzeptierte es, denn so hatten sie sich kennengelernt. Sie war Akademikerin, er ein »normaler« Kriminalkommissar. Aber nicht selten kam es vor - wie schon in der Zeit, bevor sie zusammenkamen -, dass sie unterschiedlicher Meinung waren, sie ihn anfauchte, was er gewöhnlich mit einem Schmunzeln oder einer lässigen Bemerkung abtat. Und nur wenige Stunden später war alles, was während des Tages gewesen war, so gut wie vergessen, und eigentlich, so hatten sie es sich vorgenommen, sprachen sie außerhalb der Dienstzeiten kaum über den Beruf und die Fälle, an denen sie gerade arbeiteten.
Seit einiger Zeit jedoch kamen sie nicht zur Ruhe, wes - halb das Berufliche immer häufiger auch in ihr Privatleben eindrang. Sie hatten es mit einer ständigen Zunahme von Gewalttaten zu tun, die meisten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen begangen, selbst Kinder, die noch nicht strafmündig waren, befanden sich darunter. Kinder - acht, neun, zehn Jahre alt -, die zum Teil eine für Beamte, Pädagogen und Psychologen erschreckende Grausamkeit an den Tag legten. Dabei handelte es sich nicht um kleinere Keilereien oder Ladendiebstähle, sondern um Kapitalverbrechen, für die die Kinder noch nicht belangt werden konnten.
Ein besonders erschreckender Fall betraf einen Elfjährigen, der Tränengas, einen Schlagring, ein Butterfly-Messer sowie einen Taser und einen Elektroschocker in seinem Schulranzen bei sich führte, als die Polizei den Schulranzen durchsuchte. Er behauptete, die Waffen von einem Mann gekauft zu haben, den er nicht näher kenne. Ins Visier der Fahnder war er geraten, nachdem eine Vierzehnjährige auf dem Nachhauseweg mit vorgehaltenem Messer gezwungen worden war, sich auszuziehen. Um sie mundtot zu machen, hatte der Täter mehrfach auf sie eingestochen und ihr Gesicht zerschnitten und sie anschließend neben dem Fußweg liegen gelassen. Das Mädchen überlebte, auch wenn sie fast drei Wochen im künstlichen Koma lag und ihr Gesicht erst in einigen Jahren nach zahlreichen Operationen einigermaßen wiederhergestellt sein würde. Doch ihre Seele würde diesen Nachmittag im April 2009 nie vergessen. Nachdem sie aufgewacht war, konnte sie sich an ihren Angreifer erinnern und aussagen, dass er auf dieselbe Schule ging wie sie. Warum der Junge diese brutale Tat begangen hatte, war bis heute im Dunkeln geblieben, da er schwieg, doch die Psychologen fanden nur eine Erklärung: Sie war hübsch und bei allen beliebt, während der Täter schon kurz nach seiner Einschulung von den Lehrern als schwer erziehbar eingestuft worden war. Obwohl sein IQ überdurchschnittlich hoch war, erhielt er keine entsprechende Förderung. Präpubertäre Frustration aufgrund Nichtbeachtetwerdens lautete die gutachterliche Diagnose, die so gut wie nichts über die Person aussagte. Unter präpubertärer Frustration und einer damit verbundenen Anstauung von Wut, Zorn und Hass litten mittlerweile viele Kinder. Doch bekämpft wurden meist nur die Symptome und nicht die Ursachen, und letztlich glaubte Brandt nicht an das Geschwafel einer präpubertären Frustration, sondern vermutete die Ursachen im sozialen Umfeld, doch die Mühe, das zu durchleuchten, machte sich keiner, da die chronische Unterbesetzung dies nicht zuließ.
Der Elfjährige lebte allein mit seiner Mutter und den sechs Geschwistern in einem heruntergekommenen Sozialbau in Lauterborn - wie so viele durch Straftaten auffällig gewordene Kinder stammte er aus miserablen sozialen Verhältnissen und hatte sich einem brutalen Leben auf der Straße schon früh angepasst, weil es für ihn keinen anderen, vernünftigen Lebensraum gab und die Zukunftschancen schon früh verbaut worden waren. Ein Leben auf der Straße, das seinen Anfang meist im Elternhaus nahm. Und nicht selten wurde das Klischee des saufenden Vaters, der schlampigen Mutter und der vermüllten Wohnung erfüllt.
In den vergangenen zwei Jahren hatten die Gewalttaten unter und von Jugendlichen überproportional zugenommen, ohne dass die Polizei oder das Jugendamt große Spielräume hatte, da in der Regel nur die Symptome, nicht aber die Ursachen bekämpft wurden. Viele Streifenpolizisten schoben Überstunden, auch Brandt und seine Kollegen hatten zahlreiche Zwölf- oder gar Vierzehnstundentage zu bewältigen. Dabei waren er und seine Kollegen vom K 11 für Kinder- und Jugendkriminalität in der Regel gar nicht zuständig, es sei denn, es handelte sich um ein Tötungsdelikt wie Mord, Totschlag oder fahrlässige Körperverletzung mit Todesfolge. Aber schon bald würde eine neue Abteilung geschaffen werden, mit einem Jugendkoordinator an der Spitze, verantwortlich für die Zusammenarbeit zwischen Schulen, Jugendeinrichtungen, Sozialämtern und Jugendämtern. Vielleicht würde es helfen, die zunehmende Gewaltbereitschaft und Kriminalität langfristig im Keim zu ersticken, sollten alle Behörden und Institutionen an einem Strang ziehen und Präventionsmaßnahmen ergreifen.
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Autoren-Porträt von Andreas Franz
Andreas Franz' große Leidenschaft war von jeher das Schreiben. Bereits mit seinem ersten Erfolgsroman "Jung, blond, tot" gelang es ihm, unzählige Krimileser in seinen Bann zu ziehen. Seitdem folgte Bestseller auf Bestseller, die ihn zu Deutschlands erfolgreichstem Krimiautor machten. Seinen ausgezeichneten Kontakten zu Polizei und anderen Dienststellen ist die große Authentizität seiner Kriminalromane zu verdanken. Andreas Franz starb im März 2011. Er war verheiratet und hatte fünf Kinder.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andreas Franz
- 2010, 7. Aufl., 560 Seiten, Maße: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426639432
- ISBN-13: 9783426639436
- Erscheinungsdatum: 10.11.2010
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