Der Ruf der Göttin
Ende des 19. Jahrhundert: Abigail arbeitet als Bibliothekarin im Britischen Museum. Im Archiv stößt sie auf eine Sensation: Versteckt in der Sahara sollen sich uralte Handschriften aus der Bibliothek von Alexandria befinden. Abigail bricht...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Weltbild Ausgabe
5.95 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Ruf der Göttin “
Ende des 19. Jahrhundert: Abigail arbeitet als Bibliothekarin im Britischen Museum. Im Archiv stößt sie auf eine Sensation: Versteckt in der Sahara sollen sich uralte Handschriften aus der Bibliothek von Alexandria befinden. Abigail bricht zu einer Expedition auf. Dabei nimmt sie die Hilfe des zwielichtigen Abenteurers Apollo Smith an - zunächst nur widerstrebend.
Lese-Probe zu „Der Ruf der Göttin “
Der Ruf der Göttin von Betina Krahn 1
Rechts die Grenville Library und die Manuskriptabteilung«,
erklärte Jonas Pratt, Stellvertretender Leiter und Erster Bibliothekar
des Britischen Museums in London mit einer
Handbewegung, um sich dann nach links zu wenden.
Abigail Merchant blieb einen Augenblick lang an der Verbindungsstelle
zwischen den mit Marmor ausgekleideten Ausstellungshallen
stehen und blickte finster auf den Torbogen,
den sie nicht durchschritten. Dann umfasste sie ihre Referenzschreiben
fester und folgte ihrem Führer.
»Dies sind natürlich unsere berühmten Galerien«, fuhr dieser
energisch fort. »Die römische ... und hinter diesem Durchgang
die griechisch-römische ... mit den Marmorbüsten aus
Priene, unter anderem der Venus von Ostia, dem Diskuswerfer,
dem Giustiniani-Apollo, Clytia und so weiter. Und hier durch
geht es zu den assyrischen Galerien.« Er führte sie rasch in eine
weitere lange, hohe Halle. »Stelen aus Ninive ... der große geflügelte
Stier aus dem Palast Sargons II. und der große geflügelte
Löwe aus dem Palast von Aschurnasirpal II. in Nimrud.
Und natürlich die assyrischen Keilschrifttafeln, die ...«
»... absolut einzigartig sind. Eine ganze Bibliothek für
sich«, murmelte Abigail ehrfürchtig. Der Blick auf die gläserne
Vitrine ließ ihr Herz schneller schlagen. Sie war hier von herausragenden
Artefakten der Menschheitsgeschichte umgeben,
vor Jahrtausenden geschaffen aus Stein, Bronze und Ton. Kein
Wunder, dass in all diesen Räumen eine ehrerbietige Stille herrschte;
sie zu betreten war, als würde man Zugang zum Gedächtnis
Gottes erhalten.
... mehr
Kopfschüttelnd versuchte sie dann, Pratt wieder auf das
Thema ihrer Anstellung zurückzubringen: »Meine Empfehlungsschreiben
zeigen Ihnen, dass ich meiner Ausbildung und
Erfahrung nach als Bibliothekarin bestens qualifiziert bin. Ich
habe zwei Jahre lang an der Konservierung und Katalogisierung
der Archive des Staates New York gearbeitet. Wenn Sie
nur einen Blick auf meine Zeugnisse werfen ...«
Pratt musterte sie streng über den Rand seiner Nickelbrille
hinweg. »Das wird nicht nötig sein. Wir kennen Ihre Qualifikation.
Hier entlang, bitte schön.«
Ihre Qualifikation! Er konnte mit dieser eigenartigen Bemerkung
nur eines meinen: Sie war die Tochter des bekannten
klassischen Gelehrten Sir Henry Merchant. Vor ihrer Abreise
aus Boston hatte sie dem seit langem von ihrer Mutter getrennt
lebenden Vater geschrieben und ihn um ein Empfehlungsschreiben
an den Ersten Bibliothekar des Britischen Museums
gebeten. Dieser Bitte war er ganz offenbar nachgekommen.
Der förmliche kleine Assistent geleitete sie durch die restlichen
Ausstellungsräume, geradewegs vorbei an dem unschätzbar
kostbaren Stein von Rosetta ... in den rückwärtigen Teil
des Museums und eine schmale Metallstiege hinab, die in undurchdringlichem
Dunkel endete.
»Verzeihen Sie, Mr. Pratt, aber« - auf der zweiten Stufe hielt
Abigail inne - »mir erscheint das etwas sonderbar für ein Einstellungsgespräch.
«
»Wir führen kein Einstellungsgespräch, Miss Merchant«,
erklärte er vom Fuß der Treppe aus. »Es ist meine Aufgabe, Sie
davon in Kenntnis zu setzen, dass Sie angestellt sind ... mit
einem Gehalt von hundertzwanzig Pfund pro Jahr.«
Noch ehe sie richtig begriff, dass er diesen lange ersehnten
Satz nun endlich hier, in einem offenbar abgedunkelten Keller,
ausgesprochen hatte, betätigte er den Schalter eines elektrischen
Lichts, und eine Art Gewölbe wurde sichtbar, das vom
Boden bis zur Decke mit Kisten, Fässern und Kartons vollgestellt
war.
»Dies wird Ihr Arbeitsplatz sein«, erklärte er und deutete
dabei auf die Stapel. »Jeder Verlag des Königreichs ist verpflichtet,
ein Exemplar eines jeden neu erschienenen Buchs, jeder
Zeitschrift, jedes Pamphlets und Papiers dem Museum zur Verfügung
zu stellen. Ihre Aufgabe ist es, diese so genannten ›Urheberrechtsakquisitionen‹
zu öffnen, zu bearbeiten und zu
katalogisieren.«
Abigail fiel beinahe von der Treppe. »Hier muss ein Irrtum
vorliegen. Ich bin dafür ausgebildet, Manuskripte zu prüfen
und zu konservieren, nicht zu akquirieren und zu katalogisieren.
« Sie eilte die Stufen hinab. »Wenn Sie sich nur einen Augenblick
Zeit nehmen, meine Referenzen anzusehen ...«
Wieder tat er die Dokumente mit einer Handbewegung ab.
»Alle Assistenten des Museums beginnen mit Akquisition,
Miss Merchant«, erklärte er mit einem ziemlich herablassenden
Blick. »Allerdings finden manche die Arbeit hier zu schwer
und suchen sich lieber eine andere Anstellung.« Seine dunklen
Augen wanderten über ihre praktische Kleidung und dann
wieder nach oben zu ihrem Gesicht. »Schwere Kisten und Kartons
zu heben und mit Bücherstapeln zu hantieren, das ist
sogar für einen robust gebauten Mann nicht ganz einfach.«
Dieser Blick. Dieser unverhohlene Hochmut. Was war der
Grund dafür, dass er so sehr gegen sie eingestellt war? Diese
Abneigung hatte kaum etwas mit dem Einfluss zu tun, der zu
ihren Gunsten geltend gemacht worden war, und vermutlich
nicht einmal mit der Tatsache, dass sie den größten Teil ihres
Lebens in Boston verbracht hatte ... wenngleich die Art und
Weise, in der er zusammenzuckte, wenn sie sprach, keinen
Zweifel daran ließ, dass er ihren amerikanischen Akzent
schrecklich fand. Was ihn wirklich ärgerte, war der Umstand,
dass eine Frau so viel Protektion genoss.
Sie hätte mit einer solchen Haltung rechnen sollen, dachte
Abigail gereizt. Ihre geliebte Mutter hatte oft genug davon gesprochen.
In Amerika mochten Frauen die Entwicklung des
Bibliothekswesens an maßgeblichen Stellen vorantreiben, doch
in Großbritannien wurden sie nach wie vor als zweitklassige
Gelehrte betrachtet, die in Bibliotheken nichts zu suchen hatten
... und viel weniger noch im Kronjuwel der Sammlungen
des Britischen Weltreichs, dem Britischen Museum.
Sozialgeschichte der Schwachsinnigen ... die 300er ... Sozialwissenschaften.
Abigail riss entschlossen am Schößchen ihrer taillierten
Wolljacke.
»Ich bin gesund und kräftig, Mr. Pratt. Ich fürchte mich
nicht vor ehrlicher Arbeit.«
»Wie erfreulich«, presste er zwischen zusammengebissenen
Zähnen hervor. »Dann würde ich vorschlagen, Sie fangen
möglichst gleich an.« Er deutete auf die endlosen Stapel und
wandte sich zum Gehen.
»Mr. Pratt.« Sie konnte ihren Ärger kaum mehr verbergen.
»Ich werde Zugang zum Katalog des Museums brauchen, außerdem
Arbeitsmaterial.«
»Der Katalog befindet sich, wie jedermann weiß, im Lesesaal.
« Er blieb, ohne zurückzublicken, auf der untersten Stufe
stehen. »Um Zugang zu bekommen, müssen Sie sich beim Direktor
anmelden.«
»Anmelden? Ich muss mich anmelden, um den Lesesaal
und den Katalog benützen zu können?«
Er drehte sich gerade so weit um, dass er ihr einen herablassenden
Blick zuwerfen konnte.
»Dem Direktor obliegt es, für die Einhaltung der Richtlinien
im Lesesaal Sorge zu tragen. Es fällt immer unter seine
Entscheidungsgewalt, den Zugang zu gewähren oder nicht.«
»Na schön.« Abigail reckte das Kinn nach oben. »Wenn Sie
mir dann bitte zeigen, wo es zur Toilette für die weiblichen
Angestellten geht ...«
»Für weibliche Beschäftigte haben wir keine derartigen Einrichtungen.
« Er versteifte sich, als sei schon die bloße Erwähnung
von »Frauen« und »Beschäftigten« in einem Atemzug ein
Affront gegen die britische Männlichkeit. »Sie werden die Einrichtungen
für die weiblichen Gäste des Museums in Anspruch
nehmen müssen.« Damit stieg er die Treppe wieder hinauf.
Abigail hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloss.
Einen Moment lang stand sie da und starrte dorthin, wo
er eben noch gestanden hatte.
Was soll's! Was machte es schon, wenn der Erste Bibliothekar
ein arroganter, engstirniger Schnösel war. Was machte es
schon, wenn sie sich anmelden musste, um den geheiligten Lesesaal
betreten zu dürfen. Was machte es schon, dass es nichts
für die weiblichen Arbeitskräfte gab ... und wahrscheinlich
auch keine anderen weiblichen Angestellten, mit denen man
über einen solchen Missstand reden konnte. Sie war nun Angestellte
des Britischen Museums mit einem Jahresgehalt von
hundertzwanzig Pfund. Sie hatte erreicht, worauf sie jahrelang
hingeplant und hingearbeitet hatte. Sie war hier, und sie würde
ihnen schon zeigen, was eine Absolventin der Bibliothekars-
schule des Staates New York alles gelernt hatte.
Einen Monat später saß sie im trüben Licht einer elektrischen
Lampe in einem Kellergewölbe, starrte auf ein Exemplar des
Buches Wanderungen eines philosophischen Schmetterlingskundlers
in Sussex und überlegte, ob es in die Abteilung Philosophie,
Naturwissenschaft oder Geographie und Geschichte gehörte.
Tagaus, tagein saß sie in diesem düsteren Loch fest, ohne einen
Zugang zum kostbaren Katalog des Museums, und musste in
mehr als einer Hinsicht im Dunkeln arbeiten.
Zeigen, was sie konnte? Eine Lanze für die Frauen brechen?
Im Augenblick genügte es ihr, ihre Existenz unter Beweis zu
stellen. Denn alle paar Tage hörte sie, wie sich die Tür am oberen
Ende der Treppe öffnete, und wenn sie nachsehen ging,
wer gekommen war, fand sie jedes Mal einige backenbärtige
Gesichter vor, die konsterniert zu ihr hinabblickten.
»Sehen Sie?«, sagte dann einer zu den sichtlich verdutzten
Kollegen. »Wie ich Ihnen gesagt habe ... dort unten arbeitet
wirklich eine Frau.«
Sie war also über dreitausend Meilen weit gereist, um hier
als ein gottverdammter Kellergeist zu enden. Das war wohl
kaum das kühne, ruhmreiche Abenteuer, das sie erwartet hatte,
als sie sich aus Boston aufmachte, um sich in der britischen
Gelehrtenwelt einen Namen zu machen. Sie hatte geglaubt,
sich eine Position mit Verantwortung und Respekt verdienen
zu müssen und nicht, dass sie zerfallende Bücher mit Titeln
wie Ein ästhetischer Führer durch die Moose des westlichen Cornwall,
Prinzipien altrömischer Sanitärtechnik oder Frankreichreise
einer Unverheirateten durchsah. Abigail blickte angewidert auf
den Stapel Bücher vor sich. Wer in aller Welt wollte denn solches
Zeug lesen?
Irgendjemand liest es immer, hörte sie die Stimme ihres
alten Lehrers reden. Es gehörte nun einmal zum Beruf des Bibliothekars,
sämtliche Produkte des menschlichen Wissensdrangs
zu ordnen, zu bewahren und ohne jegliches Urteil dem
Leser zugänglich zu machen.
Es war schließlich eine traurige Wahrheit, dass das Unwissen
eines Zeitalters häufig im darauffolgenden mit der Hilfe
von Entdeckungen überwunden wurde, die in den Annalen
des vorigen unbeachtet geblieben waren. Ein kategorisches Urteil
am falschen Ort konnte bedeuten, dass der Fluss des Wissens
und Entdeckens abriss. Dafür bot die Geschichte traurige
Beispiele, etwa das Versinken in die Unwissenheit des so genannten
finsteren Mittelalters nach der Zerstörung der klassischen
Kulturen. Allein durch den Untergang der Großen
Bibliothek von Alexandria war so viel Wissen verloren gegangen,
dass die Menschheit ein ganzes Jahrtausend brauchte, um
diesen Verlust zu überwinden.
Abigail gelang es schließlich, ihre Enttäuschung zu überwinden,
und sie zwang sich, ihren schlecht beleuchteten Arbeitsplatz
mit hoffnungsvolleren Zukunftserwartungen zu
betrachten. Irgendwo in diesen Kisten fand sich vielleicht ein
Werk, das so manches Leben oder gar die ganze Gesellschaft
zum Besseren verändern würde. Sie sollte sich als eine Forscherin
sehen, die sich dem Unbekannten stellte ... eine Archäologin
des gedruckten Wortes.
Einige Tage später, sie war eben damit beschäftigt, mit
ihrem von zu Hause mitgebrachten Teppichklopfer auf eine
noch nicht gesichtete Reihe von Kisten einzudreschen, um jeglichem
darin verborgenen Ungeziefer Zeit zur Flucht zu geben,
als ein kratzendes Geräusch sie so plötzlich zurückschrecken
ließ, dass sie einen Stapel Kisten und Kartons umstieß.
Als sie sich von dem Schreck erholt hatte, bemerkte sie,
dass das Behältnis, das ihr beinahe auf den Kopf gefallen wäre,
keine der üblichen Kisten oder Schachteln war, sondern eine
verschlossene Reisetruhe: lang und breit, mit einem Ledergriff
oben und einem daran befestigten Schlüssel.
An einer Seite des etwas mitgenommenen Gepäckstücks
klebte ein Zettel mit der Aufschrift: »Nachlass Professor Dr. T.
Thaddeus Chilton, an: Bibliothek des Britischen Museums,
Great Russell Street, London«.
Professor T. Thaddeus Chilton? Er konnte kein führender
Geist seines Fachgebiets gewesen sein, sonst hätte das Museum
seine Hinterlassenschaft wohl nicht den Ratten im Keller ausgeliefert.
Andererseits erweckte die schäbige Behandlung, die
das Museum seiner Schenkung angedeihen ließ, in ihr eine Art
zorniger Zuneigung zu diesem Mann. Sie band den Schlüssel
los und öffnete die Truhe. Eine Flut von Büchern und Dokumenten
drohte herauszufallen. So schloss sie die Kiste rasch
wieder und wuchtete sie auf einen Wagen, um sie zu ihrem Arbeitstisch
zu bringen.
Wie sich herausstellte, bestand der Nachlass von T. Thaddeus
Chilton aus insgesamt drei Teilen: einer Truhe mit
Vorlesungsmanuskripten, Landkarten, Korrespondenz und
Tagebüchern, einem Haufen von Nachschlagewerken zum
klassischen Altertum und einem Pappkarton voller Souvenirs:
verblichenen Quasten, Seidenschnüren, einem uralten Weinschlauch,
einem Paar persischen Brokatsandalen und vergilbten
Fotografien von Zelten, Kamelen und Sanddünen.
»Was hast du wohl studiert, Professor?«, murmelte Abigail
vor sich hin, während sie die in Leder gebundenen Journale
aus der Truhe nahm und das erste durchblätterte. Dann erstarrte
sie. Das Heft war offenbar auf Griechisch geschrieben -
klassischem Griechisch. Auf der Innenseite des Deckels stand
in verblichener Tinte: »Die Tagebücher von Dr. T. Thaddeus
Chilton, Assistenzprofessor der Altphilologie, Universität Oxford
... Untersuchung begonnen A.D. 1849.«
Eine Untersuchung? Seit dem Beginn dieser Tagebücher
waren fast fünfzig Jahre vergangen. Hatte der alte Knabe seine
ganze Karriere einer einzigen Forschungsaufgabe gewidmet?
Auf den Eingangsseiten des ersten Journals fand sie die Antwort,
und gleichzeitig verliebte sie sich ein wenig in den guten
alten T. Thaddeus. Er war wohl ein Mann ganz nach ihrer Gesinnung
gewesen. Wie es schien, hatte er sein gesamtes Forscherleben
damit verbracht, nach einer einzigen Bibliothek zu
suchen.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2005
unter dem Titel THE BOOK OF THE SEVEN DELIGHTS
bei Jove Book, New York.
Copyright der Originalausgabe © 2005 by Betina Krahn
Published by Arrangement with Betina Krahn
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Übersetzung: Heinz Tophinke
Koordination und Bearbeitung:
VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH,
Kirchheim-Heimstetten
Umschlaggestaltung: zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Shutterstock (© Valua Vitaly; © Yuriy Kulyk;
© Galyna Andrushko; © Vladimir Wrangel; © alehnia; © Fedor Selivanov)
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-313-0
Kopfschüttelnd versuchte sie dann, Pratt wieder auf das
Thema ihrer Anstellung zurückzubringen: »Meine Empfehlungsschreiben
zeigen Ihnen, dass ich meiner Ausbildung und
Erfahrung nach als Bibliothekarin bestens qualifiziert bin. Ich
habe zwei Jahre lang an der Konservierung und Katalogisierung
der Archive des Staates New York gearbeitet. Wenn Sie
nur einen Blick auf meine Zeugnisse werfen ...«
Pratt musterte sie streng über den Rand seiner Nickelbrille
hinweg. »Das wird nicht nötig sein. Wir kennen Ihre Qualifikation.
Hier entlang, bitte schön.«
Ihre Qualifikation! Er konnte mit dieser eigenartigen Bemerkung
nur eines meinen: Sie war die Tochter des bekannten
klassischen Gelehrten Sir Henry Merchant. Vor ihrer Abreise
aus Boston hatte sie dem seit langem von ihrer Mutter getrennt
lebenden Vater geschrieben und ihn um ein Empfehlungsschreiben
an den Ersten Bibliothekar des Britischen Museums
gebeten. Dieser Bitte war er ganz offenbar nachgekommen.
Der förmliche kleine Assistent geleitete sie durch die restlichen
Ausstellungsräume, geradewegs vorbei an dem unschätzbar
kostbaren Stein von Rosetta ... in den rückwärtigen Teil
des Museums und eine schmale Metallstiege hinab, die in undurchdringlichem
Dunkel endete.
»Verzeihen Sie, Mr. Pratt, aber« - auf der zweiten Stufe hielt
Abigail inne - »mir erscheint das etwas sonderbar für ein Einstellungsgespräch.
«
»Wir führen kein Einstellungsgespräch, Miss Merchant«,
erklärte er vom Fuß der Treppe aus. »Es ist meine Aufgabe, Sie
davon in Kenntnis zu setzen, dass Sie angestellt sind ... mit
einem Gehalt von hundertzwanzig Pfund pro Jahr.«
Noch ehe sie richtig begriff, dass er diesen lange ersehnten
Satz nun endlich hier, in einem offenbar abgedunkelten Keller,
ausgesprochen hatte, betätigte er den Schalter eines elektrischen
Lichts, und eine Art Gewölbe wurde sichtbar, das vom
Boden bis zur Decke mit Kisten, Fässern und Kartons vollgestellt
war.
»Dies wird Ihr Arbeitsplatz sein«, erklärte er und deutete
dabei auf die Stapel. »Jeder Verlag des Königreichs ist verpflichtet,
ein Exemplar eines jeden neu erschienenen Buchs, jeder
Zeitschrift, jedes Pamphlets und Papiers dem Museum zur Verfügung
zu stellen. Ihre Aufgabe ist es, diese so genannten ›Urheberrechtsakquisitionen‹
zu öffnen, zu bearbeiten und zu
katalogisieren.«
Abigail fiel beinahe von der Treppe. »Hier muss ein Irrtum
vorliegen. Ich bin dafür ausgebildet, Manuskripte zu prüfen
und zu konservieren, nicht zu akquirieren und zu katalogisieren.
« Sie eilte die Stufen hinab. »Wenn Sie sich nur einen Augenblick
Zeit nehmen, meine Referenzen anzusehen ...«
Wieder tat er die Dokumente mit einer Handbewegung ab.
»Alle Assistenten des Museums beginnen mit Akquisition,
Miss Merchant«, erklärte er mit einem ziemlich herablassenden
Blick. »Allerdings finden manche die Arbeit hier zu schwer
und suchen sich lieber eine andere Anstellung.« Seine dunklen
Augen wanderten über ihre praktische Kleidung und dann
wieder nach oben zu ihrem Gesicht. »Schwere Kisten und Kartons
zu heben und mit Bücherstapeln zu hantieren, das ist
sogar für einen robust gebauten Mann nicht ganz einfach.«
Dieser Blick. Dieser unverhohlene Hochmut. Was war der
Grund dafür, dass er so sehr gegen sie eingestellt war? Diese
Abneigung hatte kaum etwas mit dem Einfluss zu tun, der zu
ihren Gunsten geltend gemacht worden war, und vermutlich
nicht einmal mit der Tatsache, dass sie den größten Teil ihres
Lebens in Boston verbracht hatte ... wenngleich die Art und
Weise, in der er zusammenzuckte, wenn sie sprach, keinen
Zweifel daran ließ, dass er ihren amerikanischen Akzent
schrecklich fand. Was ihn wirklich ärgerte, war der Umstand,
dass eine Frau so viel Protektion genoss.
Sie hätte mit einer solchen Haltung rechnen sollen, dachte
Abigail gereizt. Ihre geliebte Mutter hatte oft genug davon gesprochen.
In Amerika mochten Frauen die Entwicklung des
Bibliothekswesens an maßgeblichen Stellen vorantreiben, doch
in Großbritannien wurden sie nach wie vor als zweitklassige
Gelehrte betrachtet, die in Bibliotheken nichts zu suchen hatten
... und viel weniger noch im Kronjuwel der Sammlungen
des Britischen Weltreichs, dem Britischen Museum.
Sozialgeschichte der Schwachsinnigen ... die 300er ... Sozialwissenschaften.
Abigail riss entschlossen am Schößchen ihrer taillierten
Wolljacke.
»Ich bin gesund und kräftig, Mr. Pratt. Ich fürchte mich
nicht vor ehrlicher Arbeit.«
»Wie erfreulich«, presste er zwischen zusammengebissenen
Zähnen hervor. »Dann würde ich vorschlagen, Sie fangen
möglichst gleich an.« Er deutete auf die endlosen Stapel und
wandte sich zum Gehen.
»Mr. Pratt.« Sie konnte ihren Ärger kaum mehr verbergen.
»Ich werde Zugang zum Katalog des Museums brauchen, außerdem
Arbeitsmaterial.«
»Der Katalog befindet sich, wie jedermann weiß, im Lesesaal.
« Er blieb, ohne zurückzublicken, auf der untersten Stufe
stehen. »Um Zugang zu bekommen, müssen Sie sich beim Direktor
anmelden.«
»Anmelden? Ich muss mich anmelden, um den Lesesaal
und den Katalog benützen zu können?«
Er drehte sich gerade so weit um, dass er ihr einen herablassenden
Blick zuwerfen konnte.
»Dem Direktor obliegt es, für die Einhaltung der Richtlinien
im Lesesaal Sorge zu tragen. Es fällt immer unter seine
Entscheidungsgewalt, den Zugang zu gewähren oder nicht.«
»Na schön.« Abigail reckte das Kinn nach oben. »Wenn Sie
mir dann bitte zeigen, wo es zur Toilette für die weiblichen
Angestellten geht ...«
»Für weibliche Beschäftigte haben wir keine derartigen Einrichtungen.
« Er versteifte sich, als sei schon die bloße Erwähnung
von »Frauen« und »Beschäftigten« in einem Atemzug ein
Affront gegen die britische Männlichkeit. »Sie werden die Einrichtungen
für die weiblichen Gäste des Museums in Anspruch
nehmen müssen.« Damit stieg er die Treppe wieder hinauf.
Abigail hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloss.
Einen Moment lang stand sie da und starrte dorthin, wo
er eben noch gestanden hatte.
Was soll's! Was machte es schon, wenn der Erste Bibliothekar
ein arroganter, engstirniger Schnösel war. Was machte es
schon, wenn sie sich anmelden musste, um den geheiligten Lesesaal
betreten zu dürfen. Was machte es schon, dass es nichts
für die weiblichen Arbeitskräfte gab ... und wahrscheinlich
auch keine anderen weiblichen Angestellten, mit denen man
über einen solchen Missstand reden konnte. Sie war nun Angestellte
des Britischen Museums mit einem Jahresgehalt von
hundertzwanzig Pfund. Sie hatte erreicht, worauf sie jahrelang
hingeplant und hingearbeitet hatte. Sie war hier, und sie würde
ihnen schon zeigen, was eine Absolventin der Bibliothekars-
schule des Staates New York alles gelernt hatte.
Einen Monat später saß sie im trüben Licht einer elektrischen
Lampe in einem Kellergewölbe, starrte auf ein Exemplar des
Buches Wanderungen eines philosophischen Schmetterlingskundlers
in Sussex und überlegte, ob es in die Abteilung Philosophie,
Naturwissenschaft oder Geographie und Geschichte gehörte.
Tagaus, tagein saß sie in diesem düsteren Loch fest, ohne einen
Zugang zum kostbaren Katalog des Museums, und musste in
mehr als einer Hinsicht im Dunkeln arbeiten.
Zeigen, was sie konnte? Eine Lanze für die Frauen brechen?
Im Augenblick genügte es ihr, ihre Existenz unter Beweis zu
stellen. Denn alle paar Tage hörte sie, wie sich die Tür am oberen
Ende der Treppe öffnete, und wenn sie nachsehen ging,
wer gekommen war, fand sie jedes Mal einige backenbärtige
Gesichter vor, die konsterniert zu ihr hinabblickten.
»Sehen Sie?«, sagte dann einer zu den sichtlich verdutzten
Kollegen. »Wie ich Ihnen gesagt habe ... dort unten arbeitet
wirklich eine Frau.«
Sie war also über dreitausend Meilen weit gereist, um hier
als ein gottverdammter Kellergeist zu enden. Das war wohl
kaum das kühne, ruhmreiche Abenteuer, das sie erwartet hatte,
als sie sich aus Boston aufmachte, um sich in der britischen
Gelehrtenwelt einen Namen zu machen. Sie hatte geglaubt,
sich eine Position mit Verantwortung und Respekt verdienen
zu müssen und nicht, dass sie zerfallende Bücher mit Titeln
wie Ein ästhetischer Führer durch die Moose des westlichen Cornwall,
Prinzipien altrömischer Sanitärtechnik oder Frankreichreise
einer Unverheirateten durchsah. Abigail blickte angewidert auf
den Stapel Bücher vor sich. Wer in aller Welt wollte denn solches
Zeug lesen?
Irgendjemand liest es immer, hörte sie die Stimme ihres
alten Lehrers reden. Es gehörte nun einmal zum Beruf des Bibliothekars,
sämtliche Produkte des menschlichen Wissensdrangs
zu ordnen, zu bewahren und ohne jegliches Urteil dem
Leser zugänglich zu machen.
Es war schließlich eine traurige Wahrheit, dass das Unwissen
eines Zeitalters häufig im darauffolgenden mit der Hilfe
von Entdeckungen überwunden wurde, die in den Annalen
des vorigen unbeachtet geblieben waren. Ein kategorisches Urteil
am falschen Ort konnte bedeuten, dass der Fluss des Wissens
und Entdeckens abriss. Dafür bot die Geschichte traurige
Beispiele, etwa das Versinken in die Unwissenheit des so genannten
finsteren Mittelalters nach der Zerstörung der klassischen
Kulturen. Allein durch den Untergang der Großen
Bibliothek von Alexandria war so viel Wissen verloren gegangen,
dass die Menschheit ein ganzes Jahrtausend brauchte, um
diesen Verlust zu überwinden.
Abigail gelang es schließlich, ihre Enttäuschung zu überwinden,
und sie zwang sich, ihren schlecht beleuchteten Arbeitsplatz
mit hoffnungsvolleren Zukunftserwartungen zu
betrachten. Irgendwo in diesen Kisten fand sich vielleicht ein
Werk, das so manches Leben oder gar die ganze Gesellschaft
zum Besseren verändern würde. Sie sollte sich als eine Forscherin
sehen, die sich dem Unbekannten stellte ... eine Archäologin
des gedruckten Wortes.
Einige Tage später, sie war eben damit beschäftigt, mit
ihrem von zu Hause mitgebrachten Teppichklopfer auf eine
noch nicht gesichtete Reihe von Kisten einzudreschen, um jeglichem
darin verborgenen Ungeziefer Zeit zur Flucht zu geben,
als ein kratzendes Geräusch sie so plötzlich zurückschrecken
ließ, dass sie einen Stapel Kisten und Kartons umstieß.
Als sie sich von dem Schreck erholt hatte, bemerkte sie,
dass das Behältnis, das ihr beinahe auf den Kopf gefallen wäre,
keine der üblichen Kisten oder Schachteln war, sondern eine
verschlossene Reisetruhe: lang und breit, mit einem Ledergriff
oben und einem daran befestigten Schlüssel.
An einer Seite des etwas mitgenommenen Gepäckstücks
klebte ein Zettel mit der Aufschrift: »Nachlass Professor Dr. T.
Thaddeus Chilton, an: Bibliothek des Britischen Museums,
Great Russell Street, London«.
Professor T. Thaddeus Chilton? Er konnte kein führender
Geist seines Fachgebiets gewesen sein, sonst hätte das Museum
seine Hinterlassenschaft wohl nicht den Ratten im Keller ausgeliefert.
Andererseits erweckte die schäbige Behandlung, die
das Museum seiner Schenkung angedeihen ließ, in ihr eine Art
zorniger Zuneigung zu diesem Mann. Sie band den Schlüssel
los und öffnete die Truhe. Eine Flut von Büchern und Dokumenten
drohte herauszufallen. So schloss sie die Kiste rasch
wieder und wuchtete sie auf einen Wagen, um sie zu ihrem Arbeitstisch
zu bringen.
Wie sich herausstellte, bestand der Nachlass von T. Thaddeus
Chilton aus insgesamt drei Teilen: einer Truhe mit
Vorlesungsmanuskripten, Landkarten, Korrespondenz und
Tagebüchern, einem Haufen von Nachschlagewerken zum
klassischen Altertum und einem Pappkarton voller Souvenirs:
verblichenen Quasten, Seidenschnüren, einem uralten Weinschlauch,
einem Paar persischen Brokatsandalen und vergilbten
Fotografien von Zelten, Kamelen und Sanddünen.
»Was hast du wohl studiert, Professor?«, murmelte Abigail
vor sich hin, während sie die in Leder gebundenen Journale
aus der Truhe nahm und das erste durchblätterte. Dann erstarrte
sie. Das Heft war offenbar auf Griechisch geschrieben -
klassischem Griechisch. Auf der Innenseite des Deckels stand
in verblichener Tinte: »Die Tagebücher von Dr. T. Thaddeus
Chilton, Assistenzprofessor der Altphilologie, Universität Oxford
... Untersuchung begonnen A.D. 1849.«
Eine Untersuchung? Seit dem Beginn dieser Tagebücher
waren fast fünfzig Jahre vergangen. Hatte der alte Knabe seine
ganze Karriere einer einzigen Forschungsaufgabe gewidmet?
Auf den Eingangsseiten des ersten Journals fand sie die Antwort,
und gleichzeitig verliebte sie sich ein wenig in den guten
alten T. Thaddeus. Er war wohl ein Mann ganz nach ihrer Gesinnung
gewesen. Wie es schien, hatte er sein gesamtes Forscherleben
damit verbracht, nach einer einzigen Bibliothek zu
suchen.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2005
unter dem Titel THE BOOK OF THE SEVEN DELIGHTS
bei Jove Book, New York.
Copyright der Originalausgabe © 2005 by Betina Krahn
Published by Arrangement with Betina Krahn
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Übersetzung: Heinz Tophinke
Koordination und Bearbeitung:
VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH,
Kirchheim-Heimstetten
Umschlaggestaltung: zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Shutterstock (© Valua Vitaly; © Yuriy Kulyk;
© Galyna Andrushko; © Vladimir Wrangel; © alehnia; © Fedor Selivanov)
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-313-0
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Betina Krahn
- 2010, 1, 416 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868003134
- ISBN-13: 9783868003130
Kommentar zu "Der Ruf der Göttin"
0 Gebrauchte Artikel zu „Der Ruf der Göttin“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
5 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Der Ruf der Göttin".
Kommentar verfassen