Die Verborgenen / Schattenblüte Bd.1
Eine Liebe stärker als der Tod.
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Produktinformationen zu „Die Verborgenen / Schattenblüte Bd.1 “
Eine Liebe stärker als der Tod.
Klappentext zu „Die Verborgenen / Schattenblüte Bd.1 “
Eine Liebe' stärker als der TodSeit dem Tod ihres Bruders ist für Luisa nichts mehr, wie es war. Sie beschließt zu sterben. Aber kurz vor dem letzten Schritt hält jemand sie auf: Thursen nennt sich der Junge mit den geheimnisvollen Schattenaugen. Mit einer Gruppe Jugendlicher lebt er im Wald, und er spürt Luisas Schmerz. Die «Verborgenen» können ihre Gestalt ändern: Sie sind Werwölfe. Mit jeder Verwandlung wird Thursen mehr zum Tier - und die Erinnerungen an sein vorheriges Leben verblassen. Bald wird er ganz Wolf sein. Dann hat Luisa auch ihn verloren. Für ihre große Liebe würde sie alles tun. Doch reicht das, um Thursen zu retten?
Eine Liebe' stärker als der Tod Seit dem Tod ihres Bruders ist für Luisa nichts mehr, wie es war. Sie beschließt zu sterben. Aber kurz vor dem letzten Schritt hält jemand sie auf: Thursen nennt sich der Junge mit den geheimnisvollen Schattenaugen. Mit einer Gruppe Jugendlicher lebt er im Wald, und er spürt Luisas Schmerz. Die "Verborgenen" können ihre Gestalt ändern: Sie sind Werwölfe. Mit jeder Verwandlung wird Thursen mehr zum Tier - und die Erinnerungen an sein vorheriges Leben verblassen. Bald wird er ganz Wolf sein. Dann hat Luisa auch ihn verloren. Für ihre große Liebe würde sie alles tun. Doch reicht das, um Thursen zu retten?
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Schattenblüte - die Verborgenen von Nora MellingEINS
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Das einzig Gute an Berlin ist, dass man untertauchen kann. Zuerst habe ich es im Tiergarten versucht: ein riesiger Park, aber trotzdem noch zu eng. im Tegeler Forst gibt es zu viele Wanderwege. Auch da trifft man immerzu Menschen. Wenn man für sich sein muss, ist der Grunewald am besten.
ich nehme die S-Bahn. Am Bahnhof winde ich mich zwischen den Leuten hindurch zum Hinterausgang, gehe unter ersten Bäumen die schmale Straße entlang. Nach der Ampel habe ich endlich Tannennadeln unter den Füßen. Die Autos können mir auf dem Wanderweg nicht folgen.
Regnerisches Wetter heute, das die Spaziergänger fernhält. Meine Turnschuhe traben wie Tierpfoten über die feuchte Walderde. Es tropft von den Zweigen in meinen Nacken, ich ziehe den Kopf ein. Vielleicht gehe ich nie mehr zurück in die Stadt. Nie mehr nach Hause. Nie mehr in die Schule. Vielleicht bleibe ich hier, im Wald, verschmelze mit den Bäumen. Dann gäbe es keine Fragen mehr. Keine gelogenen Antworten. Kein geheucheltes «oh, es gefällt mir hier». Die Wahrheit ist: Berlin ist zum Kotzen. Zu laut, zu grell.
Nur im Wald ist es still. Darum komme ich her. ich will allein sein.
ich will allein sein und bin es nicht. Da ist wieder dieser schwarze Köter, der mir folgt. Groß und spitzohrig läuft er parallel zu mir durchs Unterholz, nur der Hund, kein Mensch. Verdammter Streuner! Ich werfe ein Stück Holz nach ihm. Das Holzstück streift zischend die nassen Blätter, der Hund knurrt, springt geduckt zur Seite und lässt das Geschoss ins Leere gehen. Dumpf kommt es auf dem Waldboden auf. Der Hund ist schon wieder da, läuft weiter und lässt mich nicht aus den Augen. Ob er zu niemandem gehört? Ich weiß nicht, ob ich ihn mag. es ist kein niedlicher Hund, kein harmloser goldener Kinderbeschützer. Er ist schwarz, struppig und hat kleine schräge Augen, deren Farbe ich nicht erkenne.
Wenn ich näher komme, flüchtet er geduckt in die Büsche. ob ich ihn mit Fressen zu mir locken könnte? Nein, ich will ihn nicht so nah bei mir haben. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber ich finde, er hat etwas Dunkles, Bedrohliches an sich, das mir Angst macht.
ich folge ein Stück weit der Asphaltstraße, die sie dem Wald mitten ins Gesicht geklebt haben. Fast von allein tragen mich meine Füße zum Grunewaldturm. Dort hinauf kann der Hund mir nicht folgen. Dann bin ich ihn los. mein Magen knurrt. Ich hätte vorhin etwas essen sollen. Aber wer denkt in solchen Zeiten an essen? Ich denke gar nicht mehr. Schon seit Wochen nicht.
Der Grunewaldturm steht auf einem kleinen Berg, und man kann von dort oben bis über die Havel gucken. Die Aussicht ist toll. ich will die Bäume von oben sehen, Abstand gewinnen, lüge ich mir vor. Dabei ist mir die Aussicht völlig egal. Der Hund ist immer noch da. Ich kann ihn im Gebüsch hören. ein Auto kommt, Regenfontänen spritzend, angefahren, eins von diesen Familienautos, in denen in der Werbung hinter Mami und Papi glückliche Kinder sitzen. Immer sind es zwei. Verdammte heile Welt.
Mit schnellen Sprüngen die Stufen hinauf bin ich auf dem Steinsockel. Sie haben den oberen Teil, den roten Backsteinturm mit der Statue von Kaiser Wilhelm, gesperrt. Ein Schild hängt vor der breiten Holztür: Einsturzgefahr. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Ist nicht die ganze Welt einsturzgefährdet? Alles, von dem du heute noch denkst, es würde für immer dauern, kann morgen zusammenkrachen. Der Aufgang ist gesperrt, aber ich weiß, wie man trotzdem reinkommt. ein paar Stufen höher quetsche ich mich durch eine halboffene Seitentür. Dunkel und staubig ist es drinnen, wie ein heimlicher Weg zum Dachboden der Gespenster. Eine Stufe und dann noch eine, und noch eine. Soll ich die Stufen zählen? Heute nicht, ich kenne das Ergebnis sowieso. Zweihundertsieben brüchige Betonstufen sind es.
Die Tür am Treppenende ist nicht abgeschlossen, aber sie klemmt etwas. Ich stemme sie mit der Schulter auf. Hier auf der Plattform ist die Luft genau wie im Wald, tannenbitter und feucht. Von oben, heißt es, sieht die Welt anders, besser aus. Doch die Welt, auf die ich schaue, ist auch von oben einfach nur grün. Nassgrün.
Meine Füße, von den vielen Treppenstufen das Steigen gewöhnt, tragen mich weiter bis ganz oben. Ein großer Schritt und ich stehe auf der Brüstung. Warum denke ich jetzt an den Hund? Er folgt mir seit Tagen durch den Wald. Hängt an mir wie eine Zecke. Dort unten, unter dem Blätterdach vor meinen Fußspitzen, kann ich ihn nicht mehr sehen.
Ich versuche mir einzureden, dass man von der Mauerbrüstung die beste Aussicht hat. Eine Lüge, genau wie die, ich könne fliegen. Ich kann es nicht. Zum Glück kann ich es nicht. Ein Schritt noch, und ich werde wie ein Stein zu Boden fallen. Das einzige, was wirklich zählt, ist, ob es reicht. ob es hoch genug ist. Wie viele Meter braucht man, damit man den Aufprall nicht mehr spürt? Damit das Leben mit einem Schlag vorbei ist? ich bin feige. ich will keine Schmerzen, keine gebrochenen Glieder, wenn es nicht klappt. Langsam breite ich die Arme aus.
Von hinten windet sich eine Hand um meinen Arm, packt zu. Erschreckt fahre ich herum, verliere das Gleichgewicht, rutsche und wäre beinahe doch gefallen. Aber ich werde gehalten. Da steht der seltsamste Junge, dem ich je begegnet bin, und hält mich wie ein Anker im Leben.
ZWEI
Es war ein verregneter Junitag, an dem der Möbelwagen kam. Jetzt haben wir September, und es regnet immer noch. Dreieinhalb Monate. Dreieinhalb Monate, um Abstand zu gewinnen, wie es meine Eltern nennen. Dreieinhalb Monate, um in einer fremden Stadt und an einer fremden Schule einzugehen, wie eine Pflanze, die man verpflanzt, aber deren Wurzeln man vergessen hat.
Meine Wurzeln sind in Hamburg geblieben. Die Stadt habe ich mir nicht ausgesucht. Ich bin dort geboren, erst ich, dann mein kleiner Bruder. Wir hatten ein Reihenhaus mit einem schmalen Garten, in dem ich Erdbeeren zog und mein Bruder Bohnenpflanzen an der Wand zur Garage. Ich war eifersüchtig, dass seine Pflanzen größer waren als meine, und er darüber, dass meine Erdbeeren besser schmeckten als seine Bohnen. Er hat mir immer heimlich die Hälfte weggefressen.
Und dann hat er im letzten Winter beim Rodeln nicht aufgepasst, ist gegen einen Baum gerast und hat sich das Bein gebrochen. Wir mussten einen Krankenwagen rufen, und er wurde ins Krankenhaus gebracht, in die Notaufnahme. Auf dem ganzen Weg dorthin hat er geschrien und geheult, aber wir haben ihn getröstet und gesagt, es wäre nicht so schlimm. Alles würde bald wieder gut. Natürlich wurde sein Bein geröntgt und eingegipst. Die Ärzte im Krankenhaus haben dann noch eine Kleinigkeit gefunden auf dem Röntgenbild, die sie nicht richtig verstanden haben. Sie haben den Gips abgemacht und nochmal geröntgt. Untersucht. Dann haben sie verstanden. Die Kleinigkeit, die da auf dem Bild zu sehen war, war der Tod, der in seinem Körper lauerte. Krebs. Überall in seinem Körper: kleine, bösartige Knoten. Das Wort Metastasen hat viele Buchstaben, und jeder steht für eine andere Art des Grauens.
Chemotherapie. Haarausfall. Schmerzen. Vergebliche Operationen. Am siebzehnten Mai starb er. Kurz danach waren die Erdbeeren reif.
Drei Tage später wurde er beerdigt. Meine Eltern haben unser Zuhause nicht mehr ertragen. Als sei die Luft im Haus verpestet. Als seien sie von dem Tag an gegen den Garten allergisch. Alle seine Sachen, nein, alles, was überhaupt an ihn erinnerte, haben sie in einen Müllcontainer geworfen und den Deckel zugemacht. Was wir einpackten aus siebzehn Jahren Familienleben, passte in den kleinsten Möbelwagen. Sie sind weggerannt, aus Hamburg geflüchtet, und haben ihn zurückgelassen. Ganz allein.
Ich will zu ihm! Mit ihm reden! Wenigstens will ich einen Platz, wo ich ihm nahe sein, um ihn trauern kann. Bohnen, die sich um seinen Grabstein ranken. Ich will Erdbeeren auf sein Grab pflanzen und denken, dass er die alle ganz allein essen darf.
Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Das einzig Gute an Berlin ist, dass man untertauchen kann. Zuerst habe ich es im Tiergarten versucht: ein riesiger Park, aber trotzdem noch zu eng. im Tegeler Forst gibt es zu viele Wanderwege. Auch da trifft man immerzu Menschen. Wenn man für sich sein muss, ist der Grunewald am besten.
ich nehme die S-Bahn. Am Bahnhof winde ich mich zwischen den Leuten hindurch zum Hinterausgang, gehe unter ersten Bäumen die schmale Straße entlang. Nach der Ampel habe ich endlich Tannennadeln unter den Füßen. Die Autos können mir auf dem Wanderweg nicht folgen.
Regnerisches Wetter heute, das die Spaziergänger fernhält. Meine Turnschuhe traben wie Tierpfoten über die feuchte Walderde. Es tropft von den Zweigen in meinen Nacken, ich ziehe den Kopf ein. Vielleicht gehe ich nie mehr zurück in die Stadt. Nie mehr nach Hause. Nie mehr in die Schule. Vielleicht bleibe ich hier, im Wald, verschmelze mit den Bäumen. Dann gäbe es keine Fragen mehr. Keine gelogenen Antworten. Kein geheucheltes «oh, es gefällt mir hier». Die Wahrheit ist: Berlin ist zum Kotzen. Zu laut, zu grell.
Nur im Wald ist es still. Darum komme ich her. ich will allein sein.
ich will allein sein und bin es nicht. Da ist wieder dieser schwarze Köter, der mir folgt. Groß und spitzohrig läuft er parallel zu mir durchs Unterholz, nur der Hund, kein Mensch. Verdammter Streuner! Ich werfe ein Stück Holz nach ihm. Das Holzstück streift zischend die nassen Blätter, der Hund knurrt, springt geduckt zur Seite und lässt das Geschoss ins Leere gehen. Dumpf kommt es auf dem Waldboden auf. Der Hund ist schon wieder da, läuft weiter und lässt mich nicht aus den Augen. Ob er zu niemandem gehört? Ich weiß nicht, ob ich ihn mag. es ist kein niedlicher Hund, kein harmloser goldener Kinderbeschützer. Er ist schwarz, struppig und hat kleine schräge Augen, deren Farbe ich nicht erkenne.
Wenn ich näher komme, flüchtet er geduckt in die Büsche. ob ich ihn mit Fressen zu mir locken könnte? Nein, ich will ihn nicht so nah bei mir haben. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber ich finde, er hat etwas Dunkles, Bedrohliches an sich, das mir Angst macht.
ich folge ein Stück weit der Asphaltstraße, die sie dem Wald mitten ins Gesicht geklebt haben. Fast von allein tragen mich meine Füße zum Grunewaldturm. Dort hinauf kann der Hund mir nicht folgen. Dann bin ich ihn los. mein Magen knurrt. Ich hätte vorhin etwas essen sollen. Aber wer denkt in solchen Zeiten an essen? Ich denke gar nicht mehr. Schon seit Wochen nicht.
Der Grunewaldturm steht auf einem kleinen Berg, und man kann von dort oben bis über die Havel gucken. Die Aussicht ist toll. ich will die Bäume von oben sehen, Abstand gewinnen, lüge ich mir vor. Dabei ist mir die Aussicht völlig egal. Der Hund ist immer noch da. Ich kann ihn im Gebüsch hören. ein Auto kommt, Regenfontänen spritzend, angefahren, eins von diesen Familienautos, in denen in der Werbung hinter Mami und Papi glückliche Kinder sitzen. Immer sind es zwei. Verdammte heile Welt.
Mit schnellen Sprüngen die Stufen hinauf bin ich auf dem Steinsockel. Sie haben den oberen Teil, den roten Backsteinturm mit der Statue von Kaiser Wilhelm, gesperrt. Ein Schild hängt vor der breiten Holztür: Einsturzgefahr. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Ist nicht die ganze Welt einsturzgefährdet? Alles, von dem du heute noch denkst, es würde für immer dauern, kann morgen zusammenkrachen. Der Aufgang ist gesperrt, aber ich weiß, wie man trotzdem reinkommt. ein paar Stufen höher quetsche ich mich durch eine halboffene Seitentür. Dunkel und staubig ist es drinnen, wie ein heimlicher Weg zum Dachboden der Gespenster. Eine Stufe und dann noch eine, und noch eine. Soll ich die Stufen zählen? Heute nicht, ich kenne das Ergebnis sowieso. Zweihundertsieben brüchige Betonstufen sind es.
Die Tür am Treppenende ist nicht abgeschlossen, aber sie klemmt etwas. Ich stemme sie mit der Schulter auf. Hier auf der Plattform ist die Luft genau wie im Wald, tannenbitter und feucht. Von oben, heißt es, sieht die Welt anders, besser aus. Doch die Welt, auf die ich schaue, ist auch von oben einfach nur grün. Nassgrün.
Meine Füße, von den vielen Treppenstufen das Steigen gewöhnt, tragen mich weiter bis ganz oben. Ein großer Schritt und ich stehe auf der Brüstung. Warum denke ich jetzt an den Hund? Er folgt mir seit Tagen durch den Wald. Hängt an mir wie eine Zecke. Dort unten, unter dem Blätterdach vor meinen Fußspitzen, kann ich ihn nicht mehr sehen.
Ich versuche mir einzureden, dass man von der Mauerbrüstung die beste Aussicht hat. Eine Lüge, genau wie die, ich könne fliegen. Ich kann es nicht. Zum Glück kann ich es nicht. Ein Schritt noch, und ich werde wie ein Stein zu Boden fallen. Das einzige, was wirklich zählt, ist, ob es reicht. ob es hoch genug ist. Wie viele Meter braucht man, damit man den Aufprall nicht mehr spürt? Damit das Leben mit einem Schlag vorbei ist? ich bin feige. ich will keine Schmerzen, keine gebrochenen Glieder, wenn es nicht klappt. Langsam breite ich die Arme aus.
Von hinten windet sich eine Hand um meinen Arm, packt zu. Erschreckt fahre ich herum, verliere das Gleichgewicht, rutsche und wäre beinahe doch gefallen. Aber ich werde gehalten. Da steht der seltsamste Junge, dem ich je begegnet bin, und hält mich wie ein Anker im Leben.
ZWEI
Es war ein verregneter Junitag, an dem der Möbelwagen kam. Jetzt haben wir September, und es regnet immer noch. Dreieinhalb Monate. Dreieinhalb Monate, um Abstand zu gewinnen, wie es meine Eltern nennen. Dreieinhalb Monate, um in einer fremden Stadt und an einer fremden Schule einzugehen, wie eine Pflanze, die man verpflanzt, aber deren Wurzeln man vergessen hat.
Meine Wurzeln sind in Hamburg geblieben. Die Stadt habe ich mir nicht ausgesucht. Ich bin dort geboren, erst ich, dann mein kleiner Bruder. Wir hatten ein Reihenhaus mit einem schmalen Garten, in dem ich Erdbeeren zog und mein Bruder Bohnenpflanzen an der Wand zur Garage. Ich war eifersüchtig, dass seine Pflanzen größer waren als meine, und er darüber, dass meine Erdbeeren besser schmeckten als seine Bohnen. Er hat mir immer heimlich die Hälfte weggefressen.
Und dann hat er im letzten Winter beim Rodeln nicht aufgepasst, ist gegen einen Baum gerast und hat sich das Bein gebrochen. Wir mussten einen Krankenwagen rufen, und er wurde ins Krankenhaus gebracht, in die Notaufnahme. Auf dem ganzen Weg dorthin hat er geschrien und geheult, aber wir haben ihn getröstet und gesagt, es wäre nicht so schlimm. Alles würde bald wieder gut. Natürlich wurde sein Bein geröntgt und eingegipst. Die Ärzte im Krankenhaus haben dann noch eine Kleinigkeit gefunden auf dem Röntgenbild, die sie nicht richtig verstanden haben. Sie haben den Gips abgemacht und nochmal geröntgt. Untersucht. Dann haben sie verstanden. Die Kleinigkeit, die da auf dem Bild zu sehen war, war der Tod, der in seinem Körper lauerte. Krebs. Überall in seinem Körper: kleine, bösartige Knoten. Das Wort Metastasen hat viele Buchstaben, und jeder steht für eine andere Art des Grauens.
Chemotherapie. Haarausfall. Schmerzen. Vergebliche Operationen. Am siebzehnten Mai starb er. Kurz danach waren die Erdbeeren reif.
Drei Tage später wurde er beerdigt. Meine Eltern haben unser Zuhause nicht mehr ertragen. Als sei die Luft im Haus verpestet. Als seien sie von dem Tag an gegen den Garten allergisch. Alle seine Sachen, nein, alles, was überhaupt an ihn erinnerte, haben sie in einen Müllcontainer geworfen und den Deckel zugemacht. Was wir einpackten aus siebzehn Jahren Familienleben, passte in den kleinsten Möbelwagen. Sie sind weggerannt, aus Hamburg geflüchtet, und haben ihn zurückgelassen. Ganz allein.
Ich will zu ihm! Mit ihm reden! Wenigstens will ich einen Platz, wo ich ihm nahe sein, um ihn trauern kann. Bohnen, die sich um seinen Grabstein ranken. Ich will Erdbeeren auf sein Grab pflanzen und denken, dass er die alle ganz allein essen darf.
Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
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Autoren-Porträt von Nora Melling
Nora Melling wurde 1964 in Hamburg geboren. Schon als Kind liebte sie es, phantastische Geschichten zu erfinden. Doch erst einmal machte sie eine kaufmännische Ausbildung und zog zum Studium nach Berlin, bevor sie sich den Traum erfüllte, ihren ersten Roman zu schreiben. Heute lebt sie mit ihrem Mann und vier Kindern in Berlin-Zehlendorf und geht oft im Grunewald spazieren, wo sich auch ihre Werwölfe tummeln.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nora Melling
- 2010, 1. Auflage., 352 Seiten, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt Polaris
- ISBN-10: 3862520005
- ISBN-13: 9783862520008
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