Der Menschenmacher
Thriller
Der kleine David lebt mit zwei anderen Kindern bei einem Mann, den sie Vater nennen. Dieser Mann hält sie gefangen und stellt sie vor unlösbare Prüfungen, an denen sie wachsen sollen. Wenn sie versagen, wird "Vater" böse, sehr...
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Produktinformationen zu „Der Menschenmacher “
Der kleine David lebt mit zwei anderen Kindern bei einem Mann, den sie Vater nennen. Dieser Mann hält sie gefangen und stellt sie vor unlösbare Prüfungen, an denen sie wachsen sollen. Wenn sie versagen, wird "Vater" böse, sehr böse. Den verzweifelten Kindern bleibt nur ein Ausweg: Sie töten den Sadisten.
Zwanzig Jahre später: David ist erfolgreicher Autor, doch dann holt ihn die Vergangenheit nicht nur in seinen Träumen ein.
Klappentext zu „Der Menschenmacher “
David lebt gemeinsam mit zwei anderen Kindern bei einem Mann, den sie ihren Vater nennen. Der Mann hält sie gefangen und stellt ihnen unmögliche Prüfungen, an denen sie wachsen sollen "evolvieren", wie er sagt. Wenn sie versagen, wird Vater sehr böse. Oft benutzt er einen Gürtel, manchmal eine Zigarette. Den Kindern bleibt keine Wahl: Wenn sie überleben wollen, müssen sie Vater töten.Zwanzig Jahre später. David ist ein erfolgreicher Autor. Doch noch immer träumt er jede Nacht von dem schrecklichen Mord, den sie begangen haben. Eines Tages erhält er einen Brief mit einem einzigen Wort: Evolviere. Vater ist vielleicht doch nicht tot. Die Vergangenheit kehrt zurück. Und mit ihr das Grauen.
Lese-Probe zu „Der Menschenmacher “
Der Menschenmacher von Cody McFadyenProlog
Gegenwart
Erstes großes Beben
Sie fuhr hoch, als sich eine Hand auf ihr Gesicht legte, die in
einem Handschuh steckte, und Mund und Nase bedeckte, sodass
sie keine Luft mehr bekam. Sie stieß einen dumpfen Schrei
aus. Ihr Körper zuckte so heftig, dass das Bett bebte. Es war ein
wilder, instinktiver Reflex, als hätte ein Fremder im Bus ihr die
Hand unter den Rock geschoben. Der Geruch nach Leder stieg
ihr in die Nase. Ihre Augen rollten in der Dunkelheit wie die
eines gestrandeten Fisches. Primitive Gedanken beherrschten
ihre Welt.
Was? Wer? ... Nein!
Sie war völlig überrumpelt. Einen Moment zuvor hatte sie in
tiefem, traumlosem Schlaf gelegen, und nun starrte sie aus verschwommenen
Augen in die Dunkelheit, während die Hand ihr
Mund und Nase zuhielt und ihr Herz so heftig pochte, als würde
es jeden Moment zerreißen.
Sie zitterte. Der Fluchtreflex jagte Adrenalin in ihre Venen.
Noch bevor sie zweimal blinzeln konnte, hatte ihre Angst den
Dunst in ihrem Hirn weggebrannt wie die Sonne den Nebel über
einem See.
Was soll ich tun?
»Wenn ein Typ dir eine Pistole an den Kopf drückt und sagt,
du musst ihm sexuell gefügig sein, wie würdest du reagieren?«
Die Frage war vor nicht einmal einer Woche gestellt worden.
Sie erinnerte sich noch gut, wie hypothetisch diese Frage
ihr erschienen war. Meine Güte, sie hatten darüber gelacht, als
eines der Mädchen gesagt hatte: »Ich würde dem Kerl in die
Hose greifen und ihm einen von der Palme wedeln«, wobei alle
sich verlegen kichernd gefragt hatten, woher sie diese Wendung
kannte.
... mehr
Sie hatten in einem Café gesessen, inmitten von Licht und
Menschen. Die Vorstellung, eine solche Bedrohung könne Realität
werden, war ihnen (wie sie sich unwillkürlich erinnerte) beinahe
lächerlich absurd vorgekommen. Zugegeben, die Angst vor
der Wirklichkeit hatte unter der dünnen Oberfläche aus dümmlichen
Witzen gelauert, aber darum ging es ja schließlich: der
Angst standzuhalten, ihr ins Gesicht zu lachen.
Jetzt ist es nicht mehr so lustig, was? Beruhige dich, krieg dich ein.
Du willst überleben? Dann werd jetzt bloß nicht hysterisch.
Dieses innere Zwiegespräch dauerte nicht länger als eine
Nanosekunde. Endorphine fluteten in ihre Blutbahn. Dann zog
der Mann seine Waffe und drückte ihr den kalten Stahl an die
Stirn, presste die Mündung dagegen, bis es wehtat. Alle ermutigenden
Gedanken verflogen. Ihre Körpertemperatur schien von
einem Moment zum nächsten um dreißig Grad zu fallen. Ihr war
eisig kalt, und sie war hellwach.
Bitte lieber Gott bitte ich will nicht sterben ich will nicht sterben
ich ...
Endlich hatten ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt,
und ihr Blick klärte sich. Sie konnte den Mann sehen. Er war
direkt über ihr, starrte auf sie hinunter, genau in ihre Augen. Er
(wer immer er war) hatte sich einen Strumpf übers Gesicht gezogen,
was ihm ein unheimliches, an geschmolzenes Wachs erinnerndes
Aussehen verlieh, das sie bisher immer nur in Filmen
gesehen hatte.
Aber seine Augen, o Gott, diese Augen ...
Sie waren kalt, alt und leer. Sie waren ... ja, was? Nicht gefühllos,
eher gleichgütig. Unbeteiligt. Es waren die Augen eines Zimmermanns,
der auf einen Stapel Bauholz blickt und dann auf die
Uhr schaut, wobei er sich fragt, ob er bis nach dem Essen warten
soll, bevor er anfängt.
Ein Schatten,eine Bewegung,ein leises schlurfendes Geräusch.
Dann erschien ein weiterer Mann, trat neben den ersten, blickte
aus dem gleichen wächsernen Strumpfhosengesicht auf sie hinunter.
Wieder schrie sie dumpf unter dem Lederhandschuh, was
den zweiten Mann zum Grinsen brachte.
Seine Augen waren nicht so unbeteiligt wie die des ersten,
zeigten ein wenig Interesse. Allerdings galt dieses Interesse
offenbar dem, was er alles mit ihr anstellen konnte und wie sie
nackt, weinend und winselnd aussah. Er starrte sie an wie Nahrung,
und unter seinem Blick fühlte ihre Blase sich plötzlich zum
Platzen voll an.
Lieber Gott, mach, dass die Angst weggeht ...
Keine sechs Sekunden waren vergangen, seit sie von der Hand
geweckt worden war.
»Du wirst jetzt aufstehen«, sagte der erste Mann, ohne die
Waffe von ihrem Kopf zu nehmen. Er starrte ihr unverwandt in
die Augen. »Wenn du abzuhauen versuchst, wenn du schreist,
wenn du irgendetwas machst, das mir nicht gefällt, tue ich dir weh.
Dann tue ich dir so beschissen weh, dass du dich nie mehr davon
erholst. Hast du kapiert? Nick, wenn du verstanden hast.«
Sie nickte. Der Ledergeruch war überwältigend in ihrer Nase.
Sie musste würgen.
»Gut. Ich nehme jetzt die Hand weg. Und dann wirst du aufstehen.
Klar?«
Er zog die Hand weg und trat zurück. Der zweite Mann
starrte sie noch einen Augenblick grinsend an - glücklich wie ein
Schwein in der Suhle, schoss es ihr absurderweise durch den Kopf.
Dann trat auch er zurück.
Sie schwang die zitternden Beine über den Bettrand und
erschauerte, als sie den kalten Dielenboden unter den Füßen
spürte.
Ob sie mich töten?
Es war ein losgelöster, unerwarteter Gedanke. Er kreiste in
ihrem Kopf, gehalten von einer unheimlichen Schwerkraft.
Die beiden Fremden standen da und beobachteten sie geduldig
wie Sterne am Firmament.
Möglich, dass sie dich umbringen. Sehr gut möglich. Die meinen
es ernst.
Sie bemerkte, wie der zweite Mann ihre Nippel beäugte, die
sich unter ihrem T-Shirt abzeichneten. Irrationale Wut stieg in
ihr auf. In der elften Klasse hatte sie einen Lehrer gehabt, der mit
Vorliebe den Thermostaten im Klassenzimmer heruntergedreht
hatte, und dann mussten alle Mädchen mit erwähnenswertem
Busen vorne sitzen. Sie war eine der glücklichen Auserwählten
gewesen, und Mr. Gold hatte offensichtlich gefallen, was er mit
so geilem Blick angestarrt hatte. Es war das erste und einzige
Mal gewesen - bis zum heutigen Tag -, dass sie sich schmutzig
gefühlt hatte, nur weil ein Mann sie begaffte.
»Ich möchte, dass du langsam aufstehst«, sagte der Fremde
Nummer eins. »Wenn du Ärger machst, schneide ich dir eine
Brustwarze ab und steck sie dir in den Mund.«
Er schien sich nicht sonderlich für das Ergebnis dieses Multiple-
Choice-Horrors zu interessieren. Steh freiwillig auf oder nicht,
das ist mir egal. Aber entscheide dich klug, Süße, denn du wirst stehen,
ob mit oder ohne Nippel.
Sie stand auf.
»Danke sehr. Und jetzt ab in die Kiste dort.« Er deutete mit
seiner Waffe auf das Ding hinter ihm.
Sie starrte darauf. Es war eine rechteckige Kiste aus hellem
Holz, vielleicht zwei Meter lang. Das Innere war gepolstert, und
es gab einen Deckel mit Scharnieren und einer Schließe.
Es sah aus wie ein Sarg.
Ihre Zähne klapperten. Sie beobachtete sich selbst, wie sie
dieses Phänomen beobachtete, und staunte dabei über die Kaskade
aus zusammenhanglosen Gedanken, die ihr durch den Kopf
rauschten. Sarg bedeutet Tod, und seien wir doch mal ehrlich: Tod ist
gar nicht gut! Oder der Favorit der gegenwärtigen Nanosekunde:
Vertraue niemals einem Mann mit einem Gesicht wie geschmolzenes
Wachs.
»Bitte ...«, wimmerte sie und hasste den bettelnden Klang
ihrer Stimme, doch die scheußliche Wahrheit dahinter hasste sie
noch viel mehr: Sie würde noch lauter und länger betteln, wenn
sie nur weiterleben durfte. Sie würde Gott weiß was tun, wenn
sie nur ...
Patsch. Er schlug mit voller Wucht zu. Sie stolperte, und glühender
Schmerz schoss durch ihr Gesicht. Blut spritzte aus ihrer
Nase, und vor ihren Augen tanzten weiße Sterne. Der Mann
wedelte erneut mit dem Lauf der Waffe.
»Nicht reden. In die Kiste, los. Wenn du in der Kiste bist, nehmen
wir dich mit. Ein Wort, ein Laut, bevor ich dich wieder rauslasse,
und du wirst winseln vor Schmerz. Klar?«
Sie fing lautlos zu weinen an. Am liebsten wäre sie vor Scham
und Wut und Angst gestorben, aber so schnell starb es sich nicht.
Diese Männer waren in ihrem Schlafzimmer aufgetaucht,einfach
so, mit Strumpfhosenmasken vor den Gesichtern und Pistolen in
den Händen, und befahlen ihr, in diesen abscheulichen Sarg zu
steigen. Sie hatte keine Zeit, sich an die Situation zu gewöhnen,
keine Zeit für irgendetwas, außer darüber nachzudenken, dass
sie etwas tun sollte. Aber sie tat gar nichts, sie fror und war voller
Angst, und die Männer hatten sie in ihrem Großmutterhöschen
überrascht, und nun wollten die beiden, dass sie in einen selbst
gezimmerten Sarg kletterte, und irgendetwas sagte ihr, dass das
wahrscheinlich nicht die beste Idee war.
Unter diesen Umständen waren Tränen mehr oder weniger
unvermeidlich.
Ihr Blick fiel auf den digitalen Wecker auf dem Nachttisch.
Drei Uhr morgens. Ob ich mir das merken soll? Ob es später wichtig
ist? Aber wird es ein Später geben?
Der Fremde Nummer eins meldete sich zu Wort und erinnerte
sie an das, was wichtig war. »Wenn du nicht in zehn Sekunden
in der Kiste liegst, schneide ich dir eine Titte ab und stopf
sie dir ins Maul.«
Es war die Ruhe, mit der er diese Worte sagte, die völlige
Gelassenheit, die sie schaudern ließ. Als machte es ihm nichts
aus, sie bei lebendigem Leib zu grillen - er würde es trotzdem
rechtzeitig in die Kirche schaffen. Die Tränen versiegten. Sie ließ
den Kopf hängen, und ihre Schultern sanken herab.
»Schon gut«, flüsterte sie kaum hörbar.
Bevor der Deckel sich über ihr schloss, stellte sie die wichtigste
Frage.
»Warum?«
Der Fremde Nummer eins hielt den Deckel fest, während er
aus seinen kalten, gefühllosen Augen auf das zitternde Bündel in
der Kiste starrte. Als er antwortete, blieb seine Stimme so gelassen
und kühl wie zuvor.
»Es ist eine Lektion in Geschichte.«
Erster teil
Geburt
Die Leute denken in Metaphern über ihr Gewissen. Disney
hatte Grillen. Ich habe einen Unschuldsknochen. Beinknochen,
Armknochen, Unschuldsknochen, klar? Manche Leute
haben ihn, andere nicht. Die meisten von uns brechen ihn
sich irgendwann, und dann wird er falsch gerichtet, sodass
er an kalten Tagen schmerzt und ganz allgemein mehr ein
ärgernis ist, als dass er irgendetwas nützt.
-David Rhodes
Kapitel 1 Texas, Dezember 1974
Liebe ist eine Art Musik. Man kann sie singen, man kann sie
spielen, man kann dazu tanzen. Sie füllt Räume und Konzertsäle,
Herzen und Köpfe, und sie ist überall. Es gibt so viele Musikrichtungen,
wie es Menschen gibt.
Manche mögen es orchestral. Schweißtropfen vom Gesicht
eines Dirigenten, während die Liebenden sich küssen. Die Bewegungen
seiner Hände, beschwörend, wild. Weibliche Saiteninstrumente,
süß und dunkel, streiten sich mit den nach Aufmerksamkeit
heischenden Schlägen der Perkussion, und aus dem
Widerstreit wird Harmonie.
Andere ziehen das intime Gleiten einer mit Stahlsaiten bespannten
Gitarre vor.Draußen regnet es.Die Liebenden sind jung,
die Wohnung billig, der Rotwein wird aus der Flasche getrunken.
Die Zukunft ist endlos, und sie wird geteilt, was denn sonst.
Viele haben in der leidenschaftlichen Hingabe an den guten
altmodischen Rock 'n' Roll die Liebe gefunden.
Liegt alles im Ohr des Hörers.
David Rhodes'Liebe für seine Mutter war wie ein A-cappella-
Sopran, gesungen mit der glockenhellen Süße eines sechsjährigen
Knaben. David verehrte Mommy mit Ingrimm, Bewunderung
und völliger Hingabe. Sie war zugleich die kürzeste und längste
Beziehung seines Lebens. Er hatte seine Mutter nur kurze Zeit,
aber diese Zeit veränderte ihn für immer.
So ist die Zeit nun mal. Sie kann sich dehnen wie Toffee oder
träge tropfen wie Honig oder bis in alle Ewigkeit an einem Punkt
verharren, Amen. Zeit kann weinen, Zeit kann lügen.
Die Zeit, für den Moment, war damals, und Mommy war
noch am Leben.
Ich liebe Mommys Haare.
Mommy (sie starb, bevor er alt genug war, um es zu »Mom«
abzukürzen) hatte glattes braunes Haar, das ihr bis zur Taille
reichte und glänzte, wenn das Licht im richtigen Winkel darauf
fiel. Es rahmte das junge Gesicht einer Frau aus dem Mittelwesten
ein, eins von den Gesichtern mit makelloser, sonnengebräunter
Haut, ganz Pfirsich und Sonnenblumen und heißer Apfelkuchen.
Kein Bedarf für Make-up - was gut war, weil Mommy
sich nicht viel leisten konnte. Sie hatte große braune Augen, die
ein bisschen zu alt aussahen, wenn man den Rest von ihr damit
verglich.
Linda (so hieß sie für alle außer für David) hatte ein Lächeln,
das auch den düstersten Tag erhellen konnte. Sie rauchte (Rauchen
war damals noch nicht schädlich), und sie war jung und
unsterblich, und ihre Zähne waren weiß und ebenmäßig, wenn
sie lächelte. Sie konnte dieses Lächeln aus dem Nichts herbeizaubern,
wie ein weißes Kaninchen aus einem schwarzen Zylinder,
egal ob es ihr gut ging oder ob sie hungrig oder müde war. Sie
konnte dieses Lächeln selbst dann zeigen, wenn sie sich wegen
des Monsters sorgte, des gefürchteten Kein-Geld mit seinen spitzen
Fängen.
Davids Vorstellung von Kein-Geld war eher verschwommen
und anthropomorph (er war schließlich erst sechs), doch er
wusste bereits,dass es etwas Schlimmes war.Er wusste,dass es der
Grund dafür war, dass Mommy nachts manchmal weinte. Und
Kein-Geld war auch der Grund dafür (wie er sich inzwischen
zusammengereimt hatte), dass er kein normales Bett besaß.
Sein Bett bestand aus vier »Hähnchenkisten« - wachsüberzogene,
doppelt verstärkte Pappkartons, in denen der Piggly
Wiggly-Supermarkt seine gefrorenen Hähnchen geliefert bekam.
(Er erinnerte sich noch deutlich an jenen Tag, als er zu seinem
Entsetzen herausgefunden hatte, dass Hähnchen in Wirklichkeit
tote Vögel waren. Er hatte sich die Augen ausgeweint und
seither keine Brathähnchen mehr angerührt. Tote Vögel! Igitt.
Bäh.) Wie dem auch sei, Mommy hatte die Kisten hinter dem
Supermarkt gefunden. Sie hatte sie mit nach Hause genommen,
sorgfältig gereinigt, umgedreht und eine Navajo-Decke darüber
gelegt. David schlief auf den Kisten. Mommy nannte es rustikal.
Er wusste nicht, was rustikal bedeutete, doch es klang irgendwie
nach Abenteuer und reizte die Phantasie des Sechsjährigen.
Kein-Geld bedeutete auch, dass Mommy, wenn David sie
nach einem Schokoriegel fragte, »Heute nicht, Liebling« antwortete,
»vielleicht nächste Woche«. Nur dass nächste Woche nie
kam. Was gelindes Bedauern hervorrief, mehr aber auch nicht; es
war keine große Sache. Mommy machte das Leben auch so süß
und spannend genug.
»Geld kommt an zweiter Stelle, an erster kommt der Verstand.
« Sie tippte ihn gegen die Stirn und dann gegen die Brust.
»Die besten Dinge passieren hier, und hier. Verkauf sie nicht, weil
du sie nicht zurückkaufen kannst.«
Sie hatten zwar kein Bett, aber sie hatten einen alten, ramponierten
Plattenspieler. Mommy sagte, der Plattenspieler wäre
total out, was David für sich als »magisch« übersetzte.
»Das Herz nimmt Musik in sich auf wie Zuckerbäckerei,
Liebling. Und manchmal brauchen wir Zuckerbäckerei mehr als
die Luft zum Atmen.«
Es waren Klischees, zugegeben, doch in Davids Erinnerung
blieben sie weise, zum einen, weil Mommy diese Worte gesagt
hatte, zum größten Teil jedoch, weil sie der Wahrheit entsprachen.
Mommy fütterte ihre Herzen regelmäßig mit Musik (vor
allem, wenn sie nicht genug Geld hatte, um ihre Mägen zu füttern).
Sie legte ein Album von den Beatles auf, und sie tanzten
barfuß miteinander, oder sie legte ein Album von einem Mann
namens Bob Dylan auf, und David ruhte in Mommys Armen,
während sie die Lieder leise mitsang.
»Der hat aber keine schöne Stimme«, sagte David eines
Tages.
»Muss er auch nicht haben, Liebling. Er ist Dylan.«
Er verstand zwar nicht, was sie meinte, aber Dylan konnte
Mommy zum Lächeln bringen. Deswegen war Dylan für David
ganz okay.
Mommys Lieblingsplatte war ein Album von Dylan. Es hieß
The Freewheelin' Bob Dylan. David dehnte das Freee Wheeelin'
immer. Es gefiel ihm, wie es auf der Zunge rollte. Das Albumcover
zeigte ein Foto von Dylan Arm in Arm mit einer Frau auf
einer verschneiten Straße. Beide lächelten. Das Bild wurde von
einem Kaffeering verunziert. Manchmal fuhr Mommy mit dem
Finger diesen Ring nach und lächelte verträumt.
»Warum macht dich das so fröhlich?«, hatte David sie einmal
gefragt.
Sie hatte ihn kurz angeschaut, und dann hatte sie ihm ihr
strahlendes Lächeln geschenkt. (Später, als Erwachsener, war
ihm klar geworden, dass seine Mutter gewusst hatte, welche Ausstrahlung
ihr Lächeln besaß, und dass sie es manchmal gezielt
eingesetzt hatte, um sich auf diese Weise Vorteile zu verschaffen.)
»Weil ich daran denken muss, wie der Fleck auf die Hülle
gekommen ist, Baby. Ich war voll und ganz damit beschäftigt,
dich zu machen, und ich hatte vergessen, dass mein Kaffeebecher
noch auf der Plattenhülle stand.«
David begriff nicht, was sie mit »dich zu machen« meinte,
und er fragte auch nie nach - er hatte so eine Ahnung, dass die
Frage, ins helle Licht gerückt, eine ähnliche Wirkung hervorrufen
könnte wie einen Singvogel einzufangen: Man hatte ihn zwar,
aber er sang nie wieder.
Seine Lieblingsmusik war Janis Joplin. ( Janis wurde übrigens
immer beim Vornamen genannt, Dylan nur beim Nachnamen.
David begriff den Grund dafür zwar nicht, akzeptierte aber die
Unabänderlichkeit dieser Tatsache.)
Er fuhr total auf Janis ab,wie Mommy es auszudrücken pflegte.
Janis war Davids Heldin. Mommy sang ihm Texte von Janis vor,
damit er besser einschlafen konnte oder wenn er traurig war oder
sich wehgetan hatte oder weinte. Little Piece of My Heart, leise,
langsam und wunderschön (wundaschööön, hatte David gesagt,
als er vier gewesen war, und dabei Mommys Gesicht mit seinen
Fingern berührt).
Er hatte Janis sogar noch lieber als Yellow Submarine oder
Jeremiah Was A Bullfrog (das er gerne sang, so laut er konnte, weil
es Mommy aus irgendeinem Grund zum Kichern brachte, und
abgesehen davon - was war überhaupt ein Bullfrog?).
Manchmal, in den kalten Monaten (wie diesem), legte
Mommy Janis auf, und dann wickelten sie sich gemeinsam in
Decken und saßen auf dem möbellosen Fußboden und lauschten
den Songs. Mommy rauchte dabei und summte und schaukelte
ihn, bis er in ihren Armen eingeschlafen war.
Als David älter war, hatte er häufig eine Vision von sich
im Damals, schlafend, der Kopf in Mommys Armen nach hinten
gefallen, umhüllt vom Gefühl vollkommener Sicherheit. Er
sehnte sich nach jenem vergangenen Augenblick - wegen dieser
Sicherheit. Alles bei Mommy bedeutete Sicherheit.
Der Boden in der Küche bestand aus gesprungenem Linoleum,
im Wohnzimmer aus ramponierten Dielen. Beides hielt
zwar die Kälte nicht ab, aber David schlief immer warm. Dafür
sorgte Mommy. Manchmal aßen sie zum Frühstück, zu Mittag
und zu Abend bloß Lyoner und Käse, aber sie versäumten nie
eine Mahlzeit, dafür sorgte Mommy.
Irgendwie hatte er das alles Kein-Geld zu verdanken; deshalb
war David nicht allzu böse auf Kein-Geld. Sie hatten Janis, sie
hatten die Beatles, sie hatten Dylan, sie hatten zu essen und sie
hatten einander. Er lachte viel. Er schlief tief und gut und war nie
müde. Es fehlte ihm an nichts.
Inzwischen war wieder Weihnachtszeit, und Mommy hatte
diesen Ausdruck im Gesicht. Sie machte sich Sorgen. Wahrscheinlich
wieder wegen Kein-Geld. Sie trank ihren Kaffee und
rauchte eine Zigarette, während David einen heißen Kakao hinunterstürzte.
Es war kalt im Haus; sie konnten sehen, wie ihr
Atem kondensierte. Unter dem Tisch summte ein Heizlüfter
und wärmte Füße, die in zwei Paar Socken steckten. Mommys
Blick schweifte in weite Fernen. Es gefiel David nicht, wenn sie
so ruhig war.
»Was ist, Mommy?«
Sie zuckte zusammen. Ihre braunen Augen klärten sich. Der
erste Blick, der David traf, war ein bisschen vorwurfsvoll, aber das
war wegen dem Erschrecken. Bald wurde ihr Blick wieder weich,
und sie setzte das Lächeln auf.
»Nichts, Süßer, gar nichts. Ich wünschte nur, wir hätten ein
bisschen mehr Geld für Weihnachten. Ich würde dir gerne ein
paar Geschenke kaufen.«
Er suchte nach Worten, um sie zu trösten.
»Vielleicht bringt mir der Weihnachtsmann eins?«
Sie lächelte und stellte ihre Tasse auf den Tisch. Der Tisch
war klapprig und wacklig und aus dunklem Pinienholz und zerkratzt
bis zum Gehtnichtmehr. Aber das war okay so. Der Tisch
trug das Essen, und das war schließlich alles, was er tun sollte.
»Vielleicht, Honey. Hast du Lust, den Schmuck für den Baum
zu basteln?«
»Au ja!«
Es war in Wirklichkeit gar kein richtiger Baum. Es war ein
Zweig von einem Baum, den ein mitfühlender Nachbar Mommy
gegeben hatte. Er war geformt wie ein Strichmännchen ohne
Beine, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt und den Kopf in
der Mitte. Er sah aus, als würde er zu einer Umarmung auffordern.
Jede Spitze war besetzt mit Büscheln von Tannennadeln.
Mommy hatte einen Milchkarton gefunden, hatte ihn mit Steinen
gefüllt und den Zweig mit dem unteren Ende hineingesteckt,
sodass er aufrecht blieb. Er stand auf dem zerschrammten Boden
gleich neben der Wohnungstür.
Mr. Muncie, der Vermieter, hatte den Weihnachtsbaum
gesehen und spöttisch das Gesicht verzogen. »Raffinierter weißer
Abschaum«, hatte er mit seiner vom Whisky rauen Stimme
geschnaubt und dabei mit seinem vom Whisky geröteten Gesicht
dreingeschaut wie der Beelzebub für ungezogene Kinder, als
Mommy ihm das Geld für die Miete in die Hand gezählt hatte.
David hatte ihr angesehen, dass sie böse war. Mr. Muncie war ein
A-Loch. David wusste das, weil er es Mommy mal hatte sagen
hören. Er war nicht sicher, was ein A-Loch war, doch irgendwie
erschien es ihm klüger, nicht danach zu fragen.
»Was wollen wir hören?«, fragte Mommy jetzt.
»Abbey Road!«
»Gute Wahl.«
Sie suchte die Platte und legte sie auf. David hörte das Knistern
und Knacken und das leise Pop, als die Nadel die Rille
fand. Einen Moment später ertönte Abbey Road aus dem kleinen
Lautsprecher. Janis war zwar seine Lieblingssängerin, aber
Come Together war sein absolutes Lieblingslied. Feet down be-low
his knees. Diese erhabene Feststellung des Offensichtlichen ließ
ihn jedes Mal aufs Neue albern kichern. In seinen Augen war es
schlichtweg genial.
»Du schneidest die Zeitungen, Honey, und ich schneide die
Eierbecher aus den Eierkartons.«
»Okay, Mommy.«
Linda hatte während der letzten Tage einen kleinen Stapel
Zeitungen gesammelt. David griff sich das Papier und eine
Schere und setzte sich neben dem Plattenspieler auf den Boden.
»Ist dir kalt?«, fragte Mommy.
»Nein, alles prima.«
Er bot ein Bild der Konzentration, als er mit herausgestreckter
Zunge die Zeitung in kurze, schmale Streifen zerschnitt,
was ungefähr zehn Minuten in Anspruch nahm. Maxwell's Silver
Hammer endete und Oh, Darling fing bereits an, als er den Packen
Papierstreifen nahm und zu seiner Mutter an den Tisch
brachte.
»Gute Arbeit, Honey«, sagte Mommy und schenkte ihm ihr
Lächeln. Er strahlte. »Und jetzt machen wir kleine Kringel daraus.«
Wollte man die Zeitungsstreifen zu Kringeln formen, musste
man einen Stift nehmen und sie fest darumwickeln. Nach dem
Abrollen blieben die Kringel. Linda und David verbrachten weitere
zehn Minuten damit. Als sie fertig waren, war She's So Heavy
fast zu Ende.
»Jetzt stechen wir die Büroklammern durch ein Ende und
hängen sie daran auf«, sagte Linda.
Sie hatte die Eierbecher aus dem Boden eines Eierkartons
ausgeschnitten, sodass jeder einzelne zu einer Glocke aus Pappmaché
wurde, wenn man ihn umdrehte - insgesamt zwölf, doch
sie würden nur sieben davon benutzen. Linda nahm eine Handvoll
Büroklammern und machte sich daran, den Draht gerade zu
biegen, sodass am Ende kleine Haken blieben.
»Dreh die Platte um, Baby«, murmelte sie, als der letzte Song
geendet hatte.
David legte die B-Seite auf und wartete, bis er die ersten
Klänge von Here Comes The Sun hörte.
Linda war unterdessen fertig mit dem Biegen der Büroklammern.
Nun begann sie, die Enden durch die Glocken aus Eierkarton
zu stechen. Wenn eine Glocke fertig war, legte sie diese vor
David auf den Tisch, und der Junge befestigte die gekringelten
Papierstreifen am Haken im Innern der Glocke. Das Ergebnis
war ein handgefertigter Christbaumschmuck, der mit der Glockenöffnung
und den Papierstreifen darin nach unten am Baum
befestigt wurde.
Als Linda mit dem Durchstechen der Kartons fertig war, half
sie ihrem Sohn mit den Streifen. Sie redeten nicht viel, konzentrierten
sich stattdessen auf ihre Arbeit. Polythene Pam ging über
in She Came Through The Bathroom Window, gefolgt von Golden
Slumbers.
Sie wurden fertig, als The End ausklang.
»Gutes Timing, Baby«, sagte Linda. »Und gute Arbeit.«
»Darf ich sie in den Baum hängen?«
»Na klar. Aber leg zuerst eine neue Platte auf, okay? Was sagst
du zu Janis?«
David beobachtete, wie Mommy sich eine neue Zigarette
anzündete, und für einen Moment schien die Zeit in ihrer kalten
Wohnung stehen zu bleiben. In späteren Jahren würde er immer
wieder versuchen, sich diese Sekunde zu erklären. Es war eine
Kombination verschiedener Dinge, die in einem einzigen Augenblick
aufrichtiger, ehrlicher, überwältigender Emotion zusammenkamen.
David war nie so recht glücklich mit seinen Bemühungen,
diesen Augenblick zu definieren. Letzten Endes gab er
sich damit zufrieden, ihn folgendermaßen zu beschreiben:
Ich war überwältigt. Das ist das einzige und beste Wort dafür.
Überwältigt von meiner Liebe zu ihr. Sie füllte mein Herz bis zum
Überlaufen, und dann ergoss sie sich in meine Seele und noch weiter,
ich weiß nicht, wohin. Ich erinnere mich undeutlich und bruchstückhaft,
wie ich dachte, dass sie die schönste Frau auf Erden sei,
und unglaublich klug, vor allem aber wusste ich mit absoluter und
alles überstrahlender Gewissheit, dass meine Mutter mich über alles
liebte.
»Leg Dylan auf, Mommy.«
Sie legte den Kopf schief und sah ihn an. »Ich dachte, du
magst ihn nicht besonders?«
Er antwortete nicht. Stattdessen legte er Freewheelin' auf
den Plattenteller, senkte den Tonarm und wartete, bis die ersten
Klänge von Blowin in the Wind einsetzten. Er spitzte die Ohren,
und beinahe, beinahe hätte er es ebenfalls gespürt in jenem
Augenblick - die Schönheit von Nur-Bob und seiner unschönen
Stimme und seiner Gitarre und Sonst-Nichts. Es hatte etwas
radikal Ehrliches.
David drehte sich zu Mommy und lächelte. »Ich hab dich lieb,
Mommy. Frohe Weihnachten.«
David hatte ein Lächeln, das bis aufs Haar so gewinnend und
überwältigend sein konnte wie das seiner Mutter. Nur wusste er
das nicht; deshalb war er verwundert und ein bisschen bestürzt,
als er den Schimmer in ihren Augen sah.Linda wusste sehr genau,
wie ihre Tränen David bekümmerten, also überdeckte sie ihre
Rührung mit einem Zug an ihrer Filterlosen und einem Schluck
von ihrem heißen schwarzen Kaffee. Beides ließ ihre Augen wieder
trocknen.
»Frohe Weihnachten, David.«
Er hängte den selbstgemachten Weihnachtsschmuck an den
falschen Baum und war glücklich.
***
Als er mit dem Schmücken fertig war, hatte Dylan aufgehört zu
singen. Linda nahm zwei Gläser vom Ablauf neben dem Spülbe
cken und einen kleinen Karton Eierlikör aus dem Kühlschrank.
Sie hatte eine Decke vor dem Heizlüfter ausgebreitet, und nun
setzte sie sich mit untergeschlagenen Beinen darauf.
»Ist jetzt die Zeit für Eierlikör, Mommy?«, fragte David.
Mommy antwortete nicht sogleich. Stattdessen liebkoste sie
ihn mit Blicken, und ihr Herz schaukelte sanft. David lächelte sie
an, und Linda kam nicht zum ersten Mal der Gedanke, dass ein
solches Lächeln das unwiderstehlichste Argument zu leben war,
das sie finden konnte. David nutzte jede Faser seines Körpers,
um dieses Lächeln zu befeuern. Es war eine Batterie aus reiner
Freude.
»Jepp. Dreh das Licht runter, Honey. Wir wollen so tun, als
wäre der Heizlüfter unser Lagerfeuer.«
»Oh, ja, klasse«, sagte David.
Linda sah ihm hinterher, als er auf seinen weißen Socken
durch den Raum schlurfte, und spürte einmal mehr, wie ihr das
Herz aufging. Er war so klein und zerbrechlich und diese Welt so
rau ... und er war zugleich das wundervollste Wesen ebendieser
Welt. Jedes Mal, wenn sie ihn ansah, fühlte sie sich in wenigstens
zehn verschiedene emotionale Richtungen gleichzeitig gezogen,
erfüllt von Liebe, Kraft, Angst, Wildheit.
Du bist die größte Herausforderung in meinem Leben, dachte sie,
während sie beobachtete, wie David sich auf die Zehenspitzen
stellte, um an den Schalter heranzukommen. Das ist meine Angst,
Honey - ich mag bei allen möglichen Dingen versagen, aber ich kann
nicht als deine Mutter versagen und mir hinterher noch in die Augen
sehen.
David legte den Schalter um, und im Zimmer wurde es dunkel.
Er kam zurück, und auf seinem Gesicht stand jener Ausdruck,
der Linda verriet, dass er ein bisschen zu ernsthaft nachdachte für
einen Jungen in seinem Alter. Nicht dass er unglücklich gewesen
wäre oder introvertiert - es war eher so, wie es mal einer ihrer
früheren Kollegen auf der Arbeit ausgedrückt hatte. Der Junge
kann gehen und Kaugummi kauen zur gleichen Zeit. David dachte
manchmal einfach nur deshalb über die Dinge nach, weil er
schlau genug dafür war und die Gelegenheit dazu hatte.
Er wird intelligenter als du, sagte die Stimme der Wahrheit in
ihr. Sie war weder zu laut noch zu leise, diese Stimme, weder
billigend noch tadelnd. Die Stimme der Wahrheit richtete nicht
über Gut oder Böse, richtig oder falsch, sondern schilderte die
ungeschönte Realität. Die Fähigkeit zu akzeptieren, was die
Stimme ihr sagte, war Lindas größte Stärke.
Diese spezielle Wahrheit (und sie war unbestreitbar, das sah
Linda so klar und deutlich wie den bevorstehenden Tag) war eine
Ermahnung, die sie mit wildem, brennendem Stolz erfüllte. Es
war ein Gefühl, dass sie am liebsten durch die Stadt gerannt wäre
und allen entgegengeschrien hätte: Er ist mein Sohn, und er ist
etwas Besonderes! Habt ihr gehört? Er ist etwas ganz Besonderes!
Genau das hatte sie einmal getan - in einem Traum. Ihre
Rufe und ihr Laufen hatten sie schließlich zu einer gesichtslo-
sen weiblichen Figur aus Luft und Glas geführt. Linda hatte vor
ihr gestanden, hatte geblinzelt, hatte nach irgendeinem Merkmal
gesucht, um der Gestalt eine unverwechselbare Identität zu
geben, hatte aber nichts finden können.
Ich habe einen Sohn, Mutter, hatte sie in ihrem Traum gedacht,
an die Gestalt gewandt (weil sie nie ihre eigene Stimme zu ihrer
Mutter hatte sprechen hören und keine Vorstellung hatte, wie so
eine Stimme klang). Ich habe einen Sohn, und er ist etwas Besonderes,
hörst du? Ich selbst mag nichts Besonderes sein, aber er ist es.
Ich weiß nicht, ob es für dich eine gute Nachricht ist, weil du mich
geliebt hast, oder eine schlechte, weil du mich gehasst hast, aber es ist
die Wahrheit, und ich dachte, du solltest es erfahren.
Die gläserne Gestalt hatte geschwiegen und sich nicht gerührt,
bis Linda aufgewacht war.
Doch in den Stolz auf ihren Sohn mischte sich Furcht. Werde
ich ihn eines Tages langweilen? Weil ich zu dumm bin und er so klug?
Werde ich vielleicht sogar peinlich für ihn sein? Wird meine Herkunft
zu deutlich durchschimmern, und werden seine Anrufe und seine
Besuche zu Hause seltener und seltener?
Oder jener geheimste, beschämendste Gedanke von allen:
Wird er mich bemitleiden?
»Eierlikör, Mommy.«
David kletterte in seinen »Mommy-Raum«, wie Linda ihn
bei sich nannte: Hintern am Boden, Hacken angezogen, Steißbein
an jenem Ort, dem er entschlüpft war, Hinterkopf an ihren
Brüsten und die Rundung seines Rückens an jener Kurve, die
Mutter Natur und die Liebe aus der Weichheit ihres Leibes für
ihn geschaffen hatten.
Erschauernd spürte sie, wie jenes unglaubliche, unbeschreibliche
Gefühl sie durchströmte,das Zentrum des Universums ihres
Kindes zu sein, und sie ließ zu, dass es ihre Ängste davonspülte.
Bald schon würde er seinem Mommy-Raum entwachsen sein, in mehr als einer Hinsicht - doch bald war nicht heute. Heute und jetzt wollte er Eierlikör.
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2010 by Cody Mcfadyen
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2011 by
Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Lektorat:Wolfgang Neuhaus/Jan F.Wielpütz
Umschlaggestaltung: Manuela Städele
Umschlagmotiv: © plainpicture /Albalta
Satz: Siebel Druck & Grafik, Lindlar
Gesetzt aus der Adobe Caslon Pro
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-7857-2407-1
54321
Sie finden uns im Internet unter: www.luebbe.de
Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de
Sie hatten in einem Café gesessen, inmitten von Licht und
Menschen. Die Vorstellung, eine solche Bedrohung könne Realität
werden, war ihnen (wie sie sich unwillkürlich erinnerte) beinahe
lächerlich absurd vorgekommen. Zugegeben, die Angst vor
der Wirklichkeit hatte unter der dünnen Oberfläche aus dümmlichen
Witzen gelauert, aber darum ging es ja schließlich: der
Angst standzuhalten, ihr ins Gesicht zu lachen.
Jetzt ist es nicht mehr so lustig, was? Beruhige dich, krieg dich ein.
Du willst überleben? Dann werd jetzt bloß nicht hysterisch.
Dieses innere Zwiegespräch dauerte nicht länger als eine
Nanosekunde. Endorphine fluteten in ihre Blutbahn. Dann zog
der Mann seine Waffe und drückte ihr den kalten Stahl an die
Stirn, presste die Mündung dagegen, bis es wehtat. Alle ermutigenden
Gedanken verflogen. Ihre Körpertemperatur schien von
einem Moment zum nächsten um dreißig Grad zu fallen. Ihr war
eisig kalt, und sie war hellwach.
Bitte lieber Gott bitte ich will nicht sterben ich will nicht sterben
ich ...
Endlich hatten ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt,
und ihr Blick klärte sich. Sie konnte den Mann sehen. Er war
direkt über ihr, starrte auf sie hinunter, genau in ihre Augen. Er
(wer immer er war) hatte sich einen Strumpf übers Gesicht gezogen,
was ihm ein unheimliches, an geschmolzenes Wachs erinnerndes
Aussehen verlieh, das sie bisher immer nur in Filmen
gesehen hatte.
Aber seine Augen, o Gott, diese Augen ...
Sie waren kalt, alt und leer. Sie waren ... ja, was? Nicht gefühllos,
eher gleichgütig. Unbeteiligt. Es waren die Augen eines Zimmermanns,
der auf einen Stapel Bauholz blickt und dann auf die
Uhr schaut, wobei er sich fragt, ob er bis nach dem Essen warten
soll, bevor er anfängt.
Ein Schatten,eine Bewegung,ein leises schlurfendes Geräusch.
Dann erschien ein weiterer Mann, trat neben den ersten, blickte
aus dem gleichen wächsernen Strumpfhosengesicht auf sie hinunter.
Wieder schrie sie dumpf unter dem Lederhandschuh, was
den zweiten Mann zum Grinsen brachte.
Seine Augen waren nicht so unbeteiligt wie die des ersten,
zeigten ein wenig Interesse. Allerdings galt dieses Interesse
offenbar dem, was er alles mit ihr anstellen konnte und wie sie
nackt, weinend und winselnd aussah. Er starrte sie an wie Nahrung,
und unter seinem Blick fühlte ihre Blase sich plötzlich zum
Platzen voll an.
Lieber Gott, mach, dass die Angst weggeht ...
Keine sechs Sekunden waren vergangen, seit sie von der Hand
geweckt worden war.
»Du wirst jetzt aufstehen«, sagte der erste Mann, ohne die
Waffe von ihrem Kopf zu nehmen. Er starrte ihr unverwandt in
die Augen. »Wenn du abzuhauen versuchst, wenn du schreist,
wenn du irgendetwas machst, das mir nicht gefällt, tue ich dir weh.
Dann tue ich dir so beschissen weh, dass du dich nie mehr davon
erholst. Hast du kapiert? Nick, wenn du verstanden hast.«
Sie nickte. Der Ledergeruch war überwältigend in ihrer Nase.
Sie musste würgen.
»Gut. Ich nehme jetzt die Hand weg. Und dann wirst du aufstehen.
Klar?«
Er zog die Hand weg und trat zurück. Der zweite Mann
starrte sie noch einen Augenblick grinsend an - glücklich wie ein
Schwein in der Suhle, schoss es ihr absurderweise durch den Kopf.
Dann trat auch er zurück.
Sie schwang die zitternden Beine über den Bettrand und
erschauerte, als sie den kalten Dielenboden unter den Füßen
spürte.
Ob sie mich töten?
Es war ein losgelöster, unerwarteter Gedanke. Er kreiste in
ihrem Kopf, gehalten von einer unheimlichen Schwerkraft.
Die beiden Fremden standen da und beobachteten sie geduldig
wie Sterne am Firmament.
Möglich, dass sie dich umbringen. Sehr gut möglich. Die meinen
es ernst.
Sie bemerkte, wie der zweite Mann ihre Nippel beäugte, die
sich unter ihrem T-Shirt abzeichneten. Irrationale Wut stieg in
ihr auf. In der elften Klasse hatte sie einen Lehrer gehabt, der mit
Vorliebe den Thermostaten im Klassenzimmer heruntergedreht
hatte, und dann mussten alle Mädchen mit erwähnenswertem
Busen vorne sitzen. Sie war eine der glücklichen Auserwählten
gewesen, und Mr. Gold hatte offensichtlich gefallen, was er mit
so geilem Blick angestarrt hatte. Es war das erste und einzige
Mal gewesen - bis zum heutigen Tag -, dass sie sich schmutzig
gefühlt hatte, nur weil ein Mann sie begaffte.
»Ich möchte, dass du langsam aufstehst«, sagte der Fremde
Nummer eins. »Wenn du Ärger machst, schneide ich dir eine
Brustwarze ab und steck sie dir in den Mund.«
Er schien sich nicht sonderlich für das Ergebnis dieses Multiple-
Choice-Horrors zu interessieren. Steh freiwillig auf oder nicht,
das ist mir egal. Aber entscheide dich klug, Süße, denn du wirst stehen,
ob mit oder ohne Nippel.
Sie stand auf.
»Danke sehr. Und jetzt ab in die Kiste dort.« Er deutete mit
seiner Waffe auf das Ding hinter ihm.
Sie starrte darauf. Es war eine rechteckige Kiste aus hellem
Holz, vielleicht zwei Meter lang. Das Innere war gepolstert, und
es gab einen Deckel mit Scharnieren und einer Schließe.
Es sah aus wie ein Sarg.
Ihre Zähne klapperten. Sie beobachtete sich selbst, wie sie
dieses Phänomen beobachtete, und staunte dabei über die Kaskade
aus zusammenhanglosen Gedanken, die ihr durch den Kopf
rauschten. Sarg bedeutet Tod, und seien wir doch mal ehrlich: Tod ist
gar nicht gut! Oder der Favorit der gegenwärtigen Nanosekunde:
Vertraue niemals einem Mann mit einem Gesicht wie geschmolzenes
Wachs.
»Bitte ...«, wimmerte sie und hasste den bettelnden Klang
ihrer Stimme, doch die scheußliche Wahrheit dahinter hasste sie
noch viel mehr: Sie würde noch lauter und länger betteln, wenn
sie nur weiterleben durfte. Sie würde Gott weiß was tun, wenn
sie nur ...
Patsch. Er schlug mit voller Wucht zu. Sie stolperte, und glühender
Schmerz schoss durch ihr Gesicht. Blut spritzte aus ihrer
Nase, und vor ihren Augen tanzten weiße Sterne. Der Mann
wedelte erneut mit dem Lauf der Waffe.
»Nicht reden. In die Kiste, los. Wenn du in der Kiste bist, nehmen
wir dich mit. Ein Wort, ein Laut, bevor ich dich wieder rauslasse,
und du wirst winseln vor Schmerz. Klar?«
Sie fing lautlos zu weinen an. Am liebsten wäre sie vor Scham
und Wut und Angst gestorben, aber so schnell starb es sich nicht.
Diese Männer waren in ihrem Schlafzimmer aufgetaucht,einfach
so, mit Strumpfhosenmasken vor den Gesichtern und Pistolen in
den Händen, und befahlen ihr, in diesen abscheulichen Sarg zu
steigen. Sie hatte keine Zeit, sich an die Situation zu gewöhnen,
keine Zeit für irgendetwas, außer darüber nachzudenken, dass
sie etwas tun sollte. Aber sie tat gar nichts, sie fror und war voller
Angst, und die Männer hatten sie in ihrem Großmutterhöschen
überrascht, und nun wollten die beiden, dass sie in einen selbst
gezimmerten Sarg kletterte, und irgendetwas sagte ihr, dass das
wahrscheinlich nicht die beste Idee war.
Unter diesen Umständen waren Tränen mehr oder weniger
unvermeidlich.
Ihr Blick fiel auf den digitalen Wecker auf dem Nachttisch.
Drei Uhr morgens. Ob ich mir das merken soll? Ob es später wichtig
ist? Aber wird es ein Später geben?
Der Fremde Nummer eins meldete sich zu Wort und erinnerte
sie an das, was wichtig war. »Wenn du nicht in zehn Sekunden
in der Kiste liegst, schneide ich dir eine Titte ab und stopf
sie dir ins Maul.«
Es war die Ruhe, mit der er diese Worte sagte, die völlige
Gelassenheit, die sie schaudern ließ. Als machte es ihm nichts
aus, sie bei lebendigem Leib zu grillen - er würde es trotzdem
rechtzeitig in die Kirche schaffen. Die Tränen versiegten. Sie ließ
den Kopf hängen, und ihre Schultern sanken herab.
»Schon gut«, flüsterte sie kaum hörbar.
Bevor der Deckel sich über ihr schloss, stellte sie die wichtigste
Frage.
»Warum?«
Der Fremde Nummer eins hielt den Deckel fest, während er
aus seinen kalten, gefühllosen Augen auf das zitternde Bündel in
der Kiste starrte. Als er antwortete, blieb seine Stimme so gelassen
und kühl wie zuvor.
»Es ist eine Lektion in Geschichte.«
Erster teil
Geburt
Die Leute denken in Metaphern über ihr Gewissen. Disney
hatte Grillen. Ich habe einen Unschuldsknochen. Beinknochen,
Armknochen, Unschuldsknochen, klar? Manche Leute
haben ihn, andere nicht. Die meisten von uns brechen ihn
sich irgendwann, und dann wird er falsch gerichtet, sodass
er an kalten Tagen schmerzt und ganz allgemein mehr ein
ärgernis ist, als dass er irgendetwas nützt.
-David Rhodes
Kapitel 1 Texas, Dezember 1974
Liebe ist eine Art Musik. Man kann sie singen, man kann sie
spielen, man kann dazu tanzen. Sie füllt Räume und Konzertsäle,
Herzen und Köpfe, und sie ist überall. Es gibt so viele Musikrichtungen,
wie es Menschen gibt.
Manche mögen es orchestral. Schweißtropfen vom Gesicht
eines Dirigenten, während die Liebenden sich küssen. Die Bewegungen
seiner Hände, beschwörend, wild. Weibliche Saiteninstrumente,
süß und dunkel, streiten sich mit den nach Aufmerksamkeit
heischenden Schlägen der Perkussion, und aus dem
Widerstreit wird Harmonie.
Andere ziehen das intime Gleiten einer mit Stahlsaiten bespannten
Gitarre vor.Draußen regnet es.Die Liebenden sind jung,
die Wohnung billig, der Rotwein wird aus der Flasche getrunken.
Die Zukunft ist endlos, und sie wird geteilt, was denn sonst.
Viele haben in der leidenschaftlichen Hingabe an den guten
altmodischen Rock 'n' Roll die Liebe gefunden.
Liegt alles im Ohr des Hörers.
David Rhodes'Liebe für seine Mutter war wie ein A-cappella-
Sopran, gesungen mit der glockenhellen Süße eines sechsjährigen
Knaben. David verehrte Mommy mit Ingrimm, Bewunderung
und völliger Hingabe. Sie war zugleich die kürzeste und längste
Beziehung seines Lebens. Er hatte seine Mutter nur kurze Zeit,
aber diese Zeit veränderte ihn für immer.
So ist die Zeit nun mal. Sie kann sich dehnen wie Toffee oder
träge tropfen wie Honig oder bis in alle Ewigkeit an einem Punkt
verharren, Amen. Zeit kann weinen, Zeit kann lügen.
Die Zeit, für den Moment, war damals, und Mommy war
noch am Leben.
Ich liebe Mommys Haare.
Mommy (sie starb, bevor er alt genug war, um es zu »Mom«
abzukürzen) hatte glattes braunes Haar, das ihr bis zur Taille
reichte und glänzte, wenn das Licht im richtigen Winkel darauf
fiel. Es rahmte das junge Gesicht einer Frau aus dem Mittelwesten
ein, eins von den Gesichtern mit makelloser, sonnengebräunter
Haut, ganz Pfirsich und Sonnenblumen und heißer Apfelkuchen.
Kein Bedarf für Make-up - was gut war, weil Mommy
sich nicht viel leisten konnte. Sie hatte große braune Augen, die
ein bisschen zu alt aussahen, wenn man den Rest von ihr damit
verglich.
Linda (so hieß sie für alle außer für David) hatte ein Lächeln,
das auch den düstersten Tag erhellen konnte. Sie rauchte (Rauchen
war damals noch nicht schädlich), und sie war jung und
unsterblich, und ihre Zähne waren weiß und ebenmäßig, wenn
sie lächelte. Sie konnte dieses Lächeln aus dem Nichts herbeizaubern,
wie ein weißes Kaninchen aus einem schwarzen Zylinder,
egal ob es ihr gut ging oder ob sie hungrig oder müde war. Sie
konnte dieses Lächeln selbst dann zeigen, wenn sie sich wegen
des Monsters sorgte, des gefürchteten Kein-Geld mit seinen spitzen
Fängen.
Davids Vorstellung von Kein-Geld war eher verschwommen
und anthropomorph (er war schließlich erst sechs), doch er
wusste bereits,dass es etwas Schlimmes war.Er wusste,dass es der
Grund dafür war, dass Mommy nachts manchmal weinte. Und
Kein-Geld war auch der Grund dafür (wie er sich inzwischen
zusammengereimt hatte), dass er kein normales Bett besaß.
Sein Bett bestand aus vier »Hähnchenkisten« - wachsüberzogene,
doppelt verstärkte Pappkartons, in denen der Piggly
Wiggly-Supermarkt seine gefrorenen Hähnchen geliefert bekam.
(Er erinnerte sich noch deutlich an jenen Tag, als er zu seinem
Entsetzen herausgefunden hatte, dass Hähnchen in Wirklichkeit
tote Vögel waren. Er hatte sich die Augen ausgeweint und
seither keine Brathähnchen mehr angerührt. Tote Vögel! Igitt.
Bäh.) Wie dem auch sei, Mommy hatte die Kisten hinter dem
Supermarkt gefunden. Sie hatte sie mit nach Hause genommen,
sorgfältig gereinigt, umgedreht und eine Navajo-Decke darüber
gelegt. David schlief auf den Kisten. Mommy nannte es rustikal.
Er wusste nicht, was rustikal bedeutete, doch es klang irgendwie
nach Abenteuer und reizte die Phantasie des Sechsjährigen.
Kein-Geld bedeutete auch, dass Mommy, wenn David sie
nach einem Schokoriegel fragte, »Heute nicht, Liebling« antwortete,
»vielleicht nächste Woche«. Nur dass nächste Woche nie
kam. Was gelindes Bedauern hervorrief, mehr aber auch nicht; es
war keine große Sache. Mommy machte das Leben auch so süß
und spannend genug.
»Geld kommt an zweiter Stelle, an erster kommt der Verstand.
« Sie tippte ihn gegen die Stirn und dann gegen die Brust.
»Die besten Dinge passieren hier, und hier. Verkauf sie nicht, weil
du sie nicht zurückkaufen kannst.«
Sie hatten zwar kein Bett, aber sie hatten einen alten, ramponierten
Plattenspieler. Mommy sagte, der Plattenspieler wäre
total out, was David für sich als »magisch« übersetzte.
»Das Herz nimmt Musik in sich auf wie Zuckerbäckerei,
Liebling. Und manchmal brauchen wir Zuckerbäckerei mehr als
die Luft zum Atmen.«
Es waren Klischees, zugegeben, doch in Davids Erinnerung
blieben sie weise, zum einen, weil Mommy diese Worte gesagt
hatte, zum größten Teil jedoch, weil sie der Wahrheit entsprachen.
Mommy fütterte ihre Herzen regelmäßig mit Musik (vor
allem, wenn sie nicht genug Geld hatte, um ihre Mägen zu füttern).
Sie legte ein Album von den Beatles auf, und sie tanzten
barfuß miteinander, oder sie legte ein Album von einem Mann
namens Bob Dylan auf, und David ruhte in Mommys Armen,
während sie die Lieder leise mitsang.
»Der hat aber keine schöne Stimme«, sagte David eines
Tages.
»Muss er auch nicht haben, Liebling. Er ist Dylan.«
Er verstand zwar nicht, was sie meinte, aber Dylan konnte
Mommy zum Lächeln bringen. Deswegen war Dylan für David
ganz okay.
Mommys Lieblingsplatte war ein Album von Dylan. Es hieß
The Freewheelin' Bob Dylan. David dehnte das Freee Wheeelin'
immer. Es gefiel ihm, wie es auf der Zunge rollte. Das Albumcover
zeigte ein Foto von Dylan Arm in Arm mit einer Frau auf
einer verschneiten Straße. Beide lächelten. Das Bild wurde von
einem Kaffeering verunziert. Manchmal fuhr Mommy mit dem
Finger diesen Ring nach und lächelte verträumt.
»Warum macht dich das so fröhlich?«, hatte David sie einmal
gefragt.
Sie hatte ihn kurz angeschaut, und dann hatte sie ihm ihr
strahlendes Lächeln geschenkt. (Später, als Erwachsener, war
ihm klar geworden, dass seine Mutter gewusst hatte, welche Ausstrahlung
ihr Lächeln besaß, und dass sie es manchmal gezielt
eingesetzt hatte, um sich auf diese Weise Vorteile zu verschaffen.)
»Weil ich daran denken muss, wie der Fleck auf die Hülle
gekommen ist, Baby. Ich war voll und ganz damit beschäftigt,
dich zu machen, und ich hatte vergessen, dass mein Kaffeebecher
noch auf der Plattenhülle stand.«
David begriff nicht, was sie mit »dich zu machen« meinte,
und er fragte auch nie nach - er hatte so eine Ahnung, dass die
Frage, ins helle Licht gerückt, eine ähnliche Wirkung hervorrufen
könnte wie einen Singvogel einzufangen: Man hatte ihn zwar,
aber er sang nie wieder.
Seine Lieblingsmusik war Janis Joplin. ( Janis wurde übrigens
immer beim Vornamen genannt, Dylan nur beim Nachnamen.
David begriff den Grund dafür zwar nicht, akzeptierte aber die
Unabänderlichkeit dieser Tatsache.)
Er fuhr total auf Janis ab,wie Mommy es auszudrücken pflegte.
Janis war Davids Heldin. Mommy sang ihm Texte von Janis vor,
damit er besser einschlafen konnte oder wenn er traurig war oder
sich wehgetan hatte oder weinte. Little Piece of My Heart, leise,
langsam und wunderschön (wundaschööön, hatte David gesagt,
als er vier gewesen war, und dabei Mommys Gesicht mit seinen
Fingern berührt).
Er hatte Janis sogar noch lieber als Yellow Submarine oder
Jeremiah Was A Bullfrog (das er gerne sang, so laut er konnte, weil
es Mommy aus irgendeinem Grund zum Kichern brachte, und
abgesehen davon - was war überhaupt ein Bullfrog?).
Manchmal, in den kalten Monaten (wie diesem), legte
Mommy Janis auf, und dann wickelten sie sich gemeinsam in
Decken und saßen auf dem möbellosen Fußboden und lauschten
den Songs. Mommy rauchte dabei und summte und schaukelte
ihn, bis er in ihren Armen eingeschlafen war.
Als David älter war, hatte er häufig eine Vision von sich
im Damals, schlafend, der Kopf in Mommys Armen nach hinten
gefallen, umhüllt vom Gefühl vollkommener Sicherheit. Er
sehnte sich nach jenem vergangenen Augenblick - wegen dieser
Sicherheit. Alles bei Mommy bedeutete Sicherheit.
Der Boden in der Küche bestand aus gesprungenem Linoleum,
im Wohnzimmer aus ramponierten Dielen. Beides hielt
zwar die Kälte nicht ab, aber David schlief immer warm. Dafür
sorgte Mommy. Manchmal aßen sie zum Frühstück, zu Mittag
und zu Abend bloß Lyoner und Käse, aber sie versäumten nie
eine Mahlzeit, dafür sorgte Mommy.
Irgendwie hatte er das alles Kein-Geld zu verdanken; deshalb
war David nicht allzu böse auf Kein-Geld. Sie hatten Janis, sie
hatten die Beatles, sie hatten Dylan, sie hatten zu essen und sie
hatten einander. Er lachte viel. Er schlief tief und gut und war nie
müde. Es fehlte ihm an nichts.
Inzwischen war wieder Weihnachtszeit, und Mommy hatte
diesen Ausdruck im Gesicht. Sie machte sich Sorgen. Wahrscheinlich
wieder wegen Kein-Geld. Sie trank ihren Kaffee und
rauchte eine Zigarette, während David einen heißen Kakao hinunterstürzte.
Es war kalt im Haus; sie konnten sehen, wie ihr
Atem kondensierte. Unter dem Tisch summte ein Heizlüfter
und wärmte Füße, die in zwei Paar Socken steckten. Mommys
Blick schweifte in weite Fernen. Es gefiel David nicht, wenn sie
so ruhig war.
»Was ist, Mommy?«
Sie zuckte zusammen. Ihre braunen Augen klärten sich. Der
erste Blick, der David traf, war ein bisschen vorwurfsvoll, aber das
war wegen dem Erschrecken. Bald wurde ihr Blick wieder weich,
und sie setzte das Lächeln auf.
»Nichts, Süßer, gar nichts. Ich wünschte nur, wir hätten ein
bisschen mehr Geld für Weihnachten. Ich würde dir gerne ein
paar Geschenke kaufen.«
Er suchte nach Worten, um sie zu trösten.
»Vielleicht bringt mir der Weihnachtsmann eins?«
Sie lächelte und stellte ihre Tasse auf den Tisch. Der Tisch
war klapprig und wacklig und aus dunklem Pinienholz und zerkratzt
bis zum Gehtnichtmehr. Aber das war okay so. Der Tisch
trug das Essen, und das war schließlich alles, was er tun sollte.
»Vielleicht, Honey. Hast du Lust, den Schmuck für den Baum
zu basteln?«
»Au ja!«
Es war in Wirklichkeit gar kein richtiger Baum. Es war ein
Zweig von einem Baum, den ein mitfühlender Nachbar Mommy
gegeben hatte. Er war geformt wie ein Strichmännchen ohne
Beine, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt und den Kopf in
der Mitte. Er sah aus, als würde er zu einer Umarmung auffordern.
Jede Spitze war besetzt mit Büscheln von Tannennadeln.
Mommy hatte einen Milchkarton gefunden, hatte ihn mit Steinen
gefüllt und den Zweig mit dem unteren Ende hineingesteckt,
sodass er aufrecht blieb. Er stand auf dem zerschrammten Boden
gleich neben der Wohnungstür.
Mr. Muncie, der Vermieter, hatte den Weihnachtsbaum
gesehen und spöttisch das Gesicht verzogen. »Raffinierter weißer
Abschaum«, hatte er mit seiner vom Whisky rauen Stimme
geschnaubt und dabei mit seinem vom Whisky geröteten Gesicht
dreingeschaut wie der Beelzebub für ungezogene Kinder, als
Mommy ihm das Geld für die Miete in die Hand gezählt hatte.
David hatte ihr angesehen, dass sie böse war. Mr. Muncie war ein
A-Loch. David wusste das, weil er es Mommy mal hatte sagen
hören. Er war nicht sicher, was ein A-Loch war, doch irgendwie
erschien es ihm klüger, nicht danach zu fragen.
»Was wollen wir hören?«, fragte Mommy jetzt.
»Abbey Road!«
»Gute Wahl.«
Sie suchte die Platte und legte sie auf. David hörte das Knistern
und Knacken und das leise Pop, als die Nadel die Rille
fand. Einen Moment später ertönte Abbey Road aus dem kleinen
Lautsprecher. Janis war zwar seine Lieblingssängerin, aber
Come Together war sein absolutes Lieblingslied. Feet down be-low
his knees. Diese erhabene Feststellung des Offensichtlichen ließ
ihn jedes Mal aufs Neue albern kichern. In seinen Augen war es
schlichtweg genial.
»Du schneidest die Zeitungen, Honey, und ich schneide die
Eierbecher aus den Eierkartons.«
»Okay, Mommy.«
Linda hatte während der letzten Tage einen kleinen Stapel
Zeitungen gesammelt. David griff sich das Papier und eine
Schere und setzte sich neben dem Plattenspieler auf den Boden.
»Ist dir kalt?«, fragte Mommy.
»Nein, alles prima.«
Er bot ein Bild der Konzentration, als er mit herausgestreckter
Zunge die Zeitung in kurze, schmale Streifen zerschnitt,
was ungefähr zehn Minuten in Anspruch nahm. Maxwell's Silver
Hammer endete und Oh, Darling fing bereits an, als er den Packen
Papierstreifen nahm und zu seiner Mutter an den Tisch
brachte.
»Gute Arbeit, Honey«, sagte Mommy und schenkte ihm ihr
Lächeln. Er strahlte. »Und jetzt machen wir kleine Kringel daraus.«
Wollte man die Zeitungsstreifen zu Kringeln formen, musste
man einen Stift nehmen und sie fest darumwickeln. Nach dem
Abrollen blieben die Kringel. Linda und David verbrachten weitere
zehn Minuten damit. Als sie fertig waren, war She's So Heavy
fast zu Ende.
»Jetzt stechen wir die Büroklammern durch ein Ende und
hängen sie daran auf«, sagte Linda.
Sie hatte die Eierbecher aus dem Boden eines Eierkartons
ausgeschnitten, sodass jeder einzelne zu einer Glocke aus Pappmaché
wurde, wenn man ihn umdrehte - insgesamt zwölf, doch
sie würden nur sieben davon benutzen. Linda nahm eine Handvoll
Büroklammern und machte sich daran, den Draht gerade zu
biegen, sodass am Ende kleine Haken blieben.
»Dreh die Platte um, Baby«, murmelte sie, als der letzte Song
geendet hatte.
David legte die B-Seite auf und wartete, bis er die ersten
Klänge von Here Comes The Sun hörte.
Linda war unterdessen fertig mit dem Biegen der Büroklammern.
Nun begann sie, die Enden durch die Glocken aus Eierkarton
zu stechen. Wenn eine Glocke fertig war, legte sie diese vor
David auf den Tisch, und der Junge befestigte die gekringelten
Papierstreifen am Haken im Innern der Glocke. Das Ergebnis
war ein handgefertigter Christbaumschmuck, der mit der Glockenöffnung
und den Papierstreifen darin nach unten am Baum
befestigt wurde.
Als Linda mit dem Durchstechen der Kartons fertig war, half
sie ihrem Sohn mit den Streifen. Sie redeten nicht viel, konzentrierten
sich stattdessen auf ihre Arbeit. Polythene Pam ging über
in She Came Through The Bathroom Window, gefolgt von Golden
Slumbers.
Sie wurden fertig, als The End ausklang.
»Gutes Timing, Baby«, sagte Linda. »Und gute Arbeit.«
»Darf ich sie in den Baum hängen?«
»Na klar. Aber leg zuerst eine neue Platte auf, okay? Was sagst
du zu Janis?«
David beobachtete, wie Mommy sich eine neue Zigarette
anzündete, und für einen Moment schien die Zeit in ihrer kalten
Wohnung stehen zu bleiben. In späteren Jahren würde er immer
wieder versuchen, sich diese Sekunde zu erklären. Es war eine
Kombination verschiedener Dinge, die in einem einzigen Augenblick
aufrichtiger, ehrlicher, überwältigender Emotion zusammenkamen.
David war nie so recht glücklich mit seinen Bemühungen,
diesen Augenblick zu definieren. Letzten Endes gab er
sich damit zufrieden, ihn folgendermaßen zu beschreiben:
Ich war überwältigt. Das ist das einzige und beste Wort dafür.
Überwältigt von meiner Liebe zu ihr. Sie füllte mein Herz bis zum
Überlaufen, und dann ergoss sie sich in meine Seele und noch weiter,
ich weiß nicht, wohin. Ich erinnere mich undeutlich und bruchstückhaft,
wie ich dachte, dass sie die schönste Frau auf Erden sei,
und unglaublich klug, vor allem aber wusste ich mit absoluter und
alles überstrahlender Gewissheit, dass meine Mutter mich über alles
liebte.
»Leg Dylan auf, Mommy.«
Sie legte den Kopf schief und sah ihn an. »Ich dachte, du
magst ihn nicht besonders?«
Er antwortete nicht. Stattdessen legte er Freewheelin' auf
den Plattenteller, senkte den Tonarm und wartete, bis die ersten
Klänge von Blowin in the Wind einsetzten. Er spitzte die Ohren,
und beinahe, beinahe hätte er es ebenfalls gespürt in jenem
Augenblick - die Schönheit von Nur-Bob und seiner unschönen
Stimme und seiner Gitarre und Sonst-Nichts. Es hatte etwas
radikal Ehrliches.
David drehte sich zu Mommy und lächelte. »Ich hab dich lieb,
Mommy. Frohe Weihnachten.«
David hatte ein Lächeln, das bis aufs Haar so gewinnend und
überwältigend sein konnte wie das seiner Mutter. Nur wusste er
das nicht; deshalb war er verwundert und ein bisschen bestürzt,
als er den Schimmer in ihren Augen sah.Linda wusste sehr genau,
wie ihre Tränen David bekümmerten, also überdeckte sie ihre
Rührung mit einem Zug an ihrer Filterlosen und einem Schluck
von ihrem heißen schwarzen Kaffee. Beides ließ ihre Augen wieder
trocknen.
»Frohe Weihnachten, David.«
Er hängte den selbstgemachten Weihnachtsschmuck an den
falschen Baum und war glücklich.
***
Als er mit dem Schmücken fertig war, hatte Dylan aufgehört zu
singen. Linda nahm zwei Gläser vom Ablauf neben dem Spülbe
cken und einen kleinen Karton Eierlikör aus dem Kühlschrank.
Sie hatte eine Decke vor dem Heizlüfter ausgebreitet, und nun
setzte sie sich mit untergeschlagenen Beinen darauf.
»Ist jetzt die Zeit für Eierlikör, Mommy?«, fragte David.
Mommy antwortete nicht sogleich. Stattdessen liebkoste sie
ihn mit Blicken, und ihr Herz schaukelte sanft. David lächelte sie
an, und Linda kam nicht zum ersten Mal der Gedanke, dass ein
solches Lächeln das unwiderstehlichste Argument zu leben war,
das sie finden konnte. David nutzte jede Faser seines Körpers,
um dieses Lächeln zu befeuern. Es war eine Batterie aus reiner
Freude.
»Jepp. Dreh das Licht runter, Honey. Wir wollen so tun, als
wäre der Heizlüfter unser Lagerfeuer.«
»Oh, ja, klasse«, sagte David.
Linda sah ihm hinterher, als er auf seinen weißen Socken
durch den Raum schlurfte, und spürte einmal mehr, wie ihr das
Herz aufging. Er war so klein und zerbrechlich und diese Welt so
rau ... und er war zugleich das wundervollste Wesen ebendieser
Welt. Jedes Mal, wenn sie ihn ansah, fühlte sie sich in wenigstens
zehn verschiedene emotionale Richtungen gleichzeitig gezogen,
erfüllt von Liebe, Kraft, Angst, Wildheit.
Du bist die größte Herausforderung in meinem Leben, dachte sie,
während sie beobachtete, wie David sich auf die Zehenspitzen
stellte, um an den Schalter heranzukommen. Das ist meine Angst,
Honey - ich mag bei allen möglichen Dingen versagen, aber ich kann
nicht als deine Mutter versagen und mir hinterher noch in die Augen
sehen.
David legte den Schalter um, und im Zimmer wurde es dunkel.
Er kam zurück, und auf seinem Gesicht stand jener Ausdruck,
der Linda verriet, dass er ein bisschen zu ernsthaft nachdachte für
einen Jungen in seinem Alter. Nicht dass er unglücklich gewesen
wäre oder introvertiert - es war eher so, wie es mal einer ihrer
früheren Kollegen auf der Arbeit ausgedrückt hatte. Der Junge
kann gehen und Kaugummi kauen zur gleichen Zeit. David dachte
manchmal einfach nur deshalb über die Dinge nach, weil er
schlau genug dafür war und die Gelegenheit dazu hatte.
Er wird intelligenter als du, sagte die Stimme der Wahrheit in
ihr. Sie war weder zu laut noch zu leise, diese Stimme, weder
billigend noch tadelnd. Die Stimme der Wahrheit richtete nicht
über Gut oder Böse, richtig oder falsch, sondern schilderte die
ungeschönte Realität. Die Fähigkeit zu akzeptieren, was die
Stimme ihr sagte, war Lindas größte Stärke.
Diese spezielle Wahrheit (und sie war unbestreitbar, das sah
Linda so klar und deutlich wie den bevorstehenden Tag) war eine
Ermahnung, die sie mit wildem, brennendem Stolz erfüllte. Es
war ein Gefühl, dass sie am liebsten durch die Stadt gerannt wäre
und allen entgegengeschrien hätte: Er ist mein Sohn, und er ist
etwas Besonderes! Habt ihr gehört? Er ist etwas ganz Besonderes!
Genau das hatte sie einmal getan - in einem Traum. Ihre
Rufe und ihr Laufen hatten sie schließlich zu einer gesichtslo-
sen weiblichen Figur aus Luft und Glas geführt. Linda hatte vor
ihr gestanden, hatte geblinzelt, hatte nach irgendeinem Merkmal
gesucht, um der Gestalt eine unverwechselbare Identität zu
geben, hatte aber nichts finden können.
Ich habe einen Sohn, Mutter, hatte sie in ihrem Traum gedacht,
an die Gestalt gewandt (weil sie nie ihre eigene Stimme zu ihrer
Mutter hatte sprechen hören und keine Vorstellung hatte, wie so
eine Stimme klang). Ich habe einen Sohn, und er ist etwas Besonderes,
hörst du? Ich selbst mag nichts Besonderes sein, aber er ist es.
Ich weiß nicht, ob es für dich eine gute Nachricht ist, weil du mich
geliebt hast, oder eine schlechte, weil du mich gehasst hast, aber es ist
die Wahrheit, und ich dachte, du solltest es erfahren.
Die gläserne Gestalt hatte geschwiegen und sich nicht gerührt,
bis Linda aufgewacht war.
Doch in den Stolz auf ihren Sohn mischte sich Furcht. Werde
ich ihn eines Tages langweilen? Weil ich zu dumm bin und er so klug?
Werde ich vielleicht sogar peinlich für ihn sein? Wird meine Herkunft
zu deutlich durchschimmern, und werden seine Anrufe und seine
Besuche zu Hause seltener und seltener?
Oder jener geheimste, beschämendste Gedanke von allen:
Wird er mich bemitleiden?
»Eierlikör, Mommy.«
David kletterte in seinen »Mommy-Raum«, wie Linda ihn
bei sich nannte: Hintern am Boden, Hacken angezogen, Steißbein
an jenem Ort, dem er entschlüpft war, Hinterkopf an ihren
Brüsten und die Rundung seines Rückens an jener Kurve, die
Mutter Natur und die Liebe aus der Weichheit ihres Leibes für
ihn geschaffen hatten.
Erschauernd spürte sie, wie jenes unglaubliche, unbeschreibliche
Gefühl sie durchströmte,das Zentrum des Universums ihres
Kindes zu sein, und sie ließ zu, dass es ihre Ängste davonspülte.
Bald schon würde er seinem Mommy-Raum entwachsen sein, in mehr als einer Hinsicht - doch bald war nicht heute. Heute und jetzt wollte er Eierlikör.
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2010 by Cody Mcfadyen
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2011 by
Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Lektorat:Wolfgang Neuhaus/Jan F.Wielpütz
Umschlaggestaltung: Manuela Städele
Umschlagmotiv: © plainpicture /Albalta
Satz: Siebel Druck & Grafik, Lindlar
Gesetzt aus der Adobe Caslon Pro
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-7857-2407-1
54321
Sie finden uns im Internet unter: www.luebbe.de
Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de
... weniger
Autoren-Porträt von Cody McFadyen
Cody Mcfadyen, geboren 1968, unternahm als junger Mann mehrere Weltreisen und arbeitete danach in den unterschiedlichsten Branchen. Der Autor ist verheiratet, Vater einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Kalifornien. "Die Blutlinie" war sein erster Roman und sorgte weltweit für Aufsehen. In Deutschland war der Thriller, ebenso wie die folgenden Bände aus der Reihe um Smoky Barrett, "Der Todeskünstler", "Das Böse in uns" und "Ausgelöscht" wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Sein neuer Roman "Der Menschenmacher" erschien im Februar 2011 und eroberte sofort die Bestsellerlisten.
Autoren-Interview mit Cody McFadyen
Der bekannte Bestseller-Autor hat sich exklusiv den Fragen unserer Weltbild-Fans auf Facebook gestellt. Hier finden Sie das komplette Interview.1. Kati Kölln: Gibt es einen Ort, Gegenstand oder Menschen der Sie zu Ihren Büchern besonders inspiriert?
... mehr
Für mich ist alles Inspiration. Und die Inspiration finde ich an vielen Orten. Oft sitze ich einfach nur da, beobachte und höre zu, was um mich herum passiert. Wir neigen meistens dazu, die Leute um uns herum als fremde Menschenmenge wahrzunehmen, aber wenn man sich einzelne Personen herausnimmt und sie beobachtet, lernt man eigentlich immer etwas dazu. Aus solchen Beobachtungen ziehe ich eine Menge.
Ich habe mir auch angewöhnt, Fremde einfach anzusprechen. Manchmal sage ich ganz direkt, dass ich Schriftsteller bin und frage sie nach ihren interessantesten Erlebnissen. Die Geschichten, die ich dann höre, haben diese Authentizität - sie sind einmalig und schräg. Einmal hat mir ein Taxifahrer, der so um die 50 war, erzählt, dass er, als er 30 war, im kleinen Stil mit Kokain gedealt hat. Zusammen mit Freunden hatte er genug Geld zusammenbekommen, um ein halbes Kilo zu kaufen - ihr "großer Coup". Der Mann kaufte das halbe Kilo und tat es in seinen Rucksack. Er hat mir erklärt, dass er damals selbst drogenabhängig war. Er und seine Freunde waren eine Woche lang auf einem Trip, schliefen kaum und wurden total paranoid. Deshalb hatte er sein Auto extra 10 Straßen vom Treffpunkt mit dem Dealer entfernt geparkt. Er wollte so seine Spuren verwischen. Auf dem Rückweg blickte er sich ständig völlig panisch um. Am Auto angekommen, bemerkte er, dass das ganze Koks weg war, weil die Tüte und sein Rucksack ein Loch hatten. Während er sich also panisch Sorgen wegen der Polizei machte, hatte er sein Kokain die ganze Zeit auf der Straße verteilt. Nach der Erfahrung wurde der Mann clean, fing an Taxi zu fahren, heiratete und wurde richtig bürgerlich.
Ich glaube also, die Menschen an sich sind meine Inspiration. Denn so kann es im Leben immer gehen. Man kommt an einen Punkt und plötzlich dreht sich das Leben um 180 Grad - und oft steckt wirklich was dahinter. Und man fragt sich natürlich auch: Was wäre mit dem Mann passiert, wenn er den Stoff nicht verloren hätte? Solche zufälligen Wendungen sorgen dafür, dass ich mich so sehr für das alltägliche Leben der Menschen interessiere. Und das beeinflusst mein Schreiben.
2. Andreas Göddertz: Worüber wird Ihr nächster Roman handeln?
Üble Wettkämpfe und neue Hoffnung.
3. Helen Neuenhofer: Welchen Autor/in lebend oder bereits verstorben hätten Sie gerne persönlich kennengelernt?
Oh ja, natürlich. Es sind sogar so viele, dass ich sie gar nicht alle auflisten kann. Und die Wahrheit ist: Da ich selbst ein fleißiger Leser bin, bin ich meistens ziemlich beeindruckt von den "leibhaftigen Autoren", die ich treffe.
4. Andy Saerdna: Was ist Ihr persönlicher Bestseller der Weltliteratur und aktuell? Was lesen Sie selbst momentan?
Ich kann gar nicht sagen, welches mein aktuelles Lieblingsbuch ist. Am liebsten lese ich immer ein Sachbuch und einen Roman gleichzeitig, im Moment gerade ein Buch von Dennis Lehane und eins von Bertrand Russell. Eigentlich lese ich alle Sorten von Büchern, aber ich habe schon ein grosses Faible für gut geschriebene Krimis.
5. Torsten Paffrath: Hey Cody, vielen Dank für Deine Bücher. Wolltest Du schon immer Schriftssteller werden? Oder anders gefragt: Was war Dein Berufswunsch als Kind/Jugendlicher?
Erst mal Danke, dass Du meine Bücher liest. Als Kind wollte ich entweder Wissenschaftler oder Künstler werden. Für einige Jahre wollte ich auch mal Comiczeichner werden, allerdings fehlte mir dafür das Talent. Als Teenager habe ich dann angefangen zu schreiben, allerdings nur für mich selbst, und da habe ich dann auch ernsthaft erwogen Schriftsteller zu werden. Aber den Wunsch habe ich dann fast 20 Jahre lang aus den Augen verloren - und heute - bin ich es doch geworden.
6. Nicole Wagner: Hey Mr. McFadyen, wovor fürchten Sie sich am meisten?
Langeweile!
7. Nicole Rothenberger: Fällt es Ihnen schwer, sich in die Psyche ihrer "Hauptcharakters" zu versetzen? Denn alle ihre Romane lesen sich so realistisch, als wäre all das schon einmal passiert- und Sie würden einen Bericht darüber schreiben. Dafür bewundere ich Sie - und frage mich: Kann man mit dem Wissen, das es solche Menschen wirklich geben könnte, wirklich frei und ohne Angst leben?
Gute Frage! Ich denke, man muss einfach wissen, wie man mit der Angst umgeht - und wann und ob man sie zulässt. In unserem Alltag werden wir ständig mit potentiellen Gefahren konfrontiert, über die wir meistens gar nicht mal nachdenken, das wäre auch gar nicht praktikabel. Und ich weiß, dass es da draußen böse Menschen gibt, ich realisiere das, aber auch darüber denke ich nicht ständig nach. Ich treffe gewisse Vorsichtsmassnahmen - und dann muss ich diese Angst auch loslassen können. Ehrlich gesagt, jeder Mensch, der jeden Tag ins Auto steigt und zur Arbeit fährt, handelt genau so. Was da alles passieren könnte, darf man sich gar nicht erst ausmalen, sonst würde man verrückt werden. Und was wäre die Alternative? Man muss trotzdem mit dem Auto zur Arbeit fahren. Dennoch darf man die Gefahren nicht unterschätzen. Es ist und bleibt immer noch erschreckend, dass solche Männer und Frauen unter uns sind. Aber genauso erschreckend ist eine schlimme Krankheit, wie zum Beispiel Krebs. Die richtige Balance zu halten zwischen Vorsicht, Sicherheit und dennoch sein Leben zu leben ist immer schwierig.
8. Bruni Nuernberger: Ich habe gehört, dass in ihrem neuen Band Smoky nicht vorkommt, bzw. nur marginal. Ist sie im übernächsten Band wieder die Hauptfigur?
Das nächste Buch wird auf jeden Fall eine Smoky Barrett-Geschichte.
9. Katrin Lechner: Haben Sie bestimmte Gewohnheiten während des Schreibens? Vielleicht 5 Tassen Kaffee, ein bestimmter Radiosender, Nägelkauen, oder ähnliches?
Beim Schreiben neige ich dazu in einen bestimmten "Lifestyle" zu verfallen. Das Familienleben macht das zwar manchmal ziemlich schwierig, aber es ist der einzige Weg. Im Allgemeinen schreibe ich in einem bestimmten Rhythmus: Ich schreibe und mache Pause, schreibe und mache Pause, ohne dass ich wirklich aus dem "Kokon" des Schreibens herauskomme. Während der Pausen lege ich den Laptop zur Seite und gucke Fernsehen oder irgendeinen Film und dann fange ich wieder an zu schreiben. An sehr guten Tagen kann ich das bis zu 15 Stunden durchhalten, wovon ich 11-12 Stunden durchschreibe. Beim Schreiben selbst habe ich es am Liebsten, wenn der Fernseher oder irgendeine Musik im Hintergrund läuft. Meine Bücher schreibe ich in einem Sessel. Früher habe ich auf einem normalen Stuhl geschrieben, aber das mochte mein Rücken nicht. Außerdem rasiere ich mich nicht und verwahrlose so ein ganz kleines bisschen, während ich einen Roman schreibe.
10. Melanie Reichert: Welche Person motiviert und unterstützt Sie am meisten?
Ich kann da gar nicht eine bestimmte Person herausheben. Mich motiviert einfach prinzipiell der Wunsch, für meine Familie zu sorgen.
11. Carolin Herzig: Wie lange schreiben Sie ungefähr an einem Thriller?
Das ist unterschiedlich. Aber so im Schnitt brauche ich für die erste Fassung zwischen drei und vier Monaten.
12. Mel LaOh: Welche Schauspieler wären für Sie die ideale Besetzung ihrer Hauptcharaktere, wenn es zu einer Verfilmung käme?
Holly Hunter und Angelina Jolie.
13. Simone Glor: Zu welcher Tageszeit haben Sie die besten Ideen?
Vormittags oder spät in der Nacht.
14. Susan Schneier: Woher kommen die Ideen für die Bücher? Wodurch lassen Sie sich inspirieren?
Brauchen Sie viel Ruhe beim Schreiben und wenn Ihnen Ideen kommen können sie sie im Kopf behalten oder notieren Sie sich die Ideen?
Schreiben Sie spontan oder planen Sie Ihr Buch bis zum Ende?
Als Sie noch nicht so bekannt waren, wie haben Sie es geschafft an einen Buchverlag zu kommen?
Mich interessiert noch wer liest die Korrektur und haben Sie Einfluß auf das Cover?
Ich weiss, es sind viele Fragen aber wenn ich schon einmal die Möglichkeit habe, mit einem Autor zu kommunizieren dann möchte ich dies auch nutzen!
Ganz lieben Dank im voraus für die Beantwortung meiner Fragen.
Ich wünsche Ihnen noch ganz viele Ideen und Erfolge für die Zukunft!
Ich erhalte die Ideen für mein Buch, indem ich das Leben beobachte, lese, Filme schaue, recherchiere, Musik höre und durch Gespräche mit Leuten.
Das Internet ist ein erstaunliches Werkzeug für Forschung aller Arten.
Während ich schreibe, läuft im Hintergrund der Fernseher.
Ich notiere meine Ideen.
Einerseits plane ich die Geschichten von langer Hand, aber andererseits sind sie auch spontan. Aber ich denke, dass ein bisschen mehr Planung besser wäre, da es die Bearbeitung leichter machen würde.
Ich habe ein Buch geschrieben, fand einen Agenten und er reichte es an einen Verlag weiter. Es war also ein ziemliches Glück, dass bei mir alles so glatt lief. Manchmal sage ich was zum Cover, und manchmal nicht. Es kommt immer ganz darauf an. Generell überlasse ich diese Entscheidung aber den Profis.
15. Maximilian Wiesmann: Guten Abend, meine Frage lautet: Was ist für Sie ein grenzwertiges Thema, worüber Sie eher nicht schreiben möchten/können, bzw wo liegt Ihre Ekelgrenze?
Ich denke nicht, dass es so sehr das Thema selbst ist, sondern eher, wie es geschrieben ist.
Über Kindesmissbrauch zu schreiben ist immer sehr schwierig, weil man die Balance finden muss, nicht zu viel und auch nicht zu wenig darüber zu schreiben. Ehrlich gesagt, finde ich die Recherche dazu am schlimmsten. Worüber ich schreibe, egal, wie brutal es ist, ist immer nur eine abgeschwächte Version der Realität. Ich denke also, als allgemeine Regel gilt, dass ein Schriftsteller über jedes Thema schreiben darf.
16. Erika Billinger: Wie fanden deine Lehrer Ihre Aufsätze?
Für die Inhalte bekam ich gute Noten, aber an der Grammatik bin ich manchmal gescheitert.
17. Melanie Schneider: Wie schaffen sie es, einen Leser so derart an das Buch zu fesseln, dass man es nicht mehr aus der Hand legen möchte?! Muss man selber ein wenig psychophatisch um sich solche Geschichten auszudenken oder können sie dabei ihrem "gewohnten Tagesablauf" nachgehen??
Ich benutze Ziegenblut für meine Zaubersprüche. Spaß beiseite: Es kommt immer ganz auf das Thema an, das kann variieren. Manchmal nimmt es mich sehr mit, aber an den meisten Tagen nicht.
18. Akilegna Sytlohcs: Wie schreiben Sie Ihre Bücher? Am PC, der Schreibmaschine oder mit Kugelschreiber ...? Haben Sie immer Spaß beim Schreiben oder haben Sie auch Phasen in denen die Lust dazu gerade fehlt?
Am Computer. Ich habe hohe Achtung vor Schriftstellern, die ihre Bücher mit Schreibmaschinen oder sogar mit der Hand geschrieben haben. Ich würde wahrscheinlich verrückt werden.
Das Schreiben an sich genieße ich selten. Viel mehr genieße ich es, das fertige Gesamtwerk zu betrachten. Ich liebe es sozusagen, geschrieben zu haben.
19. Liane Rhodes: Woher holen Sie sich Ihre Inspiration? Wird es weitere Bücher mit FBI-Agentin Smoky Barrett?
Ich schreibe diese Serie noch so lange, bis mir nichts mehr dazu einfällt oder das Interesse daran verloren geht.
Für mich ist alles Inspiration. Und die Inspiration finde ich an vielen Orten. Oft sitze ich einfach nur da, beobachte und höre zu, was um mich herum passiert. Wir neigen meistens dazu, die Leute um uns herum als fremde Menschenmenge wahrzunehmen, aber wenn man sich einzelne Personen herausnimmt und sie beobachtet, lernt man eigentlich immer etwas dazu. Aus solchen Beobachtungen ziehe ich eine Menge.
Ich habe mir auch angewöhnt, Fremde einfach anzusprechen. Manchmal sage ich ganz direkt, dass ich Schriftsteller bin und frage sie nach ihren interessantesten Erlebnissen. Die Geschichten, die ich dann höre, haben diese Authentizität - sie sind einmalig und schräg. Einmal hat mir ein Taxifahrer, der so um die 50 war, erzählt, dass er, als er 30 war, im kleinen Stil mit Kokain gedealt hat. Zusammen mit Freunden hatte er genug Geld zusammenbekommen, um ein halbes Kilo zu kaufen - ihr "großer Coup". Der Mann kaufte das halbe Kilo und tat es in seinen Rucksack. Er hat mir erklärt, dass er damals selbst drogenabhängig war. Er und seine Freunde waren eine Woche lang auf einem Trip, schliefen kaum und wurden total paranoid. Deshalb hatte er sein Auto extra 10 Straßen vom Treffpunkt mit dem Dealer entfernt geparkt. Er wollte so seine Spuren verwischen. Auf dem Rückweg blickte er sich ständig völlig panisch um. Am Auto angekommen, bemerkte er, dass das ganze Koks weg war, weil die Tüte und sein Rucksack ein Loch hatten. Während er sich also panisch Sorgen wegen der Polizei machte, hatte er sein Kokain die ganze Zeit auf der Straße verteilt. Nach der Erfahrung wurde der Mann clean, fing an Taxi zu fahren, heiratete und wurde richtig bürgerlich.
Ich glaube also, die Menschen an sich sind meine Inspiration. Denn so kann es im Leben immer gehen. Man kommt an einen Punkt und plötzlich dreht sich das Leben um 180 Grad - und oft steckt wirklich was dahinter. Und man fragt sich natürlich auch: Was wäre mit dem Mann passiert, wenn er den Stoff nicht verloren hätte? Solche zufälligen Wendungen sorgen dafür, dass ich mich so sehr für das alltägliche Leben der Menschen interessiere. Und das beeinflusst mein Schreiben.
2. Andreas Göddertz: Worüber wird Ihr nächster Roman handeln?
Üble Wettkämpfe und neue Hoffnung.
3. Helen Neuenhofer: Welchen Autor/in lebend oder bereits verstorben hätten Sie gerne persönlich kennengelernt?
Oh ja, natürlich. Es sind sogar so viele, dass ich sie gar nicht alle auflisten kann. Und die Wahrheit ist: Da ich selbst ein fleißiger Leser bin, bin ich meistens ziemlich beeindruckt von den "leibhaftigen Autoren", die ich treffe.
4. Andy Saerdna: Was ist Ihr persönlicher Bestseller der Weltliteratur und aktuell? Was lesen Sie selbst momentan?
Ich kann gar nicht sagen, welches mein aktuelles Lieblingsbuch ist. Am liebsten lese ich immer ein Sachbuch und einen Roman gleichzeitig, im Moment gerade ein Buch von Dennis Lehane und eins von Bertrand Russell. Eigentlich lese ich alle Sorten von Büchern, aber ich habe schon ein grosses Faible für gut geschriebene Krimis.
5. Torsten Paffrath: Hey Cody, vielen Dank für Deine Bücher. Wolltest Du schon immer Schriftssteller werden? Oder anders gefragt: Was war Dein Berufswunsch als Kind/Jugendlicher?
Erst mal Danke, dass Du meine Bücher liest. Als Kind wollte ich entweder Wissenschaftler oder Künstler werden. Für einige Jahre wollte ich auch mal Comiczeichner werden, allerdings fehlte mir dafür das Talent. Als Teenager habe ich dann angefangen zu schreiben, allerdings nur für mich selbst, und da habe ich dann auch ernsthaft erwogen Schriftsteller zu werden. Aber den Wunsch habe ich dann fast 20 Jahre lang aus den Augen verloren - und heute - bin ich es doch geworden.
6. Nicole Wagner: Hey Mr. McFadyen, wovor fürchten Sie sich am meisten?
Langeweile!
7. Nicole Rothenberger: Fällt es Ihnen schwer, sich in die Psyche ihrer "Hauptcharakters" zu versetzen? Denn alle ihre Romane lesen sich so realistisch, als wäre all das schon einmal passiert- und Sie würden einen Bericht darüber schreiben. Dafür bewundere ich Sie - und frage mich: Kann man mit dem Wissen, das es solche Menschen wirklich geben könnte, wirklich frei und ohne Angst leben?
Gute Frage! Ich denke, man muss einfach wissen, wie man mit der Angst umgeht - und wann und ob man sie zulässt. In unserem Alltag werden wir ständig mit potentiellen Gefahren konfrontiert, über die wir meistens gar nicht mal nachdenken, das wäre auch gar nicht praktikabel. Und ich weiß, dass es da draußen böse Menschen gibt, ich realisiere das, aber auch darüber denke ich nicht ständig nach. Ich treffe gewisse Vorsichtsmassnahmen - und dann muss ich diese Angst auch loslassen können. Ehrlich gesagt, jeder Mensch, der jeden Tag ins Auto steigt und zur Arbeit fährt, handelt genau so. Was da alles passieren könnte, darf man sich gar nicht erst ausmalen, sonst würde man verrückt werden. Und was wäre die Alternative? Man muss trotzdem mit dem Auto zur Arbeit fahren. Dennoch darf man die Gefahren nicht unterschätzen. Es ist und bleibt immer noch erschreckend, dass solche Männer und Frauen unter uns sind. Aber genauso erschreckend ist eine schlimme Krankheit, wie zum Beispiel Krebs. Die richtige Balance zu halten zwischen Vorsicht, Sicherheit und dennoch sein Leben zu leben ist immer schwierig.
8. Bruni Nuernberger: Ich habe gehört, dass in ihrem neuen Band Smoky nicht vorkommt, bzw. nur marginal. Ist sie im übernächsten Band wieder die Hauptfigur?
Das nächste Buch wird auf jeden Fall eine Smoky Barrett-Geschichte.
9. Katrin Lechner: Haben Sie bestimmte Gewohnheiten während des Schreibens? Vielleicht 5 Tassen Kaffee, ein bestimmter Radiosender, Nägelkauen, oder ähnliches?
Beim Schreiben neige ich dazu in einen bestimmten "Lifestyle" zu verfallen. Das Familienleben macht das zwar manchmal ziemlich schwierig, aber es ist der einzige Weg. Im Allgemeinen schreibe ich in einem bestimmten Rhythmus: Ich schreibe und mache Pause, schreibe und mache Pause, ohne dass ich wirklich aus dem "Kokon" des Schreibens herauskomme. Während der Pausen lege ich den Laptop zur Seite und gucke Fernsehen oder irgendeinen Film und dann fange ich wieder an zu schreiben. An sehr guten Tagen kann ich das bis zu 15 Stunden durchhalten, wovon ich 11-12 Stunden durchschreibe. Beim Schreiben selbst habe ich es am Liebsten, wenn der Fernseher oder irgendeine Musik im Hintergrund läuft. Meine Bücher schreibe ich in einem Sessel. Früher habe ich auf einem normalen Stuhl geschrieben, aber das mochte mein Rücken nicht. Außerdem rasiere ich mich nicht und verwahrlose so ein ganz kleines bisschen, während ich einen Roman schreibe.
10. Melanie Reichert: Welche Person motiviert und unterstützt Sie am meisten?
Ich kann da gar nicht eine bestimmte Person herausheben. Mich motiviert einfach prinzipiell der Wunsch, für meine Familie zu sorgen.
11. Carolin Herzig: Wie lange schreiben Sie ungefähr an einem Thriller?
Das ist unterschiedlich. Aber so im Schnitt brauche ich für die erste Fassung zwischen drei und vier Monaten.
12. Mel LaOh: Welche Schauspieler wären für Sie die ideale Besetzung ihrer Hauptcharaktere, wenn es zu einer Verfilmung käme?
Holly Hunter und Angelina Jolie.
13. Simone Glor: Zu welcher Tageszeit haben Sie die besten Ideen?
Vormittags oder spät in der Nacht.
14. Susan Schneier: Woher kommen die Ideen für die Bücher? Wodurch lassen Sie sich inspirieren?
Brauchen Sie viel Ruhe beim Schreiben und wenn Ihnen Ideen kommen können sie sie im Kopf behalten oder notieren Sie sich die Ideen?
Schreiben Sie spontan oder planen Sie Ihr Buch bis zum Ende?
Als Sie noch nicht so bekannt waren, wie haben Sie es geschafft an einen Buchverlag zu kommen?
Mich interessiert noch wer liest die Korrektur und haben Sie Einfluß auf das Cover?
Ich weiss, es sind viele Fragen aber wenn ich schon einmal die Möglichkeit habe, mit einem Autor zu kommunizieren dann möchte ich dies auch nutzen!
Ganz lieben Dank im voraus für die Beantwortung meiner Fragen.
Ich wünsche Ihnen noch ganz viele Ideen und Erfolge für die Zukunft!
Ich erhalte die Ideen für mein Buch, indem ich das Leben beobachte, lese, Filme schaue, recherchiere, Musik höre und durch Gespräche mit Leuten.
Das Internet ist ein erstaunliches Werkzeug für Forschung aller Arten.
Während ich schreibe, läuft im Hintergrund der Fernseher.
Ich notiere meine Ideen.
Einerseits plane ich die Geschichten von langer Hand, aber andererseits sind sie auch spontan. Aber ich denke, dass ein bisschen mehr Planung besser wäre, da es die Bearbeitung leichter machen würde.
Ich habe ein Buch geschrieben, fand einen Agenten und er reichte es an einen Verlag weiter. Es war also ein ziemliches Glück, dass bei mir alles so glatt lief. Manchmal sage ich was zum Cover, und manchmal nicht. Es kommt immer ganz darauf an. Generell überlasse ich diese Entscheidung aber den Profis.
15. Maximilian Wiesmann: Guten Abend, meine Frage lautet: Was ist für Sie ein grenzwertiges Thema, worüber Sie eher nicht schreiben möchten/können, bzw wo liegt Ihre Ekelgrenze?
Ich denke nicht, dass es so sehr das Thema selbst ist, sondern eher, wie es geschrieben ist.
Über Kindesmissbrauch zu schreiben ist immer sehr schwierig, weil man die Balance finden muss, nicht zu viel und auch nicht zu wenig darüber zu schreiben. Ehrlich gesagt, finde ich die Recherche dazu am schlimmsten. Worüber ich schreibe, egal, wie brutal es ist, ist immer nur eine abgeschwächte Version der Realität. Ich denke also, als allgemeine Regel gilt, dass ein Schriftsteller über jedes Thema schreiben darf.
16. Erika Billinger: Wie fanden deine Lehrer Ihre Aufsätze?
Für die Inhalte bekam ich gute Noten, aber an der Grammatik bin ich manchmal gescheitert.
17. Melanie Schneider: Wie schaffen sie es, einen Leser so derart an das Buch zu fesseln, dass man es nicht mehr aus der Hand legen möchte?! Muss man selber ein wenig psychophatisch um sich solche Geschichten auszudenken oder können sie dabei ihrem "gewohnten Tagesablauf" nachgehen??
Ich benutze Ziegenblut für meine Zaubersprüche. Spaß beiseite: Es kommt immer ganz auf das Thema an, das kann variieren. Manchmal nimmt es mich sehr mit, aber an den meisten Tagen nicht.
18. Akilegna Sytlohcs: Wie schreiben Sie Ihre Bücher? Am PC, der Schreibmaschine oder mit Kugelschreiber ...? Haben Sie immer Spaß beim Schreiben oder haben Sie auch Phasen in denen die Lust dazu gerade fehlt?
Am Computer. Ich habe hohe Achtung vor Schriftstellern, die ihre Bücher mit Schreibmaschinen oder sogar mit der Hand geschrieben haben. Ich würde wahrscheinlich verrückt werden.
Das Schreiben an sich genieße ich selten. Viel mehr genieße ich es, das fertige Gesamtwerk zu betrachten. Ich liebe es sozusagen, geschrieben zu haben.
19. Liane Rhodes: Woher holen Sie sich Ihre Inspiration? Wird es weitere Bücher mit FBI-Agentin Smoky Barrett?
Ich schreibe diese Serie noch so lange, bis mir nichts mehr dazu einfällt oder das Interesse daran verloren geht.
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Cody McFadyen
- 2011, 605 Seiten, Maße: 14,3 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Merz, Axel
- Übersetzer: Axel Merz
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785724071
- ISBN-13: 9783785724071
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