Jeden Tag, jede Stunde
Roman
Die fesselnde Geschichte zweier Liebender. Der große Überraschungserfolg!
Als Kinder waren Dora und Luka unzertrennlich, verbrachten wunderschöne Sommer in dem kleinen kroatischen Fischerdorf. Jetzt, mit Mitte zwanzig,...
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Buch
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Jeden Tag, jede Stunde “
Die fesselnde Geschichte zweier Liebender. Der große Überraschungserfolg!
Als Kinder waren Dora und Luka unzertrennlich, verbrachten wunderschöne Sommer in dem kleinen kroatischen Fischerdorf. Jetzt, mit Mitte zwanzig, treffen sie sich in Paris wieder und verlieben sich leidenschaftlich. Sie sind füreinander bestimmt, daran glauben sie. Dann will Luka in die Heimat, nur um ein paar Dinge zu klären - und meldet sich nicht mehr.
"Dieses Buch haut einfach alle um - Ich bin der Liebensgeschichte zwischen Dora und Luka, die eigentlich "Jeden Tag, jede Stunde" füreinander bestimmt sind und es doch so gründlich vergeigen, auch sofort verfallen." -- Angela Wittmann, BRIGITTE
"Wie Nataša Dragnic über zwei Menschen schreibt, die aus demselben Fischerdorf stammen, ist so erfrischend, dass Verleger in aller Welt "Jeden Tag, jede Stunde" haben wollten - bevor das Buch überhaupt irgendwo erschienen war." -- BRIGITTE Woman
"Jede Liebesgeschichte ist etwas ganz besonderes und einmaliges. In der Literatur schaffen es aber nur manche in die Kategorie "Wunderbare Liebesgeschichte" zu kommen. Der neue Roman von Nataša Dragnic ist ein Kandidat für diese Kategorie. Eine große Liebesgeschichte vom Kindergarten bis zu den eigenen Kindern." -- HR 1
"Wie Nataša Dragnic über zwei Menschen schreibt, die aus demselben Fischerdorf stammen, ist so erfrischend, dass Verleger in aller Welt "Jeden Tag, jede Stunde" haben wollten - bevor das Buch überhaupt irgendwo erschienen war." -- BRIGITTE Woman
"Jede Liebesgeschichte ist etwas ganz besonderes und einmaliges. In der Literatur schaffen es aber nur manche in die Kategorie "Wunderbare Liebesgeschichte" zu kommen. Der neue Roman von Nataša Dragnic ist ein Kandidat für diese Kategorie. Eine große Liebesgeschichte vom Kindergarten bis zu den eigenen Kindern." -- HR 1
Lese-Probe zu „Jeden Tag, jede Stunde “
"Es ist schwer zu glauben.""Was?"
"Dass ich hier bin."
"Warum?"
"Nach so vielen Jahren."
"Es ist schön."
"Wie wenn man nach einer langen Reise wieder im eigenen Bett schläft."
"Ich weiß."
"Wenn man einen Geschmack aus der Kindheit wiederentdeckt."
"Einen runden weißen Lutscher."
"Mit einer Figur in der Mitte."
"Und einem farbigen Rand."
Ein Wasserfall der Erinnerungen. Ein kleines Hotelzimmer in der Sommerhitze. Pinienbäume, die den rettenden Schatten schenken. Zu viel Licht. Wenn man Geheimnisse hat. Wenn man ungestört sein möchte. Wenn jeder andere Mensch einer zu viel ist. Wenn man in der Dämmerung besser zurechtkommt. Wenn man vom Bett aus jede Zimmerecke berühren kann.
"Hier hat sich kaum was verändert."
"Findest du?"
"Ich habe dich noch vor Augen." "Aber ohne graue Haare und ohne Stock."
"Wie geht es dir?"
"Die Albträume kommen nur noch selten."
"Gut so."
"Ja."
"Warum lächelst du?"
"Ich habe dich auch noch vor Augen."
Eine schöne, junge Frau. Am Empfang. In einem engen dunkelblauen Kleid. Flache weiße Sandalen. Zwei große Koffer. Eine weiße Handtasche. Finger voller Ringe. Langes lockiges Haar. Verspielt. In den Augen. Sie pustet es immer wieder weg. Blau-weiße Ohrringe. Ein schmales Gesicht. Volle Lippen. Eine breite Nase. Große dunkle Augen. Ungeduldige Hände. Eine elegante Armbanduhr.
"Ich habe meine Arbeit vergessen."
"Wann?"
"Als du in das Foyer kamst."
"Wann?"
"Damals. Erinnerst du dich noch?"
"Ich muss mich nicht erinnern."
"Dich zu sehen ist "^ wie ein Traum."
"^ wie Weihnachten."
"Und Ostern."
"Und Geburtstag."
"Und Frühlingsanfang."
"Zusammen."
Ihre Körper nebeneinander. Verschwitzt. Müde. Hungrig. Nimmersatt. Glücklich. Auf den nassen Bettlaken. Die Hand auf dem Bauch. Der Fingernagel im Oberarm. Der Mund auf der Brust. Das Bein um die Hüfte. Seine grünen Augen.
"Hast du an mich gedacht?"
"Wie viele Male, Liebste, liebte ich dich blinden
... mehr
Auges, und war meine Erinnerung /ohne deinen Blick zu kennen, ohne dich anzusehn."
"Fast hätte ich es vergessen." "Was?"
"Deinen Neruda."
"Ich habe mir vorgestellt "Was?"
"Das Leben mit dir."
"Für immer und ewig." "Und?"
"Es war voller Wunder."
Das winzige Hotelzimmer. Wie eine ganze Welt. Wie ein ganzes Leben. Grenzenlos. Endlos. Unendlich. Wie die Tiefe der Ozeane. Unerforscht. Geheimnisvoll. Beängstigend. Unwiderstehlich. Faszinierend. Wie die Zahl der Sterne. Unbekannt. Unheimlich. Unzerstörbar. Unsterblich. "Wie geht es deiner Tochter?" "Ich habe zwei." "Gratuliere." "Danke." "Ich danke dir." "Warum?" "Einfach so." "Warum?" "Vergiss es."
"Ich will nicht vergessen." "Wenn du meinst." "Hast du Kinder?"
"Einen Sohn."
"Wie alt?"
"Siebzehn."
"Siebzehn?"
"Ja."
"Ich frage mich "Was?"
"Einen Sohn also."
"Ja."
"Ich liebe dich nur dich immer dich mein ganzes leben lang du bist meine luft mein herzschlag du bist in mir unendlich das meer das ich sehe bist du die fische die ich fange hast du in mein netz gelockt du bist mein tag und meine nacht und der asphalt unter meinen schuhen und die krawatte um meinen hals und die haut an meinem körper und die knochen unter meiner haut und mein boot und mein frühstück und mein wein und meine freunde und der morgenkaffee und meine bilder und meine bilder und meine frau in meinem herzen und meine frau meine frau meine frau "Ich werde jetzt gehen."
"Bitte nicht."
"Warum nicht?"
"Es ist gemein."
"Was?"
"Zu kommen und dann zu gehen."
"Ich habe keine Wahl."
"Man hat immer eine Wahl."
"Ausgerechnet du sagst das."
"Ich war schwach."
"Ja, das warst du." "Ich bin nie darüber hinweggekommen."
"Pech gehabt."
"Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben."
"Ich glaube dir."
"Ich möchte, dass du hierbleibst."
"Es ist zu spät."
"Wer hat sich je geliebt wie wir?"
Es war einmal ein kleines Hotel am Meer, von Pinienbäumen vor dem kalten Nordwind geschützt. Die Südmauer schmeckte sogar im Winter nach Salz und Hitze. Große Fenster und Balkontüren spiegelten die Wellen. Das Meer, wie ein sternenvoller Nachthimmel, umarmte den kleinen Kieselstrand unterhalb des Hotels. Wo alles begonnen hatte. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie immer noch da. Wo alles enden sollte.
"Sieh mal, die Wolken!"
"Weißt du noch?"
"Und du?"
1 Luka erblickt die Welt mit einem leisen, halbherzigen Schrei und wird dann ganz still, als er das Wasser auf seiner Haut spürt. Man schreibt das Jahr 1959 in Makarska, einer kleinen ruhigen Hafenstadt in Kroatien. Die Hebamme Anka, die gleichzeitig auch die Nachbarin der Familie ist und somit nicht lange gebraucht hat, um auf die panischen Rufe des künftigen Vaters zu antworten, überprüft drei Mal, ob alles gesund und vollzählig ist, und denkt: Was für ein sonderbares Kind. Sie schüttelt leicht den Kopf. Was wird bloß aus ihm werden, so still und nachdenklich, als wäre er achtzig Jahre alt und hätte die Welt schon gesehen. Und doch blind wie ein Kätzchen. Lukas erschöpfte Mutter fragt besorgt, ob mit dem Kind auch bestimmt alles in Ordnung sei, warum es denn nicht mehr weine. Die Hebamme beruhigt sich selbst, indem sie Antica, der Mutter - mit der sie schon unzählige Liter starken türkischen Kaffee getrunken hat -, antwortet, alles sei bestens, sie solle sich jetzt erholen und schlafen und Kräfte sammeln für später, für ihren kleinen Sohn, ein großer Bursche sei das, man werde noch von ihm hören. Die Mutter verlangt nach ihm. Sie will ihn halten. Er heiße Luka, sagt sie stolz und ein wenig verlegen. Die Hebamme weiß das schon und nickt zustimmend, man könne es sofort erkennen, dass das hier ein richtiger Luka sei, und legt den stummen Jungen, dessen Augen weit geöffnet sind, als wären sie sein einziges Fenster zur Welt, in die Arme seiner Mutter. Ein blindes Kätzchen, denkt sie dabei wieder. Augenblicklich schlafen beide ein. Mutter und Sohn. Es ist ein warmer Novembertag. Windstill und heiter. Ein Winter, der noch kein Winter ist.
Luka ist drei Jahre alt. Sein Vater Zoran nimmt ihn zum ersten Mal mit zum Fischen. Er hat ein kleines Boot, das Luka sein Eigen nennt. Dann lächelt Zoran immer und zwinkert Lukas Mutter zu. Sie lächelt dann auch. Der Vater nimmt Lukas Hand in seine, und sie gehen zum Hafen. Mit der rechten Hand hält sich Luka an seinem Vater fest. In der linken Hand trägt er eine kleine Tasche, in der sich eine Menge Buntstifte und sein Malblock befinden. Luka malt und zeichnet sehr gerne. Nirgendwohin geht er ohne diese Tasche. Heute will er vor allem fischen. Aber auch malen. Unterwegs begegnen sie vielen Menschen. Auf dem Kacic-Platz: Alle begrüßen sie, alle kennen sie und lächeln Luka an und fragen ihn, was er denn vorhabe. Luka kann vor Stolz kaum reden. "Fischen", sagt er, zu laut, und versteckt die Maltasche hinter dem Rücken. Die Leute lachen. Einige wundern sich übertrieben, so ein kleiner Junge, das gehe doch nicht, das sei verboten. Luka schwankt zwischen Angst, man könnte es ihm verbieten, und Empörung darüber, dass man es wagt, die Entscheidung seines Vaters anzuzweifeln. Der macht aber nur ein ernstes Gesicht und drückt Lukas verschwitzte Hand: Alles ist in Ordnung, er muss sich keine Gedanken machen. Sie gehen weiter. Sie gehen immer weiter, die Riva entlang, wo Luka sich an der Meeresseite hält und ins Wasser schaut. Jeden Fisch begrüßt er mit einem leisen Aufschrei. Und so bis zum Boot. Es ist kein langer Weg für den Vater, aber für einen Dreijährigen ist es ein großer Ausflug. Die linke Hand tut ihm schon weh. Die Tasche ist schwer. So viele Stifte! Das Boot liegt ruhig zwischen anderen, genauso kleinen Booten. MA 38. Das Kennzeichen in roter Farbe. Fast alle Boote sind weiß mit einem dünnen blauen Strich rundherum. Oder sie sind ganz weiß. Luka kann schon das Boot seines Vaters erkennen. Er war schon Millionen Mal auf diesem Boot. Vielleicht sogar öfter. Nur fischen war er noch nie. Luka liebt das Meer und das Boot über alles. "Wenn ich groß bin, werde ich Seemann", sagt er. Oder Fischer. Der Vater steigt leichtfüßig ins Boot. Er hebt Luka hoch über das Meer und stellt ihn neben sich ab. Das Boot ist zwar nicht groß, aber es hat eine kleine Kabine. Luka setzt sich. Er sieht seinem Vater dabei zu, wie er das Boot geschickt aus dem Hafen steuert. Luka wird einmal auch so wie sein Vater sein. Sie fahren Richtung offenes Meer. Zwischen den Halbinseln Sv. Petar und Osejava hindurch. Am Ende des Meeres, von dem aus er immer noch die übrig gebliebenen Steine der Kapelle Sv. Petar sehen kann - das war das Erdbeben, es war schlimm, das ganze Haus hat gezittert und Mama hat geweint und Papa hat sie alle in den Keller gebracht, und es hat lange gedauert, länger als irgendetwas, das Luka kennt, und er hatte Angst, große Angst, aber sie haben es geschafft, und es ist nichts passiert, nur seine Kuscheltiere sind durcheinandergekommen, Papa hat sich um alles gekümmert -, schaltet der Vater den Motor aus. Das Boot treibt auf dem Wasser. "Wie heißt die Insel dort drüben?", fragt Zoran. Luka mag dieses Spiel. Er ist gut darin. "Brac", sagt er. Lukas Stimme zittert, obwohl er sich seiner Sache sicher ist. "Gut, und dahinter?" "Far", sagt Luka schnell. Der Vater lächelt. "Ja, fast richtig. Hvar heißt sie.
Aber das ist ein schwieriges Wort, manchmal kann nicht einmal ich es aussprechen." Luka ist nachdenklich, er hofft, er hat nichts vermasselt. Der Vater holt die Angelrute. Also alles in Ordnung. Luka muss vor Aufregung ständig schlucken. Er lehnt sich über den Rand und sucht nach den Fischen. Er ruft ihnen zu, sie sollten sich beeilen, sich bereithalten, er komme. Er taucht seine kleine Hand ins Meer hinein. "Hier, hier, kleine Fischlein", flüstert er. Dann hebt er den Blick und begegnet den Augen seines Vaters. Heute ist der schönste Tag meines Lebens, denkt Luka und macht die Augen zu. Meeresbewohner knabbern an seinen Fingern.
Während Lukas Hand die Fische im Meer herausfordert, erblickt Dora die Welt mit einem Schrei, der so schrill ist, dass die Hebamme Anka lachen muss. Man schreibt das Jahr 1962 im Entbindungsraum des Krankenhauses im Franziskanerkloster. So ein starkes, kräftiges Mädchen, sagt Anka. Die Mutter Helena ist erschöpft und kann nichts sagen. Lächeln kann sie auch nicht. Sie kann nur daran denken, dass es endlich vorbei ist. Endlich. Das erste und das letzte Kind, denkt sie. Sie schließt die Augen und schläft ein. Doras lauter Widerstand stört sie dabei nicht. Die Hebamme bewundert die Kraft dieses winzigen Wesens. Sie blickt Dora liebevoll an. Sie streichelt ihr Köpfchen und ihr zitterndes Körperchen. Die Hebamme ist alt - obwohl: Verglichen mit diesem Wesen ist jeder alt - und hat viel Erfahrung. Sie hat unzählige Kinder entbunden. Sie hat sie alle gesehen. Aber dieses Mädchen! Unermüdlich ohrenbetäubend schreiend, schleicht es sich in ihr Herz hinein. Ohne sich zu verirren. Ohne Umwege. Die Hebamme spürt leise Tränen aufkommen. Sie hat keine eigenen Kinder. Sie hat nie geheiratet. Ihr Verlobter ist im Krieg gefallen. Von Italienern erschossen. Danach hat es keinen Mann mehr für sie gegeben. So ist es damals gewesen. Und jetzt, seit dem großen Erdbeben im Januar, bei dem von ihrem Häuschen nur die Westwand geblieben ist, muss sie auch noch bei ihrer jüngeren Schwester wohnen und deren Mann ertragen, der zu oft betrunken ist und so gerne Witze über ihr Alleinleben macht. Gemeine, anstandslose Witze. Sie krümmt ihren Zeigefinger und berührt mit dem Knöchel den kleinen, runden Mund des Mädchens. Überrascht und abgelenkt verstummt es, und seine fast blinden Augen finden die der Hebamme und bleiben an ihnen haften. Dora wird es heißen, aber das ist ja schon bekannt.
Dora ist zwei Jahre alt und ein lebhaftes Mädchen. Ihre Mutter sagt, sie sei wild. Dora versteht das nicht, es ist ihr aber auch egal. Denn ihre Mutter lächelt dabei. Und ihr Vater setzt sie sich auf die Schultern und läuft mit ihr herum, als wäre er ihr Pferdchen. "Dora lacht, und die ganze Stadt bebt", sagt die Mutter. Dora spricht mit zwei Jahren wie kein anderes Kind. So als wäre sie schon fünf. "Und sie versteht auch alles", sagt ihre Mutter nicht ohne Stolz. Dora kann von nichts genug haben. Sie muss alles anfassen, alles sehen, überall hingehen. Auf der Straße, in der Kalalarga, auf der Riva, der Uferpromenade oder auf dem Kacic-Platz ruft sie jedem Vorbeieilenden etwas zu, und der Vorbeieilende, die Eile vergessend, bleibt stehen, lächelt sie an, wenn auch unsicher oder verwundert, und grüßt sie oder antwortet ihr. Dora ist sehr sicher auf den Beinen, sie fällt nie hin, aber sie rennt auch nicht, sie läuft einfach nur sehr schnell. Ihre Schritte sind lang, es sieht merkwürdig, manchmal sogar komisch aus, wenn man sie dabei beobachtet. Springen will Dora auch nicht. Sie steigt von einer Mauer mit einem Schritt ins Leere. "Hast du Angst?", fragt die Mutter. Dora weicht ihrem Blick aus und antwortet nicht. Und springt nicht.
Luka ist fünf Jahre alt und bekommt eine Schwester. Sie heißt Ana und ist winzig und weint viel, und seine Mutter kann sich kaum auf den Beinen halten, und sein Vater arbeitet mehr denn je, und Luka sieht ihn immer seltener, und er muss unglaublich viel malen, im ganzen Haus hängen seine Bilder. Er geht jetzt in den Kindergarten, obwohl seine Mutter nicht arbeitet, und die anderen Kinder sind manchmal sehr gemein zu ihm, sodass er auf die Toilette geht und dort weint und malt, wo niemand ihn sieht, auch nicht Tante Vera, die sich eigentlich um alle Kinder kümmert, ihn aber besonders lieb hat. Sie fährt ihm oft mit der Hand über die Haare, lächelt ihn warm an oder zwinkert ihm zu und liest am häufigsten seine Lieblingsgeschichte vor, auch wenn die anderen Kinder schreien, die Geschichte sei langweilig und sie würden sie schon auswendig kennen. Eigentlich möchte Luka den ganzen Tag im Kindergarten bleiben und gar nicht mehr nach Hause gehen, wo diese blöde Schwester weint und Mama müde ist und Papa nicht da und ihm immer mehr zum Heulen ist, auch wenn er es unterdrückt und keiner es sieht. Und trotzdem ist er unglücklich und will, dass alles so ist wie früher, als sein Vater noch mit ihm angeln gegangen ist und sie mit dem Boot weit hinausgefahren sind und er die Fische malen und fangen konnte und sein Vater ihm lustige und manchmal schwierige Fragen gestellt hat, wie zum Beispiel, wenn eine weiße Kuh weiße Milch gibt, was für Milch gibt dann eine schwarze Kuh?, was natürlich keine einfache Frage ist, doch er hat alle Antworten gewusst. Und manchmal sind sie bis nach Sonnenuntergang geblieben, aber immer, immer haben sie viel Spaß miteinander gehabt.
Dora versteht es. Ihre Mutter spricht deutlich und langsam und ist traurig, und Dora versteht es. Aber Dora ist nicht traurig darüber, dass sie jetzt schon, mit zwei Jahren, drei Mal in der Woche in den Kindergarten gehen soll, denn Mama muss wieder arbeiten, und Dora hat keine Großeltern in der Nähe, die auf sie aufpassen könnten. Ihre Großeltern wohnen weit, weit weg. Dora hat sie schon oft besucht. In einer großen Stadt. "Der Hauptstadt, schlicht und ergreifend", sagt Mama; dann ärgert sich Papa und verbessert sie. Belgrad sei die Hauptstadt, Zagreb sei nur eine große Stadt. In Belgrad lebt auch der Präsident. Mama murmelt etwas vor sich hin. Dora sieht, dass sie nicht glücklich ist. Es ist nicht wegen des Präsidenten, den mag jeder, er ist immer von Kindern und Blumen umgeben, aber mit der Stadt, in der er lebt, ist Mama nicht glücklich. Deswegen sagt Dora, wenn sie mit Mama alleine ist: Wir fahren zu Oma und Opa in die Hauptstadt. Und Mama lächelt und sieht sich dabei schnell um. Zagreb. Sie mussten lange mit dem Auto fahren, um dorthin zu kommen. So lange, dass Dora mehrmals eingeschlafen ist. Dora erinnert sich an alles. Ihr Kopf ist voller Bilder, die riechen und sprechen und manchmal auch schmecken. Und sie kann sie alle in Worte fassen. "Das Mädchen hat ein Gedächtnis!", ruft die Mutter und kann es kaum glauben. "Wie ein Elefant", sagt der Vater und wundert sich. Ein merkwürdiges Kind, denken sich einige, sagen aber nichts. Dora macht sich keine Gedanken darüber. Sie steht manchmal lange vor dem Spiegel und beobachtet sich darin, ihr Gesicht, das sich so schnell verändert, als wären es hundert verschiedene, das gefällt ihr gut. So ist sie. Alles das ist sie. Und sie freut sich auf die Kinder im Kindergarten, die sie noch nie gesehen hat. Auf das Spielzeug auch. Sie hat keine Angst. "Für Dora ist das ganze Leben ein Abenteuer", sagt ihre Mutter immer und hebt die Augenbrauen, was sehr lustig aussieht, sodass Dora lachen muss. Und Papa liest die Zeitung.
Luka sieht das neue Mädchen, das gerade hereinkommt. Sein schwarzes Haar, lang und wellig. Und glänzend. Wie der Schuppenpanzer eines Fisches. Es ist klein und dünn und schnell und jünger als alle anderen Kinder im Kindergarten, und er kann die Augen nicht von ihm abwenden. Die Mutter des Mädchens trägt seine Tasche, die weiß und blau gestreift ist. Mit einem großen gelben Fisch in der Mitte. Sie gefällt Luka sehr, diese Tasche. Auch wenn er den Fisch nicht erkennen kann. Er selbst hat einen schwarzen Rucksack, den er sich nicht selbst aussuchen konnte und den er schon einmal mit der Schere angegriffen hat, um einen neuen zu bekommen. Aber es hat nicht geklappt, es ist nur noch schlimmer geworden. Jetzt ist der Rucksack hässlich und kaputt. Deswegen versteckt Luka ihn in einer Plastiktüte und trägt die Tüte mit sich herum. Und niemand merkt es. Wenn er doch nur so eine tolle Tasche hätte wie das neue Mädchen! Er sieht sich schon mit dieser Supertasche herumlaufen, sein Malzeug und Malheft darin, von allen bewundert und beneidet. Stolz überquert er den Kacic-Platz, langsam schreitet er auf die Marineta zu, wo alle Leute sich versammeln, um ihn und seine neue Supertasche zu sehen. Keiner kann die Augen von ihm abwenden! Vielleicht würde Mama dann wieder lächeln und Papa einen Kuss geben, so wie früher, sie würde Papas Namen leise aussprechen, mehrmals würde sie ihn sagen - Zoran, Zoran, Zoran, Luka kann es schon hören -, und Papa würde zufrieden schmunzeln und mit Luka fischen gehen. Ja, sicher würde er das machen und ihm ganz schwierige Fragen stellen wie zum Beispiel, wenn Mama und Papa weiß sind, aber das Kind in Afrika geboren wird, welche Hautfarbe wird es dann haben?, was eine schwierige Frage ist, aber das ist egal, er kennt alle Antworten. Wenn er nur so eine Tasche hätte! Wie das neue Mädchen. Er kann die Augen nicht abwenden von ihr!
Dora betritt erwartungsvoll den Kindergarten und sieht sich um. Ein großer Junge steht neben dem Bücherregal und beobachtet sie. Dora stört das nicht. Sie zieht ihre Jacke aus. Sie will nicht, dass Mama ihr hilft, solange der große Junge sie beobachtet. Vielleicht ist das so im Kindergarten. Vielleicht muss einer so den ganzen Tag stehen und andere Kinder beobachten, vielleicht ist das ein ganz tolles Spiel. Dora kann es kaum erwarten, mitspielen zu dürfen. Die Schuhe will sie sich auch alleine ausziehen. "Was ist denn, Dorice", wundert sich Mama. Mama versteht es nicht. Sie weiß nicht, dass das ein ganz tolles, neues Spiel ist und dass der Junge sie beobachtet und dass sie tapfer sein muss, wenn sie mitspielen will, und sie will unbedingt auch so unbeweglich am Regal mit den Bilderbüchern stehen dürfen, oh ja, das will sie auf jeden Fall. Also schüttelt Dora den Kopf und sagt nichts. Denn ihr Kopf fühlt sich plötzlich so schwammig an und voll und leer und aufgeblasen wie ein Luftballon und heiß und leicht und zittrig und durchsichtig. Sie schließt die Augen.
Ihr linker Fuß ist schuhlos. So bleibt sie sitzen. "Was hast du denn, zlato moje", fragt die Mutter noch einmal. Dora sieht sie an. Gleich wird Mama anfangen zu weinen. Moja Dorice!
Luka bewegt sich nicht. Er lehnt sich an das große Bücherregal und hält die Luft an. Er hat Angst, die Tasche könnte verschwinden, wenn er die Muskeln entspannt und einatmet. Er fixiert die Tasche, bis es wehtut und seine Augen anfangen zu tränen. Er zählt: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. Dann löst sich seine Welt in nichts auf, und er gleitet zu Boden. Alles ist still um ihn. Er verschwindet nach und nach. Wie die Bilder eines Buches, dessen Seiten er ganz langsam loslässt.
Dora ist die Erste, die bei dem ohnmächtigen Jungen ankommt. Sie geht in die Hocke, wird winziger als winzig. Ihre Augen weiten sich, bis ihr Gesicht, das blasser wird als blass, nur noch aus Augen zu bestehen scheint. Sie beugt ihren Kopf über den des Jungen, und bevor die Frau, die sich auf seiner anderen Seite niederkniet und seine Beine hochhebt, sie wegschicken oder ihr zuvorkommen kann, küsst Dora ihn auf den hellroten Mund. "Dora!", ruft ihre Mutter entsetzt. Keine Zeit für Kosenamen!
Luka hört eine leise Stimme an seinem Gesicht: "Du bist mein Dornröschen, nur mein, wach auf, mein Prinz, du bist mein Prinz, nur mein.." Dann kommen ihm auch andere Stimmen und Worte zu Ohren, und verwirrt und schwach macht er die Augen auf und...
Sie sieht seine Augen, die sich langsam öffnen, seinen verstörten Blick, seine Lippen, die sich lautlos bewegen... aber er kann nichts sagen, also lächelt er schwach und sie lächelt auch und...
"Fast hätte ich es vergessen." "Was?"
"Deinen Neruda."
"Ich habe mir vorgestellt "Was?"
"Das Leben mit dir."
"Für immer und ewig." "Und?"
"Es war voller Wunder."
Das winzige Hotelzimmer. Wie eine ganze Welt. Wie ein ganzes Leben. Grenzenlos. Endlos. Unendlich. Wie die Tiefe der Ozeane. Unerforscht. Geheimnisvoll. Beängstigend. Unwiderstehlich. Faszinierend. Wie die Zahl der Sterne. Unbekannt. Unheimlich. Unzerstörbar. Unsterblich. "Wie geht es deiner Tochter?" "Ich habe zwei." "Gratuliere." "Danke." "Ich danke dir." "Warum?" "Einfach so." "Warum?" "Vergiss es."
"Ich will nicht vergessen." "Wenn du meinst." "Hast du Kinder?"
"Einen Sohn."
"Wie alt?"
"Siebzehn."
"Siebzehn?"
"Ja."
"Ich frage mich "Was?"
"Einen Sohn also."
"Ja."
"Ich liebe dich nur dich immer dich mein ganzes leben lang du bist meine luft mein herzschlag du bist in mir unendlich das meer das ich sehe bist du die fische die ich fange hast du in mein netz gelockt du bist mein tag und meine nacht und der asphalt unter meinen schuhen und die krawatte um meinen hals und die haut an meinem körper und die knochen unter meiner haut und mein boot und mein frühstück und mein wein und meine freunde und der morgenkaffee und meine bilder und meine bilder und meine frau in meinem herzen und meine frau meine frau meine frau "Ich werde jetzt gehen."
"Bitte nicht."
"Warum nicht?"
"Es ist gemein."
"Was?"
"Zu kommen und dann zu gehen."
"Ich habe keine Wahl."
"Man hat immer eine Wahl."
"Ausgerechnet du sagst das."
"Ich war schwach."
"Ja, das warst du." "Ich bin nie darüber hinweggekommen."
"Pech gehabt."
"Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben."
"Ich glaube dir."
"Ich möchte, dass du hierbleibst."
"Es ist zu spät."
"Wer hat sich je geliebt wie wir?"
Es war einmal ein kleines Hotel am Meer, von Pinienbäumen vor dem kalten Nordwind geschützt. Die Südmauer schmeckte sogar im Winter nach Salz und Hitze. Große Fenster und Balkontüren spiegelten die Wellen. Das Meer, wie ein sternenvoller Nachthimmel, umarmte den kleinen Kieselstrand unterhalb des Hotels. Wo alles begonnen hatte. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie immer noch da. Wo alles enden sollte.
"Sieh mal, die Wolken!"
"Weißt du noch?"
"Und du?"
1 Luka erblickt die Welt mit einem leisen, halbherzigen Schrei und wird dann ganz still, als er das Wasser auf seiner Haut spürt. Man schreibt das Jahr 1959 in Makarska, einer kleinen ruhigen Hafenstadt in Kroatien. Die Hebamme Anka, die gleichzeitig auch die Nachbarin der Familie ist und somit nicht lange gebraucht hat, um auf die panischen Rufe des künftigen Vaters zu antworten, überprüft drei Mal, ob alles gesund und vollzählig ist, und denkt: Was für ein sonderbares Kind. Sie schüttelt leicht den Kopf. Was wird bloß aus ihm werden, so still und nachdenklich, als wäre er achtzig Jahre alt und hätte die Welt schon gesehen. Und doch blind wie ein Kätzchen. Lukas erschöpfte Mutter fragt besorgt, ob mit dem Kind auch bestimmt alles in Ordnung sei, warum es denn nicht mehr weine. Die Hebamme beruhigt sich selbst, indem sie Antica, der Mutter - mit der sie schon unzählige Liter starken türkischen Kaffee getrunken hat -, antwortet, alles sei bestens, sie solle sich jetzt erholen und schlafen und Kräfte sammeln für später, für ihren kleinen Sohn, ein großer Bursche sei das, man werde noch von ihm hören. Die Mutter verlangt nach ihm. Sie will ihn halten. Er heiße Luka, sagt sie stolz und ein wenig verlegen. Die Hebamme weiß das schon und nickt zustimmend, man könne es sofort erkennen, dass das hier ein richtiger Luka sei, und legt den stummen Jungen, dessen Augen weit geöffnet sind, als wären sie sein einziges Fenster zur Welt, in die Arme seiner Mutter. Ein blindes Kätzchen, denkt sie dabei wieder. Augenblicklich schlafen beide ein. Mutter und Sohn. Es ist ein warmer Novembertag. Windstill und heiter. Ein Winter, der noch kein Winter ist.
Luka ist drei Jahre alt. Sein Vater Zoran nimmt ihn zum ersten Mal mit zum Fischen. Er hat ein kleines Boot, das Luka sein Eigen nennt. Dann lächelt Zoran immer und zwinkert Lukas Mutter zu. Sie lächelt dann auch. Der Vater nimmt Lukas Hand in seine, und sie gehen zum Hafen. Mit der rechten Hand hält sich Luka an seinem Vater fest. In der linken Hand trägt er eine kleine Tasche, in der sich eine Menge Buntstifte und sein Malblock befinden. Luka malt und zeichnet sehr gerne. Nirgendwohin geht er ohne diese Tasche. Heute will er vor allem fischen. Aber auch malen. Unterwegs begegnen sie vielen Menschen. Auf dem Kacic-Platz: Alle begrüßen sie, alle kennen sie und lächeln Luka an und fragen ihn, was er denn vorhabe. Luka kann vor Stolz kaum reden. "Fischen", sagt er, zu laut, und versteckt die Maltasche hinter dem Rücken. Die Leute lachen. Einige wundern sich übertrieben, so ein kleiner Junge, das gehe doch nicht, das sei verboten. Luka schwankt zwischen Angst, man könnte es ihm verbieten, und Empörung darüber, dass man es wagt, die Entscheidung seines Vaters anzuzweifeln. Der macht aber nur ein ernstes Gesicht und drückt Lukas verschwitzte Hand: Alles ist in Ordnung, er muss sich keine Gedanken machen. Sie gehen weiter. Sie gehen immer weiter, die Riva entlang, wo Luka sich an der Meeresseite hält und ins Wasser schaut. Jeden Fisch begrüßt er mit einem leisen Aufschrei. Und so bis zum Boot. Es ist kein langer Weg für den Vater, aber für einen Dreijährigen ist es ein großer Ausflug. Die linke Hand tut ihm schon weh. Die Tasche ist schwer. So viele Stifte! Das Boot liegt ruhig zwischen anderen, genauso kleinen Booten. MA 38. Das Kennzeichen in roter Farbe. Fast alle Boote sind weiß mit einem dünnen blauen Strich rundherum. Oder sie sind ganz weiß. Luka kann schon das Boot seines Vaters erkennen. Er war schon Millionen Mal auf diesem Boot. Vielleicht sogar öfter. Nur fischen war er noch nie. Luka liebt das Meer und das Boot über alles. "Wenn ich groß bin, werde ich Seemann", sagt er. Oder Fischer. Der Vater steigt leichtfüßig ins Boot. Er hebt Luka hoch über das Meer und stellt ihn neben sich ab. Das Boot ist zwar nicht groß, aber es hat eine kleine Kabine. Luka setzt sich. Er sieht seinem Vater dabei zu, wie er das Boot geschickt aus dem Hafen steuert. Luka wird einmal auch so wie sein Vater sein. Sie fahren Richtung offenes Meer. Zwischen den Halbinseln Sv. Petar und Osejava hindurch. Am Ende des Meeres, von dem aus er immer noch die übrig gebliebenen Steine der Kapelle Sv. Petar sehen kann - das war das Erdbeben, es war schlimm, das ganze Haus hat gezittert und Mama hat geweint und Papa hat sie alle in den Keller gebracht, und es hat lange gedauert, länger als irgendetwas, das Luka kennt, und er hatte Angst, große Angst, aber sie haben es geschafft, und es ist nichts passiert, nur seine Kuscheltiere sind durcheinandergekommen, Papa hat sich um alles gekümmert -, schaltet der Vater den Motor aus. Das Boot treibt auf dem Wasser. "Wie heißt die Insel dort drüben?", fragt Zoran. Luka mag dieses Spiel. Er ist gut darin. "Brac", sagt er. Lukas Stimme zittert, obwohl er sich seiner Sache sicher ist. "Gut, und dahinter?" "Far", sagt Luka schnell. Der Vater lächelt. "Ja, fast richtig. Hvar heißt sie.
Aber das ist ein schwieriges Wort, manchmal kann nicht einmal ich es aussprechen." Luka ist nachdenklich, er hofft, er hat nichts vermasselt. Der Vater holt die Angelrute. Also alles in Ordnung. Luka muss vor Aufregung ständig schlucken. Er lehnt sich über den Rand und sucht nach den Fischen. Er ruft ihnen zu, sie sollten sich beeilen, sich bereithalten, er komme. Er taucht seine kleine Hand ins Meer hinein. "Hier, hier, kleine Fischlein", flüstert er. Dann hebt er den Blick und begegnet den Augen seines Vaters. Heute ist der schönste Tag meines Lebens, denkt Luka und macht die Augen zu. Meeresbewohner knabbern an seinen Fingern.
Während Lukas Hand die Fische im Meer herausfordert, erblickt Dora die Welt mit einem Schrei, der so schrill ist, dass die Hebamme Anka lachen muss. Man schreibt das Jahr 1962 im Entbindungsraum des Krankenhauses im Franziskanerkloster. So ein starkes, kräftiges Mädchen, sagt Anka. Die Mutter Helena ist erschöpft und kann nichts sagen. Lächeln kann sie auch nicht. Sie kann nur daran denken, dass es endlich vorbei ist. Endlich. Das erste und das letzte Kind, denkt sie. Sie schließt die Augen und schläft ein. Doras lauter Widerstand stört sie dabei nicht. Die Hebamme bewundert die Kraft dieses winzigen Wesens. Sie blickt Dora liebevoll an. Sie streichelt ihr Köpfchen und ihr zitterndes Körperchen. Die Hebamme ist alt - obwohl: Verglichen mit diesem Wesen ist jeder alt - und hat viel Erfahrung. Sie hat unzählige Kinder entbunden. Sie hat sie alle gesehen. Aber dieses Mädchen! Unermüdlich ohrenbetäubend schreiend, schleicht es sich in ihr Herz hinein. Ohne sich zu verirren. Ohne Umwege. Die Hebamme spürt leise Tränen aufkommen. Sie hat keine eigenen Kinder. Sie hat nie geheiratet. Ihr Verlobter ist im Krieg gefallen. Von Italienern erschossen. Danach hat es keinen Mann mehr für sie gegeben. So ist es damals gewesen. Und jetzt, seit dem großen Erdbeben im Januar, bei dem von ihrem Häuschen nur die Westwand geblieben ist, muss sie auch noch bei ihrer jüngeren Schwester wohnen und deren Mann ertragen, der zu oft betrunken ist und so gerne Witze über ihr Alleinleben macht. Gemeine, anstandslose Witze. Sie krümmt ihren Zeigefinger und berührt mit dem Knöchel den kleinen, runden Mund des Mädchens. Überrascht und abgelenkt verstummt es, und seine fast blinden Augen finden die der Hebamme und bleiben an ihnen haften. Dora wird es heißen, aber das ist ja schon bekannt.
Dora ist zwei Jahre alt und ein lebhaftes Mädchen. Ihre Mutter sagt, sie sei wild. Dora versteht das nicht, es ist ihr aber auch egal. Denn ihre Mutter lächelt dabei. Und ihr Vater setzt sie sich auf die Schultern und läuft mit ihr herum, als wäre er ihr Pferdchen. "Dora lacht, und die ganze Stadt bebt", sagt die Mutter. Dora spricht mit zwei Jahren wie kein anderes Kind. So als wäre sie schon fünf. "Und sie versteht auch alles", sagt ihre Mutter nicht ohne Stolz. Dora kann von nichts genug haben. Sie muss alles anfassen, alles sehen, überall hingehen. Auf der Straße, in der Kalalarga, auf der Riva, der Uferpromenade oder auf dem Kacic-Platz ruft sie jedem Vorbeieilenden etwas zu, und der Vorbeieilende, die Eile vergessend, bleibt stehen, lächelt sie an, wenn auch unsicher oder verwundert, und grüßt sie oder antwortet ihr. Dora ist sehr sicher auf den Beinen, sie fällt nie hin, aber sie rennt auch nicht, sie läuft einfach nur sehr schnell. Ihre Schritte sind lang, es sieht merkwürdig, manchmal sogar komisch aus, wenn man sie dabei beobachtet. Springen will Dora auch nicht. Sie steigt von einer Mauer mit einem Schritt ins Leere. "Hast du Angst?", fragt die Mutter. Dora weicht ihrem Blick aus und antwortet nicht. Und springt nicht.
Luka ist fünf Jahre alt und bekommt eine Schwester. Sie heißt Ana und ist winzig und weint viel, und seine Mutter kann sich kaum auf den Beinen halten, und sein Vater arbeitet mehr denn je, und Luka sieht ihn immer seltener, und er muss unglaublich viel malen, im ganzen Haus hängen seine Bilder. Er geht jetzt in den Kindergarten, obwohl seine Mutter nicht arbeitet, und die anderen Kinder sind manchmal sehr gemein zu ihm, sodass er auf die Toilette geht und dort weint und malt, wo niemand ihn sieht, auch nicht Tante Vera, die sich eigentlich um alle Kinder kümmert, ihn aber besonders lieb hat. Sie fährt ihm oft mit der Hand über die Haare, lächelt ihn warm an oder zwinkert ihm zu und liest am häufigsten seine Lieblingsgeschichte vor, auch wenn die anderen Kinder schreien, die Geschichte sei langweilig und sie würden sie schon auswendig kennen. Eigentlich möchte Luka den ganzen Tag im Kindergarten bleiben und gar nicht mehr nach Hause gehen, wo diese blöde Schwester weint und Mama müde ist und Papa nicht da und ihm immer mehr zum Heulen ist, auch wenn er es unterdrückt und keiner es sieht. Und trotzdem ist er unglücklich und will, dass alles so ist wie früher, als sein Vater noch mit ihm angeln gegangen ist und sie mit dem Boot weit hinausgefahren sind und er die Fische malen und fangen konnte und sein Vater ihm lustige und manchmal schwierige Fragen gestellt hat, wie zum Beispiel, wenn eine weiße Kuh weiße Milch gibt, was für Milch gibt dann eine schwarze Kuh?, was natürlich keine einfache Frage ist, doch er hat alle Antworten gewusst. Und manchmal sind sie bis nach Sonnenuntergang geblieben, aber immer, immer haben sie viel Spaß miteinander gehabt.
Dora versteht es. Ihre Mutter spricht deutlich und langsam und ist traurig, und Dora versteht es. Aber Dora ist nicht traurig darüber, dass sie jetzt schon, mit zwei Jahren, drei Mal in der Woche in den Kindergarten gehen soll, denn Mama muss wieder arbeiten, und Dora hat keine Großeltern in der Nähe, die auf sie aufpassen könnten. Ihre Großeltern wohnen weit, weit weg. Dora hat sie schon oft besucht. In einer großen Stadt. "Der Hauptstadt, schlicht und ergreifend", sagt Mama; dann ärgert sich Papa und verbessert sie. Belgrad sei die Hauptstadt, Zagreb sei nur eine große Stadt. In Belgrad lebt auch der Präsident. Mama murmelt etwas vor sich hin. Dora sieht, dass sie nicht glücklich ist. Es ist nicht wegen des Präsidenten, den mag jeder, er ist immer von Kindern und Blumen umgeben, aber mit der Stadt, in der er lebt, ist Mama nicht glücklich. Deswegen sagt Dora, wenn sie mit Mama alleine ist: Wir fahren zu Oma und Opa in die Hauptstadt. Und Mama lächelt und sieht sich dabei schnell um. Zagreb. Sie mussten lange mit dem Auto fahren, um dorthin zu kommen. So lange, dass Dora mehrmals eingeschlafen ist. Dora erinnert sich an alles. Ihr Kopf ist voller Bilder, die riechen und sprechen und manchmal auch schmecken. Und sie kann sie alle in Worte fassen. "Das Mädchen hat ein Gedächtnis!", ruft die Mutter und kann es kaum glauben. "Wie ein Elefant", sagt der Vater und wundert sich. Ein merkwürdiges Kind, denken sich einige, sagen aber nichts. Dora macht sich keine Gedanken darüber. Sie steht manchmal lange vor dem Spiegel und beobachtet sich darin, ihr Gesicht, das sich so schnell verändert, als wären es hundert verschiedene, das gefällt ihr gut. So ist sie. Alles das ist sie. Und sie freut sich auf die Kinder im Kindergarten, die sie noch nie gesehen hat. Auf das Spielzeug auch. Sie hat keine Angst. "Für Dora ist das ganze Leben ein Abenteuer", sagt ihre Mutter immer und hebt die Augenbrauen, was sehr lustig aussieht, sodass Dora lachen muss. Und Papa liest die Zeitung.
Luka sieht das neue Mädchen, das gerade hereinkommt. Sein schwarzes Haar, lang und wellig. Und glänzend. Wie der Schuppenpanzer eines Fisches. Es ist klein und dünn und schnell und jünger als alle anderen Kinder im Kindergarten, und er kann die Augen nicht von ihm abwenden. Die Mutter des Mädchens trägt seine Tasche, die weiß und blau gestreift ist. Mit einem großen gelben Fisch in der Mitte. Sie gefällt Luka sehr, diese Tasche. Auch wenn er den Fisch nicht erkennen kann. Er selbst hat einen schwarzen Rucksack, den er sich nicht selbst aussuchen konnte und den er schon einmal mit der Schere angegriffen hat, um einen neuen zu bekommen. Aber es hat nicht geklappt, es ist nur noch schlimmer geworden. Jetzt ist der Rucksack hässlich und kaputt. Deswegen versteckt Luka ihn in einer Plastiktüte und trägt die Tüte mit sich herum. Und niemand merkt es. Wenn er doch nur so eine tolle Tasche hätte wie das neue Mädchen! Er sieht sich schon mit dieser Supertasche herumlaufen, sein Malzeug und Malheft darin, von allen bewundert und beneidet. Stolz überquert er den Kacic-Platz, langsam schreitet er auf die Marineta zu, wo alle Leute sich versammeln, um ihn und seine neue Supertasche zu sehen. Keiner kann die Augen von ihm abwenden! Vielleicht würde Mama dann wieder lächeln und Papa einen Kuss geben, so wie früher, sie würde Papas Namen leise aussprechen, mehrmals würde sie ihn sagen - Zoran, Zoran, Zoran, Luka kann es schon hören -, und Papa würde zufrieden schmunzeln und mit Luka fischen gehen. Ja, sicher würde er das machen und ihm ganz schwierige Fragen stellen wie zum Beispiel, wenn Mama und Papa weiß sind, aber das Kind in Afrika geboren wird, welche Hautfarbe wird es dann haben?, was eine schwierige Frage ist, aber das ist egal, er kennt alle Antworten. Wenn er nur so eine Tasche hätte! Wie das neue Mädchen. Er kann die Augen nicht abwenden von ihr!
Dora betritt erwartungsvoll den Kindergarten und sieht sich um. Ein großer Junge steht neben dem Bücherregal und beobachtet sie. Dora stört das nicht. Sie zieht ihre Jacke aus. Sie will nicht, dass Mama ihr hilft, solange der große Junge sie beobachtet. Vielleicht ist das so im Kindergarten. Vielleicht muss einer so den ganzen Tag stehen und andere Kinder beobachten, vielleicht ist das ein ganz tolles Spiel. Dora kann es kaum erwarten, mitspielen zu dürfen. Die Schuhe will sie sich auch alleine ausziehen. "Was ist denn, Dorice", wundert sich Mama. Mama versteht es nicht. Sie weiß nicht, dass das ein ganz tolles, neues Spiel ist und dass der Junge sie beobachtet und dass sie tapfer sein muss, wenn sie mitspielen will, und sie will unbedingt auch so unbeweglich am Regal mit den Bilderbüchern stehen dürfen, oh ja, das will sie auf jeden Fall. Also schüttelt Dora den Kopf und sagt nichts. Denn ihr Kopf fühlt sich plötzlich so schwammig an und voll und leer und aufgeblasen wie ein Luftballon und heiß und leicht und zittrig und durchsichtig. Sie schließt die Augen.
Ihr linker Fuß ist schuhlos. So bleibt sie sitzen. "Was hast du denn, zlato moje", fragt die Mutter noch einmal. Dora sieht sie an. Gleich wird Mama anfangen zu weinen. Moja Dorice!
Luka bewegt sich nicht. Er lehnt sich an das große Bücherregal und hält die Luft an. Er hat Angst, die Tasche könnte verschwinden, wenn er die Muskeln entspannt und einatmet. Er fixiert die Tasche, bis es wehtut und seine Augen anfangen zu tränen. Er zählt: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. Dann löst sich seine Welt in nichts auf, und er gleitet zu Boden. Alles ist still um ihn. Er verschwindet nach und nach. Wie die Bilder eines Buches, dessen Seiten er ganz langsam loslässt.
Dora ist die Erste, die bei dem ohnmächtigen Jungen ankommt. Sie geht in die Hocke, wird winziger als winzig. Ihre Augen weiten sich, bis ihr Gesicht, das blasser wird als blass, nur noch aus Augen zu bestehen scheint. Sie beugt ihren Kopf über den des Jungen, und bevor die Frau, die sich auf seiner anderen Seite niederkniet und seine Beine hochhebt, sie wegschicken oder ihr zuvorkommen kann, küsst Dora ihn auf den hellroten Mund. "Dora!", ruft ihre Mutter entsetzt. Keine Zeit für Kosenamen!
Luka hört eine leise Stimme an seinem Gesicht: "Du bist mein Dornröschen, nur mein, wach auf, mein Prinz, du bist mein Prinz, nur mein.." Dann kommen ihm auch andere Stimmen und Worte zu Ohren, und verwirrt und schwach macht er die Augen auf und...
Sie sieht seine Augen, die sich langsam öffnen, seinen verstörten Blick, seine Lippen, die sich lautlos bewegen... aber er kann nichts sagen, also lächelt er schwach und sie lächelt auch und...
... weniger
Autoren-Porträt von Natasa Dragnic
Natasa Dragni wurde 1965 in Split, Kroatien, geboren. Nach dem Germanistik- und Romanistikstudium in Zagreb schloss sie eine Diplomatenausbildung ab. Seit 1994 lebt sie in Erlangen und war viele Jahre als freiberufliche Fremdsprachen- und Literaturdozentin tätig. Für Ihre Kurzgeschichten und Essays erhielt sie Arbeits- und Aufenthaltsstipendien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Natasa Dragnic
- 2011, 278 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 342104516X
- ISBN-13: 9783421045164
Rezension zu „Jeden Tag, jede Stunde “
»Ein deutscher Debütroman einer gebürtigen Kroatin, um den sich internationale Verlage reißen. Ein Phänomen auf dem Buchmarkt und eine echte literarische Entdeckung.«
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