Wenn tausend Sterne fallen
Daisy ist mehr als überrascht, als sie erfährt, dass sie als Baby zur Adoption freigegeben wurde. Sie reist nach Cornwall, um mehr über ihre wahre Herkunft zu erfahren. Dort taucht sie tief ein in die Vergangenheit und in die Geschichte...
Leider schon ausverkauft
Weltbild Ausgabe
4.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Wenn tausend Sterne fallen “
Daisy ist mehr als überrascht, als sie erfährt, dass sie als Baby zur Adoption freigegeben wurde. Sie reist nach Cornwall, um mehr über ihre wahre Herkunft zu erfahren. Dort taucht sie tief ein in die Vergangenheit und in die Geschichte ihrer Mutter. Und merkt fast nicht, dass sie dadurch die Gegenwart vergisst.
Lese-Probe zu „Wenn tausend Sterne fallen “
Wenn tausend Sterne fallen von Lesley Pearse1. Kapitel
Chiswick, London, 1990
... mehr
Komm her und halte meine Hand, Liebling. Ich will nicht melodramatisch klingen, aber ich glaube, es geht zu Ende.«
Daisy, die im Begriff gewesen war hinauszugehen, weil sie dachte, ihre Mutter schliefe, wirbelte erschrocken herum.
Lorna Buchan hatte Krebs. Mehr als zwei Jahre hatte sie tapfer mit einer Chemotherapie, einer Mastektomie und unzähligen alternativen Heilmethoden gegen die Krankheit angekämpft und die Hoffnung nie aufgegeben. Aber vor zwei Monaten hatte der Arzt ihr mitgeteilt, der Krebs habe sich im ganzen Körper ausgebreitet. Lorna hatte sich damit abgefunden und jede weitere Therapie im Krankenhaus abgelehnt. Sie wollte die letzten Wochen zu Hause bei ihrer Familie verbringen.
Daisy eilte zu ihrer Mutter. »Ich rufe den Arzt«, sagte sie. Das Herz schlug ihr vor Angst bis zum Hals.
Lorna brachte ein schwaches Lächeln zu Stande. »Nicht nötig, mein Schatz. Ich habe keine Schmerzen, und ich bin ganz ruhig. Setz dich einfach zu mir.«
Daisy war bestürzt. Sie konnte doch nicht einfach nur dasitzen und tatenlos zusehen, wie ihre Mutter starb! Streiten wollte sie in diesem Moment aber auch nicht mit ihr. Sie ergriff die Hand ihrer Mutter, strich ihr mit der anderen liebevoll über den Kopf und überlegte, was sie tun sollte.
Infolge der Chemotherapie war ihr das schöne honigblonde Haar ausgefallen. Es war weiß und weich wie Babyhaar nachgewachsen. Lornas Gesicht war eingefallen, weil sie stark an Gewicht verloren hatte, und das Blau ihrer Augen wirkte wässrig.
Daisy fand es einfach nicht fair, dass es ausgerechnet ihre Mutter getroffen hatte. Lorna war erst fünfzig und eine robuste Frau gewesen, eine stattliche Erscheinung, immer modisch gekleidet und bekannt für ihr lebhaftes, herzliches Wesen. Vor ihrer Krankheit hatte sie zu jenen energiegeladenen Frauen gehört, die ein Schulfest beaufsichtigen und am Ende dieses anstrengenden Tages alle Helfer noch auf einen kleinen Umtrunk zu sich nach Hause einladen konnten. Sie hatte getanzt und gelacht, bis sich der letzte Gast verabschiedet hatte. Doch am anderen Morgen hatte das ganze Haus schon wieder vor Sauberkeit geblitzt, als hätte nie eine Party stattgefunden.
»Ich muss Daddy aber anrufen«, erklärte Daisy einen Augenblick später.
»Nein, das wirst du nicht«, entgegnete Lorna mit überraschend fester Stimme. »Er hat eine wichtige Besprechung heute Nachmittag, und ich will nicht, dass er panisch nach Hause rast.«
»Aber ich muss doch irgendwas tun! Dann lass mich wenigstens im College anrufen und den Zwillingen Bescheid geben.« »Nein, sie kommen sowieso bald nach Hause.«
Daisy hatte ihren Job einen Monat zuvor aufgegeben, um ihre Mutter pflegen zu können. Das war kein großes Opfer gewesen - sie hatte diese Arbeit gehasst, genauso wie die vielen anderen Jobs, die sie vorher gehabt hatte. Den Haushalt zu führen und ihre Mutter zu versorgen, war hingegen eine Aufgabe, die sie gern und gut erledigte, und sie hatte stets gedacht, sie sei jeder Situation, mochte sie noch so schwierig sein, gewachsen. Doch in diesem Moment fühlte sie sich überfordert.
»Ich muss wenigstens den Arzt anrufen«, meinte sie entschlossen.
Lona drehte eigensinnig den Kopf zur Seite, um ihr Missfallen auszudrücken. Daisy griff dennoch zum Telefon auf dem Nachttisch und wählte die Nummer der Praxis.
»Das war unnötig, ich brauche nur dich hier«, sagte Lorna schwach, als Daisy aufgelegt hatte. »Es gibt nämlich etwas, über das ich mit dir reden möchte.«
»Ich werde einen richtigen Beruf erlernen«, versprach Daisy schnell. Sie war jetzt fünfundzwanzig, und sie wusste, ihre Eltern machten sich die größten Sorgen, weil sie so unstet und wenig ehrgeizig war. »Ich hab gedacht, ich geh zur Polizei.«
Lorna lächelte. »Das ist nichts für dich. Erstens magst du nicht herumkommandiert werden, und zweitens bist du so weichherzig, dass du alle Ganoven zum Tee mit nach Hause nehmen würdest.«
»Dann ist es wegen Joel?«
Joel war Polizist und seit einem Jahr Daisys fester Freund. So lange war sie noch nie zuvor mit einem Mann zusammen gewesen. Ihre Eltern mochten ihn, und sie dachte, ihre Mutter werde sie vielleicht drängen, ihn zu heiraten.
»Nein, es ist auch nicht wegen Joel. Das kannst du selbst am besten entscheiden. Ich wollte mit dir über deine leibliche Mutter reden.«
Daisy schaute Lona entsetzt an. »Ich will jetzt nicht über sie sprechen.«
»Aber ich. Und ich möchte, dass du sie suchst, wenn ich nicht mehr da bin. Ich glaube, das wird dir helfen.«
Daisys Augen füllten sich mit Tränen. »Nichts und niemand wird jemals deinen Platz einnehmen«, beteuerte sie. »Du bist meine Mutter. Ich will keine andere.«
Sie wusste, dass sie adoptiert worden war. Lona und John hatten es ihr erzählt, als sie noch ganz klein gewesen war, und hinzugefügt, sie sei etwas ganz Besonderes - schließlich hätten sie sich Daisy im Gegensatz zu leiblichen Kindern aussuchen können. An dieser Haltung hatte sich auch nichts geändert, als die Zwillinge zur Welt gekommen waren, was für alle ein Wunder gewesen war, weil Lona laut ärztlichem Befund unfruchtbar war. Daisy, damals fünf, hatte nie das Gefühl gehabt, dass die Zwillinge bevorzugt wurden, im Gegenteil, sie hatte sich vorgestellt, ihre Eltern hätten Tom und Lucy nur bekommen, um ihr eine Freude zu machen. Daisy hatte in fünfundzwanzig Jahren nicht ein einziges Mal nach ihrer leiblichen Mutter gefragt. Sie war eine Buchan, ganz egal, wie sie bei ihrer Geburt geheißen haben mochte.
»Das sagst du vielleicht jetzt, Dizzie«, meinte Lorna, sie liebevoll mit ihrem Spitznamen anredend, »aber ich weiß aus Erfahrung, dass ein Todesfall in der Familie Fragen aufwerfen und Emotionen auslösen kann, mit denen man nicht gerechnet hat. Ich glaube, die Suche nach deiner Mutter würde dir helfen, das alles besser zu bewältigen.«
Daisy wusste nicht, was sie erwidern sollte. Lorna würde nie einen solchen Vorschlag machen, wenn sie nicht lange und gründlich darüber nachgedacht hätte. Seit ihr klar war, dass sie sterben würde, hatte sie alles organisiert, angefangen vom Trauergottesdienst bis hin zu einem Vorrat an tiefgefrorenen Mahlzeiten. Diese Planung hatte nichts Makabres - Lorna war einfach immer so gewesen: vorausschauend und darauf bedacht, das Leben für ihre Familie leichter und angenehmer zu gestalten. Dennoch begriff Daisy nicht, wie sie auf den Gedanken kam, die Suche nach der Frau, die ihr Kind vor so vielen Jahren zur Adoption freigegeben hatte, werde ihr, Daisy, über ihren Kummer hinweghelfen.
Sie schaute zum Fenster hinaus. Auch der Garten hinter dem Haus zeugte von Lornas Umsicht und ihrem planerischen Talent. Die Rabatten, ein Meer von blauen, rosaroten und malvenfarbenen Blüten, waren wunderschön anzusehen. Das alte Spielhaus, in dem Daisy und die Zwillinge als Kinder viele glückliche Stunden verbracht hatten, war vom Geißblatt fast völlig überwuchert. Statt es später verfallen zu lassen oder abzureißen, hatte Lorna es jedes Frühjahr gesäubert und die Blumenkästen vor den Fenstern neu bepflanzt. Daisy wusste, wenn sie jetzt hineinginge, würde sie die kleinen Töpfe und Pfannen, die Stühle und den Tisch alle ordentlich an ihrem Platz vorfinden.
Lorna hatte natürlich gehofft, eines Tages würden ihre Enkelkinder darin spielen. Daisys Augen füllten sich mit Tränen bei dem Gedanken daran, dass Lorna die Hochzeiten ihrer Kinder und Geburten ihrer Enkel nicht mehr erleben würde.
»Ich werde sie suchen, wenn du es wirklich willst«, sagte Daisy, das Gesicht zum Fenster gewandt, damit die Mutter ihre Tränen nicht sah. »Aber was für ein Mensch sie auch sein mag, sie wird niemals deinen Platz einnehmen.«
»Leg dich ein bisschen zu mir«, bat Lorna. Sie hatte, selbst aus größerer Entfernung, stets gefühlt, wenn jemand weinte oder unglücklich war. Gehorsam kuschelte sich Daisy neben sie.
Das Bett der Eltern war seit jeher ein besonderer Platz. Die Zwillinge und sie hatten es als Trampolin benutzt, gespielt, dass es ein Boot, eine einsame Insel oder ein Krankenhaus sei. Hier hatten sie an Weihnachten nachgeschaut, was der Weihnachtsmann ihnen in die Strümpfe gesteckt hatte, hier waren sie umsorgt worden, wenn sie krank gewesen waren, hatten nachts Zuflucht gesucht, wenn sie schlecht geträumt hatten. Und als Teenager hatte sich Daisy oft zu ihrer Mutter gelegt und ihr ihre Ängste und Träume anvertraut. Als sie jetzt den Arm um Lorna legte, stiegen Erinnerungen aus neuerer Zeit in ihr empor: Sonntagmorgens, wenn Dad mit Fred, dem Westhighland-Terrier, unterwegs war, oder abends, wenn er noch in seinem Arbeitszimmer saß, war sie hierher gekommen und hatte ihrer Mutter ihr Herz ausgeschüttet, mit ihr über Joel gesprochen, über ihre Sorge, nie einen Job zu finden, der ihr wirklich Spaß machte, und über ihre Freunde.
Die meisten ihrer Freunde behaupteten, mit ihren Müttern nicht über Wichtiges reden zu können. Doch Daisy brauchte sich nur in dieses Zimmer neben Lorna zu legen, und schon konnte sie ihr die geheimsten Dinge anvertrauen.
»Als du noch ein Baby warst, habe ich dich mit zu mir ins Bett genommen«, bemerkte Lorna und drehte den Kopf, um Daisy anzuschauen. »Dann lag ich da und konnte nicht fassen, wie wunderschön du warst und was für ein Glück ich hatte, dich bekommen zu haben. Und jetzt bist du eine erwachsene Frau von fünfundzwanzig Jahren, und ich denke noch genau das Gleiche.«
Sie wickelte eine von Daisys Korkenzieherlocken um den Finger. »Du hast zuerst überhaupt keine Haare gehabt, und als sie endlich zu wachsen anfingen, dachte ich, sie würden blond und glatt werden. Einen rothaarigen Lockenkopf hab ich nicht erwartet.« Sie lachte leise und strich Daisy zärtlich über die Wange. »Du bist so wunderschön, Dizzie, außerdem hast du Humor und ein großes Herz. Ich bin furchtbar stolz auf dich. Deshalb möchte
ich auch, dass du deine leibliche Mutter suchst. Sie soll meine Freude teilen und sehen können, dass ich gut auf dich Acht gegeben habe.«
Lorna hatte wie immer die richtigen Worte gefunden und Daisy ein Argument geliefert, auf das sie nie von allein gekommen wäre. Dennoch konnte sie ihr nichts versprechen, sie wusste, niemand würde Lorna als Mutter das Wasser reichen können.
»Weißt du noch, als ich Windpocken hatte?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
» Hmm«, machte Lorna. Es klang schläfrig.
»Ich hab mir mit Filzstift ein paar Flecken aufgemalt«, gestand Daisy. »Hast du es gemerkt?«
»O ja«, flüsterte Lorna. »Daddy und ich haben darüber gelacht. Wir dachten, du würdest eine gute Schauspielerin abgeben. Du hast immer dazu geneigt, die Dinge zu dramatisieren.«
»Ich liebe dich, Mum«, wisperte Daisy.
Lorna murmelte noch, sie solle sich erst über ihre Gefühle für Joel klar werden, bevor sie ans Heiraten denke. Dann schien sie einzuschlafen.
Nach ein paar Minuten rutschte Daisy zur Bettkante, um aufzustehen und ihren Vater anzurufen. Lorna öffnete noch einmal die Augen. »Sag Daddy und den Zwillingen Lebewohl von mir und dass ich sie liebe«, bat sie mit schwacher Stimme.
Zutiefst beunruhigt, versicherte Daisy hastig: »Sie werden bald zurück sein, dann kannst du es ihnen selbst sagen.«
Sie bekam keine Antwort mehr. Kein Zucken der Augenlider, kein Beben der Lippen verriet, dass Lorna sie gehört hatte.
»O nein«, stieß Daisy hervor. Außer sich vor Angst kniete sie sich aufs Bett, presste das Ohr auf die Brust der Mutter und lauschte. Nichts. Sie packte ihr Handgelenk, suchte den Puls, doch sie spürte ihn nicht mehr. »Mummy, nein!«, schrie sie. Lornas blassblaue Augen schienen starr auf irgendeinen Punkt in der Ferne gerichtet zu sein.
Ihr Verstand sagte ihr, ihre Mutter war tot, und trotzdem konnte sie nicht glauben, dass der Tod so plötzlich und lautlos, ohne Vorwarnung, eingetreten war.
Es war so still, dass sie das Summen der Bienen und den Gesang der Vögel im Garten hören konnte. Früher hätte Lorna so einen warmen, sonnigen Tag zur Gartenarbeit genutzt oder das Bettzeug gewaschen und draußen zum Trocknen aufgehängt. Sie war immer ein praktischer Mensch mit festen Gewohnheiten und geregeltem Tagesablauf gewesen, den nur das Wetter hatte umstoßen können. Daisy hatte sich früher darüber lustig gemacht; es war ihr so stumpfsinnig vorgekommen. In den letzten Wochen jedoch hatte sie Routine zu schätzen gelernt und eine gewisse Befriedigung in der Erledigung alltäglicher, aber wichtiger Aufgaben gefunden. Sie war zu dem Schluss gelangt, dass sie endlich erwachsen geworden war.
Doch als sie jetzt mit tränenüberströmtem Gesicht auf dem Bett kniete und nicht wusste, was sie tun sollte, kam sie sich alles andere als erwachsen vor. Sie fühlte sich eher wie eine hilflose Fünfjährige.
Das schrille Läuten der Türglocke hallte durchs Haus, und Fred schlug an. Daisy lief aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Sie hoffte, dass es der Arzt sein würde.
Er war es. Er warf nur einen kurzen Blick auf ihr verstörtes Gesicht und eilte sofort nach oben ins Schlafzimmer.
Um acht Uhr an jenem Abend zog sich Daisy in ihr Zimmer zurück, nahm Fred mit und schloss die Tür hinter sich. Schluchzend ließ sie sich aufs Bett fallen. Fred schmiegte sich an sie und leckte ihr das Gesicht, als wollte er sie trösten.
Die letzten Stunden waren so seltsam und verwirrend gewesen. Nichts war mehr so, wie es einmal gewesen war; es gab keine Normalität mehr, an die sie sich hätte klammern können. An diesem Tag war eine Welt für sie zusammengebrochen. Eine unheimliche Stille herrschte im Haus, doch das Schlimmste war die Art und Weise, wie ihre Familie sich benahm.
Der Arzt war noch da gewesen, als ihr Dad früher als erwartet heimgekommen war. Er sei auf dem Weg zu der Besprechung gewesen, hatte er erzählt, habe aber plötzlich eine merkwürdige
Vorahnung gehabt und sei deshalb direkt nach Hause gefahren. Obgleich er einem scheinbar irrationalen Impuls gehorcht hatte, zeigte er keinerlei Reaktion, als der Arzt ihm mitteilte, seine Frau sei vor wenigen Minuten verstorben. John stand einfach nur da und starrte ihn ausdruckslos an.
Er behielt sein sonderbar steifes, distanziertes Benehmen bei. Anstatt zu Lorna hinaufzugehen, fragte er den Arzt, ob er einen Tee oder einen Kaffee trinken wolle. Daisy sehnte sich nach einem tröstenden Wort, einer Umarmung. Sie hätte sich gewünscht, er hätte sie nach den letzten Minuten ihrer Mutter gefragt, ihr versichert, sie habe das Richtige getan, aber nichts von all dem geschah. Die Zwillinge schienen ihm wichtiger zu sein, denn kaum war der Arzt gegangen, rief er im College an und bat den Direktor, sie unverzüglich nach Hause zu schicken.
Der Totenschein lag auf dem Küchentisch. John nahm ihn in die Hand, las ihn und ging dann endlich zu Lorna hinauf. Daisy hörte, wie die Schlafzimmertür mit einem Klicken, das etwas Endgültiges hatte, ins Schloss fiel. Auf einmal fühlte sie sich vollkommen isoliert.
John war noch oben, als Lucy und Tom nach Hause kamen. Beide hatten das blonde Haar und die blauen Augen ihrer Mutter geerbt, aber während Lucy wie Lorna von recht stämmiger Statur war, war Tom groß und schlank wie sein Vater. Und im Gegensatz zu Lucy, die fast immer mit finsterer Miene herumlief, war Toms Gesicht normalerweise zu einem breiten Grinsen verzogen.
Mit erhitzten Gesichtern und ganz außer Atem stürmten sie herein. »Geht es Mum schlechter?«, fragten sie wie aus einem Mund.
Daisy brach in Tränen aus. »Sie ist vorhin gestorben«, schluchzte sie. »Dad ist gerade bei ihr.«
Tom eilte zu ihr und nahm sie in die Arme. Er beugte den Kopf, bis sein Gesicht ihre Schulter berührte. Daisy hörte, dass er leise weinte. Lucys Reaktion dagegen überraschte sie.
»War Dad bei ihr, als sie starb?«, wollte sie in anklagendem Ton wissen.
»Nein«, weinte Daisy. »Nur ich. Dad kam zufällig, als der Arzt noch da war.«
»Warum hast du uns nicht Bescheid gesagt?« Lucys blaue Augen wirkten kalt, ihr Blick war argwöhnisch.
Daisy war nicht nach langen Erklärungen zu Mute. »Es ging alles so schnell. Sie meinte, sie glaube, es gehe zu Ende. Ich wollte Dad anrufen und euch im College benachrichtigen, aber sie ließ es nicht zu. Sie wollte nicht einmal, dass ich den Arzt verständige, aber ich habe ihn trotzdem angerufen. Als er kam, war sie schon ein paar Minuten tot.«
»Du hättest uns anrufen müssen, du hattest kein Recht, uns von ihr fern zu halten«, fauchte Lucy. Sie wirbelte herum und rannte laut schluchzend die Treppe hinauf. Tom löste sich von Daisy, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und eilte seiner Zwillingsschwester nach.
Die drei blieben über eine Stunde oben, und Daisy hatte das deutliche Gefühl, unerwünscht zu sein. Das ergab einfach keinen Sinn, weil sie nie anders als ihre Geschwister behandelt worden war. Sie hatte niemals den Eindruck gehabt, sich in irgendeiner Weise von den anderen zu unterscheiden, deshalb schmerzte es nun umso mehr, dass sie anscheinend nicht wussten, dass ihr Kummer genauso groß wie der ihres Vaters und der Zwillinge war.
Als ihr Dad viel später herunterkam, saß sie mit Fred in der Küche und weinte noch immer. Es gebe einiges zu erledigen, sagte er in scharfem Ton, zum Beispiel müsse ein Bestattungsunternehmen verständigt werden. Das wusste Daisy selbst, aber hätte er sie nicht wenigstens fragen können, wie es ihr ging? Sie hätte sich gewünscht, er nähme sich die Zeit, mit ihr über die Ereignisse zu sprechen.
Schließlich stand sie auf und machte sich daran, das Abendessen vorzubereiten. Ihr Vater meinte nur, er verstehe nicht, wie sie in einem solchen Augenblick ans Essen denken könne. Nichtsdestotrotz ließen er und die Zwillinge es sich später schmecken, während Daisy keinen Bissen herunterbrachte.
Nachdem die Leute vom Bestattungsunternehmen Lorna abgeholt hatten, gingen die anderen ins Wohnzimmer, und Daisy räumte die Küche auf. Keiner bat sie, sich zu ihnen zu setzen.
Joel war am Telefon sehr mitfühlend gewesen, aber er hatte Dienst und konnte nicht vorbeikommen. Sie solle es nicht so schwer nehmen, tröstete er sie, die meisten Leute benähmen sich merkwürdig, wenn sie unter Schock stünden.
In ihrem Zimmer wurde Daisy schmerzlich bewusst, wie viel sie an ihre Mutter erinnerte: die Teddybären in Gymnastikanzügen - einer für jeden Turnwettbewerb, an dem sie als Teenager teilgenommen hatte, der blaue, mit Krausen besetzte Morgenmantel, den Lorna ihr im vergangenen Jahr genäht hatte - er hing noch an dem Haken an der Tür -, die wunderschöne gerahmte Fotomontage, die Lorna liebevoll zusammengestellt hatte, weil sie weiteren Klebestreifenflecken auf der Tapete hatte vorbeugen wollen.
Hatte ihre Mum geahnt, dass es nach ihrem Tod so kommen würde? Hatte sie als Einzige die Familie zusammengehalten? Hatte sie gewusst, dass ohne sie alles auseinander brechen würde, und Daisy deshalb gedrängt, ihre leibliche Mutter zu suchen?
Daisy drückte Fred fester an sich und vergrub schluchzend das Gesicht in seinem Fell. Wenigstens er hielt noch zu ihr.
Jemand klopfte leise an die Tür. Daisy fuhr erschrocken hoch und wischte sich rasch die Tränen von den Wangen. »Herein!« Sie dachte, es sei Tom, der oft spätabends noch auf einen Plausch zu ihr kam, doch zu ihrer Überraschung stand ihr Vater in der Tür.
Einen Augenblick sah er sie nur an, vielleicht, weil ihm ihre rot geränderten Augen auffielen. Er war als Gutachter in einer Firma tätig, die sich auf denkmalgeschützte Objekte spezialisiert hatte, und witzelte oft, er werde einem alten Haus immer ähnlicher: Graue Fäden zogen sich mittlerweile durch sein braunes Haar, und er ging ein wenig aus der Form. Doch er hielt sich mit Federballspielen und Segeln fit und sah noch immer bemerkenswert jung und gut aus für einen Endfünfziger. Jetzt allerdings blickten seine braunen Augen düster und ernst. Daisy hatte ihn noch nie so niedergeschlagen oder verunsichert gesehen.
»Wir müssen miteinander reden«, sagte er leise. »Es tut mir Leid, Dizzie, ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass ich gar nicht daran gedacht habe, was du durchgemacht haben musst.«
Der Spitzname, den sie von den Zwillingen bekommen hatte, weil sie als Kleinkinder »Daisy« nicht richtig hatten aussprechen können, war ihr geblieben. Er passte zu ihr: Im Gegensatz zu ihrem Vater und den Zwillingen, die intellektuelle Interessen hatten, war Daisy nämlich ein flatterhafter Wirrkopf, der sich für vieles interessierte, aber nichts richtig beherrschte. Bei den Büchern, die sie las, bevorzugte sie leichte, pikante Unterhaltung. Sie mochte Komödien, liebte Tanzen, Schlittschuhlaufen und Gymnastik, alles, was mit schnellen Bewegungen verbunden war und das Auge ansprach. Eine ihrer herausragenden Eigenschaften aber war ihre Fähigkeit, zu vergeben und zu vergessen. Als sie sah, wie ihr Vater litt, dachte sie nicht mehr an ihre verletzten Gefühle.
»Es ist schon okay, Daddy«, erwiderte sie. »Komm nur rein.« Er setzte sich auf die Bettkante, streichelte den Hund und fragte, was genau passiert sei.
Daisy erklärte, Lorna habe nicht gewollt, dass sie ihn oder die Zwillinge verständigte.
»Das sieht ihr ähnlich«, meinte er und kraulte Fred hinter den Ohren. »Ich hätte wahrscheinlich sowieso nicht schneller da sein können. Aber ich war einfach nicht darauf gefasst gewesen, Daisy. Gestern Abend ging es ihr noch so gut.«
»Heute Morgen, als ich ihr beim Baden half, auch«, erwiderte Daisy und schmiegte sich an ihren Vater. »Sie sprach noch davon, ein paar neue Chrysanthemen für den Herbst zu pflanzen. Als ich später nach ihr sah, dachte ich, sie schliefe, aber da sagte sie, sie glaube, es gehe zu Ende, und wollte, dass ich ihre Hand hielt.« Daisy konnte nicht mehr weitersprechen.
Ihr Vater nahm sie in die Arme. »Sie wird uns allen schrecklich fehlen«, bemerkte er traurig. »Nächsten Monat hätten wir unseren dreißigsten Hochzeitstag feiern können. Ich habe immer geglaubt, wir würden zusammen alt werden.«
Daisy fühlte sich jetzt, da er sie festhielt und wieder ganz der Alte war, schon besser. Sie überlegten gemeinsam, wen sie sofort benachrichtigen sollten und welcher Anruf bis zum nächsten Tag warten konnte.
»Mir graut bei dem Gedanken, das alles x-mal wiederholen zu müssen«, bekannte John müde und fuhr sich durchs Haar. »Da es keinen Grund für eine Autopsie gibt, kann die Beerdigung schon bald stattfinden.«
»Ich rufe ein paar Leute für dich an, wenn du willst.«
»Nein«, antwortete er seufzend, »das muss ich schon selbst erledigen. Ihre Freunde wären gekränkt, wenn sie es nicht von mir erführen. Worüber habt ihr vor ihrem Tod eigentlich gesprochen?«
Daisy hätte das vorläufig lieber für sich behalten, doch das ging jetzt nicht mehr. Sie erzählte es ihrem Vater.
Er verzog das Gesicht. »Das bedrückte sie schon eine ganze Weile. So war sie eben. Sie wollte, dass jeder glücklich und alles im Lot ist. Ihre eigene Mutter starb, als sie neun war, weißt du, und ihr Vater heiratete ein paar Jahre später ein zweites Mal. Lorna verstand sich nicht mit ihrer Stiefmutter, und weil ihr Vater offenbar den Weg des geringsten Widerstandes ging und mit seiner Tochter nie über ihre Mutter sprach, blieben viele Fragen unbeantwortet. Wahrscheinlich dachte sie, dir ginge es genauso.«
»Das stimmt aber nicht«, entgegnete Daisy heftig. »Meine leibliche Mutter interessiert mich keine Spur. Ich habe in dieser Familie alles, was ich brauche, auch wenn Lucy manchmal ein ziemliches Biest ist.«
»Sie ist bloß ein bisschen eifersüchtig auf dich«, sagte ihr Vater beschwichtigend. »Ich glaube, sie denkt, eure Mum hätte dich bevorzugt. Das geht vorbei.«
»Hoffentlich«, murmelte Daisy leise. »Sie hat immerhin Tom, die beiden machen doch alles zusammen. Wenn sich jemand wie das fünfte Rad am Wagen fühlt, dann ich.«
»Sie werden erst nach der Beerdigung wieder aufs College gehen, wir haben also genug Zeit, um zu reden und ein paar Dinge zu klären.« Ihr Vater stand auf. »Ich mach mich jetzt besser daran, die Telefonate zu erledigen, und du solltest ins Bett gehen. Es war ein furchtbarer, anstrengender Tag.«
Daisy schlief rasch ein, wachte aber bald wieder auf. Sie knipste das Licht an. Es war erst zwei Uhr. Nachdem sie eine Zeit lang vergeblich versucht hatte, noch einmal einzuschlafen, stand sie auf und ging in die Küche hinunter.
Daisy hatte schon öfter woanders gewohnt: mit Freunden in einer Wohngemeinschaft, allein in einem möblierten Zimmer, mit einem Jungen zusammen, den sie hatte heiraten wollen. Aber so sehr sie sich auch nach Freiheit sehnte - sie war immer wieder in dieses Haus und zu ihrer Mutter zurückgekehrt. Es war ein geräumiges Einfamilienhaus im viktorianischen Stil mit großen Panoramafenstern, wunderschönen Bleiverglasungen und allen herausragenden baulichen Merkmalen jener Epoche. Lorna und John hatten nicht viel verändert. Der Esszimmerboden war vor ein paar Jahren abgeschliffen und versiegelt, die Küche vergrößert und modernisiert worden. Da Lorna und John aber immer schon eine Vorliebe für den viktorianischen Geschmack, für bequeme Samtsofas, prächtige Drucke von William Morris und edel poliertes Holz gehabt hatten, sah das Innere des Hauses vermutlich so aus, wie der ursprüngliche Innenarchitekt es sich vorgestellt hatte.
Während mittlerweile wohlhabende Leute in dieser Gegend wohnten, war Bedford Park früher, in Daisys Kindheit, ein typisches Mittelstandsviertel für Familien mit drei oder vier Kindern gewesen, die sich gegenseitig besuchten, bei ihren Freunden übernachteten, zusammen spielten und zur Schule gingen. Auch die Eltern waren miteinander befreundet gewesen, und vor allem von Lorna war die Initiative zu gemeinsamen Frühstückstreffs, Abendessen und sommerlichen Gartenpartys ausgegangen.
Doch die alten Freunde zogen einer nach dem anderen fort - zu verlockend waren die absurd hohen Summen, die ihnen für ihre Anwesen geboten wurden. Die neuen Eigentümer beschäftigten Kindermädchen und schickten ihre Kinder auf Privatschulen. Die Frauen hatten keine Zeit für einen morgendlichen Kaffeeplausch.
Daisy ging ins Wohnzimmer und setzte sich an den Schreibtisch ihrer Mutter. Eine Liste mit den Namen der Leute, die ihr Vater benachrichtigen musste, lag darauf. Etwa die Hälfte hatte er bereits abgehakt.
Sie drehte sich um. Eine namenlose Traurigkeit überkam sie bei dem Gedanken daran, dass sie ihre Mum nie mehr hier sitzen und Briefe schreiben, nähen oder lesen sehen würde. Der Raum war voll gestopft mit Büchern, Bildern, Fotos und allerlei Krimskrams - Lorna hatte nichts wegwerfen können, was irgendeinen Erinnerungswert besaß. Sie hatte die kleinen Glastiere, die Daisy, Tom und Lucy ihr zum Muttertag oder zum Geburtstag geschenkt hatten, ebenso aufgehoben wie den aus einem Elefantenfuß gefertigten hässlichen Hocker von ihrem Großvater. Allein in diesem Zimmer Ordnung zu schaffen, wäre eine gewaltige Aufgabe, und Daisy fragte sich, wie sie das alles bewältigen sollten, wenn sie selbst erst einmal wieder einen Job hätte.
Ihre berufliche Unbeständigkeit rührte zum Teil daher, dass sie Hausarbeit mehr als jede andere Tätigkeit liebte. Sie kochte, putzte und gärtnerte für ihr Leben gern, während ihr die durch kleinliche Bestimmungen eingeschränkte Arbeit in einem Büro oder einem Laden überhaupt nicht lag. Das machte sie zu einem Exoten unter ihren Freunden, richtigen Yuppies der Neunzigerjahre, die versessen aufs Geldverdienen waren und davon träumten, sich ein eigenes Haus zu kaufen. Daisy hatte weder Ambitionen noch irgendwelche Qualifikationen - sie war keine besonders gute Schülerin gewesen. Sie wünschte sich im Grunde nur das, was ihre Eltern hatten: eine gute, liebevolle Ehe und Kinder. Das zuzugeben, kam heutzutage beinahe einem Bekenntnis zum Kannibalismus gleich.
Daisys Einstellung war teilweise auch für das schwierige Verhältnis zu Lucy verantwortlich. Deren Feindseligkeit war nichts Neues. Sie attackierte Daisy, wo sie nur konnte, warf ihr vor, blöd zu sein, kein Ziel zu haben und in einer Traumwelt zu leben. In gewisser Weise hatte Lucy sogar Recht. Wurde Daisy losgeschickt, um etwas zu besorgen, vergaß sie unterwegs manchmal, was sie einkaufen sollte. Ihr Liebesleben war immer chaotisch und dramatisch gewesen; sie war ein emotionaler, großzügiger Mensch, verschwenderisch und impulsiv.
Lucy hingegen war überaus intelligent. Sie hatte ein hervorragendes Abitur gemacht und studierte Volkswirtschaft. Die Jungen, mit denen sie ausging, wählte sie sorgfältig aus; sie kam mit ihrem Taschengeld aus und vergaß nie etwas. Die Ursache für die Spannungen zwischen ihr und Daisy lag jedoch woanders.
Begonnen hatte alles mit Daisys Talent als Turnerin und einem nicht besonders geschickt gewählten Moment, es vorzuführen. In der Grundschule war sie in der Turnstunde so etwas wie der Star gewesen und hatte viele Wettbewerbe gewonnen. Mit vierzehn hatte sie jedoch von Wettkämpfen genug gehabt und nur noch zum Spaß geturnt.
Lucy konnte Klavier und Klarinette spielen, worum Daisy sie glühend beneidete, weil sie selbst niemals die Geduld gehabt hätte, ein Instrument zu erlernen. An einem Sommernachmittag vor etwa sechs Jahren, als die Familie draußen im Garten gesessen hatte, hatte Lucy im Esszimmer bei offenen Terrassentüren, damit die anderen sie hören konnten, Klavier gespielt.
Daisy wusste eigentlich nicht, warum sie es getan hatte - vielleicht, wie Lucy vermutete, weil sie es nicht ausstehen konnte, wenn ihre Schwester im Mittelpunkt stand. Als Lucy ein besonders aufwühlendes Stück zu spielen begann, marschierte Daisy zur Küchentür und machte von dort einen Salto rückwärts nach dem andern, die ganze Länge des Gartens hinunter. Dann spazierte sie auf den Händen zurück.
Tom, Lorna und John klatschten stürmisch Beifall und unterbrachen den Klaviervortrag. Da ließ Lucy wütend den Klavierdeckel herunterkrachen, rief etwas, das klang wie: »Geh doch zum Zirkus! Zu etwas anderem taugst du ja doch nicht«, und sprang schmollend die Treppe hinauf.
Obwohl sich Daisy später entschuldigte, war Lucy nicht zum Einlenken zu bewegen. Von diesem Tag an herrschte Krieg zwischen den beiden, und Lucy nutzte jede Gelegenheit, Daisy schlecht zu machen und herabzusetzen.
Dass Lucy plötzlich in die Höhe schoss, bis sie knapp eins fünfundsiebzig maß, Kleidergröße vierundvierzig tragen musste und reichlich Pickel bekam, verbesserte die Situation nicht gerade. Daisy konnte zwar nichts dafür, dass sie schlank war, zehn Zentimeter kleiner und eine ziemlich reine Haut hatte, aber Lucy benahm sich, als hätte eine böse Fee sie mit einem Zauber belegt, der eigentlich für Daisy gedacht war.
Sie warf Daisy ständig vor, magersüchtig zu sein, versteckte ihre Lieblingskleider und verhöhnte sie gnadenlos wegen ihrer vermeintlichen Dummheit. Daisy machte alles nur noch schlimmer, indem sie Lucy als »fette Streberin« beschimpfte und ihr medizinische Gesichtsreiniger für ihre picklige Haut schenkte. Heute schämte sie sich dafür. Aber Lucy, die ihr nachspioniert, in ihrer Abwesenheit in ihrem Zimmer herumgeschnüffelt und sie in einem fort geärgert hatte, hatte den Bogen einfach überspannt.
Nachdem sich Daisy ein möbliertes Zimmer genommen hatte, waren sie besser miteinander ausgekommen. Aber kaum war sie wieder zu Hause eingezogen, hatte alles von vorn begonnen. Da war Daisy einundzwanzig gewesen und ein bisschen vernünftiger. Also versuchte sie, das Kriegsbeil zu begraben, und schlug einen Kinobesuch oder einen Einkaufsbummel vor. Doch Lucy kam ihr kein bisschen entgegen, und so endeten die gemeinsamen Ausflüge meistens in einem wüsten Streit.
Daisy kehrte in die Küche zurück. Fred in seinem Körbchen schaute sie schwanzwedelnd und voller Vorfreude an. »Nein, nein, wir gehen jetzt nicht Gassi.« Sie beugte sich hinunter und streichelte ihn. »Es ist mitten in der Nacht.« Daisy schenkte sich eine Tasse Milch ein und wünschte, sie hätte mit ihrer Mum über Lucy geredet. Vielleicht hätte Lorna Rat gewusst. Aber die beiden Mädchen hatten das stets untereinander ausgemacht und ihre Streitigkeiten nie vor den Eltern ausgetragen. Daisy hatte
ein schlechtes Gewissen, als sie daran dachte, wie oft sie sich in Abwesenheit der Eltern gezankt hatten.
»In Zukunft mach ich das jedenfalls nicht mehr mit«, sagte sie zu sich selbst, während sie die Tasse in die Mikrowelle stellte. »Es wird Zeit, dass wir uns wie Erwachsene benehmen.«
Da es eine ungewöhnlich warme Nacht war, nahm sie ihre Zigaretten aus der Handtasche und ging in den Garten, um eine zu rauchen. Fred trottete hinter ihr her.
Sie hatte nie in Anwesenheit ihrer Eltern geraucht, weil beide Nichtraucher waren und es ihr deshalb einfach nicht richtig erschien. Meistens rauchte sie, wenn sie mit Freunden ausging, aber im Garten zu sitzen und genüsslich an einer Zigarette zu ziehen, hatte etwas herrlich Verbotenes. Joel war gegen das Rauchen, und Lucy hielt es natürlich für das Letzte. Tom dagegen rauchte selbst gelegentlich eine, und abends saßen sie oft noch draußen auf eine Zigarettenlänge zusammen.
Fred sprang zu Daisy auf die Hollywoodschaukel. Sie stieß sich sachte ab, zündete sich eine Zigarette an und dachte an Joel. Ob er sich für die Beerdigung wohl würde freinehmen können?
Plötzlich gab Fred ein leises Knurren von sich. Daisy drehte sich um und sah Tom, der im Schlafanzug auf sie zukam.
»Hi!«, rief sie leise. »Kannst du auch nicht schlafen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kapier das einfach nicht, Dizzie. Als ich mich heute Morgen von ihr verabschiedet habe, schien es ihr noch so gut zu gehen.«
Er nahm die Zigarette, die Daisy ihm anbot, und setzte sich neben sie. Tom ähnelte seiner Zwillingsschwester nur äußerlich. Vom Wesen her unterschieden sich die beiden ganz erheblich: Obwohl er genauso gescheit war wie Lucy, spielte er gern den Begriffsstutzigen. Er war aufmerksamer und rücksichtsvoller als Lucy und ging großzügiger mit seiner Zeit, seiner Zuneigung und seinem Geld um. Bei seinen Tutoren und Kommilitonen war er gleichermaßen beliebt. Er war ein guter Sportler, begeisterte sich für Rockmusik und besaß einen ausgeprägten Sinn für Humor.
Sie unterhielten sich eine Weile über ihre Gefühle für ihre Mut-
ter. Tom brach unvermittelt in Tränen aus. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so wehtut«, flüsterte er. »Ich hab geglaubt, ich würde beinahe erleichtert sein über ihren Tod, weil er sie von ihren Schmerzen erlösen würde. Aber jetzt bin ich nur wütend, Dizzie. Ich denke dauernd: Warum gerade sie? Es laufen so viele nutzlose, jämmerliche Typen herum! Warum kriegen die es nicht?«
Daisy wusste, er erwartete keine Antwort, er musste einfach seinem Herzen Luft machen. Als sie tröstend die Arme um ihn legte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie für ihn und Lucy eine Zeit lang den Platz ihrer Mutter würde einnehmen müssen.
Die Zwillinge, die nie von zu Hause fort gewesen waren, hatten seit der Grundschule dieselbe Klasse besucht und sich für ein College in West London anstatt für eine Universität in einer anderen Stadt entschieden. Ihre enge Beziehung hatte sie vor Einsamkeit, dem Drangsaliertwerden und den vielen anderen Dingen, unter denen Kinder zu leiden hatten, bewahrt. Daisy wusste noch, wie sie sie beneidet hatte, als sie noch ganz klein gewesen waren. Noch bevor sie richtig sprechen konnten, hatten sie sich in einer Art Geheimsprache verständigt, die nur den beiden geläufig war. Sie hatten oft im selben Bett geschlafen und teilten heute noch alles miteinander.
Ihre Mum war jedoch genauso wichtig für sie gewesen. Im Haus waren ihr die beiden auf Schritt und Tritt gefolgt. Die enge Bindung hatte, obwohl sie inzwischen zwanzig waren, bis zuletzt bestanden. Im Gegensatz zu Daisy, die in dem Alter jede Gelegenheit zum Ausgehen genutzt hatte, blieben die Zwillinge abends lieber zu Hause.
»Alles wird gut«, tröstete sie Tom. »Wir sind trotzdem noch eine Familie; wir werden uns gemeinsam um das Haus und den Garten kümmern. Ich bin ja auch noch da.«
»Dann wirst du also nicht ausziehen?« Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Lucy sagt, wir hätten dich bestimmt die längste Zeit hier gesehen.«
»Wie kommt sie denn darauf?«
Er zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Sie hat mitgekriegt,
wie Mum und Dad vor einiger Zeit darüber sprachen, wie es später, wenn Mum nicht mehr da wäre, weitergehen soll. Dad meinte, wahrscheinlich würde er das Haus verkaufen und irgendwo ein kleineres suchen, weil er nicht erwarten könne, dass du ewig hier bleibst und dich um alles kümmerst.«
Daisy dachte einen Moment nach. »Ewig werde ich wohl kaum hier bleiben, das stimmt schon. Irgendwann werde ich wahrscheinlich heiraten und du und Lucy auch. Für Dad wäre ein kleineres, pflegeleichteres Haus sicher sinnvoller. Aber ich hab keine Ahnung, wie Lucy auf den Gedanken kommt, ich würde jetzt gleich abhauen.«
»Weil Mum uns ein bisschen was hinterlassen hat, darum«, bemerkte er. »Lucy und ich kommen erst an das Geld ran, wenn wir einundzwanzig sind, aber du kriegst deins sofort.«
Die Neuigkeit machte Daisy wütend auf ihre Schwester. Sie hatte nichts von einer Erbschaft gewusst. Eigentlich hätte das eine nette Überraschung sein müssen, doch es war typisch für Lucy, eine Waffe daraus zu machen.
»Diesmal irrt sich Lucy gewaltig. Du kannst ihr ausrichten, ich werde bleiben, egal, ob mit Geld oder ohne«, erklärte Daisy energisch. »Ich werde mich um euch kümmern, bis ihr wieder Tritt gefasst habt. Mum hätte das so gewollt. Und jetzt gehen wir besser ins Bett, das wird ein anstrengender Tag werden.«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2002 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Übersetzung: Sylvia Strasser
Komm her und halte meine Hand, Liebling. Ich will nicht melodramatisch klingen, aber ich glaube, es geht zu Ende.«
Daisy, die im Begriff gewesen war hinauszugehen, weil sie dachte, ihre Mutter schliefe, wirbelte erschrocken herum.
Lorna Buchan hatte Krebs. Mehr als zwei Jahre hatte sie tapfer mit einer Chemotherapie, einer Mastektomie und unzähligen alternativen Heilmethoden gegen die Krankheit angekämpft und die Hoffnung nie aufgegeben. Aber vor zwei Monaten hatte der Arzt ihr mitgeteilt, der Krebs habe sich im ganzen Körper ausgebreitet. Lorna hatte sich damit abgefunden und jede weitere Therapie im Krankenhaus abgelehnt. Sie wollte die letzten Wochen zu Hause bei ihrer Familie verbringen.
Daisy eilte zu ihrer Mutter. »Ich rufe den Arzt«, sagte sie. Das Herz schlug ihr vor Angst bis zum Hals.
Lorna brachte ein schwaches Lächeln zu Stande. »Nicht nötig, mein Schatz. Ich habe keine Schmerzen, und ich bin ganz ruhig. Setz dich einfach zu mir.«
Daisy war bestürzt. Sie konnte doch nicht einfach nur dasitzen und tatenlos zusehen, wie ihre Mutter starb! Streiten wollte sie in diesem Moment aber auch nicht mit ihr. Sie ergriff die Hand ihrer Mutter, strich ihr mit der anderen liebevoll über den Kopf und überlegte, was sie tun sollte.
Infolge der Chemotherapie war ihr das schöne honigblonde Haar ausgefallen. Es war weiß und weich wie Babyhaar nachgewachsen. Lornas Gesicht war eingefallen, weil sie stark an Gewicht verloren hatte, und das Blau ihrer Augen wirkte wässrig.
Daisy fand es einfach nicht fair, dass es ausgerechnet ihre Mutter getroffen hatte. Lorna war erst fünfzig und eine robuste Frau gewesen, eine stattliche Erscheinung, immer modisch gekleidet und bekannt für ihr lebhaftes, herzliches Wesen. Vor ihrer Krankheit hatte sie zu jenen energiegeladenen Frauen gehört, die ein Schulfest beaufsichtigen und am Ende dieses anstrengenden Tages alle Helfer noch auf einen kleinen Umtrunk zu sich nach Hause einladen konnten. Sie hatte getanzt und gelacht, bis sich der letzte Gast verabschiedet hatte. Doch am anderen Morgen hatte das ganze Haus schon wieder vor Sauberkeit geblitzt, als hätte nie eine Party stattgefunden.
»Ich muss Daddy aber anrufen«, erklärte Daisy einen Augenblick später.
»Nein, das wirst du nicht«, entgegnete Lorna mit überraschend fester Stimme. »Er hat eine wichtige Besprechung heute Nachmittag, und ich will nicht, dass er panisch nach Hause rast.«
»Aber ich muss doch irgendwas tun! Dann lass mich wenigstens im College anrufen und den Zwillingen Bescheid geben.« »Nein, sie kommen sowieso bald nach Hause.«
Daisy hatte ihren Job einen Monat zuvor aufgegeben, um ihre Mutter pflegen zu können. Das war kein großes Opfer gewesen - sie hatte diese Arbeit gehasst, genauso wie die vielen anderen Jobs, die sie vorher gehabt hatte. Den Haushalt zu führen und ihre Mutter zu versorgen, war hingegen eine Aufgabe, die sie gern und gut erledigte, und sie hatte stets gedacht, sie sei jeder Situation, mochte sie noch so schwierig sein, gewachsen. Doch in diesem Moment fühlte sie sich überfordert.
»Ich muss wenigstens den Arzt anrufen«, meinte sie entschlossen.
Lona drehte eigensinnig den Kopf zur Seite, um ihr Missfallen auszudrücken. Daisy griff dennoch zum Telefon auf dem Nachttisch und wählte die Nummer der Praxis.
»Das war unnötig, ich brauche nur dich hier«, sagte Lorna schwach, als Daisy aufgelegt hatte. »Es gibt nämlich etwas, über das ich mit dir reden möchte.«
»Ich werde einen richtigen Beruf erlernen«, versprach Daisy schnell. Sie war jetzt fünfundzwanzig, und sie wusste, ihre Eltern machten sich die größten Sorgen, weil sie so unstet und wenig ehrgeizig war. »Ich hab gedacht, ich geh zur Polizei.«
Lorna lächelte. »Das ist nichts für dich. Erstens magst du nicht herumkommandiert werden, und zweitens bist du so weichherzig, dass du alle Ganoven zum Tee mit nach Hause nehmen würdest.«
»Dann ist es wegen Joel?«
Joel war Polizist und seit einem Jahr Daisys fester Freund. So lange war sie noch nie zuvor mit einem Mann zusammen gewesen. Ihre Eltern mochten ihn, und sie dachte, ihre Mutter werde sie vielleicht drängen, ihn zu heiraten.
»Nein, es ist auch nicht wegen Joel. Das kannst du selbst am besten entscheiden. Ich wollte mit dir über deine leibliche Mutter reden.«
Daisy schaute Lona entsetzt an. »Ich will jetzt nicht über sie sprechen.«
»Aber ich. Und ich möchte, dass du sie suchst, wenn ich nicht mehr da bin. Ich glaube, das wird dir helfen.«
Daisys Augen füllten sich mit Tränen. »Nichts und niemand wird jemals deinen Platz einnehmen«, beteuerte sie. »Du bist meine Mutter. Ich will keine andere.«
Sie wusste, dass sie adoptiert worden war. Lona und John hatten es ihr erzählt, als sie noch ganz klein gewesen war, und hinzugefügt, sie sei etwas ganz Besonderes - schließlich hätten sie sich Daisy im Gegensatz zu leiblichen Kindern aussuchen können. An dieser Haltung hatte sich auch nichts geändert, als die Zwillinge zur Welt gekommen waren, was für alle ein Wunder gewesen war, weil Lona laut ärztlichem Befund unfruchtbar war. Daisy, damals fünf, hatte nie das Gefühl gehabt, dass die Zwillinge bevorzugt wurden, im Gegenteil, sie hatte sich vorgestellt, ihre Eltern hätten Tom und Lucy nur bekommen, um ihr eine Freude zu machen. Daisy hatte in fünfundzwanzig Jahren nicht ein einziges Mal nach ihrer leiblichen Mutter gefragt. Sie war eine Buchan, ganz egal, wie sie bei ihrer Geburt geheißen haben mochte.
»Das sagst du vielleicht jetzt, Dizzie«, meinte Lorna, sie liebevoll mit ihrem Spitznamen anredend, »aber ich weiß aus Erfahrung, dass ein Todesfall in der Familie Fragen aufwerfen und Emotionen auslösen kann, mit denen man nicht gerechnet hat. Ich glaube, die Suche nach deiner Mutter würde dir helfen, das alles besser zu bewältigen.«
Daisy wusste nicht, was sie erwidern sollte. Lorna würde nie einen solchen Vorschlag machen, wenn sie nicht lange und gründlich darüber nachgedacht hätte. Seit ihr klar war, dass sie sterben würde, hatte sie alles organisiert, angefangen vom Trauergottesdienst bis hin zu einem Vorrat an tiefgefrorenen Mahlzeiten. Diese Planung hatte nichts Makabres - Lorna war einfach immer so gewesen: vorausschauend und darauf bedacht, das Leben für ihre Familie leichter und angenehmer zu gestalten. Dennoch begriff Daisy nicht, wie sie auf den Gedanken kam, die Suche nach der Frau, die ihr Kind vor so vielen Jahren zur Adoption freigegeben hatte, werde ihr, Daisy, über ihren Kummer hinweghelfen.
Sie schaute zum Fenster hinaus. Auch der Garten hinter dem Haus zeugte von Lornas Umsicht und ihrem planerischen Talent. Die Rabatten, ein Meer von blauen, rosaroten und malvenfarbenen Blüten, waren wunderschön anzusehen. Das alte Spielhaus, in dem Daisy und die Zwillinge als Kinder viele glückliche Stunden verbracht hatten, war vom Geißblatt fast völlig überwuchert. Statt es später verfallen zu lassen oder abzureißen, hatte Lorna es jedes Frühjahr gesäubert und die Blumenkästen vor den Fenstern neu bepflanzt. Daisy wusste, wenn sie jetzt hineinginge, würde sie die kleinen Töpfe und Pfannen, die Stühle und den Tisch alle ordentlich an ihrem Platz vorfinden.
Lorna hatte natürlich gehofft, eines Tages würden ihre Enkelkinder darin spielen. Daisys Augen füllten sich mit Tränen bei dem Gedanken daran, dass Lorna die Hochzeiten ihrer Kinder und Geburten ihrer Enkel nicht mehr erleben würde.
»Ich werde sie suchen, wenn du es wirklich willst«, sagte Daisy, das Gesicht zum Fenster gewandt, damit die Mutter ihre Tränen nicht sah. »Aber was für ein Mensch sie auch sein mag, sie wird niemals deinen Platz einnehmen.«
»Leg dich ein bisschen zu mir«, bat Lorna. Sie hatte, selbst aus größerer Entfernung, stets gefühlt, wenn jemand weinte oder unglücklich war. Gehorsam kuschelte sich Daisy neben sie.
Das Bett der Eltern war seit jeher ein besonderer Platz. Die Zwillinge und sie hatten es als Trampolin benutzt, gespielt, dass es ein Boot, eine einsame Insel oder ein Krankenhaus sei. Hier hatten sie an Weihnachten nachgeschaut, was der Weihnachtsmann ihnen in die Strümpfe gesteckt hatte, hier waren sie umsorgt worden, wenn sie krank gewesen waren, hatten nachts Zuflucht gesucht, wenn sie schlecht geträumt hatten. Und als Teenager hatte sich Daisy oft zu ihrer Mutter gelegt und ihr ihre Ängste und Träume anvertraut. Als sie jetzt den Arm um Lorna legte, stiegen Erinnerungen aus neuerer Zeit in ihr empor: Sonntagmorgens, wenn Dad mit Fred, dem Westhighland-Terrier, unterwegs war, oder abends, wenn er noch in seinem Arbeitszimmer saß, war sie hierher gekommen und hatte ihrer Mutter ihr Herz ausgeschüttet, mit ihr über Joel gesprochen, über ihre Sorge, nie einen Job zu finden, der ihr wirklich Spaß machte, und über ihre Freunde.
Die meisten ihrer Freunde behaupteten, mit ihren Müttern nicht über Wichtiges reden zu können. Doch Daisy brauchte sich nur in dieses Zimmer neben Lorna zu legen, und schon konnte sie ihr die geheimsten Dinge anvertrauen.
»Als du noch ein Baby warst, habe ich dich mit zu mir ins Bett genommen«, bemerkte Lorna und drehte den Kopf, um Daisy anzuschauen. »Dann lag ich da und konnte nicht fassen, wie wunderschön du warst und was für ein Glück ich hatte, dich bekommen zu haben. Und jetzt bist du eine erwachsene Frau von fünfundzwanzig Jahren, und ich denke noch genau das Gleiche.«
Sie wickelte eine von Daisys Korkenzieherlocken um den Finger. »Du hast zuerst überhaupt keine Haare gehabt, und als sie endlich zu wachsen anfingen, dachte ich, sie würden blond und glatt werden. Einen rothaarigen Lockenkopf hab ich nicht erwartet.« Sie lachte leise und strich Daisy zärtlich über die Wange. »Du bist so wunderschön, Dizzie, außerdem hast du Humor und ein großes Herz. Ich bin furchtbar stolz auf dich. Deshalb möchte
ich auch, dass du deine leibliche Mutter suchst. Sie soll meine Freude teilen und sehen können, dass ich gut auf dich Acht gegeben habe.«
Lorna hatte wie immer die richtigen Worte gefunden und Daisy ein Argument geliefert, auf das sie nie von allein gekommen wäre. Dennoch konnte sie ihr nichts versprechen, sie wusste, niemand würde Lorna als Mutter das Wasser reichen können.
»Weißt du noch, als ich Windpocken hatte?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
» Hmm«, machte Lorna. Es klang schläfrig.
»Ich hab mir mit Filzstift ein paar Flecken aufgemalt«, gestand Daisy. »Hast du es gemerkt?«
»O ja«, flüsterte Lorna. »Daddy und ich haben darüber gelacht. Wir dachten, du würdest eine gute Schauspielerin abgeben. Du hast immer dazu geneigt, die Dinge zu dramatisieren.«
»Ich liebe dich, Mum«, wisperte Daisy.
Lorna murmelte noch, sie solle sich erst über ihre Gefühle für Joel klar werden, bevor sie ans Heiraten denke. Dann schien sie einzuschlafen.
Nach ein paar Minuten rutschte Daisy zur Bettkante, um aufzustehen und ihren Vater anzurufen. Lorna öffnete noch einmal die Augen. »Sag Daddy und den Zwillingen Lebewohl von mir und dass ich sie liebe«, bat sie mit schwacher Stimme.
Zutiefst beunruhigt, versicherte Daisy hastig: »Sie werden bald zurück sein, dann kannst du es ihnen selbst sagen.«
Sie bekam keine Antwort mehr. Kein Zucken der Augenlider, kein Beben der Lippen verriet, dass Lorna sie gehört hatte.
»O nein«, stieß Daisy hervor. Außer sich vor Angst kniete sie sich aufs Bett, presste das Ohr auf die Brust der Mutter und lauschte. Nichts. Sie packte ihr Handgelenk, suchte den Puls, doch sie spürte ihn nicht mehr. »Mummy, nein!«, schrie sie. Lornas blassblaue Augen schienen starr auf irgendeinen Punkt in der Ferne gerichtet zu sein.
Ihr Verstand sagte ihr, ihre Mutter war tot, und trotzdem konnte sie nicht glauben, dass der Tod so plötzlich und lautlos, ohne Vorwarnung, eingetreten war.
Es war so still, dass sie das Summen der Bienen und den Gesang der Vögel im Garten hören konnte. Früher hätte Lorna so einen warmen, sonnigen Tag zur Gartenarbeit genutzt oder das Bettzeug gewaschen und draußen zum Trocknen aufgehängt. Sie war immer ein praktischer Mensch mit festen Gewohnheiten und geregeltem Tagesablauf gewesen, den nur das Wetter hatte umstoßen können. Daisy hatte sich früher darüber lustig gemacht; es war ihr so stumpfsinnig vorgekommen. In den letzten Wochen jedoch hatte sie Routine zu schätzen gelernt und eine gewisse Befriedigung in der Erledigung alltäglicher, aber wichtiger Aufgaben gefunden. Sie war zu dem Schluss gelangt, dass sie endlich erwachsen geworden war.
Doch als sie jetzt mit tränenüberströmtem Gesicht auf dem Bett kniete und nicht wusste, was sie tun sollte, kam sie sich alles andere als erwachsen vor. Sie fühlte sich eher wie eine hilflose Fünfjährige.
Das schrille Läuten der Türglocke hallte durchs Haus, und Fred schlug an. Daisy lief aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Sie hoffte, dass es der Arzt sein würde.
Er war es. Er warf nur einen kurzen Blick auf ihr verstörtes Gesicht und eilte sofort nach oben ins Schlafzimmer.
Um acht Uhr an jenem Abend zog sich Daisy in ihr Zimmer zurück, nahm Fred mit und schloss die Tür hinter sich. Schluchzend ließ sie sich aufs Bett fallen. Fred schmiegte sich an sie und leckte ihr das Gesicht, als wollte er sie trösten.
Die letzten Stunden waren so seltsam und verwirrend gewesen. Nichts war mehr so, wie es einmal gewesen war; es gab keine Normalität mehr, an die sie sich hätte klammern können. An diesem Tag war eine Welt für sie zusammengebrochen. Eine unheimliche Stille herrschte im Haus, doch das Schlimmste war die Art und Weise, wie ihre Familie sich benahm.
Der Arzt war noch da gewesen, als ihr Dad früher als erwartet heimgekommen war. Er sei auf dem Weg zu der Besprechung gewesen, hatte er erzählt, habe aber plötzlich eine merkwürdige
Vorahnung gehabt und sei deshalb direkt nach Hause gefahren. Obgleich er einem scheinbar irrationalen Impuls gehorcht hatte, zeigte er keinerlei Reaktion, als der Arzt ihm mitteilte, seine Frau sei vor wenigen Minuten verstorben. John stand einfach nur da und starrte ihn ausdruckslos an.
Er behielt sein sonderbar steifes, distanziertes Benehmen bei. Anstatt zu Lorna hinaufzugehen, fragte er den Arzt, ob er einen Tee oder einen Kaffee trinken wolle. Daisy sehnte sich nach einem tröstenden Wort, einer Umarmung. Sie hätte sich gewünscht, er hätte sie nach den letzten Minuten ihrer Mutter gefragt, ihr versichert, sie habe das Richtige getan, aber nichts von all dem geschah. Die Zwillinge schienen ihm wichtiger zu sein, denn kaum war der Arzt gegangen, rief er im College an und bat den Direktor, sie unverzüglich nach Hause zu schicken.
Der Totenschein lag auf dem Küchentisch. John nahm ihn in die Hand, las ihn und ging dann endlich zu Lorna hinauf. Daisy hörte, wie die Schlafzimmertür mit einem Klicken, das etwas Endgültiges hatte, ins Schloss fiel. Auf einmal fühlte sie sich vollkommen isoliert.
John war noch oben, als Lucy und Tom nach Hause kamen. Beide hatten das blonde Haar und die blauen Augen ihrer Mutter geerbt, aber während Lucy wie Lorna von recht stämmiger Statur war, war Tom groß und schlank wie sein Vater. Und im Gegensatz zu Lucy, die fast immer mit finsterer Miene herumlief, war Toms Gesicht normalerweise zu einem breiten Grinsen verzogen.
Mit erhitzten Gesichtern und ganz außer Atem stürmten sie herein. »Geht es Mum schlechter?«, fragten sie wie aus einem Mund.
Daisy brach in Tränen aus. »Sie ist vorhin gestorben«, schluchzte sie. »Dad ist gerade bei ihr.«
Tom eilte zu ihr und nahm sie in die Arme. Er beugte den Kopf, bis sein Gesicht ihre Schulter berührte. Daisy hörte, dass er leise weinte. Lucys Reaktion dagegen überraschte sie.
»War Dad bei ihr, als sie starb?«, wollte sie in anklagendem Ton wissen.
»Nein«, weinte Daisy. »Nur ich. Dad kam zufällig, als der Arzt noch da war.«
»Warum hast du uns nicht Bescheid gesagt?« Lucys blaue Augen wirkten kalt, ihr Blick war argwöhnisch.
Daisy war nicht nach langen Erklärungen zu Mute. »Es ging alles so schnell. Sie meinte, sie glaube, es gehe zu Ende. Ich wollte Dad anrufen und euch im College benachrichtigen, aber sie ließ es nicht zu. Sie wollte nicht einmal, dass ich den Arzt verständige, aber ich habe ihn trotzdem angerufen. Als er kam, war sie schon ein paar Minuten tot.«
»Du hättest uns anrufen müssen, du hattest kein Recht, uns von ihr fern zu halten«, fauchte Lucy. Sie wirbelte herum und rannte laut schluchzend die Treppe hinauf. Tom löste sich von Daisy, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und eilte seiner Zwillingsschwester nach.
Die drei blieben über eine Stunde oben, und Daisy hatte das deutliche Gefühl, unerwünscht zu sein. Das ergab einfach keinen Sinn, weil sie nie anders als ihre Geschwister behandelt worden war. Sie hatte niemals den Eindruck gehabt, sich in irgendeiner Weise von den anderen zu unterscheiden, deshalb schmerzte es nun umso mehr, dass sie anscheinend nicht wussten, dass ihr Kummer genauso groß wie der ihres Vaters und der Zwillinge war.
Als ihr Dad viel später herunterkam, saß sie mit Fred in der Küche und weinte noch immer. Es gebe einiges zu erledigen, sagte er in scharfem Ton, zum Beispiel müsse ein Bestattungsunternehmen verständigt werden. Das wusste Daisy selbst, aber hätte er sie nicht wenigstens fragen können, wie es ihr ging? Sie hätte sich gewünscht, er nähme sich die Zeit, mit ihr über die Ereignisse zu sprechen.
Schließlich stand sie auf und machte sich daran, das Abendessen vorzubereiten. Ihr Vater meinte nur, er verstehe nicht, wie sie in einem solchen Augenblick ans Essen denken könne. Nichtsdestotrotz ließen er und die Zwillinge es sich später schmecken, während Daisy keinen Bissen herunterbrachte.
Nachdem die Leute vom Bestattungsunternehmen Lorna abgeholt hatten, gingen die anderen ins Wohnzimmer, und Daisy räumte die Küche auf. Keiner bat sie, sich zu ihnen zu setzen.
Joel war am Telefon sehr mitfühlend gewesen, aber er hatte Dienst und konnte nicht vorbeikommen. Sie solle es nicht so schwer nehmen, tröstete er sie, die meisten Leute benähmen sich merkwürdig, wenn sie unter Schock stünden.
In ihrem Zimmer wurde Daisy schmerzlich bewusst, wie viel sie an ihre Mutter erinnerte: die Teddybären in Gymnastikanzügen - einer für jeden Turnwettbewerb, an dem sie als Teenager teilgenommen hatte, der blaue, mit Krausen besetzte Morgenmantel, den Lorna ihr im vergangenen Jahr genäht hatte - er hing noch an dem Haken an der Tür -, die wunderschöne gerahmte Fotomontage, die Lorna liebevoll zusammengestellt hatte, weil sie weiteren Klebestreifenflecken auf der Tapete hatte vorbeugen wollen.
Hatte ihre Mum geahnt, dass es nach ihrem Tod so kommen würde? Hatte sie als Einzige die Familie zusammengehalten? Hatte sie gewusst, dass ohne sie alles auseinander brechen würde, und Daisy deshalb gedrängt, ihre leibliche Mutter zu suchen?
Daisy drückte Fred fester an sich und vergrub schluchzend das Gesicht in seinem Fell. Wenigstens er hielt noch zu ihr.
Jemand klopfte leise an die Tür. Daisy fuhr erschrocken hoch und wischte sich rasch die Tränen von den Wangen. »Herein!« Sie dachte, es sei Tom, der oft spätabends noch auf einen Plausch zu ihr kam, doch zu ihrer Überraschung stand ihr Vater in der Tür.
Einen Augenblick sah er sie nur an, vielleicht, weil ihm ihre rot geränderten Augen auffielen. Er war als Gutachter in einer Firma tätig, die sich auf denkmalgeschützte Objekte spezialisiert hatte, und witzelte oft, er werde einem alten Haus immer ähnlicher: Graue Fäden zogen sich mittlerweile durch sein braunes Haar, und er ging ein wenig aus der Form. Doch er hielt sich mit Federballspielen und Segeln fit und sah noch immer bemerkenswert jung und gut aus für einen Endfünfziger. Jetzt allerdings blickten seine braunen Augen düster und ernst. Daisy hatte ihn noch nie so niedergeschlagen oder verunsichert gesehen.
»Wir müssen miteinander reden«, sagte er leise. »Es tut mir Leid, Dizzie, ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass ich gar nicht daran gedacht habe, was du durchgemacht haben musst.«
Der Spitzname, den sie von den Zwillingen bekommen hatte, weil sie als Kleinkinder »Daisy« nicht richtig hatten aussprechen können, war ihr geblieben. Er passte zu ihr: Im Gegensatz zu ihrem Vater und den Zwillingen, die intellektuelle Interessen hatten, war Daisy nämlich ein flatterhafter Wirrkopf, der sich für vieles interessierte, aber nichts richtig beherrschte. Bei den Büchern, die sie las, bevorzugte sie leichte, pikante Unterhaltung. Sie mochte Komödien, liebte Tanzen, Schlittschuhlaufen und Gymnastik, alles, was mit schnellen Bewegungen verbunden war und das Auge ansprach. Eine ihrer herausragenden Eigenschaften aber war ihre Fähigkeit, zu vergeben und zu vergessen. Als sie sah, wie ihr Vater litt, dachte sie nicht mehr an ihre verletzten Gefühle.
»Es ist schon okay, Daddy«, erwiderte sie. »Komm nur rein.« Er setzte sich auf die Bettkante, streichelte den Hund und fragte, was genau passiert sei.
Daisy erklärte, Lorna habe nicht gewollt, dass sie ihn oder die Zwillinge verständigte.
»Das sieht ihr ähnlich«, meinte er und kraulte Fred hinter den Ohren. »Ich hätte wahrscheinlich sowieso nicht schneller da sein können. Aber ich war einfach nicht darauf gefasst gewesen, Daisy. Gestern Abend ging es ihr noch so gut.«
»Heute Morgen, als ich ihr beim Baden half, auch«, erwiderte Daisy und schmiegte sich an ihren Vater. »Sie sprach noch davon, ein paar neue Chrysanthemen für den Herbst zu pflanzen. Als ich später nach ihr sah, dachte ich, sie schliefe, aber da sagte sie, sie glaube, es gehe zu Ende, und wollte, dass ich ihre Hand hielt.« Daisy konnte nicht mehr weitersprechen.
Ihr Vater nahm sie in die Arme. »Sie wird uns allen schrecklich fehlen«, bemerkte er traurig. »Nächsten Monat hätten wir unseren dreißigsten Hochzeitstag feiern können. Ich habe immer geglaubt, wir würden zusammen alt werden.«
Daisy fühlte sich jetzt, da er sie festhielt und wieder ganz der Alte war, schon besser. Sie überlegten gemeinsam, wen sie sofort benachrichtigen sollten und welcher Anruf bis zum nächsten Tag warten konnte.
»Mir graut bei dem Gedanken, das alles x-mal wiederholen zu müssen«, bekannte John müde und fuhr sich durchs Haar. »Da es keinen Grund für eine Autopsie gibt, kann die Beerdigung schon bald stattfinden.«
»Ich rufe ein paar Leute für dich an, wenn du willst.«
»Nein«, antwortete er seufzend, »das muss ich schon selbst erledigen. Ihre Freunde wären gekränkt, wenn sie es nicht von mir erführen. Worüber habt ihr vor ihrem Tod eigentlich gesprochen?«
Daisy hätte das vorläufig lieber für sich behalten, doch das ging jetzt nicht mehr. Sie erzählte es ihrem Vater.
Er verzog das Gesicht. »Das bedrückte sie schon eine ganze Weile. So war sie eben. Sie wollte, dass jeder glücklich und alles im Lot ist. Ihre eigene Mutter starb, als sie neun war, weißt du, und ihr Vater heiratete ein paar Jahre später ein zweites Mal. Lorna verstand sich nicht mit ihrer Stiefmutter, und weil ihr Vater offenbar den Weg des geringsten Widerstandes ging und mit seiner Tochter nie über ihre Mutter sprach, blieben viele Fragen unbeantwortet. Wahrscheinlich dachte sie, dir ginge es genauso.«
»Das stimmt aber nicht«, entgegnete Daisy heftig. »Meine leibliche Mutter interessiert mich keine Spur. Ich habe in dieser Familie alles, was ich brauche, auch wenn Lucy manchmal ein ziemliches Biest ist.«
»Sie ist bloß ein bisschen eifersüchtig auf dich«, sagte ihr Vater beschwichtigend. »Ich glaube, sie denkt, eure Mum hätte dich bevorzugt. Das geht vorbei.«
»Hoffentlich«, murmelte Daisy leise. »Sie hat immerhin Tom, die beiden machen doch alles zusammen. Wenn sich jemand wie das fünfte Rad am Wagen fühlt, dann ich.«
»Sie werden erst nach der Beerdigung wieder aufs College gehen, wir haben also genug Zeit, um zu reden und ein paar Dinge zu klären.« Ihr Vater stand auf. »Ich mach mich jetzt besser daran, die Telefonate zu erledigen, und du solltest ins Bett gehen. Es war ein furchtbarer, anstrengender Tag.«
Daisy schlief rasch ein, wachte aber bald wieder auf. Sie knipste das Licht an. Es war erst zwei Uhr. Nachdem sie eine Zeit lang vergeblich versucht hatte, noch einmal einzuschlafen, stand sie auf und ging in die Küche hinunter.
Daisy hatte schon öfter woanders gewohnt: mit Freunden in einer Wohngemeinschaft, allein in einem möblierten Zimmer, mit einem Jungen zusammen, den sie hatte heiraten wollen. Aber so sehr sie sich auch nach Freiheit sehnte - sie war immer wieder in dieses Haus und zu ihrer Mutter zurückgekehrt. Es war ein geräumiges Einfamilienhaus im viktorianischen Stil mit großen Panoramafenstern, wunderschönen Bleiverglasungen und allen herausragenden baulichen Merkmalen jener Epoche. Lorna und John hatten nicht viel verändert. Der Esszimmerboden war vor ein paar Jahren abgeschliffen und versiegelt, die Küche vergrößert und modernisiert worden. Da Lorna und John aber immer schon eine Vorliebe für den viktorianischen Geschmack, für bequeme Samtsofas, prächtige Drucke von William Morris und edel poliertes Holz gehabt hatten, sah das Innere des Hauses vermutlich so aus, wie der ursprüngliche Innenarchitekt es sich vorgestellt hatte.
Während mittlerweile wohlhabende Leute in dieser Gegend wohnten, war Bedford Park früher, in Daisys Kindheit, ein typisches Mittelstandsviertel für Familien mit drei oder vier Kindern gewesen, die sich gegenseitig besuchten, bei ihren Freunden übernachteten, zusammen spielten und zur Schule gingen. Auch die Eltern waren miteinander befreundet gewesen, und vor allem von Lorna war die Initiative zu gemeinsamen Frühstückstreffs, Abendessen und sommerlichen Gartenpartys ausgegangen.
Doch die alten Freunde zogen einer nach dem anderen fort - zu verlockend waren die absurd hohen Summen, die ihnen für ihre Anwesen geboten wurden. Die neuen Eigentümer beschäftigten Kindermädchen und schickten ihre Kinder auf Privatschulen. Die Frauen hatten keine Zeit für einen morgendlichen Kaffeeplausch.
Daisy ging ins Wohnzimmer und setzte sich an den Schreibtisch ihrer Mutter. Eine Liste mit den Namen der Leute, die ihr Vater benachrichtigen musste, lag darauf. Etwa die Hälfte hatte er bereits abgehakt.
Sie drehte sich um. Eine namenlose Traurigkeit überkam sie bei dem Gedanken daran, dass sie ihre Mum nie mehr hier sitzen und Briefe schreiben, nähen oder lesen sehen würde. Der Raum war voll gestopft mit Büchern, Bildern, Fotos und allerlei Krimskrams - Lorna hatte nichts wegwerfen können, was irgendeinen Erinnerungswert besaß. Sie hatte die kleinen Glastiere, die Daisy, Tom und Lucy ihr zum Muttertag oder zum Geburtstag geschenkt hatten, ebenso aufgehoben wie den aus einem Elefantenfuß gefertigten hässlichen Hocker von ihrem Großvater. Allein in diesem Zimmer Ordnung zu schaffen, wäre eine gewaltige Aufgabe, und Daisy fragte sich, wie sie das alles bewältigen sollten, wenn sie selbst erst einmal wieder einen Job hätte.
Ihre berufliche Unbeständigkeit rührte zum Teil daher, dass sie Hausarbeit mehr als jede andere Tätigkeit liebte. Sie kochte, putzte und gärtnerte für ihr Leben gern, während ihr die durch kleinliche Bestimmungen eingeschränkte Arbeit in einem Büro oder einem Laden überhaupt nicht lag. Das machte sie zu einem Exoten unter ihren Freunden, richtigen Yuppies der Neunzigerjahre, die versessen aufs Geldverdienen waren und davon träumten, sich ein eigenes Haus zu kaufen. Daisy hatte weder Ambitionen noch irgendwelche Qualifikationen - sie war keine besonders gute Schülerin gewesen. Sie wünschte sich im Grunde nur das, was ihre Eltern hatten: eine gute, liebevolle Ehe und Kinder. Das zuzugeben, kam heutzutage beinahe einem Bekenntnis zum Kannibalismus gleich.
Daisys Einstellung war teilweise auch für das schwierige Verhältnis zu Lucy verantwortlich. Deren Feindseligkeit war nichts Neues. Sie attackierte Daisy, wo sie nur konnte, warf ihr vor, blöd zu sein, kein Ziel zu haben und in einer Traumwelt zu leben. In gewisser Weise hatte Lucy sogar Recht. Wurde Daisy losgeschickt, um etwas zu besorgen, vergaß sie unterwegs manchmal, was sie einkaufen sollte. Ihr Liebesleben war immer chaotisch und dramatisch gewesen; sie war ein emotionaler, großzügiger Mensch, verschwenderisch und impulsiv.
Lucy hingegen war überaus intelligent. Sie hatte ein hervorragendes Abitur gemacht und studierte Volkswirtschaft. Die Jungen, mit denen sie ausging, wählte sie sorgfältig aus; sie kam mit ihrem Taschengeld aus und vergaß nie etwas. Die Ursache für die Spannungen zwischen ihr und Daisy lag jedoch woanders.
Begonnen hatte alles mit Daisys Talent als Turnerin und einem nicht besonders geschickt gewählten Moment, es vorzuführen. In der Grundschule war sie in der Turnstunde so etwas wie der Star gewesen und hatte viele Wettbewerbe gewonnen. Mit vierzehn hatte sie jedoch von Wettkämpfen genug gehabt und nur noch zum Spaß geturnt.
Lucy konnte Klavier und Klarinette spielen, worum Daisy sie glühend beneidete, weil sie selbst niemals die Geduld gehabt hätte, ein Instrument zu erlernen. An einem Sommernachmittag vor etwa sechs Jahren, als die Familie draußen im Garten gesessen hatte, hatte Lucy im Esszimmer bei offenen Terrassentüren, damit die anderen sie hören konnten, Klavier gespielt.
Daisy wusste eigentlich nicht, warum sie es getan hatte - vielleicht, wie Lucy vermutete, weil sie es nicht ausstehen konnte, wenn ihre Schwester im Mittelpunkt stand. Als Lucy ein besonders aufwühlendes Stück zu spielen begann, marschierte Daisy zur Küchentür und machte von dort einen Salto rückwärts nach dem andern, die ganze Länge des Gartens hinunter. Dann spazierte sie auf den Händen zurück.
Tom, Lorna und John klatschten stürmisch Beifall und unterbrachen den Klaviervortrag. Da ließ Lucy wütend den Klavierdeckel herunterkrachen, rief etwas, das klang wie: »Geh doch zum Zirkus! Zu etwas anderem taugst du ja doch nicht«, und sprang schmollend die Treppe hinauf.
Obwohl sich Daisy später entschuldigte, war Lucy nicht zum Einlenken zu bewegen. Von diesem Tag an herrschte Krieg zwischen den beiden, und Lucy nutzte jede Gelegenheit, Daisy schlecht zu machen und herabzusetzen.
Dass Lucy plötzlich in die Höhe schoss, bis sie knapp eins fünfundsiebzig maß, Kleidergröße vierundvierzig tragen musste und reichlich Pickel bekam, verbesserte die Situation nicht gerade. Daisy konnte zwar nichts dafür, dass sie schlank war, zehn Zentimeter kleiner und eine ziemlich reine Haut hatte, aber Lucy benahm sich, als hätte eine böse Fee sie mit einem Zauber belegt, der eigentlich für Daisy gedacht war.
Sie warf Daisy ständig vor, magersüchtig zu sein, versteckte ihre Lieblingskleider und verhöhnte sie gnadenlos wegen ihrer vermeintlichen Dummheit. Daisy machte alles nur noch schlimmer, indem sie Lucy als »fette Streberin« beschimpfte und ihr medizinische Gesichtsreiniger für ihre picklige Haut schenkte. Heute schämte sie sich dafür. Aber Lucy, die ihr nachspioniert, in ihrer Abwesenheit in ihrem Zimmer herumgeschnüffelt und sie in einem fort geärgert hatte, hatte den Bogen einfach überspannt.
Nachdem sich Daisy ein möbliertes Zimmer genommen hatte, waren sie besser miteinander ausgekommen. Aber kaum war sie wieder zu Hause eingezogen, hatte alles von vorn begonnen. Da war Daisy einundzwanzig gewesen und ein bisschen vernünftiger. Also versuchte sie, das Kriegsbeil zu begraben, und schlug einen Kinobesuch oder einen Einkaufsbummel vor. Doch Lucy kam ihr kein bisschen entgegen, und so endeten die gemeinsamen Ausflüge meistens in einem wüsten Streit.
Daisy kehrte in die Küche zurück. Fred in seinem Körbchen schaute sie schwanzwedelnd und voller Vorfreude an. »Nein, nein, wir gehen jetzt nicht Gassi.« Sie beugte sich hinunter und streichelte ihn. »Es ist mitten in der Nacht.« Daisy schenkte sich eine Tasse Milch ein und wünschte, sie hätte mit ihrer Mum über Lucy geredet. Vielleicht hätte Lorna Rat gewusst. Aber die beiden Mädchen hatten das stets untereinander ausgemacht und ihre Streitigkeiten nie vor den Eltern ausgetragen. Daisy hatte
ein schlechtes Gewissen, als sie daran dachte, wie oft sie sich in Abwesenheit der Eltern gezankt hatten.
»In Zukunft mach ich das jedenfalls nicht mehr mit«, sagte sie zu sich selbst, während sie die Tasse in die Mikrowelle stellte. »Es wird Zeit, dass wir uns wie Erwachsene benehmen.«
Da es eine ungewöhnlich warme Nacht war, nahm sie ihre Zigaretten aus der Handtasche und ging in den Garten, um eine zu rauchen. Fred trottete hinter ihr her.
Sie hatte nie in Anwesenheit ihrer Eltern geraucht, weil beide Nichtraucher waren und es ihr deshalb einfach nicht richtig erschien. Meistens rauchte sie, wenn sie mit Freunden ausging, aber im Garten zu sitzen und genüsslich an einer Zigarette zu ziehen, hatte etwas herrlich Verbotenes. Joel war gegen das Rauchen, und Lucy hielt es natürlich für das Letzte. Tom dagegen rauchte selbst gelegentlich eine, und abends saßen sie oft noch draußen auf eine Zigarettenlänge zusammen.
Fred sprang zu Daisy auf die Hollywoodschaukel. Sie stieß sich sachte ab, zündete sich eine Zigarette an und dachte an Joel. Ob er sich für die Beerdigung wohl würde freinehmen können?
Plötzlich gab Fred ein leises Knurren von sich. Daisy drehte sich um und sah Tom, der im Schlafanzug auf sie zukam.
»Hi!«, rief sie leise. »Kannst du auch nicht schlafen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kapier das einfach nicht, Dizzie. Als ich mich heute Morgen von ihr verabschiedet habe, schien es ihr noch so gut zu gehen.«
Er nahm die Zigarette, die Daisy ihm anbot, und setzte sich neben sie. Tom ähnelte seiner Zwillingsschwester nur äußerlich. Vom Wesen her unterschieden sich die beiden ganz erheblich: Obwohl er genauso gescheit war wie Lucy, spielte er gern den Begriffsstutzigen. Er war aufmerksamer und rücksichtsvoller als Lucy und ging großzügiger mit seiner Zeit, seiner Zuneigung und seinem Geld um. Bei seinen Tutoren und Kommilitonen war er gleichermaßen beliebt. Er war ein guter Sportler, begeisterte sich für Rockmusik und besaß einen ausgeprägten Sinn für Humor.
Sie unterhielten sich eine Weile über ihre Gefühle für ihre Mut-
ter. Tom brach unvermittelt in Tränen aus. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so wehtut«, flüsterte er. »Ich hab geglaubt, ich würde beinahe erleichtert sein über ihren Tod, weil er sie von ihren Schmerzen erlösen würde. Aber jetzt bin ich nur wütend, Dizzie. Ich denke dauernd: Warum gerade sie? Es laufen so viele nutzlose, jämmerliche Typen herum! Warum kriegen die es nicht?«
Daisy wusste, er erwartete keine Antwort, er musste einfach seinem Herzen Luft machen. Als sie tröstend die Arme um ihn legte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie für ihn und Lucy eine Zeit lang den Platz ihrer Mutter würde einnehmen müssen.
Die Zwillinge, die nie von zu Hause fort gewesen waren, hatten seit der Grundschule dieselbe Klasse besucht und sich für ein College in West London anstatt für eine Universität in einer anderen Stadt entschieden. Ihre enge Beziehung hatte sie vor Einsamkeit, dem Drangsaliertwerden und den vielen anderen Dingen, unter denen Kinder zu leiden hatten, bewahrt. Daisy wusste noch, wie sie sie beneidet hatte, als sie noch ganz klein gewesen waren. Noch bevor sie richtig sprechen konnten, hatten sie sich in einer Art Geheimsprache verständigt, die nur den beiden geläufig war. Sie hatten oft im selben Bett geschlafen und teilten heute noch alles miteinander.
Ihre Mum war jedoch genauso wichtig für sie gewesen. Im Haus waren ihr die beiden auf Schritt und Tritt gefolgt. Die enge Bindung hatte, obwohl sie inzwischen zwanzig waren, bis zuletzt bestanden. Im Gegensatz zu Daisy, die in dem Alter jede Gelegenheit zum Ausgehen genutzt hatte, blieben die Zwillinge abends lieber zu Hause.
»Alles wird gut«, tröstete sie Tom. »Wir sind trotzdem noch eine Familie; wir werden uns gemeinsam um das Haus und den Garten kümmern. Ich bin ja auch noch da.«
»Dann wirst du also nicht ausziehen?« Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Lucy sagt, wir hätten dich bestimmt die längste Zeit hier gesehen.«
»Wie kommt sie denn darauf?«
Er zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Sie hat mitgekriegt,
wie Mum und Dad vor einiger Zeit darüber sprachen, wie es später, wenn Mum nicht mehr da wäre, weitergehen soll. Dad meinte, wahrscheinlich würde er das Haus verkaufen und irgendwo ein kleineres suchen, weil er nicht erwarten könne, dass du ewig hier bleibst und dich um alles kümmerst.«
Daisy dachte einen Moment nach. »Ewig werde ich wohl kaum hier bleiben, das stimmt schon. Irgendwann werde ich wahrscheinlich heiraten und du und Lucy auch. Für Dad wäre ein kleineres, pflegeleichteres Haus sicher sinnvoller. Aber ich hab keine Ahnung, wie Lucy auf den Gedanken kommt, ich würde jetzt gleich abhauen.«
»Weil Mum uns ein bisschen was hinterlassen hat, darum«, bemerkte er. »Lucy und ich kommen erst an das Geld ran, wenn wir einundzwanzig sind, aber du kriegst deins sofort.«
Die Neuigkeit machte Daisy wütend auf ihre Schwester. Sie hatte nichts von einer Erbschaft gewusst. Eigentlich hätte das eine nette Überraschung sein müssen, doch es war typisch für Lucy, eine Waffe daraus zu machen.
»Diesmal irrt sich Lucy gewaltig. Du kannst ihr ausrichten, ich werde bleiben, egal, ob mit Geld oder ohne«, erklärte Daisy energisch. »Ich werde mich um euch kümmern, bis ihr wieder Tritt gefasst habt. Mum hätte das so gewollt. Und jetzt gehen wir besser ins Bett, das wird ein anstrengender Tag werden.«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2002 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Übersetzung: Sylvia Strasser
... weniger
Autoren-Porträt von Lesley Pearse
Lesley Pearse wurde in Rochester, Kent, geboren und lebt seit 25 Jahren mit ihrer Familie in Bristol. Ihre Romane sind in England stets auf den ersten Plätzen der Bestsellerlisten zu finden.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lesley Pearse
- 429 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008152
- ISBN-13: 9783868008159
Kommentare zu "Wenn tausend Sterne fallen"
0 Gebrauchte Artikel zu „Wenn tausend Sterne fallen“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 30Schreiben Sie einen Kommentar zu "Wenn tausend Sterne fallen".
Kommentar verfassen