Irre! - Wir behandeln die Falschen
Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde. Vorw. v. Eckart von Hirschhausen
Das viel diskutierte Buch des Psychiaters Manfred Lütz ist eine scharfzüngige Gesellschaftsanalyse und zugleich eine heitere Einführung in die Seelenkunde. Was ist Depression, Angststörung, Schizophrenie? Wie definiert man Sucht und Demenz?
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Produktinformationen zu „Irre! - Wir behandeln die Falschen “
Das viel diskutierte Buch des Psychiaters Manfred Lütz ist eine scharfzüngige Gesellschaftsanalyse und zugleich eine heitere Einführung in die Seelenkunde. Was ist Depression, Angststörung, Schizophrenie? Wie definiert man Sucht und Demenz?
Klappentext zu „Irre! - Wir behandeln die Falschen “
Hilfe, wir behandeln die Falschen!Dieses Buch ist eine scharfzüngige Gesellschaftsanalyse und zugleich eine heitere Einführung in die Seelenkunde. Was ist Depression, Angststörung, Panik, Schizophrenie, Sucht, Demenz und all das, und was kann man dagegen tun?
Der Bestsellerautor Manfred Lütz, einer der bekanntesten Psychiater und zudem Kabarettist, verspricht: Alle Diagnosen, alle Therapien und das noch unterhaltsam: Irre!
"Ein grandioses Buch." Henryk M. Broder
"Eine spannende und höchst vergnügliche Entdeckungsreise durch die ganze faszinierende Psychowelt." Dr. Eckart von Hirschhausen
Hilfe, wir behandeln die Falschen!
Ein Psy< Dieses Buch ist eine scharfzüngige Gesellschaftsanalyse und zugleich eine heitere Einführung in die Seelenkunde. Was ist Depression, Angststörung, Panik, Schizophrenie, Sucht, Demenz und all das, und was kann man dagegen tun?
Der Bestsellerautor Manfred Lütz, einer der bekanntesten Psychiater und zudem Kabarettist, verspricht: Alle Diagnosen, alle Therapien und das noch unterhaltsam: Irre!
"Ein grandioses Buch." -- Henryk M. Broder
"Eine spannende und höchst vergnügliche Entdeckungsreise durch die ganze faszinierende Psychowelt." -- Dr. Eckart von Hirschhausen
Ein Psy< Dieses Buch ist eine scharfzüngige Gesellschaftsanalyse und zugleich eine heitere Einführung in die Seelenkunde. Was ist Depression, Angststörung, Panik, Schizophrenie, Sucht, Demenz und all das, und was kann man dagegen tun?
Der Bestsellerautor Manfred Lütz, einer der bekanntesten Psychiater und zudem Kabarettist, verspricht: Alle Diagnosen, alle Therapien und das noch unterhaltsam: Irre!
"Ein grandioses Buch." -- Henryk M. Broder
"Eine spannende und höchst vergnügliche Entdeckungsreise durch die ganze faszinierende Psychowelt." -- Dr. Eckart von Hirschhausen
Lese-Probe zu „Irre! - Wir behandeln die Falschen “
Irre! von Manfred LützLiebe Leser!
Das häufigste Vorurteil Psychiatern gegenüber lautet: Die
sind doch alle selber nicht normal! Das vorliegende Buch kann
dieses Vorurteil zum Glück nur bestätigen. Manfred Lütz ist
nicht normal. So viel steht schon mal fest. Ob »normal« aber
das Gegenteil von krank, das Gegenteil von außergewöhnlich
oder ganz was anderes ist - das müssen Sie im Laufe der Lektüre
dieses Buches selber herausfi nden. Der Autor ist Seelenarzt
mit Leib und Seele. Und die braucht man. Seine Klinik liegt in
der Nähe des Kölner Flughafens. Und wer dorthin fährt, weiß
wieder: Die besten Pointen schreibt das Leben. Die Autobahnausfahrt
heißt ungelogen »Wahn«.
Die ärztliche Kunst besteht darin, so viel NICHTS zu tun,
wie nur möglich. Das gilt für Psychiater wie für Chirurgen. Ein
Chirurg braucht 2 Jahre, um zu wissen, wie eine Operation zu
machen ist. Und 20 Jahre, um zu wissen, wann die Operation
NICHT zu machen ist. Genauso braucht ein Psychiater viele
Jahre, um zu wissen, wann er einen merkwürdigen Menschen
NICHT behandelt. Wer sich mit psychisch Kranken beschäftigt,
der gewinnt einen besseren Blick dafür, was alles nochnormal ist
und was ein echtes Problem. Eine »irre« Erfahrung,
an der uns der Autor in diesem Buch auf unterhaltsame Weise
teilhaben lässt.
... mehr
Wenn man sich klarmacht, wie oft jeder einfach gestrickte
Computer abstürzt, ist es kein Wunder, dass psychische Erkrankungen
zu den häufigsten überhaupt gehören. Dieses Buchist eine spannende
und höchst vergnügliche Entdeckungsreise durch die ganze
faszinierende Psychowelt. Womöglich lernen Sie dabei,
Ihre merkwürdige Tante und Ihren skurrilen Vetter
anders zu sehen und zu schätzen. Und womöglich sich selber
auch.
Das menschliche Gehirn ist die komplizierteste Sache der
Welt. Dummerweise kommt es ohne Gebrauchsanweisung.
Automatisch gehen die meisten Leute intuitiv falsch damit um.
Die sagen sich: »Ich möchte mir das Gehirn möglichst lange
frisch erhalten, indem ich es möglichst selten benutze!«
Falsch - das Gehirn kann man trainieren wie einen Muskel,
machen Sie keinen Schließmuskel daraus. Alles, was wir
oft tun, verändert unsere Hirnstruktur. »Auf die Dauer der
Zeit nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an«, sagte schon
Marc Aurel vor bald 2000 Jahren in Rom. Heute nennen wir
das »Neuroplastizität«, sprich: Nervenzellen formen sich neu,
wenn sie genutzt werden, und in diesem Buch kann sich Ihr
Hirn mal mit dem Hirn beschäftigen. Gönnen Sie ihm das!
Unser Verstand will die Dinge gerne eindeutig sortieren,
aber die Welt widersetzt sich der simplen Unterteilung von
krank oder gesund, links oder rechts, richtig oder falsch. Wir
können in drei verschiedenen Funktionszuständen Widersprüche
gleichzeitig gelten lassen: im Traum, in der Psychose und
im Lachen. Von allen dreien handelt dieses Buch. Aber das Lachen
ist der gesündeste von ihnen.
Die Arztsprache enthält bisweilen eine versteckte Poesie.
So heißt »Schizophrenie« wörtlich: Gespaltenes Zwerchfell.
Die Griechen dachten nämlich, die Seele sitze im Zwerchfell.
Das finde ich als Komiker eine sehr sympathische Vorstellung,
dass Lachen, Seele und Atmung zusammengehören. Aristoteles
dachte noch, das Hirn sei nur ein Apparat, um das Blut zu
kühlen. Und wie wir heute wissen, hat er bei vielen Menschen
recht behalten ...
Selbstzweifel sind bei einem Arzt ein Qualitätszeichen. Jemanden,
der auf alles eine Antwort weiß, sollte man am besten
gar nicht erst fragen. Und so möchte ich betonen, dass ich mit
Manfred Lütz in einigen Dingen nicht einer Meinung bin, aber
er sehr offen war für Anregungen - mehr als normal. Einig sind
wir uns in unserer Mission: dass Lachen das Leben schöner
macht, und man humorvoll und auf gut Deutsch auch schwere
Dinge gelassen an- und aussprechen kann. Komik entsteht,
wenn man Tragödien anschaut und dabei ein Auge zukneift.
Und so ist dieses Buch bisweilen einäugig und augenzwinkernd
zugleich. Möge es vielen Lesern die Augen öffnen für die alte
rheinische Weisheit: »Jeder Jeck ist anders«.
Ein herzliches Glück-Auf
Dr. Eckart von Hirschhausen
Arzt, Kabarettist und Autor von »Arzt-Deutsch«, »Die Leber wächst mit ihren Aufgaben«
und »Glück kommt selten allein«
Gründer der Stiftung HUMOR HILFT HEILEN
»Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes -
aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.«
Friedrich Nietzsche
Vorspiel
Wenn man als Psychiater und Psychotherapeut abends
Nachrichten sieht, ist man regelmäßig irritiert. Da geht es um
Kriegshetzer, Terroristen, Mörder, Wirtschaftskriminelle, eiskalte
Buchhaltertypen und schamlose Egomanen - und niemand
behandelt die. Ja, solche Figuren gelten sogar als völlig
normal. Kommen mir dann die Menschen in den Sinn, mit
denen ich mich den Tag über beschäftigt habe, rührende Demenzkranke,
dünnhäutige Süchtige, hochsensible Schizophrene,
erschütternd Depressive und mitreißende Maniker,
dann beschleicht mich mitunter ein schlimmer Verdacht: Wir
behandeln die Falschen! Unser Problem sind nicht die Verrückten,
unser Problem sind die Normalen!
Um diese kühne Behauptung zu belegen, reicht es aber
nicht, sich mit den Merkwürdigkeiten der Normalen zu befassen,
man muss die Verrückten kennen lernen. Das ist freilich
für den Normalbürger nicht so leicht möglich. Denn früher hat
man psychisch kranke Menschen in Anstalten irgendwo auf die
grüne Wiese verfrachtet in der treuherzigen Annahme, frische
Luft könne ja nicht schaden. Als man dann merkte, dass das
beherzte Herausoperieren merkwürdiger Mitbürger aus ihrer
menschlichen Mitwelt die Betreffenden noch merkwürdiger
machte, verlegte man sie zwar wieder schleunigst mitten in
unsere Städte. Doch nun leben diese Menschen in so unglaublich
professionell geleiteten Einrichtungen, dass Otto-Normalbürger
den Eindruck hat, man brauche mindestens eine Universitätsausbildung,
um mal einen Schizophrenen nach dem
Bahnhof zu fragen. Die allgemeine Wichtigtuerei gewisser
Psychofachleute schuf ein professionelles Getto, das dem Normalbürger
psychisch Kranke oft so fremd erscheinen lässt, als
kämen die von einem anderen Stern.
Was ist da zu tun? Aufklärung ist angesagt. Aufklärung überwahnsinnig Normale und ganz normale Wahnsinnige. In diesem
Buch habe ich mir daher vorgenommen, allgemeinver-
ständlich alle psychischen Krankheiten und alle gängigen Th erapien
auf dem heutigen Stand der Wissenschaft darzustellen.
Beinahe jeder hat in seiner Verwandtschaft irgendeine merkwürdige
Tante oder einen skurrilen Onkel, über die nur getuschelt
wurde. Und jeder hat in seiner Nachbarschaft so manche
eigenartige Gestalt, auf die man sich bisher keinen Reim
machen konnte. Am Ende dieser Seiten sollte da mehr Klarheit
bestehen. So wird das Buch Sie verändern - und Sie werden
anders mit Ihren Mitmenschen umgehen.
Die ganze Psychiatrie und Psychotherapie auf 185 Seiten?
Hören Sie nicht auf Leute, die mit hochgezogenen Augenbrauen
behaupten, über Psychiatrie und Psychotherapie könne man
nur dicke humorlose Wälzer schreiben! Ich habe das Buch sicherheitshalber
von führenden Experten lesen lassen, die selbst
dicke Lehrbücher geschrieben haben - und die fanden, die
vorliegenden 185 Seiten würden völlig reichen. Mein Dank für
wichtige Anregungen gilt insbesondere Professor Klaus Dörner,
ehemals Gütersloh, Professor Wolfgang Maier, Bonn, Professor
Klaus Windgassen, Remscheid, Professor Martin Hautzinger,
Tübingen, und Professor Christian Reimer, ehemals Gießen.
Ich danke aber ebenso den unmittelbaren Experten, HerrnDr. Joachim Brandenburg als Betroffenenvertreter und Frau Susanne
Heim als Angehörigenvertreterin für die kritische Lektüre.
Dr. Eckart von Hirschhausen danke ich besonders herzlich
für das launige Vorwort, für engagierte Diskussionen und viele
gute Anregungen. Schließlich wurde das Buch von einem von
mir sehr geschätzten Metzger gelesen, der streng auf Allgemeinverständlichkeit
achtete. Eines ist also sicher: Wenn Sie
dieses Buch gelesen haben, dürfen Sie definitiv mit jedem Verrückten
reden, schlimmstenfalls auch mit sich selbst.
Das Buch ist übrigens sogar für Chirurgen, die natürlichen
Feinde der Psychiater, geeignet. Chirurgen befassen sich zwar
in der Regel nicht mit Büchern, weil die nicht bluten. Dochlesen sie mit Begeisterung Gebrauchsanweisungen - und das
hier ist eine Gebrauchsanweisung für außergewöhnliche Menschen
und solche, die es werden wollen.
Aus haftungsrechtlichen Gründen muss ich noch eine Warnung
vorausschicken. Ich habe mich, wie üblich, dem Th ema
humorvoll genähert. Das ist nicht jedermanns Sache. Da der
Verlag sich weigerte, Scherze gesondert zu kennzeichnen, sind
möglicherweise Menschen aus Ostwestfalen zum Verständnis
des Buches auf Hinweise ihrer rheinischen Verwandtschaft
angewiesen. Überhaupt Ost-West-Falen. Ostfalen ist ja nochin Ordnung, Westfalen ist für uns Rheinländer schon ein Problem,
aber Ost-West-Falen - da weiß man ja überhaupt nicht,
wo man hinfahren soll. Ein geradezu klassisches Double-bind,
eine Doppelbotschaft, die aus Sicht der systemischen Th erapie
zu Schizophrenie, Borderline-Störung oder Schlimmerem
führen kann. Dennoch wirken die Menschen in diesem entlegenen
Landstrich erstaunlich normal - und laden mich trotz
meiner üblen Beschimpfungen immer wieder zu Vorträgen ein.
In Wirklichkeit haben Westfalen nämlich auch Humor - nur
später!
Darf man aber überhaupt über psychisch Kranke humorvoll
reden? Ich finde ja. Denn Humor ist eine Form, Dinge und
Menschen liebevoll ins Leben einzubeziehen. Jeder Mensch
hat ein Recht auf Humor. Ich habe das bei der Gruppe »Brücke-
Krücke« gelernt, die mir vor 25 Jahren in Bonn zugelaufen
ist und in der behinderte und nichtbehinderte Jugendliche
ihre Freizeit verbringen. Wenn da einer meiner behinderten
Freunde hinreißend witzig ist, hat er auch ein Recht, dass man
über ihn lacht. Wer jedenfalls glaubt, über »unsere armen psychisch
kranken Menschen« nur mit ernster Miene voller Betroffenheit
in Feier stunden reden zu dürfen, der grenzt dieseMitmenschen aus als Objekte unserer aff ektierten Soziallaunen.
Vor allem aber kann man über uns Normale eigentlich
nur humorvoll reden. Denn, Hand aufs Herz, Menschen, die
so normal sind, dass es wehtut (Normopathen), sind zumeist
hinreißend witzig.
Einführung
Die Leber wächst mit ihren Aufgaben, behauptet Eckart von
Hirschhausen. Gilt das nicht auch für das Gehirn? Der Kabarettist
Jürgen Becker ist da anderer Auffassung. Er hält Bandwürmer
evolutionär für fortgeschrittener, weil sie das Gehirn
wieder abgeschafft hätten. Sie lebten als Schmarotzer im Darm,
seien bestens ernährt und fühlten sich auch sonst sauwohl.
Ein Gehirn sei da völlig überflüssig. Wir Menschen dagegen
steckten voller Probleme. Wir hätten größte Schwierigkeiten,
uns reibungslos zu ernähren, eff ektiv fortzupfl anzen und auchsonst Spaß am Leben zu haben. Daher müssten wir ein Gehirn
mit uns rumschleppen, das Probleme löst, die wir ohne dieses
überflüssige Luxusorgan gar nicht hätten.
Sei's drum. Gegenüber den Tieren sind wir jedenfalls »Mängelwesen
«, wie uns der Philosoph Arnold Gehlen ins Stammbuch
schrieb. Daher, meinte er, brauchten wir Menschen Institutionen,
die uns über unsere Mängel hinweghelfen. Schließlich
sind wir am Anfang unseres Lebens ziemlich pfl egebedürftig
und am Ende auch schon wieder. In der kurzen Zwischenzeit
organisieren wir die Pflege - der kommenden Generation und
der scheidenden Generation. Im Grunde sind wir normalerweise
behindert und haben uns eine ganze Menschheitsgeschichte
lang unter schweißtreibendem Einsatz unserer Gehirne damit
herumgeplagt, Ferngläser zur Unterstützung der Augen zu erfinden,
Hörgeräte zur Unterstützung der Ohren, Autos zur Unterstützung
der Fortbewegung und Kleider zur Unterstützung
unserer lächerlich unbehaarten Haut.
Diese Bemühungen müssen uns nicht gut bekommen sein.
Denn gegenüber Tieren neigen wir zu merkwürdigen Verhaltensweisen.
Der Biologe Midas Dekkers weist darauf hin, dass
zum Beispiel Sport etwas völlig Unnatürliches sei: »Kein Tier
treibt Sport. So dumm ist es nämlich nicht.« Es gibt wohl auchkeine Säugetierart, die sich so ausdauernd gegenseitig umbringt. Und das liegt keineswegs an eher schlichten, muskelbepackten Gemütern. Der Psychiater Thomas Fuchs sagt, dass
bei steigender Kultivierung die Neigung sogar noch zunimmt,
sich gegenseitig abzumurxen. Die Lage ist brisant. Vor einem
wirklichen Weltgerichtshof sähe es verdammt schlecht für uns
aus. Man müsste befürchten, dass die ganze Menschheit wegen
nachweislich verrücktem Verhalten und akuter Fremdgefährdung
der gesamten Schöpfung in die Psychiatrie eingewiesen
würde.
Muss bei solcher Lage der Dinge dann nicht damit gerechnet
werden, dass in dieser verrückten Menschheit diejenigen,
die von den Menschen selbst sogar ausdrücklich als verrückt
bezeichnet werden, ein Ausmaß an Verrücktheit erreichen, das
alle Grenzen sprengt? Doch das ist eigenartigerweise nicht der
Fall. Wenn spektakuläre Straftaten psychisch Kranker passieren,
werde ich manchmal von Fernsehsendern interviewt. Nach
angemessener Würdigung des Einzelfalles weise ich dann stets
darauf hin, dass, statistisch gesehen, psychisch Kranke weniger
Straftaten verüben als Normale. Mein Fazit: »Hüten Sie sich
vor Normalen!«
Woran liegt dieser merkwürdige Befund? Menschen mit
einer psychischen Störung machen oft den ganz normalen
Wahnsinn unserer Gesellschaft einfach nicht mit. Demgegenüber
fällt dann mitunter ihr jeweils höchst individueller Wahnsinn
gar nicht mehr so sehr ins Gewicht. Ja, die psychische
Störung kann sogar eine besondere Fähigkeit sein. Psychischkranke Menschen sind, wertfrei beschrieben, zunächst einmal
nur außergewöhnlich.
Die meisten leiden unter dieser Außergewöhnlichkeit. Deswegen
haben sich Ärzte ihrer angenommen und die Psychiatrie
erfunden. Und dabei wurden Therapien entwickelt, mit
denen man Leiden vermindern und aus außergewöhnlichen
Menschen wieder gewöhnliche Menschen machen konnte.
Doch ob Gewöhnlichsein immer von Vorteil ist? Jedenfalls haben
moderne Therapeuten neuerdings entdeckt, dass es ganz
unsinnig ist, die psychische Störung nur wie irgendeine Macke
zu behandeln, die man möglichst schnell weghobeln muss.
Denn nicht selten kann man das Problem sogar mit einigen
genialen Kunstgriffen zur Lösung umarbeiten. »Was ist das
Gute am Schlechten?«, fragte schon der österreichisch-amerikanische
Psychotherapeut und Bestsellerautor (»Anleitung
zum Unglücklichsein«) Paul Watzlawick. Er begründete damit
eine ressourcenorientierte Sicht von Psychotherapie, die sich
bemühte, Licht auf die Fähigkeiten eines Menschen zu werfen,
der sich selbst bisher eigentlich nur als Bündel von Problemen
sah. »Die Lösung hat mit dem Problem nichts zu tun«,
fügte der große Therapieerfinder Steve de Shazer hinzu und
plädierte dafür, den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit radikal
und ausschließlich auf die verborgenen oder vergessenen Kräfte
des Patienten zu richten. Wird der Patient wieder auf seine
Fähigkeiten aufmerksam, dann können die auch wieder wirken
und das reiche allemal, um gute Lösungen zu finden.
Normale dagegen müssen gar nichts neu beleuchten. Wegen
eines allzu dicken Fells oder wegen eines öden Gutwetterlebens
haben sie nie die Chance, an wirklich herausfordernde Grenzen
zu gelangen. Normalsein kann ein tragisches Schicksal bedeuten.
Kein Wunder, dass sich die Normalen daher rächen, Kriege anzetteln,
sich aufs Rauben, Morden und Betrügen verlegen,
um dem Leben eine Spannung zu verleihen, die es sonst nicht hätte. Manchmal spielen sie auch einfach nur verrückt. »Es ist
ganz nützlich, wenn man überall für verrückt gehalten wird«,
sagt Audrey Hepburn in »Frühstück bei Tiffany«.
A Unser Problem sind die Normalen
I Wahnsinn
Wahnsinn finden Psychiater bei bestimmten Krankheiten.
Die Öffentlichkeit spricht aber viel häufiger vom »ganz normalen
Wahnsinn« und meint damit keine Krankheiten, sondern
die flächendeckenden Merkwürdigkeiten, von denen die Massenmedien
landauf landab berichten. Die Folgen dieses ganz
normalen Wahnsinns sind erheblich desaströser als die harmlosen
Spinnereien eines Schizophrenen aus dem Nachbarhaus.
Dieser offen zutage liegende ganz normale Wahnsinn beweist
mit letzter Evidenz die beunruhigende These dieses Buches:
Unser Problem sind die Normalen!
1. Der ganz normale Wahnsinn -
Hitler, Stalin und die Hirnforschung
War Hitler verrückt? Für viele Menschen ist diese Frage
schnell beantwortet. Ein solcher Massenmörder muss doch
verrückt gewesen sein! Gewiss, normal ist es nicht, einen Weltkrieg
auszulösen und Völkermord zu betreiben. Doch ist das
schon gleich krank? Keineswegs! Denn wenn es so wäre, dann
müsste man einen Hitler vielleicht sogar für schuldunfähig erklären.
Soweit man weiß, hat nur ein einziger Psychiater, der
spätere Heidelberger Lehrstuhlinhaber Karl Willmanns, Hitler
jemals von Nahem gesehen. Doch auch von Ferne hat nochkein ernst zu nehmender Psychiater Adolf Hitler Schuldunfähigkeit
bescheinigt. Er war gewiss eine monströse Erscheinung,
maßlos in seinem Hass, in seiner Aggression, in seinem Vernichtungswillen,
aber krank war er eben nicht. Zu behaupten,
Adolf Hitler sei krank gewesen, banalisiert das Entsetzliche der
historischen Katastrophe, die mit diesem Namen verbunden
ist. Man hätte dann Hitler ja nur anständig psychiatrisch behandeln
müssen und das ganze Problem hätte sich in Wohlgefallen
aufgelöst. Mit ein bisschen Medikation, ein bisschen
betreutem Wohnen und vor allem Arbeitstherapie für einen
psychisch kranken Münchner Kunstmaler wäre der Tod von
Millionen von Menschen zu verhindern gewesen. Doch das ist
Unsinn. Hitler war normal, schrecklich normal. Er war so normal,
dass er sogar eine besondere Fähigkeit hatte, sich ganz genau
auf die Normalen einzustellen, nämlich genau das zu sagen,
was die hören wollten, was bei denen ankam. Joachim Fest hat
in seiner klassischen Hitlerbiografie historische Größe an der
Frage festgemacht, ob ein Mensch das Denken und Fühlen einer
Zeit zu bündeln vermag - und er kam erschreckenderweise
zum Ergebnis, dass man insoweit Adolf Hitler Größe nichtschlechterdings absprechen könne. Denn in der Tat bedurfte
es einer gewaltigen Kommunikationsleistung, unter dem Einsatz
populistischer Rhetorik höchst erfolgreich Stimmung für
sich selbst zu machen, Menschen auf sich zu fixieren, für seine
Zwecke zu benutzen und dann einen ganzen Staat, ja eine ganze
Welt in einen Krieg hineinzutreiben. Eine psychische Erkrankung
hätte einen solchen über fast dreißig Jahre andauernden
Kräfte aufwändigen Prozess schon im Ansatz unmöglich gemacht.
Es gibt für das Böse, das Hitler getan hat, aber auch für
die, die mitgemacht haben, keine Entschuldigung. Hitler war
nicht krank, sondern normal. Und gerade das ist das eigentlich
Erschütternde an diesem Menschen. Kriege werden ohnehin
nie von psychisch Kranken geführt, dazu bedarf es einer allzu
ausdauernden Zielstrebigkeit. Wäre Hitler psychisch krank gewesen,
hätte er seine Verbrechen nicht begehen können.
Für manche war auch der ehemalige Priesteramtskandidat
Josef Stalin ein Kandidat für den Psychiater. Vor allem das
»krankhafte« Misstrauen des alten Diktators, das unzählige
Menschen das Leben kostete, wurde da genannt. Doch wer tatsächlich
nur unter dem Eindruck realitätsfernen Verfolgungswahns
irrational um sich schlagen würde, dem würde schon
bald niemand mehr gehorchen. Dagegen ist ein gewisses Misstrauen
für Diktatoren geradezu lebensnotwendig. Unter den
Millionen Toten, die Stalins ganz normaler Wahnsinn kostete,
waren sicher auch einige, die seiner Herrschaft wirklich hätten
gefährlich werden können. Und seine nicht ermordeten Gegner
überlegten es sich nach all den Massenmorden gewiss sehr
gründlich, ob sie wirklich ihr Leben riskieren wollten. Es gibt
keine Hinweise darauf, dass Josef Stalin psychisch krank gewesen
sein könnte. Es war ganz im Gegenteil die robuste verbrecherische
Effektivität Stalins, die ihm die Herrschaft sicherte.
Wenn Alleinherrscher dagegen alt und krank werden, dann
lassen sie nach in der systematischen Unterdrückung ihrer
Gegner - und das kostet sie nicht selten die Macht. Der Schah
von Persien, aber auch Erich Honecker und der kongolesische
Diktator Mobutu sind Beispiele dafür.
Wer demgegenüber wirklich größenwahnsinnig ist, der
stellt sich auf eine Kreuzung in Wanne-Eickel und behauptet,
ganz sicher der Größte zu sein. Nach vergleichsweise kurzer
Behandlung in der örtlichen Psychiatrie ist dieses Problem bald
gelöst und der Mann kann wieder seinem Job im Stadtarchiv
nachgehen. Wenn sich aber jemand, der Kim il Sung hieß, auf
den zentralen Platz der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang
stellte und das Gleiche behauptete, allerdings umgeben
von zahlreichen jubelnden Anhängern, dann konnte man dieses
Problem nicht durch psychiatrische Behandlung lösen. Denn
der Mann war normal, jedenfalls nicht krank. Dass auch so ein
ganz normaler Wahnsinn erblich sein kann, sieht man jetzt an
seinem höchst merkwürdigen Sprössling, der das größte Gefangenenlager
der Welt mit unverminderter Brutalität und unter
Einsatz internationaler Unberechenbarkeit befehligt. Schon
Mao Tse-tung war bekanntlich nicht der liebe Onkel, als der
er sich öffentlich gern darstellen ließ, sondern ein egomaner
sadistischer Lüstling, der wohl mehr Morde auf dem Gewissen
hat als jeder andere Mensch seit Bestehen der Menschheit.
Doch all diese Eigenschaften erreichten bei diesen merkwürdigen
Subjekten nie das Ausmaß einer Behandlungsbedürftigkeit,
die dann ja auch Behandlungsfähigkeit bedeutet hätte.
In unseren Tagen waren Beispiele für ganz normalen Wahnsinn
ein Diktator wie Saddam Hussein, ein Terrorist wie Osama
Bin Laden oder der Menschenfresser von Rotenburg, Armin
Meiwes, auf den sich sogar Hollywood stürzte. Doch Saddam
Hussein war über Jahre in der Lage, ein großes Land unter seiner
Kontrolle zu halten, Osama Bin Laden versteckt sich schon
sehr lange höchst erfolgreich vor den Amerikanern und hält
sein Terrornetzwerk dennoch intakt und Armin Meiwes inszenierte
sich selbst mit offensichtlich größtem Vergnügen. All
das ist nicht krank, sondern abscheulich. Man kann das nicht
behandeln, man kann das nur verachten und verurteilen.
Neuerdings haben die Hirnforscher versucht, uns die Verantwortung
für diese peinlichen Schattenseiten der ganz normalen
Menschheit abzunehmen. Der Hirnforscher Gerhard
Roth verkündet frohgemut, dass wir an all dem gar nicht schuld
sind. Er plädiert für die Abschaffung des Strafrechts und die
Einweisung von Gesetzesübertretern in Dressuranstalten. Tolle
Idee! Wir sind es nicht, es ist unser Gehirn! Und dafür sind
wir nachweislich nicht zuständig. Kann ich etwas dafür, wenn
die Neurotransmitter in meinem Vorderhirn verrücktspielen
und meine Moral durcheinanderbringen? Die Idee von HerrnRoth und seinen Hirnforscherfreunden ist nicht besonders
neu. In unseren Tagen begehen wir ihren 290. Geburtstag. Ein
gewisser Herr Toland hatte schon im Jahre 1720 das Gehirn für
eine Maschine erklärt, die nach ihren eigenen Gesetzen unsere
Gedanken produziert. Damals war man noch gebildet genug,
den Irrtum zu erkennen. Natürlich kann man ohne ein Klavier
keine Klaviersonate spielen und tatsächlich gibt es keinen einzigen
Ton ohne eine Tastenbewegung. Doch ohne die genialen
Ideen von Leuten wie Ludwig van Beethoven und ohne Klavierspieler
wie meine Töchter gäbe es in Wirklichkeit gar keine
Klaviersonaten. Natürlich entsprechen allen unseren Gedanken
irgendwelche materiellen Veränderungen im Gehirn, und auchbevor Gedanken ausdrücklich und klar werden, gibt es in der
Erwartung eines Gedankens messbare Neurotransmitteraktionen.
Doch wer das Klavier mit dem Komponisten oder dem
Klavierspieler verwechselt, der würde einem ähnlichen Irrtum
aufsitzen wie der Gast im Restaurant, der die Speisekarte mit
dem wirklichen Essen verwechselt und herzhaft in den Karton
beißt. Kategorienfehler nennt das die Philosophie. Früher konnte
man damit Witze bestreiten. Heute trauen sich viele in den
heiligen Hallen esoterisch dreinblickender Hirnforscher kaum
mehr, laut zu reden oder gar zu lachen, geschweige denn allzu
drastischem Unsinn freimütig zu widersprechen. Es brauchtschon Philosophen wie Jürgen Habermas, die den Schwindel
entlarven und davor warnen, mit solch leichtfertigem Gerede
gehe unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung vor die Hunde.
Doch woran liegt die Attraktivität derartiger Th eorien? Sie
entlasten! Sie entlasten uns Normale von der immer unheimlicher
werdenden totalen Verantwortung für den ganz normalen
Wahnsinn, den wir Tag für Tag anrichten: Tut uns leid, wir
waren es nicht, wir sind es nicht und wir werden es auch nicht
gewesen sein! Bei unseren Neurotransmittern! - Wir sind nichtfür all die Kriege, den massenhaften Hunger, die Ausbeutung
von Mensch und Natur, wir Menschen sind nicht für all diese
Menschenverachtung verantwortlich. Es sind die Neurotransmitter,
die uns verachten. So haben wir es auf unterhaltsame
Weise geschafft, uns selbst wegzuzaubern. Im Grunde gibt esuns gar nicht, wir sind jedenfalls an nichts schuld und so sind
wir, »wissenschaftlich« abgesichert, unversehens jenseits von
Gut und Böse gelandet. Da können wir uns wohlfühlen, unseren
Urlaub genießen und die nächste Party. Nur wenn wir ein
bisschen krank werden, gar unheilbar krank, dann müssen wir
leider damit rechnen, dass die Neurotransmitter der anderen
das gar nicht lustig finden. Zwar ist ein bisschen soziales Engagement
fürs eigene Wohlfühlen und übrigens auch evolutionär
ganz gut. Da zeigt sich, dass der Mensch doch Mensch ist, und
kein Wolf. Doch bitte keine Übertreibung! Wenn Menschen
auf dem Mond landen, dann wird man doch wohl durch humane
Methoden jahrelange Pflegefälle vermeiden können! Leiden
ist ein arger Neurotransmitternotstand für den Leidenden
selbst, für die unter der Pflege leidenden Helfer und für die
ganze Gesellschaft, die lieber Hüpfburgen als Dekubitusmatratzen
finanziert. Hüpfburgen für Erwachsene nannte Mikas
1. Auflage
Taschenbuchausgabe April 2011
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © 2009 der Originalausgabe
by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,
in Anlehnung an die Gestaltung der Originalausgabe
KF • Herstellung: Str.
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN: 978-3-442-15679-5
www.goldmann-verlag.de
Wenn man sich klarmacht, wie oft jeder einfach gestrickte
Computer abstürzt, ist es kein Wunder, dass psychische Erkrankungen
zu den häufigsten überhaupt gehören. Dieses Buchist eine spannende
und höchst vergnügliche Entdeckungsreise durch die ganze
faszinierende Psychowelt. Womöglich lernen Sie dabei,
Ihre merkwürdige Tante und Ihren skurrilen Vetter
anders zu sehen und zu schätzen. Und womöglich sich selber
auch.
Das menschliche Gehirn ist die komplizierteste Sache der
Welt. Dummerweise kommt es ohne Gebrauchsanweisung.
Automatisch gehen die meisten Leute intuitiv falsch damit um.
Die sagen sich: »Ich möchte mir das Gehirn möglichst lange
frisch erhalten, indem ich es möglichst selten benutze!«
Falsch - das Gehirn kann man trainieren wie einen Muskel,
machen Sie keinen Schließmuskel daraus. Alles, was wir
oft tun, verändert unsere Hirnstruktur. »Auf die Dauer der
Zeit nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an«, sagte schon
Marc Aurel vor bald 2000 Jahren in Rom. Heute nennen wir
das »Neuroplastizität«, sprich: Nervenzellen formen sich neu,
wenn sie genutzt werden, und in diesem Buch kann sich Ihr
Hirn mal mit dem Hirn beschäftigen. Gönnen Sie ihm das!
Unser Verstand will die Dinge gerne eindeutig sortieren,
aber die Welt widersetzt sich der simplen Unterteilung von
krank oder gesund, links oder rechts, richtig oder falsch. Wir
können in drei verschiedenen Funktionszuständen Widersprüche
gleichzeitig gelten lassen: im Traum, in der Psychose und
im Lachen. Von allen dreien handelt dieses Buch. Aber das Lachen
ist der gesündeste von ihnen.
Die Arztsprache enthält bisweilen eine versteckte Poesie.
So heißt »Schizophrenie« wörtlich: Gespaltenes Zwerchfell.
Die Griechen dachten nämlich, die Seele sitze im Zwerchfell.
Das finde ich als Komiker eine sehr sympathische Vorstellung,
dass Lachen, Seele und Atmung zusammengehören. Aristoteles
dachte noch, das Hirn sei nur ein Apparat, um das Blut zu
kühlen. Und wie wir heute wissen, hat er bei vielen Menschen
recht behalten ...
Selbstzweifel sind bei einem Arzt ein Qualitätszeichen. Jemanden,
der auf alles eine Antwort weiß, sollte man am besten
gar nicht erst fragen. Und so möchte ich betonen, dass ich mit
Manfred Lütz in einigen Dingen nicht einer Meinung bin, aber
er sehr offen war für Anregungen - mehr als normal. Einig sind
wir uns in unserer Mission: dass Lachen das Leben schöner
macht, und man humorvoll und auf gut Deutsch auch schwere
Dinge gelassen an- und aussprechen kann. Komik entsteht,
wenn man Tragödien anschaut und dabei ein Auge zukneift.
Und so ist dieses Buch bisweilen einäugig und augenzwinkernd
zugleich. Möge es vielen Lesern die Augen öffnen für die alte
rheinische Weisheit: »Jeder Jeck ist anders«.
Ein herzliches Glück-Auf
Dr. Eckart von Hirschhausen
Arzt, Kabarettist und Autor von »Arzt-Deutsch«, »Die Leber wächst mit ihren Aufgaben«
und »Glück kommt selten allein«
Gründer der Stiftung HUMOR HILFT HEILEN
»Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes -
aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.«
Friedrich Nietzsche
Vorspiel
Wenn man als Psychiater und Psychotherapeut abends
Nachrichten sieht, ist man regelmäßig irritiert. Da geht es um
Kriegshetzer, Terroristen, Mörder, Wirtschaftskriminelle, eiskalte
Buchhaltertypen und schamlose Egomanen - und niemand
behandelt die. Ja, solche Figuren gelten sogar als völlig
normal. Kommen mir dann die Menschen in den Sinn, mit
denen ich mich den Tag über beschäftigt habe, rührende Demenzkranke,
dünnhäutige Süchtige, hochsensible Schizophrene,
erschütternd Depressive und mitreißende Maniker,
dann beschleicht mich mitunter ein schlimmer Verdacht: Wir
behandeln die Falschen! Unser Problem sind nicht die Verrückten,
unser Problem sind die Normalen!
Um diese kühne Behauptung zu belegen, reicht es aber
nicht, sich mit den Merkwürdigkeiten der Normalen zu befassen,
man muss die Verrückten kennen lernen. Das ist freilich
für den Normalbürger nicht so leicht möglich. Denn früher hat
man psychisch kranke Menschen in Anstalten irgendwo auf die
grüne Wiese verfrachtet in der treuherzigen Annahme, frische
Luft könne ja nicht schaden. Als man dann merkte, dass das
beherzte Herausoperieren merkwürdiger Mitbürger aus ihrer
menschlichen Mitwelt die Betreffenden noch merkwürdiger
machte, verlegte man sie zwar wieder schleunigst mitten in
unsere Städte. Doch nun leben diese Menschen in so unglaublich
professionell geleiteten Einrichtungen, dass Otto-Normalbürger
den Eindruck hat, man brauche mindestens eine Universitätsausbildung,
um mal einen Schizophrenen nach dem
Bahnhof zu fragen. Die allgemeine Wichtigtuerei gewisser
Psychofachleute schuf ein professionelles Getto, das dem Normalbürger
psychisch Kranke oft so fremd erscheinen lässt, als
kämen die von einem anderen Stern.
Was ist da zu tun? Aufklärung ist angesagt. Aufklärung überwahnsinnig Normale und ganz normale Wahnsinnige. In diesem
Buch habe ich mir daher vorgenommen, allgemeinver-
ständlich alle psychischen Krankheiten und alle gängigen Th erapien
auf dem heutigen Stand der Wissenschaft darzustellen.
Beinahe jeder hat in seiner Verwandtschaft irgendeine merkwürdige
Tante oder einen skurrilen Onkel, über die nur getuschelt
wurde. Und jeder hat in seiner Nachbarschaft so manche
eigenartige Gestalt, auf die man sich bisher keinen Reim
machen konnte. Am Ende dieser Seiten sollte da mehr Klarheit
bestehen. So wird das Buch Sie verändern - und Sie werden
anders mit Ihren Mitmenschen umgehen.
Die ganze Psychiatrie und Psychotherapie auf 185 Seiten?
Hören Sie nicht auf Leute, die mit hochgezogenen Augenbrauen
behaupten, über Psychiatrie und Psychotherapie könne man
nur dicke humorlose Wälzer schreiben! Ich habe das Buch sicherheitshalber
von führenden Experten lesen lassen, die selbst
dicke Lehrbücher geschrieben haben - und die fanden, die
vorliegenden 185 Seiten würden völlig reichen. Mein Dank für
wichtige Anregungen gilt insbesondere Professor Klaus Dörner,
ehemals Gütersloh, Professor Wolfgang Maier, Bonn, Professor
Klaus Windgassen, Remscheid, Professor Martin Hautzinger,
Tübingen, und Professor Christian Reimer, ehemals Gießen.
Ich danke aber ebenso den unmittelbaren Experten, HerrnDr. Joachim Brandenburg als Betroffenenvertreter und Frau Susanne
Heim als Angehörigenvertreterin für die kritische Lektüre.
Dr. Eckart von Hirschhausen danke ich besonders herzlich
für das launige Vorwort, für engagierte Diskussionen und viele
gute Anregungen. Schließlich wurde das Buch von einem von
mir sehr geschätzten Metzger gelesen, der streng auf Allgemeinverständlichkeit
achtete. Eines ist also sicher: Wenn Sie
dieses Buch gelesen haben, dürfen Sie definitiv mit jedem Verrückten
reden, schlimmstenfalls auch mit sich selbst.
Das Buch ist übrigens sogar für Chirurgen, die natürlichen
Feinde der Psychiater, geeignet. Chirurgen befassen sich zwar
in der Regel nicht mit Büchern, weil die nicht bluten. Dochlesen sie mit Begeisterung Gebrauchsanweisungen - und das
hier ist eine Gebrauchsanweisung für außergewöhnliche Menschen
und solche, die es werden wollen.
Aus haftungsrechtlichen Gründen muss ich noch eine Warnung
vorausschicken. Ich habe mich, wie üblich, dem Th ema
humorvoll genähert. Das ist nicht jedermanns Sache. Da der
Verlag sich weigerte, Scherze gesondert zu kennzeichnen, sind
möglicherweise Menschen aus Ostwestfalen zum Verständnis
des Buches auf Hinweise ihrer rheinischen Verwandtschaft
angewiesen. Überhaupt Ost-West-Falen. Ostfalen ist ja nochin Ordnung, Westfalen ist für uns Rheinländer schon ein Problem,
aber Ost-West-Falen - da weiß man ja überhaupt nicht,
wo man hinfahren soll. Ein geradezu klassisches Double-bind,
eine Doppelbotschaft, die aus Sicht der systemischen Th erapie
zu Schizophrenie, Borderline-Störung oder Schlimmerem
führen kann. Dennoch wirken die Menschen in diesem entlegenen
Landstrich erstaunlich normal - und laden mich trotz
meiner üblen Beschimpfungen immer wieder zu Vorträgen ein.
In Wirklichkeit haben Westfalen nämlich auch Humor - nur
später!
Darf man aber überhaupt über psychisch Kranke humorvoll
reden? Ich finde ja. Denn Humor ist eine Form, Dinge und
Menschen liebevoll ins Leben einzubeziehen. Jeder Mensch
hat ein Recht auf Humor. Ich habe das bei der Gruppe »Brücke-
Krücke« gelernt, die mir vor 25 Jahren in Bonn zugelaufen
ist und in der behinderte und nichtbehinderte Jugendliche
ihre Freizeit verbringen. Wenn da einer meiner behinderten
Freunde hinreißend witzig ist, hat er auch ein Recht, dass man
über ihn lacht. Wer jedenfalls glaubt, über »unsere armen psychisch
kranken Menschen« nur mit ernster Miene voller Betroffenheit
in Feier stunden reden zu dürfen, der grenzt dieseMitmenschen aus als Objekte unserer aff ektierten Soziallaunen.
Vor allem aber kann man über uns Normale eigentlich
nur humorvoll reden. Denn, Hand aufs Herz, Menschen, die
so normal sind, dass es wehtut (Normopathen), sind zumeist
hinreißend witzig.
Einführung
Die Leber wächst mit ihren Aufgaben, behauptet Eckart von
Hirschhausen. Gilt das nicht auch für das Gehirn? Der Kabarettist
Jürgen Becker ist da anderer Auffassung. Er hält Bandwürmer
evolutionär für fortgeschrittener, weil sie das Gehirn
wieder abgeschafft hätten. Sie lebten als Schmarotzer im Darm,
seien bestens ernährt und fühlten sich auch sonst sauwohl.
Ein Gehirn sei da völlig überflüssig. Wir Menschen dagegen
steckten voller Probleme. Wir hätten größte Schwierigkeiten,
uns reibungslos zu ernähren, eff ektiv fortzupfl anzen und auchsonst Spaß am Leben zu haben. Daher müssten wir ein Gehirn
mit uns rumschleppen, das Probleme löst, die wir ohne dieses
überflüssige Luxusorgan gar nicht hätten.
Sei's drum. Gegenüber den Tieren sind wir jedenfalls »Mängelwesen
«, wie uns der Philosoph Arnold Gehlen ins Stammbuch
schrieb. Daher, meinte er, brauchten wir Menschen Institutionen,
die uns über unsere Mängel hinweghelfen. Schließlich
sind wir am Anfang unseres Lebens ziemlich pfl egebedürftig
und am Ende auch schon wieder. In der kurzen Zwischenzeit
organisieren wir die Pflege - der kommenden Generation und
der scheidenden Generation. Im Grunde sind wir normalerweise
behindert und haben uns eine ganze Menschheitsgeschichte
lang unter schweißtreibendem Einsatz unserer Gehirne damit
herumgeplagt, Ferngläser zur Unterstützung der Augen zu erfinden,
Hörgeräte zur Unterstützung der Ohren, Autos zur Unterstützung
der Fortbewegung und Kleider zur Unterstützung
unserer lächerlich unbehaarten Haut.
Diese Bemühungen müssen uns nicht gut bekommen sein.
Denn gegenüber Tieren neigen wir zu merkwürdigen Verhaltensweisen.
Der Biologe Midas Dekkers weist darauf hin, dass
zum Beispiel Sport etwas völlig Unnatürliches sei: »Kein Tier
treibt Sport. So dumm ist es nämlich nicht.« Es gibt wohl auchkeine Säugetierart, die sich so ausdauernd gegenseitig umbringt. Und das liegt keineswegs an eher schlichten, muskelbepackten Gemütern. Der Psychiater Thomas Fuchs sagt, dass
bei steigender Kultivierung die Neigung sogar noch zunimmt,
sich gegenseitig abzumurxen. Die Lage ist brisant. Vor einem
wirklichen Weltgerichtshof sähe es verdammt schlecht für uns
aus. Man müsste befürchten, dass die ganze Menschheit wegen
nachweislich verrücktem Verhalten und akuter Fremdgefährdung
der gesamten Schöpfung in die Psychiatrie eingewiesen
würde.
Muss bei solcher Lage der Dinge dann nicht damit gerechnet
werden, dass in dieser verrückten Menschheit diejenigen,
die von den Menschen selbst sogar ausdrücklich als verrückt
bezeichnet werden, ein Ausmaß an Verrücktheit erreichen, das
alle Grenzen sprengt? Doch das ist eigenartigerweise nicht der
Fall. Wenn spektakuläre Straftaten psychisch Kranker passieren,
werde ich manchmal von Fernsehsendern interviewt. Nach
angemessener Würdigung des Einzelfalles weise ich dann stets
darauf hin, dass, statistisch gesehen, psychisch Kranke weniger
Straftaten verüben als Normale. Mein Fazit: »Hüten Sie sich
vor Normalen!«
Woran liegt dieser merkwürdige Befund? Menschen mit
einer psychischen Störung machen oft den ganz normalen
Wahnsinn unserer Gesellschaft einfach nicht mit. Demgegenüber
fällt dann mitunter ihr jeweils höchst individueller Wahnsinn
gar nicht mehr so sehr ins Gewicht. Ja, die psychische
Störung kann sogar eine besondere Fähigkeit sein. Psychischkranke Menschen sind, wertfrei beschrieben, zunächst einmal
nur außergewöhnlich.
Die meisten leiden unter dieser Außergewöhnlichkeit. Deswegen
haben sich Ärzte ihrer angenommen und die Psychiatrie
erfunden. Und dabei wurden Therapien entwickelt, mit
denen man Leiden vermindern und aus außergewöhnlichen
Menschen wieder gewöhnliche Menschen machen konnte.
Doch ob Gewöhnlichsein immer von Vorteil ist? Jedenfalls haben
moderne Therapeuten neuerdings entdeckt, dass es ganz
unsinnig ist, die psychische Störung nur wie irgendeine Macke
zu behandeln, die man möglichst schnell weghobeln muss.
Denn nicht selten kann man das Problem sogar mit einigen
genialen Kunstgriffen zur Lösung umarbeiten. »Was ist das
Gute am Schlechten?«, fragte schon der österreichisch-amerikanische
Psychotherapeut und Bestsellerautor (»Anleitung
zum Unglücklichsein«) Paul Watzlawick. Er begründete damit
eine ressourcenorientierte Sicht von Psychotherapie, die sich
bemühte, Licht auf die Fähigkeiten eines Menschen zu werfen,
der sich selbst bisher eigentlich nur als Bündel von Problemen
sah. »Die Lösung hat mit dem Problem nichts zu tun«,
fügte der große Therapieerfinder Steve de Shazer hinzu und
plädierte dafür, den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit radikal
und ausschließlich auf die verborgenen oder vergessenen Kräfte
des Patienten zu richten. Wird der Patient wieder auf seine
Fähigkeiten aufmerksam, dann können die auch wieder wirken
und das reiche allemal, um gute Lösungen zu finden.
Normale dagegen müssen gar nichts neu beleuchten. Wegen
eines allzu dicken Fells oder wegen eines öden Gutwetterlebens
haben sie nie die Chance, an wirklich herausfordernde Grenzen
zu gelangen. Normalsein kann ein tragisches Schicksal bedeuten.
Kein Wunder, dass sich die Normalen daher rächen, Kriege anzetteln,
sich aufs Rauben, Morden und Betrügen verlegen,
um dem Leben eine Spannung zu verleihen, die es sonst nicht hätte. Manchmal spielen sie auch einfach nur verrückt. »Es ist
ganz nützlich, wenn man überall für verrückt gehalten wird«,
sagt Audrey Hepburn in »Frühstück bei Tiffany«.
A Unser Problem sind die Normalen
I Wahnsinn
Wahnsinn finden Psychiater bei bestimmten Krankheiten.
Die Öffentlichkeit spricht aber viel häufiger vom »ganz normalen
Wahnsinn« und meint damit keine Krankheiten, sondern
die flächendeckenden Merkwürdigkeiten, von denen die Massenmedien
landauf landab berichten. Die Folgen dieses ganz
normalen Wahnsinns sind erheblich desaströser als die harmlosen
Spinnereien eines Schizophrenen aus dem Nachbarhaus.
Dieser offen zutage liegende ganz normale Wahnsinn beweist
mit letzter Evidenz die beunruhigende These dieses Buches:
Unser Problem sind die Normalen!
1. Der ganz normale Wahnsinn -
Hitler, Stalin und die Hirnforschung
War Hitler verrückt? Für viele Menschen ist diese Frage
schnell beantwortet. Ein solcher Massenmörder muss doch
verrückt gewesen sein! Gewiss, normal ist es nicht, einen Weltkrieg
auszulösen und Völkermord zu betreiben. Doch ist das
schon gleich krank? Keineswegs! Denn wenn es so wäre, dann
müsste man einen Hitler vielleicht sogar für schuldunfähig erklären.
Soweit man weiß, hat nur ein einziger Psychiater, der
spätere Heidelberger Lehrstuhlinhaber Karl Willmanns, Hitler
jemals von Nahem gesehen. Doch auch von Ferne hat nochkein ernst zu nehmender Psychiater Adolf Hitler Schuldunfähigkeit
bescheinigt. Er war gewiss eine monströse Erscheinung,
maßlos in seinem Hass, in seiner Aggression, in seinem Vernichtungswillen,
aber krank war er eben nicht. Zu behaupten,
Adolf Hitler sei krank gewesen, banalisiert das Entsetzliche der
historischen Katastrophe, die mit diesem Namen verbunden
ist. Man hätte dann Hitler ja nur anständig psychiatrisch behandeln
müssen und das ganze Problem hätte sich in Wohlgefallen
aufgelöst. Mit ein bisschen Medikation, ein bisschen
betreutem Wohnen und vor allem Arbeitstherapie für einen
psychisch kranken Münchner Kunstmaler wäre der Tod von
Millionen von Menschen zu verhindern gewesen. Doch das ist
Unsinn. Hitler war normal, schrecklich normal. Er war so normal,
dass er sogar eine besondere Fähigkeit hatte, sich ganz genau
auf die Normalen einzustellen, nämlich genau das zu sagen,
was die hören wollten, was bei denen ankam. Joachim Fest hat
in seiner klassischen Hitlerbiografie historische Größe an der
Frage festgemacht, ob ein Mensch das Denken und Fühlen einer
Zeit zu bündeln vermag - und er kam erschreckenderweise
zum Ergebnis, dass man insoweit Adolf Hitler Größe nichtschlechterdings absprechen könne. Denn in der Tat bedurfte
es einer gewaltigen Kommunikationsleistung, unter dem Einsatz
populistischer Rhetorik höchst erfolgreich Stimmung für
sich selbst zu machen, Menschen auf sich zu fixieren, für seine
Zwecke zu benutzen und dann einen ganzen Staat, ja eine ganze
Welt in einen Krieg hineinzutreiben. Eine psychische Erkrankung
hätte einen solchen über fast dreißig Jahre andauernden
Kräfte aufwändigen Prozess schon im Ansatz unmöglich gemacht.
Es gibt für das Böse, das Hitler getan hat, aber auch für
die, die mitgemacht haben, keine Entschuldigung. Hitler war
nicht krank, sondern normal. Und gerade das ist das eigentlich
Erschütternde an diesem Menschen. Kriege werden ohnehin
nie von psychisch Kranken geführt, dazu bedarf es einer allzu
ausdauernden Zielstrebigkeit. Wäre Hitler psychisch krank gewesen,
hätte er seine Verbrechen nicht begehen können.
Für manche war auch der ehemalige Priesteramtskandidat
Josef Stalin ein Kandidat für den Psychiater. Vor allem das
»krankhafte« Misstrauen des alten Diktators, das unzählige
Menschen das Leben kostete, wurde da genannt. Doch wer tatsächlich
nur unter dem Eindruck realitätsfernen Verfolgungswahns
irrational um sich schlagen würde, dem würde schon
bald niemand mehr gehorchen. Dagegen ist ein gewisses Misstrauen
für Diktatoren geradezu lebensnotwendig. Unter den
Millionen Toten, die Stalins ganz normaler Wahnsinn kostete,
waren sicher auch einige, die seiner Herrschaft wirklich hätten
gefährlich werden können. Und seine nicht ermordeten Gegner
überlegten es sich nach all den Massenmorden gewiss sehr
gründlich, ob sie wirklich ihr Leben riskieren wollten. Es gibt
keine Hinweise darauf, dass Josef Stalin psychisch krank gewesen
sein könnte. Es war ganz im Gegenteil die robuste verbrecherische
Effektivität Stalins, die ihm die Herrschaft sicherte.
Wenn Alleinherrscher dagegen alt und krank werden, dann
lassen sie nach in der systematischen Unterdrückung ihrer
Gegner - und das kostet sie nicht selten die Macht. Der Schah
von Persien, aber auch Erich Honecker und der kongolesische
Diktator Mobutu sind Beispiele dafür.
Wer demgegenüber wirklich größenwahnsinnig ist, der
stellt sich auf eine Kreuzung in Wanne-Eickel und behauptet,
ganz sicher der Größte zu sein. Nach vergleichsweise kurzer
Behandlung in der örtlichen Psychiatrie ist dieses Problem bald
gelöst und der Mann kann wieder seinem Job im Stadtarchiv
nachgehen. Wenn sich aber jemand, der Kim il Sung hieß, auf
den zentralen Platz der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang
stellte und das Gleiche behauptete, allerdings umgeben
von zahlreichen jubelnden Anhängern, dann konnte man dieses
Problem nicht durch psychiatrische Behandlung lösen. Denn
der Mann war normal, jedenfalls nicht krank. Dass auch so ein
ganz normaler Wahnsinn erblich sein kann, sieht man jetzt an
seinem höchst merkwürdigen Sprössling, der das größte Gefangenenlager
der Welt mit unverminderter Brutalität und unter
Einsatz internationaler Unberechenbarkeit befehligt. Schon
Mao Tse-tung war bekanntlich nicht der liebe Onkel, als der
er sich öffentlich gern darstellen ließ, sondern ein egomaner
sadistischer Lüstling, der wohl mehr Morde auf dem Gewissen
hat als jeder andere Mensch seit Bestehen der Menschheit.
Doch all diese Eigenschaften erreichten bei diesen merkwürdigen
Subjekten nie das Ausmaß einer Behandlungsbedürftigkeit,
die dann ja auch Behandlungsfähigkeit bedeutet hätte.
In unseren Tagen waren Beispiele für ganz normalen Wahnsinn
ein Diktator wie Saddam Hussein, ein Terrorist wie Osama
Bin Laden oder der Menschenfresser von Rotenburg, Armin
Meiwes, auf den sich sogar Hollywood stürzte. Doch Saddam
Hussein war über Jahre in der Lage, ein großes Land unter seiner
Kontrolle zu halten, Osama Bin Laden versteckt sich schon
sehr lange höchst erfolgreich vor den Amerikanern und hält
sein Terrornetzwerk dennoch intakt und Armin Meiwes inszenierte
sich selbst mit offensichtlich größtem Vergnügen. All
das ist nicht krank, sondern abscheulich. Man kann das nicht
behandeln, man kann das nur verachten und verurteilen.
Neuerdings haben die Hirnforscher versucht, uns die Verantwortung
für diese peinlichen Schattenseiten der ganz normalen
Menschheit abzunehmen. Der Hirnforscher Gerhard
Roth verkündet frohgemut, dass wir an all dem gar nicht schuld
sind. Er plädiert für die Abschaffung des Strafrechts und die
Einweisung von Gesetzesübertretern in Dressuranstalten. Tolle
Idee! Wir sind es nicht, es ist unser Gehirn! Und dafür sind
wir nachweislich nicht zuständig. Kann ich etwas dafür, wenn
die Neurotransmitter in meinem Vorderhirn verrücktspielen
und meine Moral durcheinanderbringen? Die Idee von HerrnRoth und seinen Hirnforscherfreunden ist nicht besonders
neu. In unseren Tagen begehen wir ihren 290. Geburtstag. Ein
gewisser Herr Toland hatte schon im Jahre 1720 das Gehirn für
eine Maschine erklärt, die nach ihren eigenen Gesetzen unsere
Gedanken produziert. Damals war man noch gebildet genug,
den Irrtum zu erkennen. Natürlich kann man ohne ein Klavier
keine Klaviersonate spielen und tatsächlich gibt es keinen einzigen
Ton ohne eine Tastenbewegung. Doch ohne die genialen
Ideen von Leuten wie Ludwig van Beethoven und ohne Klavierspieler
wie meine Töchter gäbe es in Wirklichkeit gar keine
Klaviersonaten. Natürlich entsprechen allen unseren Gedanken
irgendwelche materiellen Veränderungen im Gehirn, und auchbevor Gedanken ausdrücklich und klar werden, gibt es in der
Erwartung eines Gedankens messbare Neurotransmitteraktionen.
Doch wer das Klavier mit dem Komponisten oder dem
Klavierspieler verwechselt, der würde einem ähnlichen Irrtum
aufsitzen wie der Gast im Restaurant, der die Speisekarte mit
dem wirklichen Essen verwechselt und herzhaft in den Karton
beißt. Kategorienfehler nennt das die Philosophie. Früher konnte
man damit Witze bestreiten. Heute trauen sich viele in den
heiligen Hallen esoterisch dreinblickender Hirnforscher kaum
mehr, laut zu reden oder gar zu lachen, geschweige denn allzu
drastischem Unsinn freimütig zu widersprechen. Es brauchtschon Philosophen wie Jürgen Habermas, die den Schwindel
entlarven und davor warnen, mit solch leichtfertigem Gerede
gehe unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung vor die Hunde.
Doch woran liegt die Attraktivität derartiger Th eorien? Sie
entlasten! Sie entlasten uns Normale von der immer unheimlicher
werdenden totalen Verantwortung für den ganz normalen
Wahnsinn, den wir Tag für Tag anrichten: Tut uns leid, wir
waren es nicht, wir sind es nicht und wir werden es auch nicht
gewesen sein! Bei unseren Neurotransmittern! - Wir sind nichtfür all die Kriege, den massenhaften Hunger, die Ausbeutung
von Mensch und Natur, wir Menschen sind nicht für all diese
Menschenverachtung verantwortlich. Es sind die Neurotransmitter,
die uns verachten. So haben wir es auf unterhaltsame
Weise geschafft, uns selbst wegzuzaubern. Im Grunde gibt esuns gar nicht, wir sind jedenfalls an nichts schuld und so sind
wir, »wissenschaftlich« abgesichert, unversehens jenseits von
Gut und Böse gelandet. Da können wir uns wohlfühlen, unseren
Urlaub genießen und die nächste Party. Nur wenn wir ein
bisschen krank werden, gar unheilbar krank, dann müssen wir
leider damit rechnen, dass die Neurotransmitter der anderen
das gar nicht lustig finden. Zwar ist ein bisschen soziales Engagement
fürs eigene Wohlfühlen und übrigens auch evolutionär
ganz gut. Da zeigt sich, dass der Mensch doch Mensch ist, und
kein Wolf. Doch bitte keine Übertreibung! Wenn Menschen
auf dem Mond landen, dann wird man doch wohl durch humane
Methoden jahrelange Pflegefälle vermeiden können! Leiden
ist ein arger Neurotransmitternotstand für den Leidenden
selbst, für die unter der Pflege leidenden Helfer und für die
ganze Gesellschaft, die lieber Hüpfburgen als Dekubitusmatratzen
finanziert. Hüpfburgen für Erwachsene nannte Mikas
1. Auflage
Taschenbuchausgabe April 2011
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © 2009 der Originalausgabe
by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,
in Anlehnung an die Gestaltung der Originalausgabe
KF • Herstellung: Str.
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN: 978-3-442-15679-5
www.goldmann-verlag.de
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Autoren-Porträt von Manfred Lütz
Manfred Lütz, geb. 1954, ist ein renommierter Psychologe, Theologe und Essayist und lebt in Köln. Er studierte Humanmedizin, Philosophie und katholische Theologie in Bonn und Rom. Seit 1997 ist er Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln, einem Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie. Dr. Lütz ist verheiratet und hat zwei Töchter. In seinen Büchern befasst er sich aus der Sicht eines Psychotherapeuten satirisch und humorvoll mit Gesundheitsthemen wie auch mit religiösen Fragestellungen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Manfred Lütz
- 2011, 208 Seiten, Maße: 12,5 x 18,4 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442156793
- ISBN-13: 9783442156795
- Erscheinungsdatum: 14.03.2011
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