Arrival City, deutsche Ausg.
Über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen Menschen vom Land in die Städte. Von ihnen hängt unsere Zukunft ab.
Die Menschheit erlebt aktuell die größte Völkerwanderung ihrer Geschichte.
Ein Drittel der Weltbevölkerung zieht über Provinzen, Länder, Kontinente hinweg vom Land in die Städte. In unserer Zeit leben zum ersten Mal mehr Menschen in der Stadt als auf dem...
Ein Drittel der Weltbevölkerung zieht über Provinzen, Länder, Kontinente hinweg vom Land in die Städte. In unserer Zeit leben zum ersten Mal mehr Menschen in der Stadt als auf dem...
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Produktinformationen zu „Arrival City, deutsche Ausg. “
Die Menschheit erlebt aktuell die größte Völkerwanderung ihrer Geschichte.
Ein Drittel der Weltbevölkerung zieht über Provinzen, Länder, Kontinente hinweg vom Land in die Städte. In unserer Zeit leben zum ersten Mal mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land. Die These, dass diese radikale, unumkehrbare Entwicklung eine positive ist sowohl für die Migranten als auch für die Städte, in denen sie ankommen , setzt Saunders Buch von gern beschworenen Untergangsszenarien ab. Ob Migration funktioniert oder nicht, hat wenig mit kulturellen Klüften oder religiösen Gegensätzen zu tun. Die Ziele der Neuankömmlinge sind egal aus welchem Land sie stammen oder in welche Stadt sie gehen die gleichen. Doch ob sie Arbeit finden, soziale Netzwerke aufbauen, ihren Kindern Schulbildung und eine Zukunft ermöglichen können, hängt stark davon ab, ob die Stadt auf sie vorbereitet ist.
Drei Jahre lang hat Saunders in Berlin-Kreuzberg, im Londoner East End und den Banlieues von Paris, in den Favelas von Rio de Janeiro und den Barrios in Los Angeles mit Menschen über ihre Lebenspläne und -wirklichkeiten gesprochen. Über zwanzig solcher Viertel, Rand- und Außenbezirke, diese Orte der Ankunft Arrival Citys , porträtiert Saunders in seinem Buch. Sein Fazit: Scheitert die Arrival City, wird sie zum sozialen Brennpunkt, zur Brutstätte von Kriminalität und hybridem Extremismus, zum Elendsviertel. Blüht sie auf, wird die Arrival City zur Geburtsstätte der neuen Mittelschicht, der stabilen Wirtschaft und des sozialen Friedens einer Stadt.g mit kulturellen Klüften oder religiösen Gegensätzen zu tun. Die Ziele der Neuankömmlinge sind egal aus welchem Land sie stammen oder in welche Stadt sie gehen die gleichen. Doch ob sie Arbeit finden, soziale Netzwerke aufbauen, ihren Kindern Schulbildung und eine Zukunft ermöglichen können, hängt stark davon ab, ob die Stadt auf sie vorbereitet ist.
Drei Jahre lang hat Saunders in Berlin-Kreuzberg, im Londoner East End und den Banlieues von Paris, in den Favelas von
Ein Drittel der Weltbevölkerung zieht über Provinzen, Länder, Kontinente hinweg vom Land in die Städte. In unserer Zeit leben zum ersten Mal mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land. Die These, dass diese radikale, unumkehrbare Entwicklung eine positive ist sowohl für die Migranten als auch für die Städte, in denen sie ankommen , setzt Saunders Buch von gern beschworenen Untergangsszenarien ab. Ob Migration funktioniert oder nicht, hat wenig mit kulturellen Klüften oder religiösen Gegensätzen zu tun. Die Ziele der Neuankömmlinge sind egal aus welchem Land sie stammen oder in welche Stadt sie gehen die gleichen. Doch ob sie Arbeit finden, soziale Netzwerke aufbauen, ihren Kindern Schulbildung und eine Zukunft ermöglichen können, hängt stark davon ab, ob die Stadt auf sie vorbereitet ist.
Drei Jahre lang hat Saunders in Berlin-Kreuzberg, im Londoner East End und den Banlieues von Paris, in den Favelas von Rio de Janeiro und den Barrios in Los Angeles mit Menschen über ihre Lebenspläne und -wirklichkeiten gesprochen. Über zwanzig solcher Viertel, Rand- und Außenbezirke, diese Orte der Ankunft Arrival Citys , porträtiert Saunders in seinem Buch. Sein Fazit: Scheitert die Arrival City, wird sie zum sozialen Brennpunkt, zur Brutstätte von Kriminalität und hybridem Extremismus, zum Elendsviertel. Blüht sie auf, wird die Arrival City zur Geburtsstätte der neuen Mittelschicht, der stabilen Wirtschaft und des sozialen Friedens einer Stadt.g mit kulturellen Klüften oder religiösen Gegensätzen zu tun. Die Ziele der Neuankömmlinge sind egal aus welchem Land sie stammen oder in welche Stadt sie gehen die gleichen. Doch ob sie Arbeit finden, soziale Netzwerke aufbauen, ihren Kindern Schulbildung und eine Zukunft ermöglichen können, hängt stark davon ab, ob die Stadt auf sie vorbereitet ist.
Drei Jahre lang hat Saunders in Berlin-Kreuzberg, im Londoner East End und den Banlieues von Paris, in den Favelas von
Klappentext zu „Arrival City, deutsche Ausg. “
Die Menschheit erlebt aktuell die größte Völkerwanderung ihrer GeschichteEin Drittel der Weltbevölkerung zieht über Provinzen, Länder, Kontinente hinweg vom Land in die Städte. In unserer Zeit leben zum ersten Mal mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land.
Die These, dass diese radikale, unumkehrbare Entwicklung eine positive ist sowohl für die Migranten als auch für die Städte, in denen sie ankommen , setzt Saunders Buch von gern beschworenen Untergangsszenarien ab. Ob Migration funktioniert oder nicht, hat wenig mit kulturellen Klüften oder religiösen Gegensätzen zu tun. Die Ziele der Neuankömmlinge sind egal aus welchem Land sie stammen oder in welche Stadt sie gehen die gleichen. Doch ob sie Arbeit finden, soziale Netzwerke aufbauen, ihren Kindern Schulbildung und eine Zukunft ermöglichen können, hängt stark davon ab, ob die Stadt auf sie vorbereitet ist.
Drei Jahre lang hat Saunders in Berlin-Kreuzberg, im Londoner East End und den Banlieues von Paris, in den Favelas von Rio de Janeiro und den Barrios in Los Angeles mit Menschen über ihre Lebenspläne und -wirklichkeiten gesprochen. Über zwanzig solcher Viertel, Rand- und Außenbezirke, diese Orte der Ankunft Arrival Citys , porträtiert Saunders in seinem Buch. Sein Fazit: Scheitert die Arrival City, wird sie zum sozialen Brennpunkt, zur Brutstätte von Kriminalität und hybridem Extremismus, zum Elendsviertel. Blüht sie auf, wird die Arrival City zur Geburtsstätte der neuen Mittelschicht, der stabilen Wirtschaft und des sozialen Friedens einer Stadt.
Die Menschheit erlebt aktuell die größte Völkerwanderung ihrer Geschichte Ein Drittel der Weltbevölkerung zieht - über Provinzen, Länder, Kontinente hinweg - vom Land in die Städte. In unserer Zeit leben zum ersten Mal mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land.
Die These, dass diese radikale, unumkehrbare Entwicklung eine positive ist - sowohl für die Migranten als auch für die Städte, in denen sie ankommen -, setzt Saunders- Buch von gern beschworenen Untergangsszenarien ab. Ob Migration funktioniert oder nicht, hat wenig mit kulturellen Klüften oder religiösen Gegensätzen zu tun. Die Ziele der Neuankömmlinge sind - egal aus welchem Land sie stammen oder in welche Stadt sie gehen - die gleichen. Doch ob sie Arbeit finden, soziale Netzwerke aufbauen, ihren Kindern Schulbildung und eine Zukunft ermöglichen können, hängt stark davon ab, ob die Stadt auf sie vorbereitet ist.Drei Jahre lang hat Saunders in Berlin-Kreuzberg, im Londoner East End und den Banlieues von Paris, in den Favelas von Rio de Janeiro und den Barrios in Los Angeles mit Menschen über ihre Lebenspläne und -wirklichkeiten gesprochen. Über zwanzig solcher Viertel, Rand- und Außenbezirke, diese Orte der Ankunft - Arrival Citys -, porträtiert Saunders in seinem Buch. Sein Fazit: Scheitert die Arrival City, wird sie zum sozialen Brennpunkt, zur Brutstätte von Kriminalität und hybridem Extremismus, zum Elendsviertel. Blüht sie auf, wird die Arrival City zur Geburtsstätte der neuen Mittelschicht, der stabilen Wirtschaft und des sozialen Friedens einer Stadt. hat wenig mit kulturellen Klüften oder religiösen Gegensätzen zu tun. Die Ziele der Neuankömmlinge sind - egal aus welchem Land sie stammen oder in welche Stadt sie gehen - die gleichen. Doch ob sie Arbeit finden, soziale Netzwerke aufbauen, ihren Kindern Schulbildung und eine Zukunft ermöglichen können, hängt stark davon ab, ob die Stadt auf sie vorbereitet ist.Drei Jahre lang hat Saunders in Berlin-Kreuzberg, im Londoner East End und den Banlieues von Paris, in den Favelas von Ri
Die These, dass diese radikale, unumkehrbare Entwicklung eine positive ist - sowohl für die Migranten als auch für die Städte, in denen sie ankommen -, setzt Saunders- Buch von gern beschworenen Untergangsszenarien ab. Ob Migration funktioniert oder nicht, hat wenig mit kulturellen Klüften oder religiösen Gegensätzen zu tun. Die Ziele der Neuankömmlinge sind - egal aus welchem Land sie stammen oder in welche Stadt sie gehen - die gleichen. Doch ob sie Arbeit finden, soziale Netzwerke aufbauen, ihren Kindern Schulbildung und eine Zukunft ermöglichen können, hängt stark davon ab, ob die Stadt auf sie vorbereitet ist.Drei Jahre lang hat Saunders in Berlin-Kreuzberg, im Londoner East End und den Banlieues von Paris, in den Favelas von Rio de Janeiro und den Barrios in Los Angeles mit Menschen über ihre Lebenspläne und -wirklichkeiten gesprochen. Über zwanzig solcher Viertel, Rand- und Außenbezirke, diese Orte der Ankunft - Arrival Citys -, porträtiert Saunders in seinem Buch. Sein Fazit: Scheitert die Arrival City, wird sie zum sozialen Brennpunkt, zur Brutstätte von Kriminalität und hybridem Extremismus, zum Elendsviertel. Blüht sie auf, wird die Arrival City zur Geburtsstätte der neuen Mittelschicht, der stabilen Wirtschaft und des sozialen Friedens einer Stadt. hat wenig mit kulturellen Klüften oder religiösen Gegensätzen zu tun. Die Ziele der Neuankömmlinge sind - egal aus welchem Land sie stammen oder in welche Stadt sie gehen - die gleichen. Doch ob sie Arbeit finden, soziale Netzwerke aufbauen, ihren Kindern Schulbildung und eine Zukunft ermöglichen können, hängt stark davon ab, ob die Stadt auf sie vorbereitet ist.Drei Jahre lang hat Saunders in Berlin-Kreuzberg, im Londoner East End und den Banlieues von Paris, in den Favelas von Ri
Lese-Probe zu „Arrival City, deutsche Ausg. “
Arrival City von Doug Saunders1 AM STADTRAND
Liu Gong Li, China
Mit einem Dorf fängt es an. Das Dorf wirkt auf einen Außenstehenden festgefügt, zeitlos, ohne Bewegung oder Wandel und vom Rest der Welt isoliert. Wir ordnen es der Natur zu. Wer im Vorbeifahren einen flüchtigen Blick auf das Durcheinander niedriger Gebäude wirft, hält das Dorf für einen ruhigen Ort, der von geordneter, subtiler Schönheit geprägt ist. Wir stellen uns einen angenehmen Lebensrhythmus vor, der von den Belastungen der Moderne frei ist. Die kleine Ansammlung verwitterter Hütten schmiegt sich an den Kamm eines bescheidenen Tales. Ein paar Tiere bewegen sich in ihren Pferchen, Kinder rennen an einem Feld entlang, eine dünne Rauchwolke steigt aus einer der Hütten auf, ein alter Mann geht durch einen Waldstreifen auf dem Kamm und trägt einen Leinensack auf dem Rücken.
Der Mann heißt Xu Qin Quan, und er sucht ein Heilmittel. Er geht den uralten, mit Steinen befestigten Pfad hinab, vorbei an terrassenförmig angelegten Feldern und auf die kleine Lichtung auf dem Talboden zu, wie das die Mitglieder seiner Familie zehn Generationen lang getan haben. Hier findet er die Heilkräuter, die er seit seiner Kindheit kennt: die schlanken Stängel des ma huang, mit denen sich eine Erkältung ausschwitzen lässt, die belaubten Zweige des gou qi zi, die die Leber wieder in Ordnung bringen. Er schneidet die Stängel mit seinem Taschenmesser ab, steckt sie in den Sack und geht zum Kamm zurück. Dort bleibt er ein paar Augenblicke lang stehen und betrachtet die Staubwolken, die in nördlicher Richtung aufsteigen, wo ein Bautrupp die enge, holprige Straße in einen breiten, befestigten Boulevard verwandelt. Die Hin- und Rückreise in das in nördlicher Richtung liegende Chongqing, einst ein Ganztagesunternehmen, wird schon bald nicht mehr als zwei Stunden in
... mehr
Anspruch nehmen. Herr Xu beobachtet, wie die Staubwolken die Bäume in der Ferne ockergelb färben. Er denkt an die größeren Leiden, an den Schmerz, der ihnen das Leben zur Qual machte und ihre Kinder tötete, sie jahrzehntelang um das tägliche Essen bangen ließ, die Jahre lähmender Langeweile. An jenem Abend plädiert er bei einer Dorfversammlung für die umfassendere Kur. Ab morgen, sagt er, werden wir kein Dorf mehr sein.
Wir sind im Jahr 1995, und das Dorf heißt Liu Gong Li.
Jahrhundertelang hat sich nur ganz wenig an seinem äußeren Erscheinungsbild, am Leben in den Familien und beim ausschließlich in Handarbeit betriebenen Anbau von Weizen und Mais geändert. Seinen Namen, der »Sechs Kilometer« bedeutet, erhielt es während der Bauarbeiten an der Straße nach Burma, deren östlicher Endpunkt die große, im Binnenland gelegene Stadt Chongqing war. Der Name war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs jahrzehntelang eine Fiktion, denn die ursprüngliche Brücke in die große Stadt war bombardiert worden, und die nächstgelegene, viele Kilometer entfernte Ersatzlösung war so schwer zu passieren, dass die Reise unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sinnlos gewesen wäre, selbst wenn die Kommunistische Partei sie erlaubt hätte. Das kleine Dorf hatte keine Verbindung zu irgendeiner Stadt oder irgendeinem Markt. Es betrieb Subsistenzwirtschaft. Der Boden und die nur rudimentär ausgebildeten Anbaumethoden lieferten niemals so viele Nahrungsmittel, dass es für alle Dorfbewohner reichte. Alle paar Jahre lösten die Wechselfälle der Witterung und der Politik eine Hungersnot aus, und es starben Menschen, Kinder hungerten. In den fürchterlichen Jahren von 1959 bis 1961 verlor das Dorf einen großen Teil seiner Bevölkerung. Die Hungersnot endete erst zwei Jahrzehnte später, an ihre Stelle trat eine den allerdringendsten Bedarf deckende, leidenschaftslos hingenommene Abhängigkeit von Subventionen der Regierung. Die Menschen in Liu Gong Li empfinden das Leben auf dem Lande - wie andere Dorfbewohner in aller Welt - nicht als ruhig oder natürlich oder in anderer Weise positiv, sondern als monotones, Furcht erregendes Glücksspiel. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, als China eine eigene Spielart des Kapitalismus entwickelte, wurde den Dorfbewohnern plötzlich gestattet, nicht anbaufähiges Land für Marktzwecke zu erschließen. Als Herr Xu seinen Lösungsvorschlag unterbreitete, herrschte deshalb Einigkeit: Das gesamte verfügbare Land würde als nicht anbaufähig bezeichnet werden. Ab diesem Augenblick war der Ort kein Dorf mehr, sondern wurde zum Zielort für Dorfbewohner.
Fünfzehn Jahre später erscheint Liu Gong Li als Gespenst in Sichtweite eines vielbefahrenen vierspurigen Boulevards, einen Kilometer vor den Toren der Stadt: Inmitten eines Wohnblockwaldes entfaltet sich ein flirrendes Trugbild aus grauen und braunen Würfeln, das sich über die Hänge ergießt, so weit das Auge reicht, eine gänzlich willkürlich anmutende Anordnung von Kristallen, die die Landschaft völlig verdeckt. Aus der Nähe betrachtet werden die Kristalle zu Häusern und Ladengeschäften, ungleichmäßig geformten, zwei- oder dreistöckigen Beton- und Backsteinbauten, die ihre Bewohner ohne Bauplan oder -genehmigung errichtet haben. Sie überragen sich gegenseitig und bilden unwahrscheinlich anmutende Winkel. Herrn Xus Dorf mit seinen ursprünglich 70 Bewohnern hatte innerhalb von zehn Jahren nach der Annahme seines Vorschlags mehr als 10 000 Einwohner hinzugewonnen; innerhalb von zwölf Jahren hatte es sich mit benachbarten ehemaligen Dörfern zu einem Ballungsraum von 120 000 Menschen vereinigt, von denen nur wenige offiziell als Einwohner gemeldet waren. Es ist kein abgelegenes Dorf mehr, auch kein Vorort am äußersten Stadtrand, sondern ein wichtiger, integraler Bestandteil von Chongqing, einer Stadt mit rund zehn Millionen Einwohnern, die sich auf einer und um eine von Wolkenkratzern dominierten Halbinsel zusammendrängen. Diese gleicht Manhattan sowohl in der Bevölkerungsdichte wie auch in der Lebensenergie. Jedes Jahr kommen 200 000 Menschen hinzu, und angesichts von vier Millionen nicht gemeldeten Migranten im Stadtgebiet haben wir es hier sehr wahrscheinlich mit der am schnellsten wachsenden Stadt der Welt zu tun.
Dieses Wachstum wird zum größten Teil von der Vervielfachung von Orten wie Liu Gong Li angetrieben, den von den Bewohnern selbst errichteten Ansiedlungen von Landflüchtlingen, die in China selbst einfach als städtische »Dörfer« (cun) bezeichnet werden. Hunderte von Orten dieser Art wachsen im gesamten Stadtrandgebiet heran, auch wenn die Stadtverwaltung sie nicht zur Kenntnis nimmt. Ihre Straßen und Häuserblocks werden strikt nach den Dörfern und Regionen organisiert, aus denen die Bewohner stammen. Letztere bezeichnen ihre städtischen Nachbarn, die aus denselben ländlichen Gebieten stammen, als tongxiang - wörtlich: »Freunde«. In ganz China ziehen Jahr für Jahr mindestens 40 Millionen Bauern in diese städtischen Enklaven. Ein großer Teil von ihnen - möglicherweise bis zur Hälfte - kehrt allerdings ins Heimatdorf zurück, aus Not, Verzweiflung oder aufgrund einer persönlichen Entscheidung. Wer bleibt, ist meist fest entschlossen, auch durchzuhalten. Aus der Sicht eines Außenstehenden ist Liu Gong Li ein übel riechender Slum. Der alte Pfad ins Tal ist heute eine geschäftige Straße, die von einem Durcheinander bunt zusammengewürfelter Häuser gebildet wird. Der unbefestigte Weg wird gesäumt von Telefonläden, Metzgern, Imbissstuben, die ihre Gerichte in riesigen, dampfenden, mit scharfen Paprikaschoten gefüllten Woks zubereiten, fliegenden Händlern, die Kleider oder Werkzeuge verkaufen, man sieht schnell rotierende Garnrollen, eine geschäftige Kakofonie, die sich zwei Kilometer weit windet, in verwirrende Seitenwege hinein und auf gewundene Treppen, deren eigenwillige Bauweise einem auf den Kopf gestellten Holzschnitt von M. C. Escher gleicht. Strom- und Fernsehkabel sind allgegenwärtig; aus dem Beton fließt das Abwasser an den Seiten der Gebäude hinab, ergießt sich über offene Abflussrinnen in einen fürchterlich stinkenden Fluss, der unter den Betonbrücken im Talgrund durchfließt. Überall liegen Abfall und Unrat herum und türmen sich hinter den Häusern zu kleinen Bergen. Ein Chaos aus Fahrzeugen mit zwei, drei oder vier Rädern verstopft jeden Weg. Hier gibt es keinen Raum ohne Menschen, ohne Tätigkeit, und nirgendwo ist ein Stückchen Grün zu sehen. Aus diesem Blickwinkel wirkt das möglicherweise wie eine höllische Zuflucht für die Armen, wie ein allerletzter Landeplatz für die gescheiterten Ausgestoßenen einer gewaltigen Nation - ein Ort für diejenigen, die einen Abstieg durchmachen.
Der wahre Charakter von Orten wie Liu Gong Li erschließt sich, wenn man den Hauptweg verlässt und durch die unbefestigten Nebenwege geht, die ins Tal hinabführen. Hinter jedem Fenster, hinter jeder groben Öffnung im Beton herrscht ein geschäftiges Treiben. Auf dem Talkamm, ganz in der Nähe der Stelle, an der Herr Xu im Jahr 1995 seine große Entscheidung traf, wird man zu einem lärmigen Betonrechteck hingezogen, das an einer abschüssigen Kante steht und einen angenehmen Zedernduft verströmt. Es ist das Wohnund Arbeitshaus des 39 Jahre alten Herrn Wang und seiner Familie. Herr Wang zog vor vier Jahren mit 700 Yuan (etwa 100 Dollar)* in der Tasche, dem Geld, das er in zwei Arbeitsjahren als Schreiner zusammengespart hatte, aus dem 80 Kilometer entfernten Dorf Nan Chung hierher. Er mietete ein winziges Zimmer, sammelte etwas Abfallholz und Eisen und begann dann in Handarbeit mit der Herstellung traditioneller chinesischer Holzbadewannen, die bei der neuen Mittelschicht inzwischen sehr beliebt sind. Für eine Wanne brauchte er zwei Tage und verkaufte das fertige Produkt mit einem Gewinn von jeweils 50 Yuan (7,30 Dollar). Nach einem Jahr hatte er genug verdient, um sich elektrische Werkzeuge und einen größeren Laden leisten zu können. Er holte seine Frau, seinen Sohn, dessen Frau und den kleinen Enkelsohn nach. Die ganze Familie schläft, kocht, wäscht sich und isst in einem rückwärtigen, fensterlosen Raum hinter einem Plastikvorhang, an einem Ort, der noch ungeschützter ist und noch weniger Platz bietet als die Lehmbodenhütte, in der sie es auf dem Dorf miteinander aushalten mussten.
Aber von Rückkehr ist nicht die Rede. Das hier ist, dem Unrat und allem anderen zum Trotz, das bessere Leben. »Hier kann man seine Enkel zu erfolgreichen Menschen machen, wenn man die richtige Verdienstmöglichkeit findet. Auf dem Dorf kann man nur leben«, sagt Herr Wang in seinem lauten Sichuan-Dialekt und legt dabei ein Eisenband um eine Wanne. »Nach meiner Schätzung hat sich etwa ein Fünftel der Leute, die mein Dorf verlassen haben, selbstständig gemacht. Und fast alle haben das Dorf verlassen, nur die alten Leute sind noch dort. Es ist zum Geisterdorf geworden.« Herr Wang und seine Frau überweisen nach wie vor ein Drittel ihrer Einkünfte in ihr Heimatdorf und unterstützen damit ihre beiden noch lebenden Eltern, und im Vorjahr kaufte er ein kleines Restaurant unten in Liu Gong Li, das sein Sohn dann übernahm. Herrn Wangs Gewinnspannen sind winzig, denn der Wettbewerb ist sehr hart: In Chongqing gibt es noch zwölf weitere Holzbadewannenwerkstätten, eine davon ebenfalls in Liu Gong Li ansässig. »Meine produziert die meisten Wannen«, sagt er, »aber wir sind nicht unbedingt der profitabelste Betrieb.« Also werden noch Jahre des Sparens anstehen, und die Wangs müssen auf eine günstige Entwicklung auf dem Badewannenmarkt hoffen, bevor sie sich eine Wohnung kaufen, ihren Enkel auf die Universität schicken und Liu Gong Li hinter sich lassen können - obwohl es sich bis dahin, falls der Traum wahr wird, zu einem Ort entwickelt haben könnte, an dem sie gerne bleiben würden. Auf dem Weg ins Tal erweist sich der graue Kubismus als Flickenteppich aus winzigen, offiziell gar nicht existierenden Betrieben, die hinter behelfsmäßig zusammengebauten Betonslum- Gebäuden verborgen sind. Unterhalb der Badewannenwerkstatt liegt, direkt an der Straße, ein außergewöhnlich geräuschvoller Ort, an dem 20 Beschäftigte metallene Sicherheitsgeländer herstellen; ein Stück weiter stößt man auf einen Betrieb, der maßgefertigte Kühlräume herstellt. Eine Werkstatt für Pulverlackmischungen; einen Betrieb, der mit einem halben Dutzend schwerer Maschinen computergesteuerte Stickmuster ausstößt; eine Fabrik für Elektromotorwinden; einen sauer riechenden Ort, an dem Arbeiter, die kaum im Teenageralter sind, an Heißsiegelmaschinen aufblasbares Strandspielzeug herstellen; man trifft auf ähnlich organisierte Familienbetriebe aus allen Branchen, sie produzieren Ladendisplays, PVC-Fensterrahmen, im Strangpressverfahren hergestellte Rohrleitungen für Klimaanlagen, billige Holzschränkchen, reich verzierte hölzerne Bettgestelle, Hochspannungs-Transformatoren, Motorradteile, die an computergesteuerten Dreh- und Fräsmaschinen entstehen, und Restaurant-Dunstabzugshauben aus rostfreiem Stahl. Diese Betriebe, deren Produkte meist für asiatische Kunden bestimmt sind, wurden alle im Lauf der letzten zehn, zwölf Jahre von Dorfbewohnern gegründet, die sich hier niederließen, oder von ehemaligen Beschäftigten der ersten Zuwanderungswelle von Dörflern.
In jedem unverputzten, ungestrichenen Betonwürfel regiert derselbe Rhythmus von Ankunft, Existenzkampf, Erwirtschaftung des Lebensunterhalts, Sparen, Planen, Kalkulieren. Alle Bewohner von Liu Gong Li - und alle 120 000 Menschen auf diesem Streifen Land - kamen nach 1995 aus einer ländlich-dörflichen Umgebung hierher. Alle, die länger als ein paar Monate hierbleiben, haben beschlossen, sich langfristig niederzulassen und dem Schmutz, der Enge und den Widrigkeiten des Alltagslebens zu trotzen, auch wenn sie ihre Kinder oft bei Familienangehörigen auf dem Dorf zurücklassen müssen. Sie haben für sich entschieden, dass dies das bessere Leben ist. Die meisten von ihnen haben eine außerordentlich lange Odyssee der Selbstverleugnung und harten Entbehrungen auf sich genommen. Fast alle schicken Geld - und ziemlich häufig fast ihre ganzen Einkünfte - zur Unterstützung der Angehörigen ins Dorf zurück und sparen einen Teil davon hier in der Stadt für die Ausbildung ihrer Kinder. Alle sind mit täglichen Berechnungen beschäftigt, in denen die unerträgliche Last ländlicher Entbehrungen eine Rolle spielt, die kaum aufzubringenden Kosten des entwickelten Großstadtlebens und der brüchige Pfad der Lebenschancen, der eines Tages eine Verbindung zwischen den beiden Bereichen bilden könnte.
Mit anderen Worten: Die Ankunft ist die wichtigste Funktion dieses Ortes. Wie Millionen andere neue und periphere städtische Wohnviertel erfüllt Liu Gong Li eine Reihe besonderer Funktionen. Es ist mehr als nur ein Ort zum Leben und Arbeiten, Schlafen, Essen und Einkaufen. Es ist in allererster Linie ein Ort des Übergangs. Fast alle wichtigen Aktivitäten, die sich am Ort entfalten und über das bloße Überleben hinausgehen, haben zum Ziel, Dorfbewohner, ja sogar ganze Dörfer in die städtische Umgebung einzuführen, ins Zentrum des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, in das Bildungswesen, die Akkulturation und Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, in einen nachhaltigen Wohlstand. In der Ankunftsstadt wohnen einerseits Menschen, die sich in einer Übergangsphase befinden - denn sie macht aus Außenseitern »mittendrin« lebende Stadtbewohner mit einer auf Langfristigkeit angelegten sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zukunft -, andererseits ist sie selbst ein Ort, der eine Übergangszeit durchmacht, denn ihre Straßen, Häuser und fest etablierten Familien werden eines Tages entweder zur Kernstadt gehören, oder sie werden scheitern, einen Abstieg in die Armut erleben oder zerstört werden.
Die Ankunftsstadt kann leicht von anderen städtischen Wohnbezirken unterschieden werden, nicht nur wegen ihrer Bewohner, den Zuwanderern vom Land, und aufgrund ihres improvisierten Erscheinungsbildes und fortdauernden Wandels, sondern auch aufgrund der ständigen Verbindungen, die es aus jeder Straße, jedem Haus und jedem Arbeitsplatz in zwei Richtungen gibt. Sie ist dauerhaft und intensiv mit den Herkunftsdörfern verbunden, Menschen, Geld und Wissen werden ständig hin und her geschickt. Das ermöglicht die nächste Zuwanderungswelle aus dem Dorf, erleichtert innerhalb des Dorfes die Fürsorge für die älteren wie auch die Ausbildung der jüngeren Generationen und finanziert die Verbesserung der Infrastruktur im Ort. Und sie unterhält wichtige und äußerst enge Verbindungen zur etablierten Stadt. Ihre politischen Institutionen, Geschäftsbeziehungen, sozialen Netzwerke und Transaktionen bilden eine am Rand der größeren Gesellschaft liegende Ausgangsbasis, die - bei aller Zerbrechlichkeit - den Neuankömmlingen Halt bietet. Von dort aus können sie sich selbst und ihre Kinder voranbringen, weiter in Richtung Zentrum, hin zur gesellschaftlichen Anerkennung und zu guten Verbindungen. Liu Gong Li tut vielerlei, verkauft viele Waren und beherbergt viele Menschen, aber alles geschieht mit einem übergreifenden Ziel, für ein Projekt, das sein aberwitziges Spektrum von Aktivitäten unter einen Hut bringt. Liu Gong Li ist eine Ankunftsstadt. Hier, an der Peripherie, liegt der neue Mittelpunkt der Welt.
Ein kurzer Fußmarsch führt von der mit Betriebsanlagen zugebauten Talsohle auf der gewundenen Schotterstraße zum Talkamm hinauf. Dort stößt man auf eine besonders dichte Zusammenballung von Betongebäuden. Biegt man hinter einem kleinen Restaurant in eine schmale Gasse ab, gelangt man durch ein von hohen Mauern umgebenes Labyrinth von Tunnels und engen Durchgängen in einen kleinen grauen Hof. Mitten im Chaos des Slums ist dies ein ruhiger Ort, an dem man einen kleinen Tisch mit niedrigen Holzstühlen vorfindet. Die Luft ist erfüllt von den durchdringenden Gerüchen der Sichuan-Küche und den fernen Geräuschen von Motoren, dem Weinen von Babys, gerufenen Befehlen, Hupen. Neben dem Tisch kauert ein alter Mann.
Copyright © der Originalausgabe 2011 by Doug Saunders
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Karl Blessing Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Wir sind im Jahr 1995, und das Dorf heißt Liu Gong Li.
Jahrhundertelang hat sich nur ganz wenig an seinem äußeren Erscheinungsbild, am Leben in den Familien und beim ausschließlich in Handarbeit betriebenen Anbau von Weizen und Mais geändert. Seinen Namen, der »Sechs Kilometer« bedeutet, erhielt es während der Bauarbeiten an der Straße nach Burma, deren östlicher Endpunkt die große, im Binnenland gelegene Stadt Chongqing war. Der Name war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs jahrzehntelang eine Fiktion, denn die ursprüngliche Brücke in die große Stadt war bombardiert worden, und die nächstgelegene, viele Kilometer entfernte Ersatzlösung war so schwer zu passieren, dass die Reise unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sinnlos gewesen wäre, selbst wenn die Kommunistische Partei sie erlaubt hätte. Das kleine Dorf hatte keine Verbindung zu irgendeiner Stadt oder irgendeinem Markt. Es betrieb Subsistenzwirtschaft. Der Boden und die nur rudimentär ausgebildeten Anbaumethoden lieferten niemals so viele Nahrungsmittel, dass es für alle Dorfbewohner reichte. Alle paar Jahre lösten die Wechselfälle der Witterung und der Politik eine Hungersnot aus, und es starben Menschen, Kinder hungerten. In den fürchterlichen Jahren von 1959 bis 1961 verlor das Dorf einen großen Teil seiner Bevölkerung. Die Hungersnot endete erst zwei Jahrzehnte später, an ihre Stelle trat eine den allerdringendsten Bedarf deckende, leidenschaftslos hingenommene Abhängigkeit von Subventionen der Regierung. Die Menschen in Liu Gong Li empfinden das Leben auf dem Lande - wie andere Dorfbewohner in aller Welt - nicht als ruhig oder natürlich oder in anderer Weise positiv, sondern als monotones, Furcht erregendes Glücksspiel. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, als China eine eigene Spielart des Kapitalismus entwickelte, wurde den Dorfbewohnern plötzlich gestattet, nicht anbaufähiges Land für Marktzwecke zu erschließen. Als Herr Xu seinen Lösungsvorschlag unterbreitete, herrschte deshalb Einigkeit: Das gesamte verfügbare Land würde als nicht anbaufähig bezeichnet werden. Ab diesem Augenblick war der Ort kein Dorf mehr, sondern wurde zum Zielort für Dorfbewohner.
Fünfzehn Jahre später erscheint Liu Gong Li als Gespenst in Sichtweite eines vielbefahrenen vierspurigen Boulevards, einen Kilometer vor den Toren der Stadt: Inmitten eines Wohnblockwaldes entfaltet sich ein flirrendes Trugbild aus grauen und braunen Würfeln, das sich über die Hänge ergießt, so weit das Auge reicht, eine gänzlich willkürlich anmutende Anordnung von Kristallen, die die Landschaft völlig verdeckt. Aus der Nähe betrachtet werden die Kristalle zu Häusern und Ladengeschäften, ungleichmäßig geformten, zwei- oder dreistöckigen Beton- und Backsteinbauten, die ihre Bewohner ohne Bauplan oder -genehmigung errichtet haben. Sie überragen sich gegenseitig und bilden unwahrscheinlich anmutende Winkel. Herrn Xus Dorf mit seinen ursprünglich 70 Bewohnern hatte innerhalb von zehn Jahren nach der Annahme seines Vorschlags mehr als 10 000 Einwohner hinzugewonnen; innerhalb von zwölf Jahren hatte es sich mit benachbarten ehemaligen Dörfern zu einem Ballungsraum von 120 000 Menschen vereinigt, von denen nur wenige offiziell als Einwohner gemeldet waren. Es ist kein abgelegenes Dorf mehr, auch kein Vorort am äußersten Stadtrand, sondern ein wichtiger, integraler Bestandteil von Chongqing, einer Stadt mit rund zehn Millionen Einwohnern, die sich auf einer und um eine von Wolkenkratzern dominierten Halbinsel zusammendrängen. Diese gleicht Manhattan sowohl in der Bevölkerungsdichte wie auch in der Lebensenergie. Jedes Jahr kommen 200 000 Menschen hinzu, und angesichts von vier Millionen nicht gemeldeten Migranten im Stadtgebiet haben wir es hier sehr wahrscheinlich mit der am schnellsten wachsenden Stadt der Welt zu tun.
Dieses Wachstum wird zum größten Teil von der Vervielfachung von Orten wie Liu Gong Li angetrieben, den von den Bewohnern selbst errichteten Ansiedlungen von Landflüchtlingen, die in China selbst einfach als städtische »Dörfer« (cun) bezeichnet werden. Hunderte von Orten dieser Art wachsen im gesamten Stadtrandgebiet heran, auch wenn die Stadtverwaltung sie nicht zur Kenntnis nimmt. Ihre Straßen und Häuserblocks werden strikt nach den Dörfern und Regionen organisiert, aus denen die Bewohner stammen. Letztere bezeichnen ihre städtischen Nachbarn, die aus denselben ländlichen Gebieten stammen, als tongxiang - wörtlich: »Freunde«. In ganz China ziehen Jahr für Jahr mindestens 40 Millionen Bauern in diese städtischen Enklaven. Ein großer Teil von ihnen - möglicherweise bis zur Hälfte - kehrt allerdings ins Heimatdorf zurück, aus Not, Verzweiflung oder aufgrund einer persönlichen Entscheidung. Wer bleibt, ist meist fest entschlossen, auch durchzuhalten. Aus der Sicht eines Außenstehenden ist Liu Gong Li ein übel riechender Slum. Der alte Pfad ins Tal ist heute eine geschäftige Straße, die von einem Durcheinander bunt zusammengewürfelter Häuser gebildet wird. Der unbefestigte Weg wird gesäumt von Telefonläden, Metzgern, Imbissstuben, die ihre Gerichte in riesigen, dampfenden, mit scharfen Paprikaschoten gefüllten Woks zubereiten, fliegenden Händlern, die Kleider oder Werkzeuge verkaufen, man sieht schnell rotierende Garnrollen, eine geschäftige Kakofonie, die sich zwei Kilometer weit windet, in verwirrende Seitenwege hinein und auf gewundene Treppen, deren eigenwillige Bauweise einem auf den Kopf gestellten Holzschnitt von M. C. Escher gleicht. Strom- und Fernsehkabel sind allgegenwärtig; aus dem Beton fließt das Abwasser an den Seiten der Gebäude hinab, ergießt sich über offene Abflussrinnen in einen fürchterlich stinkenden Fluss, der unter den Betonbrücken im Talgrund durchfließt. Überall liegen Abfall und Unrat herum und türmen sich hinter den Häusern zu kleinen Bergen. Ein Chaos aus Fahrzeugen mit zwei, drei oder vier Rädern verstopft jeden Weg. Hier gibt es keinen Raum ohne Menschen, ohne Tätigkeit, und nirgendwo ist ein Stückchen Grün zu sehen. Aus diesem Blickwinkel wirkt das möglicherweise wie eine höllische Zuflucht für die Armen, wie ein allerletzter Landeplatz für die gescheiterten Ausgestoßenen einer gewaltigen Nation - ein Ort für diejenigen, die einen Abstieg durchmachen.
Der wahre Charakter von Orten wie Liu Gong Li erschließt sich, wenn man den Hauptweg verlässt und durch die unbefestigten Nebenwege geht, die ins Tal hinabführen. Hinter jedem Fenster, hinter jeder groben Öffnung im Beton herrscht ein geschäftiges Treiben. Auf dem Talkamm, ganz in der Nähe der Stelle, an der Herr Xu im Jahr 1995 seine große Entscheidung traf, wird man zu einem lärmigen Betonrechteck hingezogen, das an einer abschüssigen Kante steht und einen angenehmen Zedernduft verströmt. Es ist das Wohnund Arbeitshaus des 39 Jahre alten Herrn Wang und seiner Familie. Herr Wang zog vor vier Jahren mit 700 Yuan (etwa 100 Dollar)* in der Tasche, dem Geld, das er in zwei Arbeitsjahren als Schreiner zusammengespart hatte, aus dem 80 Kilometer entfernten Dorf Nan Chung hierher. Er mietete ein winziges Zimmer, sammelte etwas Abfallholz und Eisen und begann dann in Handarbeit mit der Herstellung traditioneller chinesischer Holzbadewannen, die bei der neuen Mittelschicht inzwischen sehr beliebt sind. Für eine Wanne brauchte er zwei Tage und verkaufte das fertige Produkt mit einem Gewinn von jeweils 50 Yuan (7,30 Dollar). Nach einem Jahr hatte er genug verdient, um sich elektrische Werkzeuge und einen größeren Laden leisten zu können. Er holte seine Frau, seinen Sohn, dessen Frau und den kleinen Enkelsohn nach. Die ganze Familie schläft, kocht, wäscht sich und isst in einem rückwärtigen, fensterlosen Raum hinter einem Plastikvorhang, an einem Ort, der noch ungeschützter ist und noch weniger Platz bietet als die Lehmbodenhütte, in der sie es auf dem Dorf miteinander aushalten mussten.
Aber von Rückkehr ist nicht die Rede. Das hier ist, dem Unrat und allem anderen zum Trotz, das bessere Leben. »Hier kann man seine Enkel zu erfolgreichen Menschen machen, wenn man die richtige Verdienstmöglichkeit findet. Auf dem Dorf kann man nur leben«, sagt Herr Wang in seinem lauten Sichuan-Dialekt und legt dabei ein Eisenband um eine Wanne. »Nach meiner Schätzung hat sich etwa ein Fünftel der Leute, die mein Dorf verlassen haben, selbstständig gemacht. Und fast alle haben das Dorf verlassen, nur die alten Leute sind noch dort. Es ist zum Geisterdorf geworden.« Herr Wang und seine Frau überweisen nach wie vor ein Drittel ihrer Einkünfte in ihr Heimatdorf und unterstützen damit ihre beiden noch lebenden Eltern, und im Vorjahr kaufte er ein kleines Restaurant unten in Liu Gong Li, das sein Sohn dann übernahm. Herrn Wangs Gewinnspannen sind winzig, denn der Wettbewerb ist sehr hart: In Chongqing gibt es noch zwölf weitere Holzbadewannenwerkstätten, eine davon ebenfalls in Liu Gong Li ansässig. »Meine produziert die meisten Wannen«, sagt er, »aber wir sind nicht unbedingt der profitabelste Betrieb.« Also werden noch Jahre des Sparens anstehen, und die Wangs müssen auf eine günstige Entwicklung auf dem Badewannenmarkt hoffen, bevor sie sich eine Wohnung kaufen, ihren Enkel auf die Universität schicken und Liu Gong Li hinter sich lassen können - obwohl es sich bis dahin, falls der Traum wahr wird, zu einem Ort entwickelt haben könnte, an dem sie gerne bleiben würden. Auf dem Weg ins Tal erweist sich der graue Kubismus als Flickenteppich aus winzigen, offiziell gar nicht existierenden Betrieben, die hinter behelfsmäßig zusammengebauten Betonslum- Gebäuden verborgen sind. Unterhalb der Badewannenwerkstatt liegt, direkt an der Straße, ein außergewöhnlich geräuschvoller Ort, an dem 20 Beschäftigte metallene Sicherheitsgeländer herstellen; ein Stück weiter stößt man auf einen Betrieb, der maßgefertigte Kühlräume herstellt. Eine Werkstatt für Pulverlackmischungen; einen Betrieb, der mit einem halben Dutzend schwerer Maschinen computergesteuerte Stickmuster ausstößt; eine Fabrik für Elektromotorwinden; einen sauer riechenden Ort, an dem Arbeiter, die kaum im Teenageralter sind, an Heißsiegelmaschinen aufblasbares Strandspielzeug herstellen; man trifft auf ähnlich organisierte Familienbetriebe aus allen Branchen, sie produzieren Ladendisplays, PVC-Fensterrahmen, im Strangpressverfahren hergestellte Rohrleitungen für Klimaanlagen, billige Holzschränkchen, reich verzierte hölzerne Bettgestelle, Hochspannungs-Transformatoren, Motorradteile, die an computergesteuerten Dreh- und Fräsmaschinen entstehen, und Restaurant-Dunstabzugshauben aus rostfreiem Stahl. Diese Betriebe, deren Produkte meist für asiatische Kunden bestimmt sind, wurden alle im Lauf der letzten zehn, zwölf Jahre von Dorfbewohnern gegründet, die sich hier niederließen, oder von ehemaligen Beschäftigten der ersten Zuwanderungswelle von Dörflern.
In jedem unverputzten, ungestrichenen Betonwürfel regiert derselbe Rhythmus von Ankunft, Existenzkampf, Erwirtschaftung des Lebensunterhalts, Sparen, Planen, Kalkulieren. Alle Bewohner von Liu Gong Li - und alle 120 000 Menschen auf diesem Streifen Land - kamen nach 1995 aus einer ländlich-dörflichen Umgebung hierher. Alle, die länger als ein paar Monate hierbleiben, haben beschlossen, sich langfristig niederzulassen und dem Schmutz, der Enge und den Widrigkeiten des Alltagslebens zu trotzen, auch wenn sie ihre Kinder oft bei Familienangehörigen auf dem Dorf zurücklassen müssen. Sie haben für sich entschieden, dass dies das bessere Leben ist. Die meisten von ihnen haben eine außerordentlich lange Odyssee der Selbstverleugnung und harten Entbehrungen auf sich genommen. Fast alle schicken Geld - und ziemlich häufig fast ihre ganzen Einkünfte - zur Unterstützung der Angehörigen ins Dorf zurück und sparen einen Teil davon hier in der Stadt für die Ausbildung ihrer Kinder. Alle sind mit täglichen Berechnungen beschäftigt, in denen die unerträgliche Last ländlicher Entbehrungen eine Rolle spielt, die kaum aufzubringenden Kosten des entwickelten Großstadtlebens und der brüchige Pfad der Lebenschancen, der eines Tages eine Verbindung zwischen den beiden Bereichen bilden könnte.
Mit anderen Worten: Die Ankunft ist die wichtigste Funktion dieses Ortes. Wie Millionen andere neue und periphere städtische Wohnviertel erfüllt Liu Gong Li eine Reihe besonderer Funktionen. Es ist mehr als nur ein Ort zum Leben und Arbeiten, Schlafen, Essen und Einkaufen. Es ist in allererster Linie ein Ort des Übergangs. Fast alle wichtigen Aktivitäten, die sich am Ort entfalten und über das bloße Überleben hinausgehen, haben zum Ziel, Dorfbewohner, ja sogar ganze Dörfer in die städtische Umgebung einzuführen, ins Zentrum des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, in das Bildungswesen, die Akkulturation und Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, in einen nachhaltigen Wohlstand. In der Ankunftsstadt wohnen einerseits Menschen, die sich in einer Übergangsphase befinden - denn sie macht aus Außenseitern »mittendrin« lebende Stadtbewohner mit einer auf Langfristigkeit angelegten sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zukunft -, andererseits ist sie selbst ein Ort, der eine Übergangszeit durchmacht, denn ihre Straßen, Häuser und fest etablierten Familien werden eines Tages entweder zur Kernstadt gehören, oder sie werden scheitern, einen Abstieg in die Armut erleben oder zerstört werden.
Die Ankunftsstadt kann leicht von anderen städtischen Wohnbezirken unterschieden werden, nicht nur wegen ihrer Bewohner, den Zuwanderern vom Land, und aufgrund ihres improvisierten Erscheinungsbildes und fortdauernden Wandels, sondern auch aufgrund der ständigen Verbindungen, die es aus jeder Straße, jedem Haus und jedem Arbeitsplatz in zwei Richtungen gibt. Sie ist dauerhaft und intensiv mit den Herkunftsdörfern verbunden, Menschen, Geld und Wissen werden ständig hin und her geschickt. Das ermöglicht die nächste Zuwanderungswelle aus dem Dorf, erleichtert innerhalb des Dorfes die Fürsorge für die älteren wie auch die Ausbildung der jüngeren Generationen und finanziert die Verbesserung der Infrastruktur im Ort. Und sie unterhält wichtige und äußerst enge Verbindungen zur etablierten Stadt. Ihre politischen Institutionen, Geschäftsbeziehungen, sozialen Netzwerke und Transaktionen bilden eine am Rand der größeren Gesellschaft liegende Ausgangsbasis, die - bei aller Zerbrechlichkeit - den Neuankömmlingen Halt bietet. Von dort aus können sie sich selbst und ihre Kinder voranbringen, weiter in Richtung Zentrum, hin zur gesellschaftlichen Anerkennung und zu guten Verbindungen. Liu Gong Li tut vielerlei, verkauft viele Waren und beherbergt viele Menschen, aber alles geschieht mit einem übergreifenden Ziel, für ein Projekt, das sein aberwitziges Spektrum von Aktivitäten unter einen Hut bringt. Liu Gong Li ist eine Ankunftsstadt. Hier, an der Peripherie, liegt der neue Mittelpunkt der Welt.
Ein kurzer Fußmarsch führt von der mit Betriebsanlagen zugebauten Talsohle auf der gewundenen Schotterstraße zum Talkamm hinauf. Dort stößt man auf eine besonders dichte Zusammenballung von Betongebäuden. Biegt man hinter einem kleinen Restaurant in eine schmale Gasse ab, gelangt man durch ein von hohen Mauern umgebenes Labyrinth von Tunnels und engen Durchgängen in einen kleinen grauen Hof. Mitten im Chaos des Slums ist dies ein ruhiger Ort, an dem man einen kleinen Tisch mit niedrigen Holzstühlen vorfindet. Die Luft ist erfüllt von den durchdringenden Gerüchen der Sichuan-Küche und den fernen Geräuschen von Motoren, dem Weinen von Babys, gerufenen Befehlen, Hupen. Neben dem Tisch kauert ein alter Mann.
Copyright © der Originalausgabe 2011 by Doug Saunders
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Karl Blessing Verlag, München,
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Autoren-Porträt von Doug Saunders
Doug Saunders, Jahrgang 1967, ist kanadisch-britischer Autor und Journalist. Für seine Reportagen und Kolumnen wurde er bislang vier Mal mit dem National Newspaper Award ausgezeichnet, dem kanadischen Pendant des Pulitzers. Saunders leitet derzeit das Europabüro der zweitgrößten kanadischen Tageszeitung Globe and Mail in London.Werner Roller, geb. 1954, studierte Germanistik und Sportwissenschaft.
Bibliographische Angaben
- Autor: Doug Saunders
- 2011, 572 Seiten, Maße: 14,7 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Roller, Werner
- Übersetzer: Werner Roller
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896673920
- ISBN-13: 9783896673923
Rezension zu „Arrival City, deutsche Ausg. “
"DAS Zukunftsbuch 2012: Arrival City."
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