Herzstoß
Die Kanadierin Marcy Taggart hat schwere Zeiten hinter sich. Vor zwei Jahren ertrank ihre Tochter unter ungeklärten Umständen. Die Leiche blieb verschwunden.
Noch immer klammert sich Marcy an die Hoffnung, dass ihre Tochter...
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Produktinformationen zu „Herzstoß “
Die Kanadierin Marcy Taggart hat schwere Zeiten hinter sich. Vor zwei Jahren ertrank ihre Tochter unter ungeklärten Umständen. Die Leiche blieb verschwunden.
Noch immer klammert sich Marcy an die Hoffnung, dass ihre Tochter Devon noch leben könnte. Da trifft sie ein neuer Schicksalsschlag: ihr Mann Peter verlässt sie. Trotzdem tritt sie eine gemeinsam geplante Reise nach Irland nun alleine an. Und da geschieht das Unfassbare: In einem Pub in Cork glaubt sie, ihre Tochter erkannt zu haben. Sie mietet sich in eine Pension ein und folgt widersprüchlichen Hinweisen nach Devon. Während sie ihren Recherchen nachgeht, wird ihr Zimmer durchsucht. Irgendjemand will offensichtlich verhindern, dass sie das Schicksal ihrer Tochter aufklärt.
SPIEGEL Bestseller!
Klappentext zu „Herzstoß “
Die Hoffnung stirbt nie. Sie tötet Marcy Taggart, die in Toronto lebt, hat schwere Zeiten hinter sich. Zwei Jahre zuvor ertrank ihre Tochter Devon unter rätselhaften Umständen. Obwohl die Leiche nie auftauchte, gilt Devon als tot, doch Marcy klammert sich an die irreale Überzeugung, dass ihre Tochter eines Tages zu ihr zurückkehrt. Als ihr Mann Peter sie dann auch noch verlässt, hat Marcy nichts mehr, worauf sie noch vertrauen kann im Leben. Dennoch entschließt sie sich, die gemeinsam geplante Reise nach Irland alleine anzutreten. Und dort geschieht etwas Unfassbares, denn sie glaubt, in einem Pub in Cork die Silhouette ihrer Tochter gesehen zu haben. Marcy mietet sich in einer kleinen Pension ein, besessen von dem Gedanken, Devon endlich zu finden. Doch während sie noch damit beschäftigt ist, widersprüchlichen Hinweisen zu folgen, wird ihr Zimmer völlig verwüstet. Hat sie einen unsichtbaren Feind, der verhindern will, dass sie dem rätselhaften Schicksal ihrer Tochter auf den Grund kommt? Noch kann Marcy nicht ahnen, dass sie in Geschehnisse verwickelt werden wird, die sie fast das Leben kosten ...
Lese-Probe zu „Herzstoß “
Herzstoß von Joy FieldingKAPITEL EINS
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»Okay, wenn Sie sich bitte für einen Moment um mich versammeln würden, dann erzähle ich Ihnen ein bisschen was über das prachtvolle Gebäude vor Ihnen.« Der Führer lächelte die Gruppe von müden und leicht abgekämpft wirkenden Touristen aufmunternd an, die vor der St. Anne's Shandon Church umherschwirrten. »So ist's fein«, schmeichelte er in seinem übertriebenen irischen Singsang und schwenkte ungeduldig einen smaragdgrünen Schal über seiner stattlichen Gestalt. »Kommen Sie ein Stückchen näher, junge Dame. Ich beiße nicht.« Sein Lächeln wurde breiter, sodass die untere Reihe seiner fleckigen und krummen Zähne sichtbar wurde. Gut, dass ihr Mann die Reise nach Irland am Ende doch nicht mitgemacht hatte, dachte Marcy Taggart, als sie ein paar zögerliche Schritte nach vorn machte. Er hätte das schiefe Gebiss des armen Mannes als persönlichen Affront betrachtet. Da geben die Leute haufenweise Geld für Schönheitsoperationen und Designerklamotten aus und vergessen das Wichtigste von allem - ihre Zähne, empörte er sich regelmäßig. Als Kieferorthopäde neigte Peter zu solch harschen Urteilen. Hatte er ihr nicht einmal erklärt, dass ihm als Erstes nicht ihre schlanke Figur oder ihre großen braunen Augen aufgefallen waren, sondern ihre sorgfältig gepflegten, geraden und makellos weißen Zähne? Heute konnte Marcy sich nur wundern, dass sie solche Äußerungen einmal schmeichelhaft, ja, sogar romantisch gefunden hatte.
»Darf ich um Ihre volle Aufmerksamkeit bitten«, sagte der Touristenführer mit einem leicht tadelnden Unterton. Offensichtlich war er an die beiläufige Unhöflichkeit der ihm Anbefohlenen gewöhnt und nahm schon lange keinen Anstoß mehr daran. Obwohl die vierundzwanzig Frauen und Männer vorwiegend mittleren Alters viel Geld für den Tagesausflug nach Cork bezahlt hatten, der mit etwa 120 000 Einwohnern zweitgrößten Stadt der Republik Irland, hatte bestenfalls eine Handvoll von ihnen auch nur einem Wort zugehört, das der Mann seit der Abfahrt in Dublin gesagt hatte.
Marcy hatte es versucht, sie hatte sich wirklich angestrengt. Immer wieder hatte sie sich zur Konzentration ermahnt, als der Führer sie auf der scheinbar endlosen Busfahrt über 168 Meilen verstopfte Autobahnen und enge Landstraßen über die wechselvolle Geschichte Corks belehrt hatte. Der Name ging auf das irische Wort »corcach« zurück, ausgesprochen »karkax «, was so viel bedeutete wie »sumpfiger Ort« und sich auf die Lage der Stadt an dem Fluss Lee bezog; sie war im siebten Jahrhundert nach Christus gegründet worden und heute Verwaltungssitz der Grafschaft Cork und die größte Stadt der Provinz Munster. »Die eigentliche Hauptstadt Irlands« nannten die Bewohner Corks ihre Stadt; ihr Beiname »Rebel City« kam daher, dass die Stadtoberen 1491 nach dem Ende der englischen Rosenkriege den Kronprätendenten Perkin Warbeck unterstützt hatten. Heute war Cork der größte Industriestandort im Süden Irlands, wichtigster Zweig war die pharmazeutische Industrie, bekanntestes Produkt ausgerechnet Viagra.
Zumindest glaubte Marcy, dass der Führer das gesagt hatte. Sicher war sie sich nicht. Ihre Fantasie spielte ihr in letzter Zeit unerfreulich häufig Streiche, und mit fünfzig war ihr Ge dächtnis auch nicht mehr das, was es einmal war. Aber wovon konnte man das schon behaupten, dachte sie, als sie den Blick verstohlen über die starren Mienen ihrer Mitreisenden schweifen ließ, die ihre besten Zeiten allesamt offensichtlich längst hinter sich hatten.
»Wie Sie sehen, beherrscht der Turm von St. Anne's hier oben auf der Hügelkuppe den gesamten Nordteil der Stadt«, mühte der Führer sich, die Führer der anderen Reisegruppen zu übertönen, die plötzlich aufgetaucht waren und sich an der Straßenecke um die beste Position drängelten. »St. Anne's ist das bedeutendste Gebäude von Cork, ihr 1722 erbauter Turm, der an einen riesigen Pfefferstreuer erinnert, gilt weithin als Wahrzeichen der Stadt. Von jedem Punkt in der Altstadt können Sie die Spitze mit der vergoldeten Kugel und die einzigartige Wetterfahne in Fischform sehen. Zwei Seiten des Turmes sind mit rotem Sandstein verklinkert, die beiden anderen mit weißem Kalkstein, Farben, die sich auch in den Trikots der Fußball-Mannschaft und des Hurling-Teams der Stadt wiederfinden. « Er wies auf die große, runde, schwarz-goldene Uhr im untersten Stock der vierstöckigen Turmspitze. »Die große Uhr von Shandon sagt den Bewohnern Corks, wie spät es ist, die Fahne auf der Spitze, wie das Wetter wird.« Im selben Moment ertönte ein Glockenspiel, das die Umstehenden mit offe nem Mund staunen ließ. »Das sind unsere berühmten acht Shandon-Glocken«, sagte der Führer stolz. »Wie Ihnen bestimmt schon aufgefallen ist, sind sie den ganzen Tag überall in der Stadt zu hören. Und wenn Sie den Turm besteigen, können Sie sogar selbst darauf spielen, jede Melodie, die Sie wollen, obwohl die meisten Leute sich entweder für ›Danny Boy‹ oder für ›Ave Maria‹ entscheiden.« Er atmete tief ein. »Okay, dreißig Minuten für die Besichtigung der Kirche, danach geht es rüber zum Patrick's Hill, damit Sie selbst erleben, wie steil die Gassen dort sind. Amerikaner sagen, sie könnten es mit den berüchtigten Straßen von San Francisco aufnehmen.«
»Was ist mit denjenigen, für die der Aufstieg zu beschwerlich ist?«, fragte eine ältere Frau, die weiter hinten stand.
»Für heute hab ich genug von Kirchen«, murmelte der Mann neben ihr. »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich könnte ein Pint Guinness vertragen.«
»Für diejenigen unter Ihnen, die genug gesehen haben und sich vor der Weiterfahrt lieber ein wenig ausruhen und entspannen wollen, herrscht in der Umgebung kein Mangel an Pubs. Obwohl man die Einheimischen dort eher bei einem Murphy's oder einem Beamish antreffen wird, zwei Dunkelbiere, die hier in Cork gebraut werden.«
»Klingt gut«, meinte irgendjemand.
»Wir treffen uns in einer Stunde am Busbahnhof Parnell Place«, verkündete der Führer. »Bitte seien Sie pünktlich, sonst bleibt uns am Ende womöglich nicht genug Zeit, auf der Rückfahrt nach Dublin das berühmte Blarney Castle zu besichtigen. Und Sie wollen doch sicher alle den berühmten Blarney Stone küssen, oder?«
Nein, das wollten sie auf keinen Fall, dachte Marcy und erinnerte sich an Peters Ekel bei der Vorstellung, wie eine Fledermaus an den Füßen kopfüber herabgelassen zu werden, um »einen schmutzigen, bakterienverseuchten grauen Stein zu küssen, der mit dem Speichel anderer Leute beschmiert war«, wie er sich so denkwürdig ausgedrückt hatte, als sie ihm die Prospekte zum ersten Mal gezeigt hatte. »Warum sollte jemand, der halbwegs bei Verstand ist, so etwas tun wollen?«, hatte er vorwurfsvoll gefragt.
Marcy hatte gelächelt und geschwiegen. Peter hatte schon vor einiger Zeit aufgehört zu glauben, dass sie halbwegs bei Verstand war.
War das nicht der Grund gewesen, warum sie überhaupt beschlossen hatten, diese Reise zu unternehmen? Hatten nicht alle gesagt, dass es wichtig - ja, entscheidend - für ihr seelisches Wohlbefinden wie auch ihre Ehe war, dass sie und Peter mehr Zeit miteinander verbrachten, Zeit, um das Geschehene als Einheit zu verarbeiten? War das nicht der Ausdruck, den der Psychologe benutzt hatte?
Als ihre Schwester dann die Idee aufgebracht hatte, sie könnten ihren 25. Hochzeitstag doch mit zweiten Flitterwochen begehen, hatte Marcy sich kopfüber in die Planung gestürzt. Irland war Peters Vorschlag gewesen, weil seine Mutter aus Limerick stammte. Jahrelang hatte er davon gesprochen, eine Pilgerfahrt ins Land seiner Vorfahren zu machen. Marcy hatte anfangs für ein exotischeres Ziel wie Tahiti oder Bali plädiert, irgendwo, wo die Durchschnittstemperatur im Juli spürbar über 18 Grad lag, sie Mai Tais am Strand schlürfen und Blumen im Haar tragen konnte; im Gegensatz zu einem Land, in dem Guinness angesagt und es ständig so regnerisch und feucht war, dass sie garantiert aussehen würde, als ob gerade ein Klumpen widerspenstiges Moos auf ihrem Kopf gelandet wäre. Doch im Grunde war es egal, wohin sie fuhren, hatte sie sich gesagt, solange sie es als Einheit taten. Also hatten sie sich für Peters Vorschlag entschieden.
Aber am Ende hatte Peter sich für eine ganz andere Frau entschieden.
Galt man alleine auch noch als Einheit, fragte Marcy sich jetzt. So sehr sie die oft spektakuläre Natur der irischen Landschaft mit ihren viel gerühmten vierzig Schattierungen von Grün liebte, so sehr hasste sie das graue regnerische Wetter und die alles durchdringende Feuchtigkeit, die wie eine zweite Haut an ihr klebte.
Er könne nicht noch mehr Drama ertragen, hatte Peter gesagt, als er ihr erklärt hatte, dass er sie verlassen wollte. Es ist besser so. Für uns beide. Du wirst bestimmt viel glücklicher sein. Hoffentlich können wir irgendwann Freunde sein. Die feigen Phrasen des Deserteurs.
»Wir haben nach wie vor einen gemeinsamen Sohn«, hatte er gesagt, als ob sie daran erinnert werden müsste. Ihre Tochter blieb unerwähnt.
Zitternd zog Marcy ihren Trenchcoat enger um ihren Körper und beschloss, sich den Reihen derjenigen anzuschließen, die für eine kurze Pause und ein Bier optiert hatten. Seit der Bus am Morgen um halb neun in Dublin abgefahren war, waren sie unterwegs. Nach einem kurzen Mittagessen in einem typisch irischen Pub gleich nach der Ankunft in Cork hatten sie eine dreistündige Wanderung durch die Stadt gemacht, bei der sie Sehenswürdigkeiten wie das Gefängnis, den Cork Quay Market, das Opernhaus und die St. Fin-Barre's-Kathedrale besichtigt und die St. Patrick's Street, die Haupteinkaufsstraße, hi nun ter ge schlen dert waren. Letzte Station waren nun der Besuch der St. Anne's Shandon Church und der vorgeschlagene steile Aufstieg auf den Patrick's Hill. Da das Zentrum von Cork auf einer Insel zwischen zwei Armen des Lee lag, war die Stadt von Natur aus in drei große Viertel unterteilt: der Innenstadtkern, genannt »flat of the city«, die North Bank und die South Bank. Den ganzen Nachmittag hatte Marcy eine Brücke nach der anderen überquert. Es wurde Zeit, sich irgendwo hinzusetzen.
Zehn Minuten später hockte sie allein an einem winzigen Zweiertisch in einem weiteren typisch irischen Pub mit Blick auf den Lee. Drinnen war es dunkel, was zu der Stimmung passte, die Marcy mit Macht übermannte. Es war verrückt gewesen, alleine nach Irland zu fahren. Nur eine Verrückte fuhr ohne ihren Mann in die zweiten Flitterwochen, selbst wenn die Reise schon bezahlt war und bei Stornierung nicht zurückerstattet wurde. Ein paar tausend Dollar mehr oder weniger würden sie nicht schmerzen. Peter war mehr als großzügig gewesen. Er wollte offensichtlich so schnell und mit so wenig Aufwand wie möglich von ihr weg. Marcy musste beinahe schmunzeln. Warum sollte er mehr Mühe auf ihre Scheidung verwenden, als er es auf ihre Ehe getan hatte?
»Na, Sie scheinen sich ja zu amüsieren«, sagte eine Stimme irgendwo über ihr.
Marcy blickte auf und sah einen lausbubenhaft attraktiven jungen Mann mit beneidenswert glattem schwarzem Haar, das in seine leuchtend dunkelgrünen Augen fiel. Sie dachte, dass er wahrscheinlich die längsten Wimpern hatte, die sie je gesehen hatte.
»Was darf ich Ihnen bringen?«, sagte der junge Mann mit gezücktem Block und Bleistift.
»Wäre es sehr albern, wenn ich eine Tasse Tee bestelle?«, fragte Marcy zu ihrer eigenen Überraschung. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ein Beamish zu trinken, wie es ihr Führer vorgeschlagen hatte. Typisch, dass du wieder so eigensinnig sein musst, hörte sie Peter im Geiste tadeln.
»Überhaupt nicht«, antwortete der Kellner und klang sogar so, als meinte er es ernst.
»Tee klingt wunderbar«, hörte sie jemanden sagen. »Bringen Sie bitte zwei?« Neben ihr schrammten Stuhlbeine über die Bodendielen. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?« Der Mann nahm Platz, bevor Marcy antworten konnte. Sie erkannte ihn als ein Mitglied ihrer Reisegruppe, obwohl sie sich nicht an seinen Namen erinnerte. Irgendwas Italienisches, dachte sie und sah ihn drei Reihen vor sich vorne im Bus an einem Fensterplatz sitzen. Er hatte sie angelächelt, als sie weiter nach hinten durchgegangen war. Hübsche Zähne, hörte sie Peter in ihr Ohr flüstern.
»Vic Sorvino«, sagte er jetzt und streckte die Hand aus. »Marcy Taggart«, sagte Marcy, ohne die Hand zu ergreifen. Stattdessen winkte sie knapp und hoffte, dass er sich damit zufriedengab. Warum war er hier? Es gab genug andere Tische, an die er sich hätte setzen können.
»Taggart? Das heißt, Sie sind Irin?«
»Mein Mann.«
Vic ließ den Blick am Tresen entlang und durch den gesamten Pub schweifen. »Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass Sie in Begleitung hier sind«, sagte er, ohne Anstalten zu machen, seinen Stuhl zu räumen.
»Er ist nicht hier.«
»Mag er keine Busreisen?«
»Er mag es nicht, verheiratet zu sein«, hörte Marcy sich sagen.
»Jedenfalls nicht mit mir.«
Vic wirkte leicht perplex. »Smalltalk ist nicht gerade Ihre Stärke, was?«
Obwohl sie es nicht wollte, musste Marcy lachen. Sie strich sich einen Wust von Locken aus ihrem schmalen Gesicht. So viel Haare, dachte sie und hörte die Stimme ihrer Mutter, für so ein winziges Gesicht.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Das fällt vermutlich in die
Kategorie zu viel Information.«
»Unsinn. Ich gehöre der Denkschule an, die glaubt, dass Informationen immer nützlich sind.«
»Sie sind mein Mann«, sagte Marcy und bereute ihre Worte sofort. Sie wollte ihn auf keinen Fall ermutigen.
Der Kellner kam mit ihren Tees.
»Wahrscheinlich hält er uns für verrückt, weil wir in einem Pub Tee bestellen«, sagte Marcy und beobachtete, wie der attraktive junge Mann auf seinem Weg zurück zur Bar mit mehreren der Frauen flirtete, die sich auf hohen Barhockern um ihn scharten. Er füllte ein halbes Dutzend Krüge mit Bier aus dem Hahn und schob sie mit einer lässigen Handbewegung zu einer Gruppe lauter junger Männer am anderen Ende des Tresens. Seine weiblichen Fans applaudierten voller Bewunderung. Er konnte jede Frau in dem Lokal haben, dachte sie beiläufig. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig und fragte sich, ob ihre Tochter ihn attraktiv gefunden hätte.
»Ehrlich gesagt haben Amerikaner falsche Vorstellungen über irische Pubs«, zog Vic sie mit seinem lockeren Bariton zurück ins Gespräch.
»Es sind keine Bars, und man trifft sich hier nicht nur zum Trinken, sondern auch, um Freunde und Nachbarn zu treffen. Und viele Leute trinken Tee oder andere nichtalkoholische Getränke. Das habe ich jedenfalls in meinem Reiseführer gelesen«, fügte er einfältig hinzu und fragte dann, als Marcy weiter stumm blieb: »Woher kommen Sie?«
»Aus Toronto«, antwortete sie pflichtschuldig.
»Toronto ist eine wunderbare Stadt«, sagte er sofort. »Ich war ein paarmal geschäftlich dort.« Er machte eine Pause und erwartete offenbar, dass sie fragte: Wann? Was arbeiten Sie? Als sie das nicht tat, erzählte er es ihr trotzdem. »Das war vor ein paar Jahren. Ich war Fabrikant. Technischer Kleinkram.«
»Sie sind Fabrikant für Schweinkram?«, fragte Marcy und merkte, dass sie nur mit halbem Ohr zugehört hatte. Vic lachte und verbesserte sie. »Kleinkram. Kleine technische Geräte, deren Namen man sich in der Regel nicht merken kann. Gadgets«, erläuterte er weiter. Marcy nippte an ihrem Tee und schwieg. Ich bin ein Idiot, dachte sie.
»Ich habe die Firma letztes Jahr verkauft und bin in den Ruhestand gegangen«, berichtete er und fuhr, als das keine weiteren Fragen provozierte, fort: »Ich komme aus Chicago.« Marcy brachte ein mattes Lächeln zustande. Sie hatte Chicago immer gemocht. Dorthin hätte sie fahren sollen, dachte sie, als das Handy in ihrer Handtasche zu klingeln begann. Chicago hatte eine wundervolle Architektur und interessante Viertel. Und es regnete auch nicht praktisch jeden Tag.
»Ist das Ihr Handy?«, fragte Vic.
»Hmm? Oh. Oh«, sagte sie, fand ihr Telefon ganz unten in ihrer Handtasche und hielt es ans Ohr. »Hallo?«
»Wo zum Teufel steckst du?«, wollte ihre Schwester wütend wissen.
»Judith?«
»Wo bist du gewesen? Ich habe seit einer Woche nichts mehr von dir gehört. Was ist los?«
»Ist alles in Ordnung? Ist Darren irgendwas zugestoßen?«
»Deinem Sohn geht es gut, Marcy«, sagte ihre Schwester, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Ungeduld zu kaschieren.
»Ich mache mir Sorgen um dich. Warum hast du auf keinen meiner Anrufe reagiert?«
»Ich habe meine Nachrichten nicht abgehört.«
»Warum nicht, verdammt noch mal?«
Weil ich nicht mit dir reden wollte, dachte Marcy, ohne es laut zu sagen. Judith war offensichtlich auch so schon wütend genug. Marcy stellte sich vor, wie ihre zwei Jahre ältere Schwester auf dem Marmorboden ihres neuen Luxusapartments auf und ab lief. Garantiert trug sie ihre Standarduniform bestehend aus einer schwarzen Yoga-Hose und einem passenden Top, weil sie entweder gerade mit dem Training fertig war oder gleich damit beginnen wollte. Judith verbrachte mindestens die Hälfte des Tages mit Sport - gleich morgens früh schwamm sie eine halbe Stunde, gefolgt von ein oder zwei Stunden Spinning und dann eine bis eineinhalb Stunden »Hot Yoga« am Nachmittag. Wenn ihre Zeit es erlaubte und sie in der Stimmung war, streute sie gelegentlich noch eine Pilates- Stunde ein. »Für meine innere Mitte«, wie sie erklärte, obwohl ihr Bauch schon flach und hart war wie Stahl. Wahrscheinlich knabberte sie an einer Karotte, dachte Marcy; die Ernährung ihrer Schwester bestand ausschließlich aus Sushi, rohem Gemüse und hin und wieder einem Löffel Erdnussbutter. Judith war gerade bei Ehemann Nummer fünf. Mit achtzehn hatte sie sich die Eileiter verschließen lassen, nachdem sie schon als junges Mädchen beschlossen hatte, nie eigene Kinder haben zu wollen. »Willst du das Risiko wirklich eingehen?«, hatte sie ihre Schwester gefragt.
»Irgendwas stimmt nicht«, sagte sie jetzt. »Ich komme vorbei. «
»Das geht nicht.« Marcy ließ den Blick zu dem großen Fenster des Pubs schweifen.
»Warum nicht?«
»Weil ich nicht da bin.«
»Wo bist du denn?«
»In Irland«, sagte Marcy nach einer langen Pause.
»Was?«
»Ich bin in Irland«, wiederholte Marcy, obwohl sie genau wusste, dass Judith sie schon beim ersten Mal verstanden hatte. In Erwartung von Judiths Kreischen hielt sie den Hörer ein Stück vom Ohr weg.
»Bitte sag mir, dass das ein Witz ist.«
»Ich mache keine Witze.«
»Bist du mit jemandem zusammen dort?«
»Mir geht es gut, Judith.« Ein Schatten fiel auf das Fenster. Der Schatten blieb stehen und winkte dem Barkeeper, was dieser mit einem verstohlenen Lächeln quittierte.
»Du hast sie doch nicht mehr alle! Ich verlange, dass du auf der Stelle nach Hause kommst.«
»Das geht nicht.« Der Schatten trat in einen Lichtkegel, drehte sich um und verschwand. »O mein Gott«, keuchte Marcy und sprang auf.
»Was ist?«, fragten Vic und Judith gleichzeitig.
»Was ist los?«, fügte ihre Schwester noch hinzu.
»Mein Gott, es ist Devon!«, rief Marcy, sprang auf, stürzte zur Tür und stieß dabei mit der Hüfte gegen einen Tisch.
»Was?«
»Ich habe sie eben gesehen. Sie ist hier.«
»Marcy, beruhige dich. Du redest wirr.«
»Ich bin nicht verrückt.« Marcy stieß die schwere Tür des Pubs auf. Tränen brannten in ihren Augen, als sie die von Touristen verstopfte Straße hinauf- und hinunterblickte. Es hatte leicht angefangen zu nieseln. »Devon!«, rief sie und rannte in östlicher Richtung am Fluss entlang. »Wo bist du? Komm zurück. Bitte, komm zurück.«
»Marcy, bitte«, drängte Judith in Marcys Ohr. »Es ist nicht Devon. Du weißt, dass sie es nicht ist.«
»Ich weiß, was ich gesehen habe.« An der St. Patrick's Bridge blieb Marcy stehen und überlegte, ob sie den Fluss überqueren sollte. »Ich sag es dir: Sie ist hier. Ich hab sie gesehen. «
»Nein, das hast du nicht«, sagte Judith sanft. »Devon ist tot, Marcy.«
»Das stimmt nicht. Sie ist hier.«
»Deine Tochter ist tot«, wiederholte Judith mit Tränen in der Stimme.
»Fahr zur Hölle!«, rief Marcy. Dann warf sie ihr Handy in den Fluss und überquerte die Brücke.
Deutsch von Kristian Lutze
© 2009 by Joy Fielding, Inc.
© der deutschsprachigen Erstveröffentlichung 2011 by Wilhelm Goldmann Verlag, München
»Okay, wenn Sie sich bitte für einen Moment um mich versammeln würden, dann erzähle ich Ihnen ein bisschen was über das prachtvolle Gebäude vor Ihnen.« Der Führer lächelte die Gruppe von müden und leicht abgekämpft wirkenden Touristen aufmunternd an, die vor der St. Anne's Shandon Church umherschwirrten. »So ist's fein«, schmeichelte er in seinem übertriebenen irischen Singsang und schwenkte ungeduldig einen smaragdgrünen Schal über seiner stattlichen Gestalt. »Kommen Sie ein Stückchen näher, junge Dame. Ich beiße nicht.« Sein Lächeln wurde breiter, sodass die untere Reihe seiner fleckigen und krummen Zähne sichtbar wurde. Gut, dass ihr Mann die Reise nach Irland am Ende doch nicht mitgemacht hatte, dachte Marcy Taggart, als sie ein paar zögerliche Schritte nach vorn machte. Er hätte das schiefe Gebiss des armen Mannes als persönlichen Affront betrachtet. Da geben die Leute haufenweise Geld für Schönheitsoperationen und Designerklamotten aus und vergessen das Wichtigste von allem - ihre Zähne, empörte er sich regelmäßig. Als Kieferorthopäde neigte Peter zu solch harschen Urteilen. Hatte er ihr nicht einmal erklärt, dass ihm als Erstes nicht ihre schlanke Figur oder ihre großen braunen Augen aufgefallen waren, sondern ihre sorgfältig gepflegten, geraden und makellos weißen Zähne? Heute konnte Marcy sich nur wundern, dass sie solche Äußerungen einmal schmeichelhaft, ja, sogar romantisch gefunden hatte.
»Darf ich um Ihre volle Aufmerksamkeit bitten«, sagte der Touristenführer mit einem leicht tadelnden Unterton. Offensichtlich war er an die beiläufige Unhöflichkeit der ihm Anbefohlenen gewöhnt und nahm schon lange keinen Anstoß mehr daran. Obwohl die vierundzwanzig Frauen und Männer vorwiegend mittleren Alters viel Geld für den Tagesausflug nach Cork bezahlt hatten, der mit etwa 120 000 Einwohnern zweitgrößten Stadt der Republik Irland, hatte bestenfalls eine Handvoll von ihnen auch nur einem Wort zugehört, das der Mann seit der Abfahrt in Dublin gesagt hatte.
Marcy hatte es versucht, sie hatte sich wirklich angestrengt. Immer wieder hatte sie sich zur Konzentration ermahnt, als der Führer sie auf der scheinbar endlosen Busfahrt über 168 Meilen verstopfte Autobahnen und enge Landstraßen über die wechselvolle Geschichte Corks belehrt hatte. Der Name ging auf das irische Wort »corcach« zurück, ausgesprochen »karkax «, was so viel bedeutete wie »sumpfiger Ort« und sich auf die Lage der Stadt an dem Fluss Lee bezog; sie war im siebten Jahrhundert nach Christus gegründet worden und heute Verwaltungssitz der Grafschaft Cork und die größte Stadt der Provinz Munster. »Die eigentliche Hauptstadt Irlands« nannten die Bewohner Corks ihre Stadt; ihr Beiname »Rebel City« kam daher, dass die Stadtoberen 1491 nach dem Ende der englischen Rosenkriege den Kronprätendenten Perkin Warbeck unterstützt hatten. Heute war Cork der größte Industriestandort im Süden Irlands, wichtigster Zweig war die pharmazeutische Industrie, bekanntestes Produkt ausgerechnet Viagra.
Zumindest glaubte Marcy, dass der Führer das gesagt hatte. Sicher war sie sich nicht. Ihre Fantasie spielte ihr in letzter Zeit unerfreulich häufig Streiche, und mit fünfzig war ihr Ge dächtnis auch nicht mehr das, was es einmal war. Aber wovon konnte man das schon behaupten, dachte sie, als sie den Blick verstohlen über die starren Mienen ihrer Mitreisenden schweifen ließ, die ihre besten Zeiten allesamt offensichtlich längst hinter sich hatten.
»Wie Sie sehen, beherrscht der Turm von St. Anne's hier oben auf der Hügelkuppe den gesamten Nordteil der Stadt«, mühte der Führer sich, die Führer der anderen Reisegruppen zu übertönen, die plötzlich aufgetaucht waren und sich an der Straßenecke um die beste Position drängelten. »St. Anne's ist das bedeutendste Gebäude von Cork, ihr 1722 erbauter Turm, der an einen riesigen Pfefferstreuer erinnert, gilt weithin als Wahrzeichen der Stadt. Von jedem Punkt in der Altstadt können Sie die Spitze mit der vergoldeten Kugel und die einzigartige Wetterfahne in Fischform sehen. Zwei Seiten des Turmes sind mit rotem Sandstein verklinkert, die beiden anderen mit weißem Kalkstein, Farben, die sich auch in den Trikots der Fußball-Mannschaft und des Hurling-Teams der Stadt wiederfinden. « Er wies auf die große, runde, schwarz-goldene Uhr im untersten Stock der vierstöckigen Turmspitze. »Die große Uhr von Shandon sagt den Bewohnern Corks, wie spät es ist, die Fahne auf der Spitze, wie das Wetter wird.« Im selben Moment ertönte ein Glockenspiel, das die Umstehenden mit offe nem Mund staunen ließ. »Das sind unsere berühmten acht Shandon-Glocken«, sagte der Führer stolz. »Wie Ihnen bestimmt schon aufgefallen ist, sind sie den ganzen Tag überall in der Stadt zu hören. Und wenn Sie den Turm besteigen, können Sie sogar selbst darauf spielen, jede Melodie, die Sie wollen, obwohl die meisten Leute sich entweder für ›Danny Boy‹ oder für ›Ave Maria‹ entscheiden.« Er atmete tief ein. »Okay, dreißig Minuten für die Besichtigung der Kirche, danach geht es rüber zum Patrick's Hill, damit Sie selbst erleben, wie steil die Gassen dort sind. Amerikaner sagen, sie könnten es mit den berüchtigten Straßen von San Francisco aufnehmen.«
»Was ist mit denjenigen, für die der Aufstieg zu beschwerlich ist?«, fragte eine ältere Frau, die weiter hinten stand.
»Für heute hab ich genug von Kirchen«, murmelte der Mann neben ihr. »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich könnte ein Pint Guinness vertragen.«
»Für diejenigen unter Ihnen, die genug gesehen haben und sich vor der Weiterfahrt lieber ein wenig ausruhen und entspannen wollen, herrscht in der Umgebung kein Mangel an Pubs. Obwohl man die Einheimischen dort eher bei einem Murphy's oder einem Beamish antreffen wird, zwei Dunkelbiere, die hier in Cork gebraut werden.«
»Klingt gut«, meinte irgendjemand.
»Wir treffen uns in einer Stunde am Busbahnhof Parnell Place«, verkündete der Führer. »Bitte seien Sie pünktlich, sonst bleibt uns am Ende womöglich nicht genug Zeit, auf der Rückfahrt nach Dublin das berühmte Blarney Castle zu besichtigen. Und Sie wollen doch sicher alle den berühmten Blarney Stone küssen, oder?«
Nein, das wollten sie auf keinen Fall, dachte Marcy und erinnerte sich an Peters Ekel bei der Vorstellung, wie eine Fledermaus an den Füßen kopfüber herabgelassen zu werden, um »einen schmutzigen, bakterienverseuchten grauen Stein zu küssen, der mit dem Speichel anderer Leute beschmiert war«, wie er sich so denkwürdig ausgedrückt hatte, als sie ihm die Prospekte zum ersten Mal gezeigt hatte. »Warum sollte jemand, der halbwegs bei Verstand ist, so etwas tun wollen?«, hatte er vorwurfsvoll gefragt.
Marcy hatte gelächelt und geschwiegen. Peter hatte schon vor einiger Zeit aufgehört zu glauben, dass sie halbwegs bei Verstand war.
War das nicht der Grund gewesen, warum sie überhaupt beschlossen hatten, diese Reise zu unternehmen? Hatten nicht alle gesagt, dass es wichtig - ja, entscheidend - für ihr seelisches Wohlbefinden wie auch ihre Ehe war, dass sie und Peter mehr Zeit miteinander verbrachten, Zeit, um das Geschehene als Einheit zu verarbeiten? War das nicht der Ausdruck, den der Psychologe benutzt hatte?
Als ihre Schwester dann die Idee aufgebracht hatte, sie könnten ihren 25. Hochzeitstag doch mit zweiten Flitterwochen begehen, hatte Marcy sich kopfüber in die Planung gestürzt. Irland war Peters Vorschlag gewesen, weil seine Mutter aus Limerick stammte. Jahrelang hatte er davon gesprochen, eine Pilgerfahrt ins Land seiner Vorfahren zu machen. Marcy hatte anfangs für ein exotischeres Ziel wie Tahiti oder Bali plädiert, irgendwo, wo die Durchschnittstemperatur im Juli spürbar über 18 Grad lag, sie Mai Tais am Strand schlürfen und Blumen im Haar tragen konnte; im Gegensatz zu einem Land, in dem Guinness angesagt und es ständig so regnerisch und feucht war, dass sie garantiert aussehen würde, als ob gerade ein Klumpen widerspenstiges Moos auf ihrem Kopf gelandet wäre. Doch im Grunde war es egal, wohin sie fuhren, hatte sie sich gesagt, solange sie es als Einheit taten. Also hatten sie sich für Peters Vorschlag entschieden.
Aber am Ende hatte Peter sich für eine ganz andere Frau entschieden.
Galt man alleine auch noch als Einheit, fragte Marcy sich jetzt. So sehr sie die oft spektakuläre Natur der irischen Landschaft mit ihren viel gerühmten vierzig Schattierungen von Grün liebte, so sehr hasste sie das graue regnerische Wetter und die alles durchdringende Feuchtigkeit, die wie eine zweite Haut an ihr klebte.
Er könne nicht noch mehr Drama ertragen, hatte Peter gesagt, als er ihr erklärt hatte, dass er sie verlassen wollte. Es ist besser so. Für uns beide. Du wirst bestimmt viel glücklicher sein. Hoffentlich können wir irgendwann Freunde sein. Die feigen Phrasen des Deserteurs.
»Wir haben nach wie vor einen gemeinsamen Sohn«, hatte er gesagt, als ob sie daran erinnert werden müsste. Ihre Tochter blieb unerwähnt.
Zitternd zog Marcy ihren Trenchcoat enger um ihren Körper und beschloss, sich den Reihen derjenigen anzuschließen, die für eine kurze Pause und ein Bier optiert hatten. Seit der Bus am Morgen um halb neun in Dublin abgefahren war, waren sie unterwegs. Nach einem kurzen Mittagessen in einem typisch irischen Pub gleich nach der Ankunft in Cork hatten sie eine dreistündige Wanderung durch die Stadt gemacht, bei der sie Sehenswürdigkeiten wie das Gefängnis, den Cork Quay Market, das Opernhaus und die St. Fin-Barre's-Kathedrale besichtigt und die St. Patrick's Street, die Haupteinkaufsstraße, hi nun ter ge schlen dert waren. Letzte Station waren nun der Besuch der St. Anne's Shandon Church und der vorgeschlagene steile Aufstieg auf den Patrick's Hill. Da das Zentrum von Cork auf einer Insel zwischen zwei Armen des Lee lag, war die Stadt von Natur aus in drei große Viertel unterteilt: der Innenstadtkern, genannt »flat of the city«, die North Bank und die South Bank. Den ganzen Nachmittag hatte Marcy eine Brücke nach der anderen überquert. Es wurde Zeit, sich irgendwo hinzusetzen.
Zehn Minuten später hockte sie allein an einem winzigen Zweiertisch in einem weiteren typisch irischen Pub mit Blick auf den Lee. Drinnen war es dunkel, was zu der Stimmung passte, die Marcy mit Macht übermannte. Es war verrückt gewesen, alleine nach Irland zu fahren. Nur eine Verrückte fuhr ohne ihren Mann in die zweiten Flitterwochen, selbst wenn die Reise schon bezahlt war und bei Stornierung nicht zurückerstattet wurde. Ein paar tausend Dollar mehr oder weniger würden sie nicht schmerzen. Peter war mehr als großzügig gewesen. Er wollte offensichtlich so schnell und mit so wenig Aufwand wie möglich von ihr weg. Marcy musste beinahe schmunzeln. Warum sollte er mehr Mühe auf ihre Scheidung verwenden, als er es auf ihre Ehe getan hatte?
»Na, Sie scheinen sich ja zu amüsieren«, sagte eine Stimme irgendwo über ihr.
Marcy blickte auf und sah einen lausbubenhaft attraktiven jungen Mann mit beneidenswert glattem schwarzem Haar, das in seine leuchtend dunkelgrünen Augen fiel. Sie dachte, dass er wahrscheinlich die längsten Wimpern hatte, die sie je gesehen hatte.
»Was darf ich Ihnen bringen?«, sagte der junge Mann mit gezücktem Block und Bleistift.
»Wäre es sehr albern, wenn ich eine Tasse Tee bestelle?«, fragte Marcy zu ihrer eigenen Überraschung. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ein Beamish zu trinken, wie es ihr Führer vorgeschlagen hatte. Typisch, dass du wieder so eigensinnig sein musst, hörte sie Peter im Geiste tadeln.
»Überhaupt nicht«, antwortete der Kellner und klang sogar so, als meinte er es ernst.
»Tee klingt wunderbar«, hörte sie jemanden sagen. »Bringen Sie bitte zwei?« Neben ihr schrammten Stuhlbeine über die Bodendielen. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?« Der Mann nahm Platz, bevor Marcy antworten konnte. Sie erkannte ihn als ein Mitglied ihrer Reisegruppe, obwohl sie sich nicht an seinen Namen erinnerte. Irgendwas Italienisches, dachte sie und sah ihn drei Reihen vor sich vorne im Bus an einem Fensterplatz sitzen. Er hatte sie angelächelt, als sie weiter nach hinten durchgegangen war. Hübsche Zähne, hörte sie Peter in ihr Ohr flüstern.
»Vic Sorvino«, sagte er jetzt und streckte die Hand aus. »Marcy Taggart«, sagte Marcy, ohne die Hand zu ergreifen. Stattdessen winkte sie knapp und hoffte, dass er sich damit zufriedengab. Warum war er hier? Es gab genug andere Tische, an die er sich hätte setzen können.
»Taggart? Das heißt, Sie sind Irin?«
»Mein Mann.«
Vic ließ den Blick am Tresen entlang und durch den gesamten Pub schweifen. »Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass Sie in Begleitung hier sind«, sagte er, ohne Anstalten zu machen, seinen Stuhl zu räumen.
»Er ist nicht hier.«
»Mag er keine Busreisen?«
»Er mag es nicht, verheiratet zu sein«, hörte Marcy sich sagen.
»Jedenfalls nicht mit mir.«
Vic wirkte leicht perplex. »Smalltalk ist nicht gerade Ihre Stärke, was?«
Obwohl sie es nicht wollte, musste Marcy lachen. Sie strich sich einen Wust von Locken aus ihrem schmalen Gesicht. So viel Haare, dachte sie und hörte die Stimme ihrer Mutter, für so ein winziges Gesicht.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Das fällt vermutlich in die
Kategorie zu viel Information.«
»Unsinn. Ich gehöre der Denkschule an, die glaubt, dass Informationen immer nützlich sind.«
»Sie sind mein Mann«, sagte Marcy und bereute ihre Worte sofort. Sie wollte ihn auf keinen Fall ermutigen.
Der Kellner kam mit ihren Tees.
»Wahrscheinlich hält er uns für verrückt, weil wir in einem Pub Tee bestellen«, sagte Marcy und beobachtete, wie der attraktive junge Mann auf seinem Weg zurück zur Bar mit mehreren der Frauen flirtete, die sich auf hohen Barhockern um ihn scharten. Er füllte ein halbes Dutzend Krüge mit Bier aus dem Hahn und schob sie mit einer lässigen Handbewegung zu einer Gruppe lauter junger Männer am anderen Ende des Tresens. Seine weiblichen Fans applaudierten voller Bewunderung. Er konnte jede Frau in dem Lokal haben, dachte sie beiläufig. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig und fragte sich, ob ihre Tochter ihn attraktiv gefunden hätte.
»Ehrlich gesagt haben Amerikaner falsche Vorstellungen über irische Pubs«, zog Vic sie mit seinem lockeren Bariton zurück ins Gespräch.
»Es sind keine Bars, und man trifft sich hier nicht nur zum Trinken, sondern auch, um Freunde und Nachbarn zu treffen. Und viele Leute trinken Tee oder andere nichtalkoholische Getränke. Das habe ich jedenfalls in meinem Reiseführer gelesen«, fügte er einfältig hinzu und fragte dann, als Marcy weiter stumm blieb: »Woher kommen Sie?«
»Aus Toronto«, antwortete sie pflichtschuldig.
»Toronto ist eine wunderbare Stadt«, sagte er sofort. »Ich war ein paarmal geschäftlich dort.« Er machte eine Pause und erwartete offenbar, dass sie fragte: Wann? Was arbeiten Sie? Als sie das nicht tat, erzählte er es ihr trotzdem. »Das war vor ein paar Jahren. Ich war Fabrikant. Technischer Kleinkram.«
»Sie sind Fabrikant für Schweinkram?«, fragte Marcy und merkte, dass sie nur mit halbem Ohr zugehört hatte. Vic lachte und verbesserte sie. »Kleinkram. Kleine technische Geräte, deren Namen man sich in der Regel nicht merken kann. Gadgets«, erläuterte er weiter. Marcy nippte an ihrem Tee und schwieg. Ich bin ein Idiot, dachte sie.
»Ich habe die Firma letztes Jahr verkauft und bin in den Ruhestand gegangen«, berichtete er und fuhr, als das keine weiteren Fragen provozierte, fort: »Ich komme aus Chicago.« Marcy brachte ein mattes Lächeln zustande. Sie hatte Chicago immer gemocht. Dorthin hätte sie fahren sollen, dachte sie, als das Handy in ihrer Handtasche zu klingeln begann. Chicago hatte eine wundervolle Architektur und interessante Viertel. Und es regnete auch nicht praktisch jeden Tag.
»Ist das Ihr Handy?«, fragte Vic.
»Hmm? Oh. Oh«, sagte sie, fand ihr Telefon ganz unten in ihrer Handtasche und hielt es ans Ohr. »Hallo?«
»Wo zum Teufel steckst du?«, wollte ihre Schwester wütend wissen.
»Judith?«
»Wo bist du gewesen? Ich habe seit einer Woche nichts mehr von dir gehört. Was ist los?«
»Ist alles in Ordnung? Ist Darren irgendwas zugestoßen?«
»Deinem Sohn geht es gut, Marcy«, sagte ihre Schwester, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Ungeduld zu kaschieren.
»Ich mache mir Sorgen um dich. Warum hast du auf keinen meiner Anrufe reagiert?«
»Ich habe meine Nachrichten nicht abgehört.«
»Warum nicht, verdammt noch mal?«
Weil ich nicht mit dir reden wollte, dachte Marcy, ohne es laut zu sagen. Judith war offensichtlich auch so schon wütend genug. Marcy stellte sich vor, wie ihre zwei Jahre ältere Schwester auf dem Marmorboden ihres neuen Luxusapartments auf und ab lief. Garantiert trug sie ihre Standarduniform bestehend aus einer schwarzen Yoga-Hose und einem passenden Top, weil sie entweder gerade mit dem Training fertig war oder gleich damit beginnen wollte. Judith verbrachte mindestens die Hälfte des Tages mit Sport - gleich morgens früh schwamm sie eine halbe Stunde, gefolgt von ein oder zwei Stunden Spinning und dann eine bis eineinhalb Stunden »Hot Yoga« am Nachmittag. Wenn ihre Zeit es erlaubte und sie in der Stimmung war, streute sie gelegentlich noch eine Pilates- Stunde ein. »Für meine innere Mitte«, wie sie erklärte, obwohl ihr Bauch schon flach und hart war wie Stahl. Wahrscheinlich knabberte sie an einer Karotte, dachte Marcy; die Ernährung ihrer Schwester bestand ausschließlich aus Sushi, rohem Gemüse und hin und wieder einem Löffel Erdnussbutter. Judith war gerade bei Ehemann Nummer fünf. Mit achtzehn hatte sie sich die Eileiter verschließen lassen, nachdem sie schon als junges Mädchen beschlossen hatte, nie eigene Kinder haben zu wollen. »Willst du das Risiko wirklich eingehen?«, hatte sie ihre Schwester gefragt.
»Irgendwas stimmt nicht«, sagte sie jetzt. »Ich komme vorbei. «
»Das geht nicht.« Marcy ließ den Blick zu dem großen Fenster des Pubs schweifen.
»Warum nicht?«
»Weil ich nicht da bin.«
»Wo bist du denn?«
»In Irland«, sagte Marcy nach einer langen Pause.
»Was?«
»Ich bin in Irland«, wiederholte Marcy, obwohl sie genau wusste, dass Judith sie schon beim ersten Mal verstanden hatte. In Erwartung von Judiths Kreischen hielt sie den Hörer ein Stück vom Ohr weg.
»Bitte sag mir, dass das ein Witz ist.«
»Ich mache keine Witze.«
»Bist du mit jemandem zusammen dort?«
»Mir geht es gut, Judith.« Ein Schatten fiel auf das Fenster. Der Schatten blieb stehen und winkte dem Barkeeper, was dieser mit einem verstohlenen Lächeln quittierte.
»Du hast sie doch nicht mehr alle! Ich verlange, dass du auf der Stelle nach Hause kommst.«
»Das geht nicht.« Der Schatten trat in einen Lichtkegel, drehte sich um und verschwand. »O mein Gott«, keuchte Marcy und sprang auf.
»Was ist?«, fragten Vic und Judith gleichzeitig.
»Was ist los?«, fügte ihre Schwester noch hinzu.
»Mein Gott, es ist Devon!«, rief Marcy, sprang auf, stürzte zur Tür und stieß dabei mit der Hüfte gegen einen Tisch.
»Was?«
»Ich habe sie eben gesehen. Sie ist hier.«
»Marcy, beruhige dich. Du redest wirr.«
»Ich bin nicht verrückt.« Marcy stieß die schwere Tür des Pubs auf. Tränen brannten in ihren Augen, als sie die von Touristen verstopfte Straße hinauf- und hinunterblickte. Es hatte leicht angefangen zu nieseln. »Devon!«, rief sie und rannte in östlicher Richtung am Fluss entlang. »Wo bist du? Komm zurück. Bitte, komm zurück.«
»Marcy, bitte«, drängte Judith in Marcys Ohr. »Es ist nicht Devon. Du weißt, dass sie es nicht ist.«
»Ich weiß, was ich gesehen habe.« An der St. Patrick's Bridge blieb Marcy stehen und überlegte, ob sie den Fluss überqueren sollte. »Ich sag es dir: Sie ist hier. Ich hab sie gesehen. «
»Nein, das hast du nicht«, sagte Judith sanft. »Devon ist tot, Marcy.«
»Das stimmt nicht. Sie ist hier.«
»Deine Tochter ist tot«, wiederholte Judith mit Tränen in der Stimme.
»Fahr zur Hölle!«, rief Marcy. Dann warf sie ihr Handy in den Fluss und überquerte die Brücke.
Deutsch von Kristian Lutze
© 2009 by Joy Fielding, Inc.
© der deutschsprachigen Erstveröffentlichung 2011 by Wilhelm Goldmann Verlag, München
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Autoren-Porträt von Joy Fielding
Joy Fielding, geb. 1945 in Kanada, ist heute eine in Amerika sehr bekannte Autorin. Vor ihrem literarischen Durchbruch 1991 versuchte sie sich nach dem Studium erst in der Schauspielerei. Die Autorin lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Toronto/Kanada und Palm Beach/Florida.
Autoren-Interview mit Joy Fielding
In "Herzstoß" haben Sie die Geschichte nach Irland verlegt, zugleich auch das erste Mal, dass eines Ihrer Bücher in Europa spielt. Ist das eine Hommage an Ihre europäischen Leserinnen und Leser oder was hat Sie dazu bewegt?Joy Fielding: Ich würde sehr gern zugeben, dass das Setting von "Herzstoß" eine Hommage an meine europäischen Leser ist. In Wahrheit hat der Handlungsort aber viel mehr mit den Anforderungen der Geschichte zu tun. Ich musste Marcy aus ihrem Land, ihrer gewohnten Umgebung, herauslösen. Sie musste weit weg von Familie und Freunden sein, sich ganz allein an einem völlig fremden Ort wiederfinden, der aber gleichzeitig nicht zu exotisch oder romantisch sein durfte. Der Schauplatz sollte Marcys innere Qual widerspiegeln und welcher Ort wäre da besser geeignet als Irland, ein Land das seit Jahrzehnten von Konflikten zerrissen ist. Die Wahl von Irland als Schauplatz hatte jedoch auch praktische Gründe, denn ich wollte, dass Marcy in einem Land ist, in dem Englisch gesprochen wird. Als Autorin wollte ich mich nicht mit der Übersetzung von Phrasen, Redewendungen oder Dialogen auseinandersetzen, denn das empfinde ich als Leser abschreckend. Ich mag es auch, wenn die Schauplätze meiner Bücher variieren, damit weder ich noch meine Leser sich langweilen.
In einem früheren Interview haben Sie erzählt, dass Ihre Hauptcharaktere immer ein Stück Ihrer eigenen Persönlichkeit haben. Wie viel Joy Fielding steckt in Ihrer Protagonistin Marcy Taggart? Würden Sie genauso wie sie handeln?
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Joy Fielding: Die Frage ist schwer zu beantworten. Marcy ist natürlich ein fiktiver Charakter, aber sie hat ganz sicher auch Aspekte meiner Persönlichkeit, wie etwa meinen Humor und meine Art das Leben zu betrachten. Obwohl ich großzügig aus meinem eigenen Leben borge, ist Marcys Leben nicht meines. Ich weiß wirklich nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich damit konfrontiert wäre, eine Mutter und Tochter zu haben, die beide an einer Bipolaren Störung leiden. Familiäre Beziehungen sind schon kompliziert genug wenn sie „normal" sind. Wenn ich mich aber in Marcys Lage versetze, dann stelle ich mir vor, dass sie so reagiert wie sie es im Buch tut.
Was inspiriert Sie Ihre Geschichten zu schreiben? Werden Sie durch reale Begebenheiten beeinflusst oder ist alles, was Sie schreiben pure Fiktion?
Joy Fielding: Es ist immer eine Mischung von beidem. Manchmal inspiriert mich das wahre Leben, manchmal habe ich zuerst einen spannenden Gedanken und versuche dann, ihn so realistisch wie möglich umzusetzen. Nichts ist jemals „pure Fiktion", denn die Fiktion ist immer nur ein Spiegelbild der Realität, nur mit einem Anfang, einer Mitte und einem Schluss.
Haben Sie immer bereits den gesamten Verlauf Ihrer Geschichte, einschließlich des Endes, in Ihrem Kopf, bevor Sie das erste Wort anfangen zu schreiben?
Joy Fielding: Ich kenne immer das Ende meiner Bücher, bevor ich anfange zu schreiben. Wenn du nicht weißt, wo Du hingehen willst, weißt du nicht, wie du dorthin kommen sollst. Folglich wird dem Buch eine zusammenhängende Struktur und die erzählerische Kraft fehlen. Daher weiß ich bereits zu Beginn wie das Buch ausgeht und habe darüber hinaus auch ein paar Schlüsselszenen im Kopf, die den Weg weisen. Das heißt aber nicht, dass sich Dinge während des Schreibens nicht verändern können - das tun sie oft.
Wenn Sie also bereits die Struktur in Ihrem Kopf haben - kann es vorkommen, dass Sie elementare Dinge während des Schreibens ändern, z.B. dass sich ein Charakter ganz anders entwickelt, als ursprünglich geplant?
Joy Fielding: Es gibt einen bestimmten Punkt im Buch, für gewöhnlich nach der ersten Hälfte, an dem die Charaktere die Kontrolle übernehmen und anfangen, selbst zu bestimmen was sie tun oder sagen werden. Meine Figuren sind wie Kinder - du bringst sie auf die Welt, ziehst sie groß und sie hören auf dich bis sie die Pubertät erreichen, dann gehorchen sie dir nicht mehr. Als Autorin und auch als Mutter muss ich das respektieren und hoffen, dass, wenn man sie gut erzogen hat, sie auch das Richtige tun werden. Also ja, es kommt oft vor, dass sich die Dinge anders entwickeln als man geplant hat und das ist eines der schönsten Dinge am Schreiben. Manchmal bringt man einen Charakter in die Handlung ein, von dem man glaubt, er würde nur auf einer oder zwei Seiteni n der Geschichte erscheinen und am Ende nimmt er eine viel größere Rolle ein, als man ihm anfangs zugedacht hatte. Aber wie Flannery O'Connor einmal sagte: „Wenn man als Autor nicht hin und wieder überrascht ist, wie kann man es von seinen Lesern erwarten?"
Joy Fielding: Die Frage ist schwer zu beantworten. Marcy ist natürlich ein fiktiver Charakter, aber sie hat ganz sicher auch Aspekte meiner Persönlichkeit, wie etwa meinen Humor und meine Art das Leben zu betrachten. Obwohl ich großzügig aus meinem eigenen Leben borge, ist Marcys Leben nicht meines. Ich weiß wirklich nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich damit konfrontiert wäre, eine Mutter und Tochter zu haben, die beide an einer Bipolaren Störung leiden. Familiäre Beziehungen sind schon kompliziert genug wenn sie „normal" sind. Wenn ich mich aber in Marcys Lage versetze, dann stelle ich mir vor, dass sie so reagiert wie sie es im Buch tut.
Was inspiriert Sie Ihre Geschichten zu schreiben? Werden Sie durch reale Begebenheiten beeinflusst oder ist alles, was Sie schreiben pure Fiktion?
Joy Fielding: Es ist immer eine Mischung von beidem. Manchmal inspiriert mich das wahre Leben, manchmal habe ich zuerst einen spannenden Gedanken und versuche dann, ihn so realistisch wie möglich umzusetzen. Nichts ist jemals „pure Fiktion", denn die Fiktion ist immer nur ein Spiegelbild der Realität, nur mit einem Anfang, einer Mitte und einem Schluss.
Haben Sie immer bereits den gesamten Verlauf Ihrer Geschichte, einschließlich des Endes, in Ihrem Kopf, bevor Sie das erste Wort anfangen zu schreiben?
Joy Fielding: Ich kenne immer das Ende meiner Bücher, bevor ich anfange zu schreiben. Wenn du nicht weißt, wo Du hingehen willst, weißt du nicht, wie du dorthin kommen sollst. Folglich wird dem Buch eine zusammenhängende Struktur und die erzählerische Kraft fehlen. Daher weiß ich bereits zu Beginn wie das Buch ausgeht und habe darüber hinaus auch ein paar Schlüsselszenen im Kopf, die den Weg weisen. Das heißt aber nicht, dass sich Dinge während des Schreibens nicht verändern können - das tun sie oft.
Wenn Sie also bereits die Struktur in Ihrem Kopf haben - kann es vorkommen, dass Sie elementare Dinge während des Schreibens ändern, z.B. dass sich ein Charakter ganz anders entwickelt, als ursprünglich geplant?
Joy Fielding: Es gibt einen bestimmten Punkt im Buch, für gewöhnlich nach der ersten Hälfte, an dem die Charaktere die Kontrolle übernehmen und anfangen, selbst zu bestimmen was sie tun oder sagen werden. Meine Figuren sind wie Kinder - du bringst sie auf die Welt, ziehst sie groß und sie hören auf dich bis sie die Pubertät erreichen, dann gehorchen sie dir nicht mehr. Als Autorin und auch als Mutter muss ich das respektieren und hoffen, dass, wenn man sie gut erzogen hat, sie auch das Richtige tun werden. Also ja, es kommt oft vor, dass sich die Dinge anders entwickeln als man geplant hat und das ist eines der schönsten Dinge am Schreiben. Manchmal bringt man einen Charakter in die Handlung ein, von dem man glaubt, er würde nur auf einer oder zwei Seiteni n der Geschichte erscheinen und am Ende nimmt er eine viel größere Rolle ein, als man ihm anfangs zugedacht hatte. Aber wie Flannery O'Connor einmal sagte: „Wenn man als Autor nicht hin und wieder überrascht ist, wie kann man es von seinen Lesern erwarten?"
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Bibliographische Angaben
- Autor: Joy Fielding
- 2011, 2, 378 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Kristian Lutze
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 344231206X
- ISBN-13: 9783442312061
Rezension zu „Herzstoß “
"Der neue Roman der Bestsellerautorin ist wieder ein Meisterwerk geworden"
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