Galgenfrist für einen Mörder / Inspector Monk Bd.16
Roman
Inspector William Monk fasst den Kinderschänder und Mörder Jericho Phillips. Doch dann übernimmt ausgerechnet sein Feund, der Anwalt Sir Oliver Rathbone, Phillips' Verteidigung. Er ahnt nicht, wie weit er selbst in diesen Fall verwickelt ist.
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Produktinformationen zu „Galgenfrist für einen Mörder / Inspector Monk Bd.16 “
Inspector William Monk fasst den Kinderschänder und Mörder Jericho Phillips. Doch dann übernimmt ausgerechnet sein Feund, der Anwalt Sir Oliver Rathbone, Phillips' Verteidigung. Er ahnt nicht, wie weit er selbst in diesen Fall verwickelt ist.
Klappentext zu „Galgenfrist für einen Mörder / Inspector Monk Bd.16 “
William Monk ermittelt wiederAls es William Monk, Inspector bei der Londoner Wasserpolizei, endlich gelingt, den Kinderschänder und Mörder Jericho Phillips zu fassen, glaubt er an die sichere Verurteilung des perversen Verbrechers. Doch dann erhält Monks Freund, der Anwalt Sir Oliver Rathbone, Besuch von seinem Schwiegervater, der ihn bittet, die Verteidigung von Phillips zu übernehmen. Rathbone sagt zu - und kämpft zum ersten Mal in seiner Karriere gegen seinen Freund Monk. Aber Rathbone ist nicht bewusst, wie weit er selbst in den Fall Phillips verwickelt ist ...
Lese-Probe zu „Galgenfrist für einen Mörder / Inspector Monk Bd.16 “
Galgenfrist für einen Mörder von Anne Perry1
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Der Mann balancierte am Heck des Leichters, ein Frachtkahn mit flachem Rumpf. Über dem glitzernden Wasser der Themse gab er eine verwegene Gestalt ab, das Haar vom Wind zerzaust, die Lippen in dem kantigen Gesicht fest zusammengepresst. Im letzten Moment, als der andere Leichter schon fast vorüber gefahren war, duckte er sich kurz und sprang. Beinahe verfehlte er das Deck, geriet ins Straucheln, richtete sich jedoch sogleich wieder auf. Sobald er sicher stand, drehte er sich um und winkte, eine groteske Geste des Jubels. Dann ließ er sich auf die Knie sinken und verschwand hinter dicht gestapelten Wollballen.
Monk verzog die Lippen zu einem grimmigen Lächeln, während die Ruderer das Polizeiboot unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft wendeten und gegen den Sog des meerwärts strömenden Wassers in Richtung des Pool of London lenkten. Unter keinen Umständen hätte er den Befehl zum Schießen erteilt, selbst dann nicht, wenn er sicher gewesen wäre, dass in dem dichten Flussverkehr niemand anders getroffen würde. er wollte Jericho Phillips lebend fassen und mit eigenen Augen sehen, wie er vor Gericht gestellt und gehängt wurde.
Im Bug des Polizeibootes fluchte Orme leise vor sich hin. Er war immer noch nicht so selbstsicher, dass er es wagte, seinen Gefühlen vor seinem neuen Kommandanten freien Lauf zu lassen. Monk war erst nach Durbans Tod vor einem halben Jahr zur Wasserpolizei gekommen. Der Dienst hier brachte ganz andere Anforderungen mit sich als die Arbeit an Land, mit der Monk Erfahrung hatte, doch noch schwieriger war es für ihn, die Führung von Männern zu übernehmen, die ihn für einen Außenseiter hielten. er galt als brillanter Ermittler, aber auch als rücksichtsloser und verschlossener Einzelgänger, der es anderen schwer machte, ihn zu mögen. In den acht Jahren seit seinem Unfall, der 1856 sein Gedächtnis ausgelöscht, ihm aber auch die Chance zu einem Neuanfang gegeben hatte, hatte er sich verändert. Er hatte gelernt, sich durch die Augen anderer zu sehen, und das war eine ebenso erhellende wie bittere Erfahrung gewesen. Allerdings gab es niemanden, dem er das erklären konnte. Sie holten rasch zu dem Leichter auf, wo Phillips, vor ihren Augen verborgen, auf der Ladefläche kauerte, ohne dass der Mann am Ruder auf ihn achtete. noch dreißig Meter, und sie würden Seite an Seite fahren. Sie waren zu fünft im Polizeiboot und damit mehr Polizisten als üblich, aber um einen Mann wie Phillips zu stellen, war Verstärkung womöglich durchaus vonnöten. Gesucht wurde er wegen der Ermordung eines Jungen von etwa dreizehn oder vierzehn Jahren namens Walter Figgis, den man als Fig gekannt hatte. er war schmächtig und von geringem Wuchs gewesen, und daran mochte es gelegen haben, dass er überhaupt so lange überlebt hatte. Phillips handelte mit Jungen ab einem Alter von vier, fünf Jahren bis zu der Zeit, in der sich ihre Stimme veränderte und sie begannen, die physischen Eigenschaften erwachsener Männer zu entwickeln, womit sie für diesen speziellen Bereich der Pornografie unbrauchbar wurden. Das Polizeiboot schoss durch das aufgewühlte Wasser. Fünfzig Meter von ihnen entfernt fuhr ein Vergnügungsboot träge stromaufwärts, vielleicht mit dem Ziel Kew Gardens. An seinen Masten flatterten bunte Bänder im Wind, und Lachen, vermischt mit Musik, wehte herüber. Weiter vorn, im Upper Pool, lagen von Kohlenbarkassen bis hin zu Teeklippern beinahe hundert Schiffe vor Anker. Dazwischen kreuzten Leichter hin und her, auf die Schauermänner Frachten aus allen Winkeln der Welt luden. Monk beugte sich etwas weiter vor. Schon holte er tief Luft, um die Ruderer zu noch größeren Anstrengungen anzufeuern, überlegte es sich dann aber anders. Das hätte so gewirkt, als traute er ihnen nicht zu, dass sie von sich aus ihr Bestes gaben. Doch es war schlichtweg unvorstellbar, dass es ihnen weniger wichtig sein könnte als ihm selbst, Phillips zu stellen. An Monk und nicht an ihnen hatte es gelegen, dass Durban in den Fall Louvain verwickelt worden war, der ihren damaligen Kommandanten letztlich das Leben gekostet hatte. Und Monk war derjenige, den Durban als seinen Nachfolger vorgeschlagen hatte, als ihm klar wurde, dass er sterben würde. Orme hatte jahrelang unter Durban gedient, aber falls er Monk verübelte, dass nun er das Kommando führte, hatte er das kein einziges Mal gezeigt. Er war zuverlässig, gewissenhaft, sogar hilfsbereit, aber distanziert. Je länger Monk ihn allerdings beobachtete, desto klarer erkannte er, dass sein erfolg bei der Truppe von Ormes Respekt abhing und - mehr noch - dass es ihm auf das Wohlwollen dieses Mannes ankam. Letzteres ging ihm gegen den Strich. er konnte sich nicht erinnern, sich jemals darum gekümmert zu haben, was ein Untergebener von ihm hielt.
Der Leichter war jetzt nur noch fünf Meter vor ihnen und wurde langsamer, um ein anderes, mit Fässern voller Rohzucker beladenes Transportboot vorbeizulassen, das vor einem Schoner quer über den Fluss zum Ufer zurücksteuerte. Das Schiff lag, von seiner Last so gut wie befreit, höher auf dem Fluss, und da seine riesigen Segel eingerollt worden waren und die Spieren nackt in die Luft ragten, bewegte es sich sanft schaukelnd im Wasser. Während der beladene Kahn an Steuerbord querte, schoss das Polizeiboot vor und erreichte den Leichter an Backbord. Der erste Polizist sprang an Deck, der nächste gleich hinterher, beide mit gezogener Pistole. Der Fall Phillips war der einzige, den Durban nicht abgeschlossen hatte, und er war, sogar in seinen letzten Aufzeichnungen, eine offene Wunde für ihn geblieben. Seit seinem Antritt von Durbans erbe hatte Monk immer wieder jede Seite studiert. Die Akte enthielt sämtliche Fakten, die Daten, die Uhrzeiten, die Namen der Verhörten, die Anworten und Schlussfolgerungen, die Entscheidungen, was als nächstes getan werden sollte. Aber hinter all den Worten, den über die Seiten gekritzelten Buchstaben, schwelten Emotionen. Sie bargen eine Wut, die weit mehr war als bloße Frustration über Scheitern oder verletzten Stolz, weil der Gegenspieler raffinierter gewesen war als man selbst. Sie verrieten einen tiefen, sengenden Zorn über das Leiden von Kindern und Mitleid mit all den Opfern von Phillips' Gewerbe. Und ob Monk es wollte oder nicht, diese Akte hatte auch in ihm eine immer wieder aufbrechende Wunde hinterlassen. er musste daran denken, wenn die Arbeit getan und er wieder zu Hause war.
Sie überfiel ihn während der Mahlzeiten. Sie drängte sich in seine Gespräche mit Hester, seiner Frau. Solche Auswirkungen auf sein Seelenleben hatte bisher nur sehr wenig gehabt. Monk saß angespannt im Heck des Bootes. Alles in ihm drängte danach, zu seinen Männern auf den Leichter zu springen. Wo waren sie eigentlich? Warum waren sie nicht längst mit Phillips wieder aufgetaucht? Dann begriff er. Sie waren auf der falschen Seite. Phillips hatte das exakt vorausberechnet. In dem Wissen, dass sie von backbord kommen mussten, um einen Zusammenstoß mit dem anderen Boot zu vermeiden, hatte er sich nach steuerbord gestohlen und war erneut gesprungen. riskant war das gewiss, aber er hatte ja nichts zu verlieren. Wenn sie ihn erwischten, landete er vor Gericht, und dort konnte es nur ein Urteil geben. Am dritten Sonntag danach würde man ihn hängen. Monk sprang von seinem Sitz auf. »Holen Sie die Männer zurück! Er ist an Steuerbord! Auf dem anderen Leichter!« Sie hatten es bereits selbst bemerkt. Orme packte das andere Ruder, tauchte es ins Wasser und legte sich verzweifelt in die Riemen, um das Boot an die andere Seite des ersten Leichters zu bringen. Die zwei Polizisten sprangen in das Boot zurück, das heftig zu
schaukeln begann. Doch jetzt war keine Zeit, mit Orme den Platz an den rudern zu tauschen. Der andere Leichter hatte schon einen Vorsprung von zwanzig Metern und hielt Kurs auf den Kai. Wenn Phillips es bis dorthin schaffte, bevor sie ihn stellten, war er ihnen so gut wie entwischt. Zwischen all den Kisten und Ballen, den Teetruhen, den rum- und Zuckerfässern, den Stapeln von Holz, Fellen, Stoßzähnen und Töpfereiwaren, die die Mole füllten, würden sie ihn gewiss nicht mehr finden. Monk stand immer noch hoch aufgerichtet im Boot, der Wind, jetzt bei ebbe mit den Gerüchen von Salz und Fisch beladen, peitschte ihm ins Gesicht. Phillips zu verhaften war das einzige, was er noch für Durban tun konnte. Damit wäre das Vertrauen gerechtfertigt, das der andere Mann in ihn gesetzt hatte, obwohl sie einander nur ein paar Wochen gekannt hatten. Sie hatten nie den Alltag samt seinen Routineangelegenheiten miteinander geteilt,
nur jenen einen Fall, der beinahe unvorstellbares Grauen mit sich gebracht hatte. Der Leichter vor ihnen verschwand kurz aus ihrer Sicht, als sich das Heck eines Fünfmasters zwischen sie schob. Monk starrte wie gebannt nach vorn. es schien viel zu lange zu dauern, bis das andere Boot wieder auftauchte. Klammerte sich Phillips inzwischen an ein loses Seil, schrie er womöglich um Hilfe und ließ sich von den Schauermännern an Bord helfen? Wenn es tatsächlich so war, würde Monk zur Polizeiwache in Wapping zurückkehren und Verstärkung holen müssen. Und bis dahin konnte alles Mögliche passieren. Orme musste dieselbe Befürchtung durch den Kopf geschossen sein. Er legte sich mit seinem ganzen Gewicht ins Ruder und feuerte die anderen Männer mit lauter Stimme an. Das Boot machte einen Satz nach vorn, gerade als der Leichter mit immer noch beträchtlichem Vorsprung wieder vor ihnen auftauchte.
Monk wirbelte herum und fixierte den Rumpf des Schoners. Dort hangelte sich jedoch niemand an den Seilen empor. Die Schauermänner beförderten nach wie vor mit gekrümmtem rücken ein Fass nach dem anderen aus dem Bauch des Schiffs an Deck. Erleichterung durchflutete Monk, als sie das Transportboot endlich einholten. Noch ein, zwei Minuten, dann würden sie sich Phillips schnappen, und die Jagd wäre vorüber. Hatten sie ihn erst in Gewahrsam, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Mühlen der Gerechtigkeit zu mahlen begannen. Das Polizeiboot erreichte die Längsseite des Leichters. Erneut sprangen zwei Männer an Deck, nur um Sekunden später mit düsterer Miene und kopfschüttelnd zurückzukehren. Diesmal fluchte auch Monk. An den Wänden des Schoners war Phillips nicht hochgeklettert, dessen war sich Monk sicher. So beweglich der Mann auch sein mochte, so schnell hätte er in der kurzen Zeit, in der er vor ihren Augen verborgen war, unmöglich auf den Schoner klettern können. Und zum Nordufer war keiner der vorüber fahrenden Leichter unterwegs gewesen. Damit blieb nur noch das Südufer. Die Schultern angespannt, ruderten die Männer das Boot mit wütenden Schlägen um das Heck des Schoners herum und lenkten es in das Kielwasser einer Gruppe von Leichtern, die sich stromaufwärts bewegte. Sie legten sich in die Riemen und peitschten mit den rudern auf das Wasser ein, bis die Gischt hochspritzte. Monk klammerte sich an die Seiten und stieß ein Knurren aus, als er einen weiteren Leichter bemerkte, der südwärts auf Rotherhithe zuhielt. Orme entdeckte ihn im selben Augenblick und gab sofort den entsprechenden Befehl.
eilig schlängelten sie sich zwischen den Booten hindurch. Vor ihnen überquerte eine Fähre zügig den Fluss, während sich die Passagiere zum Schutz gegen den Wind niederkauerten. Von einem anderen Vergnügungsboot stiegen Musikfetzen in die Luft. Der Leichter erreichte die Mole nur zehn Meter vor ihnen, und sie sahen Phillips' geschmeidige Gestalt mit wehenden Haaren und Frackschößen vom Heck springen. er landete auf der untersten Stufe, die von der Flut mit schleimigem Tang bedeckt war. einen Moment lang ruderte er mit den Armen durch die Luft, dann kippte er zur Seite und prallte gegen die von grünem
Seetang bedeckte Steinmauer. Die Schmerzen mussten immens sein, doch natürlich wusste Phillips, dass das Polizeiboot nicht weit hinter ihm war, und die Angst spornte ihn an, sich aufzurappeln und auf Händen und Knien nach oben zu kriechen. Das freilich war ein Manöver ohne jede Würde und wurde prompt vom Hohngelächter einiger Schauermänner begleitet. Als das Polizeiboot an der Mauer entlang schabte, hatte Phillips bereits den trockenen Kai erreicht und sprintete auf den nächsten Liegeplatz zu, wo noch Paletten voller Töpferwaren aus Spanien zwischen aufs Geratewohl abgeladenen dunkelbraunen Fässern
herumstanden. Dahinter erstreckten sich die Bermondsayroad und ein Labyrinth von Gassen und Hinterhöfen, Bettlerherbergen, Pfandleihhäusern, Kerzendreherwerkstätten,Tavernen und Bordellen. Monk zauderte nur einen winzigen Moment. Bei einem Sprung konnte er sich leicht die Knöchel verstauchen. Und was, wenn er ins Wasser fiel? Die Hafenarbeiter und Schauermänner würden vor Lachen brüllen. Und was für eine Blamage wäre es, wenn Phillips entwischte, weil seine eigenen Männer die Verfolgung abbrechen mussten, um ihren Kommandanten aus dem Fluss zu fischen! Aber die Zeit reichte einfach nicht für langes Überlegen und Abwägen. er richtete sich in dem schlingernden Boot auf und machte einen Satz in Richtung der Stufen. elegant war die Landung nicht. Seine Hände trafen auf mit Seetang überwachsenen Stein, er fiel auf ein Knie und schlug auf der Kante der nächsten Stufe auf. ein grässlicher Schmerz jagte durch seinen ganzen Körper, doch er konnte gleich wieder aufstehen und hinter Phillips herklettern, als wäre es seine Absicht gewesen, so und nicht anders am Kai zu landen. Er erreichte die oberste Stufe. Gut zehn Meter vor ihm stürmte Phillips auf einen Stapel dunkler Holzfässer und die Winde dahinter
zu. Die Schauermänner, die mit dem entladen eines weiteren Leichters beschäftigt waren, achteten nicht auf ihn. einige arbeiteten mit entblößtem Oberkörper in der Sonne, auf ihrer Haut glänzte der Schweiß. Monk rannte über die freie Fläche zu den Fässern. Dort zögerte er. er wusste, dass Phillips unmittelbar dahinter lauern konnte, womöglich mit einem Stück Holz oder Rohr bewaffnet, im schlimmsten Fall mit einer scharfen Klinge. Monk entschied sich für den längeren Weg den Stapel entlang und bog um die weiter entfernte Ecke.
Genau damit musste Phillips gerechnet haben. er erklomm bereits einen Stapel von Ballen, der sich hinter den Fässern auftürmte. Ein Seemann, der täglich den Mast hinaufstieg, hätte nicht geschickter sein können. nur ein Mal blickte er sich um, den Mund zu einem höhnischen Feixen aufgerissen, dann schwang er sich auf den obersten Ballen, wo er kurz innehielt, ehe er sich auf die andere Seite abrollte und sich fallen ließ. Monk hatte nur eine Wahl: hinterher oder ihn verlieren. Phillips konnte sein verfluchtes Bordellboot aufgeben, ein Zimmer in irgendeiner Absteige am Ufer nehmen und sich eine Weile verstecken, um vielleicht in einem halben Jahr wieder aufzutauchen. Gott allein mochte wissen, wie viele Jungen in dieser Zeit gequält, wenn nicht sogar getötet würden. Unbeholfen und deutlich langsamer als sein Gegner kletterte Monk die Ballen hinauf und war erleichtert, als er oben anlangte. Dann kroch er zur anderen Seite hinüber. es ging tief hinunter, wohl an die fünf Meter. Phillips jagte mit beträchtlichem Vorsprung auf weitere Berge aus aufeinander getürmten Weinfässern, Gewürzkisten und Tabakballen zu. Einen Sprung in die Tiefe wollte Monk nicht riskieren. Wenn er sich den Knöchel brach, würde er Phillips endgültig verlieren.
er ließ sich an der Seite der Ballen hinab gleiten und verkürzte damit die Fallhöhe. Unten angekommen, drehte er sich sofort um und spurtete zu den Weinfässern. Gerade als er sie erreichte, rannte Phillips über die Steinplatten dahinter auf ein gewaltiges Frachtschiff zu, das an der Kaimauer vor Anker lag. Seine Taue hingen über die Seitenwände, daneben ragte ein Kran empor, von dem soeben eine Ladung Holz herabgelassen wurde. Auf den unebenen Pflastersteinen fuhr ratternd ein von Pferden gezogener Wagen. ein Trupp Hafenarbeiter näherte sich dem Kran. Zwei Müßiggänger stritten sich um etwas, das aussah wie ein Blatt Papier. Überall herrschte Lärm: die rufe von Männern, das Kreischen der Möwen, das rasseln von Ketten, das Knirschen von Holz, das unablässige Klatschen des Wassers gegen die Steinmauern. Dazu die ständige Bewegung der sich auf dem Wasser spiegelnden Sonne, grell und gleißend. Die riesigen Schiffe hoben und senkten sich mit den Wellen. Männer in grauer und brauner Kleidung mühten sich mit Dutzenden verschiedener Aufgaben ab. Alle möglichen Gerüche füllten die Luft - der dicke, saure Gestank des Flussschlamms, die strenge Sauberkeit von Salz, die schwere Süße von Rohzucker, die ätzenden Ausdünstungen von Tierhäuten, das faulige Aroma der an den Schiffsrümpfen klebenden Meerespflanzen und - etwas weiter vorn - der betörende Duft von Gewürzen.
Monk setzte alles auf eine Karte. Seiner Einschätzung nach würde Phillips nicht versuchen, sich auf das Schiff zu retten. Wollte er an seiner Wand hochklettern, wäre er zu deutlich sichtbar. Nein, er würde in die andere Richtung flüchten und in den dunklen Gassen verschwinden. Oder würde er bluffen? Doppelt bluffen? Orme war jetzt dicht hinter Monk. Monk jagte auf einen Durchgang zwischen zwei Lagerhäusern zu. Orme sog scharf die Luft ein, dann folgte er seinem Vorgesetzten. Der dritte Polizist blieb am Kai zurück. er hatte solche Verfolgungen oft genug mitgemacht und wusste, dass die Flüchtenden auf einem Umweg zurücklaufen konnten. er würde einfach warten. Der Durchgang, keine zwei Meter breit, führte mehrere Stufen hinunter, ehe er unmittelbar nacheinander zwei enge Biegungen machte. Der beißende Gestank von Urin stieg Monk in die Nase. rechts befand sich das Geschäft eines Schiffsausrüsters, dessen schmale Tür von zusammengerollten Tauen, Schiffslaternen, massiven Holznägeln und einem Eimer voller Bürsten zusätzlich verengt wurde. Dieser Laden lag nicht tief genug in der Gasse, dass Phillips sich hier hätte verstecken können. Monk lief weiter. Als nächstes passierte er ein Malergeschäft. Durch das Fenster konnte er sehen, dass es innen leer war. Orme war dicht hinter ihm. »Der nächste Durchgang ist eine Sackgasse«, murmelte er. »Er könnte am oberen ende auf uns warten.« Das war eine Warnung. Phillips hatte ein Messer und würde nicht zögern, es zu benutzen. »Er steht mit einem Fuß unter dem Galgen«, fuhr Orme fort.
Übersetzung: Peter Pfaffinger
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Wilhelm GoldmannVerlag, München,
in der Verlagsgruppe random House GmbH
Der Mann balancierte am Heck des Leichters, ein Frachtkahn mit flachem Rumpf. Über dem glitzernden Wasser der Themse gab er eine verwegene Gestalt ab, das Haar vom Wind zerzaust, die Lippen in dem kantigen Gesicht fest zusammengepresst. Im letzten Moment, als der andere Leichter schon fast vorüber gefahren war, duckte er sich kurz und sprang. Beinahe verfehlte er das Deck, geriet ins Straucheln, richtete sich jedoch sogleich wieder auf. Sobald er sicher stand, drehte er sich um und winkte, eine groteske Geste des Jubels. Dann ließ er sich auf die Knie sinken und verschwand hinter dicht gestapelten Wollballen.
Monk verzog die Lippen zu einem grimmigen Lächeln, während die Ruderer das Polizeiboot unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft wendeten und gegen den Sog des meerwärts strömenden Wassers in Richtung des Pool of London lenkten. Unter keinen Umständen hätte er den Befehl zum Schießen erteilt, selbst dann nicht, wenn er sicher gewesen wäre, dass in dem dichten Flussverkehr niemand anders getroffen würde. er wollte Jericho Phillips lebend fassen und mit eigenen Augen sehen, wie er vor Gericht gestellt und gehängt wurde.
Im Bug des Polizeibootes fluchte Orme leise vor sich hin. Er war immer noch nicht so selbstsicher, dass er es wagte, seinen Gefühlen vor seinem neuen Kommandanten freien Lauf zu lassen. Monk war erst nach Durbans Tod vor einem halben Jahr zur Wasserpolizei gekommen. Der Dienst hier brachte ganz andere Anforderungen mit sich als die Arbeit an Land, mit der Monk Erfahrung hatte, doch noch schwieriger war es für ihn, die Führung von Männern zu übernehmen, die ihn für einen Außenseiter hielten. er galt als brillanter Ermittler, aber auch als rücksichtsloser und verschlossener Einzelgänger, der es anderen schwer machte, ihn zu mögen. In den acht Jahren seit seinem Unfall, der 1856 sein Gedächtnis ausgelöscht, ihm aber auch die Chance zu einem Neuanfang gegeben hatte, hatte er sich verändert. Er hatte gelernt, sich durch die Augen anderer zu sehen, und das war eine ebenso erhellende wie bittere Erfahrung gewesen. Allerdings gab es niemanden, dem er das erklären konnte. Sie holten rasch zu dem Leichter auf, wo Phillips, vor ihren Augen verborgen, auf der Ladefläche kauerte, ohne dass der Mann am Ruder auf ihn achtete. noch dreißig Meter, und sie würden Seite an Seite fahren. Sie waren zu fünft im Polizeiboot und damit mehr Polizisten als üblich, aber um einen Mann wie Phillips zu stellen, war Verstärkung womöglich durchaus vonnöten. Gesucht wurde er wegen der Ermordung eines Jungen von etwa dreizehn oder vierzehn Jahren namens Walter Figgis, den man als Fig gekannt hatte. er war schmächtig und von geringem Wuchs gewesen, und daran mochte es gelegen haben, dass er überhaupt so lange überlebt hatte. Phillips handelte mit Jungen ab einem Alter von vier, fünf Jahren bis zu der Zeit, in der sich ihre Stimme veränderte und sie begannen, die physischen Eigenschaften erwachsener Männer zu entwickeln, womit sie für diesen speziellen Bereich der Pornografie unbrauchbar wurden. Das Polizeiboot schoss durch das aufgewühlte Wasser. Fünfzig Meter von ihnen entfernt fuhr ein Vergnügungsboot träge stromaufwärts, vielleicht mit dem Ziel Kew Gardens. An seinen Masten flatterten bunte Bänder im Wind, und Lachen, vermischt mit Musik, wehte herüber. Weiter vorn, im Upper Pool, lagen von Kohlenbarkassen bis hin zu Teeklippern beinahe hundert Schiffe vor Anker. Dazwischen kreuzten Leichter hin und her, auf die Schauermänner Frachten aus allen Winkeln der Welt luden. Monk beugte sich etwas weiter vor. Schon holte er tief Luft, um die Ruderer zu noch größeren Anstrengungen anzufeuern, überlegte es sich dann aber anders. Das hätte so gewirkt, als traute er ihnen nicht zu, dass sie von sich aus ihr Bestes gaben. Doch es war schlichtweg unvorstellbar, dass es ihnen weniger wichtig sein könnte als ihm selbst, Phillips zu stellen. An Monk und nicht an ihnen hatte es gelegen, dass Durban in den Fall Louvain verwickelt worden war, der ihren damaligen Kommandanten letztlich das Leben gekostet hatte. Und Monk war derjenige, den Durban als seinen Nachfolger vorgeschlagen hatte, als ihm klar wurde, dass er sterben würde. Orme hatte jahrelang unter Durban gedient, aber falls er Monk verübelte, dass nun er das Kommando führte, hatte er das kein einziges Mal gezeigt. Er war zuverlässig, gewissenhaft, sogar hilfsbereit, aber distanziert. Je länger Monk ihn allerdings beobachtete, desto klarer erkannte er, dass sein erfolg bei der Truppe von Ormes Respekt abhing und - mehr noch - dass es ihm auf das Wohlwollen dieses Mannes ankam. Letzteres ging ihm gegen den Strich. er konnte sich nicht erinnern, sich jemals darum gekümmert zu haben, was ein Untergebener von ihm hielt.
Der Leichter war jetzt nur noch fünf Meter vor ihnen und wurde langsamer, um ein anderes, mit Fässern voller Rohzucker beladenes Transportboot vorbeizulassen, das vor einem Schoner quer über den Fluss zum Ufer zurücksteuerte. Das Schiff lag, von seiner Last so gut wie befreit, höher auf dem Fluss, und da seine riesigen Segel eingerollt worden waren und die Spieren nackt in die Luft ragten, bewegte es sich sanft schaukelnd im Wasser. Während der beladene Kahn an Steuerbord querte, schoss das Polizeiboot vor und erreichte den Leichter an Backbord. Der erste Polizist sprang an Deck, der nächste gleich hinterher, beide mit gezogener Pistole. Der Fall Phillips war der einzige, den Durban nicht abgeschlossen hatte, und er war, sogar in seinen letzten Aufzeichnungen, eine offene Wunde für ihn geblieben. Seit seinem Antritt von Durbans erbe hatte Monk immer wieder jede Seite studiert. Die Akte enthielt sämtliche Fakten, die Daten, die Uhrzeiten, die Namen der Verhörten, die Anworten und Schlussfolgerungen, die Entscheidungen, was als nächstes getan werden sollte. Aber hinter all den Worten, den über die Seiten gekritzelten Buchstaben, schwelten Emotionen. Sie bargen eine Wut, die weit mehr war als bloße Frustration über Scheitern oder verletzten Stolz, weil der Gegenspieler raffinierter gewesen war als man selbst. Sie verrieten einen tiefen, sengenden Zorn über das Leiden von Kindern und Mitleid mit all den Opfern von Phillips' Gewerbe. Und ob Monk es wollte oder nicht, diese Akte hatte auch in ihm eine immer wieder aufbrechende Wunde hinterlassen. er musste daran denken, wenn die Arbeit getan und er wieder zu Hause war.
Sie überfiel ihn während der Mahlzeiten. Sie drängte sich in seine Gespräche mit Hester, seiner Frau. Solche Auswirkungen auf sein Seelenleben hatte bisher nur sehr wenig gehabt. Monk saß angespannt im Heck des Bootes. Alles in ihm drängte danach, zu seinen Männern auf den Leichter zu springen. Wo waren sie eigentlich? Warum waren sie nicht längst mit Phillips wieder aufgetaucht? Dann begriff er. Sie waren auf der falschen Seite. Phillips hatte das exakt vorausberechnet. In dem Wissen, dass sie von backbord kommen mussten, um einen Zusammenstoß mit dem anderen Boot zu vermeiden, hatte er sich nach steuerbord gestohlen und war erneut gesprungen. riskant war das gewiss, aber er hatte ja nichts zu verlieren. Wenn sie ihn erwischten, landete er vor Gericht, und dort konnte es nur ein Urteil geben. Am dritten Sonntag danach würde man ihn hängen. Monk sprang von seinem Sitz auf. »Holen Sie die Männer zurück! Er ist an Steuerbord! Auf dem anderen Leichter!« Sie hatten es bereits selbst bemerkt. Orme packte das andere Ruder, tauchte es ins Wasser und legte sich verzweifelt in die Riemen, um das Boot an die andere Seite des ersten Leichters zu bringen. Die zwei Polizisten sprangen in das Boot zurück, das heftig zu
schaukeln begann. Doch jetzt war keine Zeit, mit Orme den Platz an den rudern zu tauschen. Der andere Leichter hatte schon einen Vorsprung von zwanzig Metern und hielt Kurs auf den Kai. Wenn Phillips es bis dorthin schaffte, bevor sie ihn stellten, war er ihnen so gut wie entwischt. Zwischen all den Kisten und Ballen, den Teetruhen, den rum- und Zuckerfässern, den Stapeln von Holz, Fellen, Stoßzähnen und Töpfereiwaren, die die Mole füllten, würden sie ihn gewiss nicht mehr finden. Monk stand immer noch hoch aufgerichtet im Boot, der Wind, jetzt bei ebbe mit den Gerüchen von Salz und Fisch beladen, peitschte ihm ins Gesicht. Phillips zu verhaften war das einzige, was er noch für Durban tun konnte. Damit wäre das Vertrauen gerechtfertigt, das der andere Mann in ihn gesetzt hatte, obwohl sie einander nur ein paar Wochen gekannt hatten. Sie hatten nie den Alltag samt seinen Routineangelegenheiten miteinander geteilt,
nur jenen einen Fall, der beinahe unvorstellbares Grauen mit sich gebracht hatte. Der Leichter vor ihnen verschwand kurz aus ihrer Sicht, als sich das Heck eines Fünfmasters zwischen sie schob. Monk starrte wie gebannt nach vorn. es schien viel zu lange zu dauern, bis das andere Boot wieder auftauchte. Klammerte sich Phillips inzwischen an ein loses Seil, schrie er womöglich um Hilfe und ließ sich von den Schauermännern an Bord helfen? Wenn es tatsächlich so war, würde Monk zur Polizeiwache in Wapping zurückkehren und Verstärkung holen müssen. Und bis dahin konnte alles Mögliche passieren. Orme musste dieselbe Befürchtung durch den Kopf geschossen sein. Er legte sich mit seinem ganzen Gewicht ins Ruder und feuerte die anderen Männer mit lauter Stimme an. Das Boot machte einen Satz nach vorn, gerade als der Leichter mit immer noch beträchtlichem Vorsprung wieder vor ihnen auftauchte.
Monk wirbelte herum und fixierte den Rumpf des Schoners. Dort hangelte sich jedoch niemand an den Seilen empor. Die Schauermänner beförderten nach wie vor mit gekrümmtem rücken ein Fass nach dem anderen aus dem Bauch des Schiffs an Deck. Erleichterung durchflutete Monk, als sie das Transportboot endlich einholten. Noch ein, zwei Minuten, dann würden sie sich Phillips schnappen, und die Jagd wäre vorüber. Hatten sie ihn erst in Gewahrsam, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Mühlen der Gerechtigkeit zu mahlen begannen. Das Polizeiboot erreichte die Längsseite des Leichters. Erneut sprangen zwei Männer an Deck, nur um Sekunden später mit düsterer Miene und kopfschüttelnd zurückzukehren. Diesmal fluchte auch Monk. An den Wänden des Schoners war Phillips nicht hochgeklettert, dessen war sich Monk sicher. So beweglich der Mann auch sein mochte, so schnell hätte er in der kurzen Zeit, in der er vor ihren Augen verborgen war, unmöglich auf den Schoner klettern können. Und zum Nordufer war keiner der vorüber fahrenden Leichter unterwegs gewesen. Damit blieb nur noch das Südufer. Die Schultern angespannt, ruderten die Männer das Boot mit wütenden Schlägen um das Heck des Schoners herum und lenkten es in das Kielwasser einer Gruppe von Leichtern, die sich stromaufwärts bewegte. Sie legten sich in die Riemen und peitschten mit den rudern auf das Wasser ein, bis die Gischt hochspritzte. Monk klammerte sich an die Seiten und stieß ein Knurren aus, als er einen weiteren Leichter bemerkte, der südwärts auf Rotherhithe zuhielt. Orme entdeckte ihn im selben Augenblick und gab sofort den entsprechenden Befehl.
eilig schlängelten sie sich zwischen den Booten hindurch. Vor ihnen überquerte eine Fähre zügig den Fluss, während sich die Passagiere zum Schutz gegen den Wind niederkauerten. Von einem anderen Vergnügungsboot stiegen Musikfetzen in die Luft. Der Leichter erreichte die Mole nur zehn Meter vor ihnen, und sie sahen Phillips' geschmeidige Gestalt mit wehenden Haaren und Frackschößen vom Heck springen. er landete auf der untersten Stufe, die von der Flut mit schleimigem Tang bedeckt war. einen Moment lang ruderte er mit den Armen durch die Luft, dann kippte er zur Seite und prallte gegen die von grünem
Seetang bedeckte Steinmauer. Die Schmerzen mussten immens sein, doch natürlich wusste Phillips, dass das Polizeiboot nicht weit hinter ihm war, und die Angst spornte ihn an, sich aufzurappeln und auf Händen und Knien nach oben zu kriechen. Das freilich war ein Manöver ohne jede Würde und wurde prompt vom Hohngelächter einiger Schauermänner begleitet. Als das Polizeiboot an der Mauer entlang schabte, hatte Phillips bereits den trockenen Kai erreicht und sprintete auf den nächsten Liegeplatz zu, wo noch Paletten voller Töpferwaren aus Spanien zwischen aufs Geratewohl abgeladenen dunkelbraunen Fässern
herumstanden. Dahinter erstreckten sich die Bermondsayroad und ein Labyrinth von Gassen und Hinterhöfen, Bettlerherbergen, Pfandleihhäusern, Kerzendreherwerkstätten,Tavernen und Bordellen. Monk zauderte nur einen winzigen Moment. Bei einem Sprung konnte er sich leicht die Knöchel verstauchen. Und was, wenn er ins Wasser fiel? Die Hafenarbeiter und Schauermänner würden vor Lachen brüllen. Und was für eine Blamage wäre es, wenn Phillips entwischte, weil seine eigenen Männer die Verfolgung abbrechen mussten, um ihren Kommandanten aus dem Fluss zu fischen! Aber die Zeit reichte einfach nicht für langes Überlegen und Abwägen. er richtete sich in dem schlingernden Boot auf und machte einen Satz in Richtung der Stufen. elegant war die Landung nicht. Seine Hände trafen auf mit Seetang überwachsenen Stein, er fiel auf ein Knie und schlug auf der Kante der nächsten Stufe auf. ein grässlicher Schmerz jagte durch seinen ganzen Körper, doch er konnte gleich wieder aufstehen und hinter Phillips herklettern, als wäre es seine Absicht gewesen, so und nicht anders am Kai zu landen. Er erreichte die oberste Stufe. Gut zehn Meter vor ihm stürmte Phillips auf einen Stapel dunkler Holzfässer und die Winde dahinter
zu. Die Schauermänner, die mit dem entladen eines weiteren Leichters beschäftigt waren, achteten nicht auf ihn. einige arbeiteten mit entblößtem Oberkörper in der Sonne, auf ihrer Haut glänzte der Schweiß. Monk rannte über die freie Fläche zu den Fässern. Dort zögerte er. er wusste, dass Phillips unmittelbar dahinter lauern konnte, womöglich mit einem Stück Holz oder Rohr bewaffnet, im schlimmsten Fall mit einer scharfen Klinge. Monk entschied sich für den längeren Weg den Stapel entlang und bog um die weiter entfernte Ecke.
Genau damit musste Phillips gerechnet haben. er erklomm bereits einen Stapel von Ballen, der sich hinter den Fässern auftürmte. Ein Seemann, der täglich den Mast hinaufstieg, hätte nicht geschickter sein können. nur ein Mal blickte er sich um, den Mund zu einem höhnischen Feixen aufgerissen, dann schwang er sich auf den obersten Ballen, wo er kurz innehielt, ehe er sich auf die andere Seite abrollte und sich fallen ließ. Monk hatte nur eine Wahl: hinterher oder ihn verlieren. Phillips konnte sein verfluchtes Bordellboot aufgeben, ein Zimmer in irgendeiner Absteige am Ufer nehmen und sich eine Weile verstecken, um vielleicht in einem halben Jahr wieder aufzutauchen. Gott allein mochte wissen, wie viele Jungen in dieser Zeit gequält, wenn nicht sogar getötet würden. Unbeholfen und deutlich langsamer als sein Gegner kletterte Monk die Ballen hinauf und war erleichtert, als er oben anlangte. Dann kroch er zur anderen Seite hinüber. es ging tief hinunter, wohl an die fünf Meter. Phillips jagte mit beträchtlichem Vorsprung auf weitere Berge aus aufeinander getürmten Weinfässern, Gewürzkisten und Tabakballen zu. Einen Sprung in die Tiefe wollte Monk nicht riskieren. Wenn er sich den Knöchel brach, würde er Phillips endgültig verlieren.
er ließ sich an der Seite der Ballen hinab gleiten und verkürzte damit die Fallhöhe. Unten angekommen, drehte er sich sofort um und spurtete zu den Weinfässern. Gerade als er sie erreichte, rannte Phillips über die Steinplatten dahinter auf ein gewaltiges Frachtschiff zu, das an der Kaimauer vor Anker lag. Seine Taue hingen über die Seitenwände, daneben ragte ein Kran empor, von dem soeben eine Ladung Holz herabgelassen wurde. Auf den unebenen Pflastersteinen fuhr ratternd ein von Pferden gezogener Wagen. ein Trupp Hafenarbeiter näherte sich dem Kran. Zwei Müßiggänger stritten sich um etwas, das aussah wie ein Blatt Papier. Überall herrschte Lärm: die rufe von Männern, das Kreischen der Möwen, das rasseln von Ketten, das Knirschen von Holz, das unablässige Klatschen des Wassers gegen die Steinmauern. Dazu die ständige Bewegung der sich auf dem Wasser spiegelnden Sonne, grell und gleißend. Die riesigen Schiffe hoben und senkten sich mit den Wellen. Männer in grauer und brauner Kleidung mühten sich mit Dutzenden verschiedener Aufgaben ab. Alle möglichen Gerüche füllten die Luft - der dicke, saure Gestank des Flussschlamms, die strenge Sauberkeit von Salz, die schwere Süße von Rohzucker, die ätzenden Ausdünstungen von Tierhäuten, das faulige Aroma der an den Schiffsrümpfen klebenden Meerespflanzen und - etwas weiter vorn - der betörende Duft von Gewürzen.
Monk setzte alles auf eine Karte. Seiner Einschätzung nach würde Phillips nicht versuchen, sich auf das Schiff zu retten. Wollte er an seiner Wand hochklettern, wäre er zu deutlich sichtbar. Nein, er würde in die andere Richtung flüchten und in den dunklen Gassen verschwinden. Oder würde er bluffen? Doppelt bluffen? Orme war jetzt dicht hinter Monk. Monk jagte auf einen Durchgang zwischen zwei Lagerhäusern zu. Orme sog scharf die Luft ein, dann folgte er seinem Vorgesetzten. Der dritte Polizist blieb am Kai zurück. er hatte solche Verfolgungen oft genug mitgemacht und wusste, dass die Flüchtenden auf einem Umweg zurücklaufen konnten. er würde einfach warten. Der Durchgang, keine zwei Meter breit, führte mehrere Stufen hinunter, ehe er unmittelbar nacheinander zwei enge Biegungen machte. Der beißende Gestank von Urin stieg Monk in die Nase. rechts befand sich das Geschäft eines Schiffsausrüsters, dessen schmale Tür von zusammengerollten Tauen, Schiffslaternen, massiven Holznägeln und einem Eimer voller Bürsten zusätzlich verengt wurde. Dieser Laden lag nicht tief genug in der Gasse, dass Phillips sich hier hätte verstecken können. Monk lief weiter. Als nächstes passierte er ein Malergeschäft. Durch das Fenster konnte er sehen, dass es innen leer war. Orme war dicht hinter ihm. »Der nächste Durchgang ist eine Sackgasse«, murmelte er. »Er könnte am oberen ende auf uns warten.« Das war eine Warnung. Phillips hatte ein Messer und würde nicht zögern, es zu benutzen. »Er steht mit einem Fuß unter dem Galgen«, fuhr Orme fort.
Übersetzung: Peter Pfaffinger
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Wilhelm GoldmannVerlag, München,
in der Verlagsgruppe random House GmbH
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Autoren-Porträt von Anne Perry
Anne Perry, 1938 in London geboren, musste als Zehnjährige wegen ihrer angegriffenen Gesundheit England verlassen und verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Mittlerweile begeistert sie mit ihrem Helden, dem Privatdetektiv William Monk, sowie dem Detektivgespann Thomas und Charlotte Pitt ein Millionenpublikum. Die Autorin lebt in Suffolk.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne Perry
- 2012, 446 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Pfaffinger, Peter
- Übersetzer: Peter Pfaffinger
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442476704
- ISBN-13: 9783442476701
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