Drei Wünsche und ein dunkler Fluch
Rose stellt auf ihrem Blog drei Wünsche ein - und sie ahnt nicht, dass sich dadurch ihr ganzes Leben verändern wird. Sie erfährt, dass sie einen adligen Großvater mit einem Schloss hat. Und dann stellt sie fest, dass ihr jemand nach dem Leben trachtet.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Drei Wünsche und ein dunkler Fluch “
Rose stellt auf ihrem Blog drei Wünsche ein - und sie ahnt nicht, dass sich dadurch ihr ganzes Leben verändern wird. Sie erfährt, dass sie einen adligen Großvater mit einem Schloss hat. Und dann stellt sie fest, dass ihr jemand nach dem Leben trachtet.
Klappentext zu „Drei Wünsche und ein dunkler Fluch “
Wünschen kann gefährlich sein Als die 16-jährige Rose in ihrem Blog drei Wünsche äußert, ahnt sie nicht, dass sich ihr ganzes Leben ändern wird. Plötzlich taucht ein elegant gekleideter Fremder auf und verkündet ihr, dass sie einen adligen Großvater in Frankreich hat, der sie auf sein Schloss einlädt. Schnell findet sie Gefallen an ihrem neuen Leben und an Charlie, einem bezaubernden Jungen, der ebenfalls ganz begeistert von Rose ist. Aber als sie beginnt, mehr über ihre Familie zu erfahren, wird aus dem Märchen ein Albtraum. Und entsetzt begreift sie, dass ihr jemand nach dem Leben trachtet
Lese-Probe zu „Drei Wünsche und ein dunkler Fluch “
Drei Wünsche und ein dunkler Fluch von Isabelle MerlinPass auf, was du dir wünschst
Pass auf, was du dir wünschst. So lautet die Botschaft in diesen alten Geschichten, in denen jemand drei Wünsche frei hat. Vorsicht! - sag nicht das Erste, was dir durch den Kopf schießt ...
... mehr
Ich glaube, alles hat mit dem Blog angefangen. Ich weiß, dass das in vielerlei Hinsicht nicht stimmt. Eigentlich hat es schon lange vorher angefangen, Jahre vorher, noch bevor ich geboren wurde. Aber in meiner Erinnerung fühlt es sich nicht so an. Es fühlt sich an, als sei mein Leben vor dem Blog die letzten acht Jahre immer gleich gewesen, seit ich bei Tante Jenny eingezogen bin, nachdem meine Eltern bei dem Unfall ums Leben gekommen waren. Und so wie es aussieht, geschehen seit dem Blog wirklich seltsame Dinge ...
Der Blog war eigentlich eine Aufgabe im Englischunterricht. Unsere Lehrerin, Ms Bryce, war der Ansicht, es wäre interessant für uns, neben »herkömmlichen Aufsätzen und Geschichten« auch »topaktuelle neue Medien« einzusetzen. Aber sie wollte, dass es ein richtiger Blog wird, nicht nur so ein Tagebuch zum Hinzufügen wie auf MySpace oder die Notizen bei Facebook. Er sollte ein Thema haben, und sie war ganz aufgeregt wegen des Projekts.
Die meisten Schüler eher nicht. Meine besten Freundinnen - Portia Warren, Alice Taylor und Maddy Fox - ächzten und stöhnten darüber. Ich tat auch so, als würde ich stöhnen. Aber insgeheim machte es mir gar nichts aus. Ich habe nichts gegen Schreiben, solange ich mir etwas ausdenken darf. Eigentlich möchte ich nämlich Schriftstellerin werden. Eine richtig gute, die Bestseller schreibt und so. Aus normalen Englischaufsätzen mache ich mir nicht besonders viel. Ich meine solche, bei denen man darüber schreiben soll, was irgendwelche Bücher uns sagen wollen. Ich kann das zwar ganz gut, aber es macht mir keinen Spaß. Das verdirbt einem die guten Bücher, und die langweiligen Bücher werden dadurch noch langweiliger.
Ich wollte mir für meinen Blog keines der ernsten Themen aussuchen, die Ms Bryce als Vorschläge an die Tafel geschrieben hatte: »Berühmte Schriftsteller«, »Geschichtliche Themen«, »Große Reisen« und all so was. Auch nicht so etwas Einfallsloses wie »Meine Ferien« oder »Meine Familiengeschichte« (darüber hätte ich damals sowieso nichts schreiben können, da ich praktisch nichts darüber wusste). Ich wollte etwas, das Spaß macht, etwas Originelles. Deshalb beschloss ich, dass es um das Thema der drei Wünsche gehen sollte, also die Art von Wünschen, die gute Feen erfüllen.
Als ich noch klein war, glaubte ich ganz fest an gute Feen. Ich war mir sicher, sie tatsächlich sehen zu können, wenn ich die Augen ein wenig zusammenkniff und wirklich ganz genau hinsah. Ich las Feenbücher und schaute mir Bilder von Feen an. Ich zerbrach mir endlos den Kopf darüber, was ich mir wünschen sollte, wenn eines Tages plötzlich eine Fee auftauchen und verkünden würde, dass ich drei Wünsche frei hätte. Ich schrieb Wünsche auf kleine Zettelchen und legte sie unter mein Kopfkissen oder unter Bäume und überallhin sonst, wo ich dachte, dass eine Fee sie finden könnte. In einem Jahr bekam ich tatsächlich, was ich mir gewünscht hatte: eine wunderschöne Märchenprinzessinnen-Puppe in einem tollen himmelblauen Kleid und glänzenden silbernen Schuhen. Sie hatte hauchdünne Flügel und eine Krone auf dem Kopf. Da wurde mir klar, dass es gute Feen gab, denn so eine Puppe war in keinem Laden zu finden. Sie war etwas ganz Besonderes. Sie war einzigartig. Sie war ein Feenzauber, der zu mir gekommen war. Sie hieß Celestine, und ich liebte sie über alles.
Aber im Jahr danach wurde alles anders. Eines Tages, als ich in der Schule war, kam die Direktorin in unser Klassenzimmer. Sie war sehr blass. Sie nahm mich mit in ihr Büro und sagte, dass Mum und Dad auf der Autobahn frontal mit einem Lastwagen zusammengeprallt und ums Leben gekommen waren - Dad war sofort tot, Mum war auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Sie hatten keine Chance, sagte sie, absolut keine Chance. Ich kann mich noch erinnern, wie sie zu stottern begann und ihr Gesicht ganz zerknittert war. Und dauernd sagte sie: »Oh, du armes, kleines Ding, Rosie! Du armes, kleines Ding!«, und versuchte, mich zu umarmen. Ich erinnere mich daran, dass eine Fliege in dem heißen Zimmer herumschwirrte und kurz auf der Nase der Direktorin landete. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, was ich wirklich empfand. Hinterher sagten sie, ich hätte einen Schock gehabt.
Bald darauf kam Tante Jenny und nahm mich mit nach Hause - also, zu sich nach Hause. Ich kannte sie schon gut, denn sie und ihre jüngere Schwester Annie, meine Mum, standen sich sehr nah und besuchten sich häufig. Es war jedenfalls nicht weit weg - Tante Jenny wohnte nur eine Straße weiter. Sie kümmerte sich um mich, tröstete mich und gab sich in den folgenden Jahren die größte Mühe, sowohl Vater als auch Mutter für mich zu sein, auch wenn es schwer für sie war. Sie vermisste meine Eltern fast so sehr wie ich, und sie hatte nicht viel Geld.
Meine Eltern hatten mir kein Geld hinterlassen. Sie hatten gute Jobs gehabt, aber sie hatten es nie geschafft zu sparen. Sie amüsierten sich gern und mochten lustige, extravagante Unternehmungen. Einmal mieteten sie einen Rolls Royce, um an den Strand zu fahren, wo wir ein großartiges Picknick veranstalteten, das uns von einem Kellner im Smoking serviert wurde. Oder sie flogen einfach so zum Spaß über die Berge - Dad hatte einen Pilotenschein - oder kauften mir schöne Kleider oder tolles Spielzeug. Sie schöpften ihre Kreditkarte also voll aus und taten, wozu sie gerade Lust hatten, und das gefiel mir. Mit ihnen war alles möglich, so schien es. Vielleicht fiel es mir deshalb so leicht, an Feen und solche Sachen zu glauben. Meine Eltern ließen über alles Feenstaub rieseln. Und dabei ging es nicht nur darum, Geld auszugeben. Sie haben einander wirklich, wirklich sehr geliebt, und mich auch, und sie hatten keine Angst davor, das zu zeigen und es mir immer wieder zu sagen.
Deshalb starben mit ihrem Tod für mich auch die guten Feen. Ich konnte einfach nicht mehr an zauberhafte Wünsche glauben, denn das Einzige, was ich mir in dieser schrecklichen Zeit wünschte, war, dass der Unfall niemals passiert wäre und Mum und Dad und ich wieder glücklich zusammen in unserem Haus leben würden. Aber sooft ich mir das auch wünschte, es wurde natürlich nicht wahr. Schließlich gewöhnte ich mich an das Leben bei Tante Jenny, und obwohl ich meine Eltern schrecklich vermisste, ließ der Schmerz über die Lücke, die sie hinterlassen hatten, im Laufe der Jahre nach. Das lag zum einen daran, dass die Zeit verging, zum anderen lag es an Tante Jenny. Sie war viel ängstlicher, als meine Mum und mein Dad es gewesen waren, und manchmal regte sie sich unnötig auf und machte sich Sorgen, aber sie war sehr freundlich und liebevoll, und ich hätte mir keinen besseren Vormund wünschen können. Das Einzige, was ein echtes Problem darstellte, war das Geld. Tante Jenny machte sich deswegen ununterbrochen Sorgen.
Sie ist Schneiderin, eine richtig gute, aber als Geschäftsfrau ist sie ein hoffnungsloser Fall. Sie ist zu nett. Sie hat zu wenig Biss, sagen manche. Sie gewährt Kunden einen Nachlass, die sich den vollen Preis wirklich leisten könnten. Und sie findet Entschuldigungen für Leute, die ihre Rechnung nicht pünktlich begleichen und behaupten, sie wären zu pleite, um sofort zu bezahlen. Daher war das Geld immer knapp.
Sie arbeitet zu Hause, im hinteren Zimmer unserer Wohnung, das sie sich als Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Es ist eigentlich ein ziemlich schöner Raum, groß und lichtdurchflutet, mit ein paar hohen, altmodischen Spiegeln auf Ständern und zwei Schneiderpuppen. An den Wänden hängen schöne, gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos von Filmstars. Tante Jenny liebt die glamourösen Schauspielerinnen der Vergangenheit, wie Grace Kelly, Audrey Hepburn und Marilyn Monroe. Es gibt Regale für die Materialien, einen Aktenschrank für die Schnittmuster, einen Tisch für die Nähmaschine und bequeme Stühle, auf denen die Kunden sitzen, wenn sie etwas bestellen. Und dann ist da noch ein CD-Spieler, weil Tante Jenny beim Nähen gern Musik hört. Die Musik stammt fast immer aus der gleichen Zeit wie diese Filmstars - hauptsächlich Jazz. Ich glaube, sie hätte gern in so einer Welt gelebt, einer Traumwelt aus eleganter Leichtigkeit und müheloser Raffinesse. Sie hätte gern ein Designstudio, das diese glamourösen Schönheiten einkleidet.
Tante Jenny stellt alle Arten von Kleidung her, aber spezialisiert ist sie auf Abendkleider. Darin ist sie absolut unschlagbar. Ob verführerischer Satin oder aufgebauschter Organza, die neueste Mode oder traditionelle Schnitte - sie macht etwas Großartiges daraus, mit Perlen, Pailletten, Spitzen und so weiter, die sie von Hand aufnäht. Am liebsten würde sie Kleider nähen, wie sie von diesen klassischen Filmstars getragen wurden, und manchmal konnte sie die Leute davon überzeugen, dass es genau das war, was sie wollten. Aber das gelang ihr nicht oft. Die meisten wollen Sachen, die sie in Klatschmagazinen gesehen haben, Kleider, in denen spindeldürre Promis stecken. Tante Jenny ist dann enttäuscht - sie glaubt, dass ein Großteil der heutigen Mode nicht zu normalen Körperformen passt - aber sie muss tun, was die Kundinnen von ihr wollen. Und immer wird daraus etwas Schönes, ganz egal, was sie selbst davon hält.
Als ich klein war, verwendete Tante Jenny manchmal die Stoffreste prachtvoller Abendkleider dazu, mir fantastische Outfits für Schulaufführungen, Kostümfeste, Festumzüge und all so was zu nähen. Und, wie ich später erfuhr, war sie es natürlich, die meine Puppe Celestine angefertigt hatte ...
Aber nun zurück zu meinem Blog. Ich hatte also beschlossen, zu dieser fixen Idee meiner Kindheit zurückzukehren und über die drei Wünsche zu schreiben. Fragt nicht, warum ich zu etwas zurückkehrte, von dem ich glaubte, ich hätte es hinter mir gelassen. Ich hielt es zu diesem Zeitpunkt einfach für eine gute Idee. Inzwischen finde ich sie irgendwie unheimlich.
Das Internet ist eine seltsame Sache. Manchmal kommt es mir vor wie eine Art Märchenland. Es gibt Trolle, Zauberer und Zombies. Es gibt Leute, die sich hinter falschen Namen verstecken und andere, die sich im Internet in etwas verwandeln, was sie gar nicht sind. Es gibt alle möglichen Fieslinge, die nur darauf warten, unvorsichtigen Usern eine Falle zu stellen, und dann gibt es noch die guten Feen, die erstaunliche Dinge geschehen lassen. Man kann unsichtbare Freunde haben - Leute, die man noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hat. Man trifft dort auf alle Arten seltsamer Magie - gute wie schlechte. Es ist wie mit diesen Wünschen, die man sich unter das Kopfkissen steckt - nur dass es dieses Mal im Web geschieht. Vielleicht fand ich es deshalb so passend, meinen Blog Drei Wünsche zu nennen.
Als ich ihn eingerichtet hatte, fand ich, dass er ziemlich cool aussah. Ms Bryce fand das auch. Sie gab mir die volle Punktzahl dafür. Aber als ich ihn dann im Internet sah, in diesem professionellen Format, schlug mein Herz höher. Was, wenn - man weiß ja nie! - was, wenn der Blog außer bei meinen Freundinnen auch bei anderen Leuten auf Interesse stieß? Was, wenn ihn ein Verleger entdeckte und dachte Hey, das Mädchen kann schreiben, vielleicht kann sie ein Buch für uns verfassen! Ich hatte gehört, es sei schon vorgekommen, dass Blogger von Ver legern entdeckt wurden und ihr Traum von einem richtigen eigenen Buch wahr wurde. Ich dachte nicht so viel darüber nach, weil ich wusste, wie unwahrscheinlich das war. Aber zumindest manchmal hatte ich diesen Gedanken im Hinterkopf.
Okay, ihr fragt euch jetzt vielleicht, was es mit diesen drei Wünschen auf sich hat? Was ich geschrieben habe? Nun, im Grunde lauten die drei Wünsche folgendermaßen:
1. Viel Geld im Lotto gewinnen, damit sich Tante Jenny nicht alles vom Mund absparen muss (wir spielen manchmal Lotto, haben aber noch nie etwas gewonnen).
2. Ein paar silberne Schuhe wie die von Celestine, nur in meiner Größe.
3. Dass etwas Aufregendes passiert, weil ich wirklich eine gute und viel gelesene Schriftstellerin werden will, und wie kann man das werden, wenn man ein ganz normales, eintöniges Leben führt?
In meinem ersten Posting schrieb ich - sehr ernst - darüber, dass man aufpassen soll, was man sich wünscht. Ich habe über Leute geschrieben, die bescheuerte Wünsche ausgesprochen haben, und darüber, was mit ihnen passiert ist. Ich habe über Leute geschrieben, die ihre Wünsche nicht gut durchdacht hatten. Ich dachte, ich sei dagegen gefeit, weil ich über meine drei Wünsche wirklich gründlich nachgedacht hatte. Ich wollte mir nichts Unmögliches wünschen. Keine Zeitreise oder übernatürliche Kräfte oder so etwas, sondern nur Dinge, die wahr werden könnten. Portia, Alice und Maddy schrieben ihre Wünsche in die Kommentarbox, und die fand ich eine ganze Ecke unrealistischer als meine. Alice wünschte sich einen Zauberstab! (Allerdings hatte ich das als kleines Kind mit den Feen auch probiert - ich dachte, ich könnte sie austricksen, damit sie mir unbegrenzt Wünsche erfüllten.) Ich dachte, ich hätte meinen eigenen Rat ganz gut befolgt und die warnende Botschaft dieser alten Geschichten beherzigt. Nicht so klar war mir damals, dass »Pass auf, was du dir wünschst!« eigentlich nicht einfach nur ein Ratschlag oder eine Warnung ist. Sondern eine Drohung.
Die Schneekönigin
Es ist schon komisch, dass es für Tage, die das ganze Leben eines Menschen umkrempeln, keine Alarmzeichen gibt. Keine rote Flagge, die auf dem Kalender flattert, kein geisterhaftes Zeichen, dass der heutige Tag etwas anderes mit sich bringt als die übliche Routine aus Aufwachen, Aufstehen, Zur-SchuleGehen, Mit-dem-Bus-Heimkommen, Essen, Hausaufgaben-Machen, Fernsehen, Ins-Bett-Gehen. Es war wie damals an dem Tag, an dem Mum und Dad starben. Und genauso war es an dem Tag, an dem die Schneekönigin in mein Leben trat.
Es war an einem Donnerstag - achter März -, etwa drei Wochen, nachdem ich meinen Blog gestartet hatte. Das lief eigentlich ganz gut. Ich hatte ab und zu mal etwas gepostet, einschließlich eines selbst geschriebenen Märchens. Meine Freundinnen hatten Kommentare dazu abgegeben, und Ms Bryce hatte sich beeindruckt gezeigt. Eine Sache war allerdings etwas ärgerlich: Jemand, der sich Koschei nannte, war in der Kommentarbox aufgetaucht und hatte geschrieben: »Deine Wünsche wurden zur Kenntnis genommen und werden erfüllt.« Ich hatte kaum Notiz davon genommen, aber die Mädchen regten sich ein bisschen darüber auf, dass ein Fremder in unserer Mitte aufgetaucht war. Ich hielt das aber für harmlos, wenn auch etwas bemüht und dumm, von wem auch immer es kam. Damals konnte ich noch nicht wissen, dass ...
Nein, nein, noch nicht. Erst mal zurück zu dem Tag, an dem die Schneekönigin auftauchte. Es war einer dieser Tage, an denen das Wetter nicht so recht weiß, was es will. Es war nicht sonnig, aber auch nicht regnerisch. Nachts hatte es ein bisschen geregnet, aber gegen Morgen hatte es aufgehört, und der Tag war geprägt von einer kühlen, grauen, langweiligen Stille, die ab und zu von einem schwachen Nieselregen unterbrochen wurde. Alles in allem ein Tag, den man am besten mit einem guten Buch oder einem guten Film oder beidem auf dem Sofa verbrachte, vorzugsweise mit heißer Schokolade und Marshmellows. Wenn es ein Wochenende gewesen wäre, hätte ich auch genau das getan. Aber so musste ich mit dem Bus zur Schule fahren. Dort war es an diesem Tag besonders langweilig, weil keine meiner Freundinnen in der Schule war. Portia und Alice waren auf einer Musik-Exkursion in der Stadt, und Maddy lag mit Magen-Darm-Grippe im Bett. Zu allem Überfluss hatten wir in Mathe auch noch einen Aushilfslehrer, der darauf bestand, uns ein paar Formeln endlos wiederholen zu lassen, die wir mit unserem normalen Lehrer schon seit Wochen übten. Es war eine Doppelstunde in Mathe, und das auch noch am Ende des Schultags. Genug Überdruss, um jemanden in den Suff zu treiben, wie Tante Jenny auf ihre lustige, altmodische Art sagen würde. Aber vollkommen ereignislos. Tatsächlich könnte man sagen, dass nichts an diesem Tag ein Ereignis war. Bis ich nach Hause kam.
Den ersten Hinweis darauf, dass etwas anders war als sonst, lieferte mir das Auto, das vor unserem Wohnblock stand. Ein dunkelblaues Sport-Cabrio mit weißem Dach. Das war genau die Art von Wagen, mit dem Grace Kelly in einem dieser alten Filme, auf die Tante Jenny so scharf war, sehr schnell eine Straße mit Haarnadelkurven entlangfuhr. Er musste wohl einer ihrer Kundinnen gehören. Allerdings keiner, die ich kannte. Ich hatte dieses Auto noch nie gesehen. Ich schloss die Wohnungstür auf und ging direkt in die Küche, um erst einmal etwas zu essen. Wenn Tante Jenny eine neue Kundin dahatte, wollte sie nicht, dass ich sie störe, deshalb rief ich sie nicht oder so. Aber sie musste gehört haben, wie die Tür zuschlug, denn sie kam in die Küche, noch bevor ich den Inhalt des Kühlschranks genauer in Augenschein nehmen konnte.
Sie sah seltsam aus. Blass, und ihre Augen schimmerten ein wenig zu sehr. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als mir plötzlich klar wurde, dass sie an dem Nachmittag, als Dad und Mum gestorben waren und sie mich von der Schule abgeholt hatte, genauso ausgesehen hatte. Ich hatte seit Jahren nicht mehr an dieses Bild gedacht. Aber jetzt war es wieder da und traf mich wie ein Donnerschlag - und es wurde noch schlimmer, als sie anfing zu sprechen.
»Rose«, sagte sie. »Gott sei Dank, dass du wieder da bist. Da ist etwas ... etwas ist geschehen.«
»Was ist passiert? Geht es um meine Freundinnen?«, sprudelte es aus mir heraus. In rascher Folge schossen mir Bilder durch den Kopf - Portias und Alices' Exkursionsbus hatte sich überschlagen, Maddys Magen-Darm-Grippe hatte sich als Magenkrebs entpuppt.
»Nein, mit ihnen hat es nichts zu tun. Nein. Rose, ich muss dir etwas sagen ... Es tut mir leid, dass ich nie ... «
»Ah! Sie ist zurück.« Eine hochgewachsene Frau stand in der Küchentür, hinter ihr ein Mann. Sie hatte dunkles Haar, blaue Augen, und alles an ihr war glänzend und perfekt, von ihrem fachmännisch gestylten Haar, das sich sanft um ihre Ohren schmiegte, bis hinunter zur Spitze ihrer schicken dunkelblauen Schuhe mit den hohen Absätzen. Sie war schlicht, aber offensichtlich teuer gekleidet - sie trug einen marineblauen Anzug, der aus einer eng taillierten Jacke und einem Bleistiftrock bestand. Sie war eine der schönsten Frauen, die ich je außerhalb von Magazinseiten oder Filmszenen gesehen hatte. Trotz ihrer makellosen Schönheit hatte sie jedoch etwas Kaltes, Beherrschtes an sich. Sie erinnerte mich an die Schneekönigin aus dem Märchen von Hans Christian Andersen. Vor dieser Figur hatte ich mich schon immer gefürchtet - sie stach Glassplitter in die Herzen der Leute, die dann nicht mehr in der Lage waren, warmherzig und menschlich zu handeln oder andere Menschen lieb zu haben.
Die Schneekönigin sah mich an und bedachte mich mit einem schmalen Lächeln. Mit ihren eisblauen Augen musterte sie mich von meinen zerzausten braunen Haaren über den verknitterten Pulli und den am Saum ausgefransten Rock meiner Schul uniform bis hinunter zu den abgewetzten Schuhen. Ich finde nicht, dass ich direkt hässlich bin. Tatsächlich hat man mir schon gesagt, ich sei hübsch, auch wenn ich nicht weiß, ob ich das glauben soll. Unter dem unheilvollen Blick der Schneekönigin fühlte ich mich jedoch, als hätte man mich soeben in einen schwitzenden Kartoffelsack oder so etwas Ähnliches verwandelt.
»Du bist Rose Dumerle«, stellte sie fest.
Zu meinem eigenen Entsetzen hörte ich mich stottern: »Wer, ähm, wer möchte das ... das wissen?«
»Ich bin Madame Randal. Madame Blanche Randal«, sagte die Frau, und obwohl sie sehr gut Englisch sprach, bemerkte ich jetzt ihren Akzent. Er hörte sich französisch an. »Du kannst mich Madame Blanche nennen, wenn du möchtest, Rose. Du kennst mich nicht, aber du wirst mich bald kennenlernen.«
Das klang auffallend nach einer Drohung. Ich warf meiner Tante einen Blick zu. Sie sah verwirrt, beinahe hilflos aus. Also wandte ich mich an den Mann hinter Blanche Randal. Anders als sie war er grau und gewöhnlich, er trug einen langweiligen Anzug und hatte eine langweilige Frisur. Blanche Randal gab ihm ein Zeichen, und er sagte hastig: »Miss Dumerle, ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen. Es wäre klug, wenn Sie sich hinsetzen würden, denn es könnte ein kleiner Schock für Sie sein.«
»Nicht hier«, meinte Tante Jenny, die endlich auch mal etwas sagte. »Kommen Sie doch ins Wohnzimmer.«
Sie sah mich nicht an und sagte auch nichts, als sie vor uns ins Wohnzimmer ging. Ich folgte ihr wie betäubt, wobei mein Gehirn alle Arten von wilden Gedanken aufwarf. Steckte Tante Jenny in Schwierigkeiten? Waren wir pleite? Oder hatte sie womöglich etwas Unrechtes getan? Wer waren diese Leute? Vielleicht waren sie vom Sozialamt oder so, und ich würde Tante Jenny weggenommen. Da würde ich mich aber weigern. Ich würde nicht in eine Pflegefamilie oder ein Heim oder sonst wohin gehen. Ich würde weglaufen. Ich war sechzehn, beinahe siebzehn. Alt genug, um selbst Geld zu verdienen. Außerdem war ich reif für mein Alter. Das sagten alle. Ich würde anfangen, professionell zu schreiben. Ich würde für Zeitungen schreiben. Für Magazine. Onlinejournale. Werbeagenturen. Für alles Mögliche. Ich würde schreiben und Geld verdienen und Tante Jenny aus ihren Schwierigkeiten heraushelfen. Es würde mir nichts ausmachen, die Schule abzubrechen. Abgesehen vom Englischunterricht langweilte sie mich sowieso, und selbst in Englisch gab es viel zu viel von diesem Was-wollen-uns-diese-Worte-sagen-Quatsch.
Wir saßen im Wohnzimmer, ich im Sessel, die beiden Fremden auf dem Sofa und Tante Jenny auf dem unbequemsten aller Stühle. Sie hatte die Hände im Schoß verkrampft, und auf einmal hätte ich am liebsten geweint. Aber bevor ich etwas zu ihr sagen konnte, ergriff der graue Mann wieder das Wort. Er sagte: »Miss Dumerle, wie ich Miss Flanagan bereits gesagt habe, heiße ich Joseph Gilham und arbeite als Rechtsanwalt bei der Firma Gilham, Gilham und Elliott in der Stadt. Vor einiger Zeit erhielt ich eine Mitteilung von einem Klienten, der die Firma damit beauftragte, gewisse Nachforschungen anzustellen. Diese haben uns zu Ihnen geführt.«
Jetzt bekam ich allmählich wirklich Angst, und wenn ich Angst habe, werde ich immer gereizt. Ziemlich unhöflich sagte ich: »Ich wünschte, Sie würden aufhören, um den heißen Brei herumzureden. Warum sind Sie hier? Was wollen Sie von uns?«
Blanche Randal bedachte mich erneut mit einem schmalen, eisigen Lächeln. Sie sagte: »Wie ich sehe, bist du recht impulsiv, mein kleines Fräulein. Und deine Nase, deine Augenfarbe und die entschlossene Kieferpartie - ganz der Großvater. Daran besteht überhaupt kein Zweifel.«
Ich starrte sie an. »Mein Großvater? Er ist tot. Er ist vor über drei Jahren in einem Pflegeheim gestorben.« Opa war wirklich nett gewesen. Manchmal war er ein bisschen ermüdend mit seinen Geschichten über seine Kindheit im Krieg und wie sich seitdem alles verändert hat, aber er war fröhlich und lieb, und außerdem war er das einzige Mitglied unserer Familie, das außer Tante Jenny und mir noch übrig gewesen war. Meine Großmutter war schon vor Ewigkeiten gestorben, lange vor Mum und Dad. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr an sie erinnern.
Blanche Randal machte eine Bewegung mit ihrer exquisit manikürten Hand. »Nein, nicht der Vater deiner Mutter. Der Vater deines Vaters.«
»Mein Vater hat nie über seine Familie gesprochen«, sagte ich verständnislos. »Er meinte nur, dass er nicht mehr dazugehörte. Er sagte immer, wir seien seine Familie, und dieses Land sei seine Heimat. Er wollte nie mehr zurückkehren.« Ich starrte sie an. »Sie sind aus Frankreich, genau wie er. Sind Sie mit ihm verwandt?«
Sie zog eine Augenbraue nach oben. »Nein. Ich bin die Sekretärin deines Großvaters.«
Zuerst kam das gar nicht so richtig bei mir an. Ich war einfach nur froh, dass ich nicht mit der Schneekönigin verwandt war. Ich stellte mir dauernd vor, wie diese eisblauen Augen eine lähmende Scherbe in mein Herz schossen. Dann wurde mir klar, was sie gerade gesagt hatte. »Die Sekretärin meines Großvaters?«, wiederholte ich. »Wollen Sie damit sagen, dass mein französischer Großvater noch lebt?«
»Er ist krank«, sagte sie. »Vor ein paar Wochen hatte er einen Schlaganfall. Er hat sich zwar wieder gut davon erholt, aber man kann nicht sagen, wie lange das so bleibt. Er möchte dich sehen. Wir werden so bald wie möglich aufbrechen.«
Ich blinzelte. »Wie bitte?«
»Ich habe mit deiner Tante gesprochen.« Sie warf Tante Jenny einen kurzen Blick zu. »Sie ist einverstanden damit. Sie hat gesagt, dass dein Reisepass gültig ist.«
»Mein Reisepass?«, sagte ich und sah Tante Jenny an. Ich hörte zum ersten Mal, dass ich überhaupt einen Reisepass besaß.
Tante Jenny wandte sich ein wenig von den anderen ab. Ganz leise, sodass die anderen es nicht hören konnten, sagte sie: »Rose, ich habe schon immer geahnt, dass das eines Tages geschehen könnte. Ich wusste, dass du von einem Augenblick auf den anderen bereit sein müsstest zu gehen.«
»Was meinst du damit?«, rief ich. »Du hast mir nie etwas davon gesagt!«
Sie seufzte. »Als Philippe noch am Leben war, wollte er nie darüber reden. Aber deine Mutter erzählte mir, dass er einen großen Krach mit seinem Vater gehabt hatte und Frankreich verließ, um nie wieder dorthin zurückzukehren. Sie sagte, sie hoffte, dass sie sich eines Tages versöhnen würden. Sie sagte, du hättest das Recht, beide Seiten der Familie zu kennen, aber Philippe weigerte sich standhaft, das überhaupt in Erwägung zu ziehen. Er wollte ihr nicht einmal verraten, aus welchem Teil der Landes er stammte. Er sagte, er hätte sich zwanzigtausend Kilometer von Frankreich entfernt, um das alles für immer zu vergessen.« Sie zögerte. »Einmal hat sie erwähnt, sie hätte den starken Verdacht, dass Philippe Dumerle überhaupt nicht sein richtiger Name sei.«
Ich spürte, wie mir das Blut aus den Wangen wich. Das war eine Seite meiner Eltern, die ich nie kennengelernt hatte. Als Kind hatte ich mich manchmal gewundert und mich gefragt, weshalb Dad nie über seine Familie sprach, aber mit acht denkt man nicht unbedingt viel über solche Dinge nach. Es gibt nur einen einzigen Gegenstand aus seiner alten Heimat, den er meiner Mutter geschenkt hatte: eine kleine Brosche in Form eines Vogels aus schwarzem Ebenholz mit Vergoldung. Ich glaube nicht, dass sie besonders wertvoll war, aber sie war sehr hübsch. Ich wusste, dass ein Teil unseres Namens, dieses »merle«, französisch war und »Amsel« bedeutete, deshalb hielt ich die kleine Brosche immer für unser Symbol. Abgesehen von der Amsel-Brosche war das Einzige, was von Dads altem Leben übrig geblieben war, sein Akzent gewesen. Sein Englisch war gut, aber mit mir hatte er, seit ich ein Baby war, immer Französisch gesprochen. Selbst nachdem meine Eltern gestorben waren, sorgte Tante Jenny dafür, dass ich mit Französisch weitermachte, indem sie mich zum Unterricht in die Alliance Fran~aise schickte. Das störte mich nicht, im Gegenteil - ich fühlte mich Dad dadurch näher. Und Tante Jenny selbst war auch ganz gut in Französisch, denn sie hatte es an der Universität studiert. Deshalb war ich praktisch zweisprachig. Meine Französischlehrerin an der Schule sagte, ich könne mich glücklich schätzen.
Doch im Moment kam ich mir nicht so vor, als könnte ich mich glücklich schätzen. Meine Welt stürzte in sich zusammen. »Was meinen Sie mit >Philippe Dumerle war nicht sein richtiger Name<?«, quietschte ich.
Das kam lauter heraus, als ich vorgehabt hatte. Blanche Randal schnitt mir ziemlich verächtlich das Wort ab. »Es war in der Tat nicht der richtige Name deines Vaters. Oder besser, nicht sein voller Name. Er kam als Philippe Auguste du Merle de la Tour d'Argent auf die Welt.«
»Ganz schön lang«, sagte ich und war so schockiert, dass ich völligen Blödsinn redete: »Philip August Amsel vom Silberturm heißt das, nicht wahr? Klingt wie etwas aus Fluch der Karibik! Stammte Dad von Piraten ab?«
Ihre Augen schossen blaues Feuer nach mir, als hätte ich eine Sünde begangen. »Es ist ein alter Name, auf den man sehr stolz sein kann«, fuhr sie mich an. »Wenn er noch leben würde, hätte dein Vater den Familientitel und das Anwesen geerbt.« Sie sah, dass ich überhaupt nichts begriff. »Dein Großvater ist Graf Valentin du Merle de la Tour d'Argent. Er gehört nicht nur zu einer der bedeutendsten Adelsfamilien Frankreichs, sondern ist auch ein sehr berühmter Schriftsteller.«
»Ein Schriftsteller!« Das war überraschender für mich als die Tatsache, dass er ein Graf war. Ich hatte nur eine verschwommene Ahnung davon, was Grafen mit bizarren Namen so trieben - außerhalb von Schauerromanen oder Märchen.
Aber ein Schriftsteller - das war etwas anderes! Das war aufregend. Ich hatte immer gedacht, dass meine Begabung für das Schreiben aus dem Nichts aufgetaucht wäre. Weder Mum noch Dad hatten gern einen Stift in die Hand genommen oder auf der Tastatur herumgeklappert. Tante Jenny auch nicht, auch wenn sie fast so gern las wie Mum. Dad bevorzugte Musik und Sport, vor allem Segeln und Tennis. Er las nur den Wirtschaftsteil der Zeitung - er arbeitete in einer Bank - und gelegentlich das Guinessbuch der Rekorde. Oh, und noch gelegentlicher meine Schulaufsätze, wenn Mum ihn dazu drängte. Er sagte, dass er als Kind immer Bücher angefangen und nicht zu Ende gelesen hätte. Das fand ich wirklich komisch, denn wenn mich ein Buch erst mal am Haken hatte, konnte ich es nicht mehr aus der Hand legen!
...
Übersetzung: Sonja Häußler
© 2011 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Ich glaube, alles hat mit dem Blog angefangen. Ich weiß, dass das in vielerlei Hinsicht nicht stimmt. Eigentlich hat es schon lange vorher angefangen, Jahre vorher, noch bevor ich geboren wurde. Aber in meiner Erinnerung fühlt es sich nicht so an. Es fühlt sich an, als sei mein Leben vor dem Blog die letzten acht Jahre immer gleich gewesen, seit ich bei Tante Jenny eingezogen bin, nachdem meine Eltern bei dem Unfall ums Leben gekommen waren. Und so wie es aussieht, geschehen seit dem Blog wirklich seltsame Dinge ...
Der Blog war eigentlich eine Aufgabe im Englischunterricht. Unsere Lehrerin, Ms Bryce, war der Ansicht, es wäre interessant für uns, neben »herkömmlichen Aufsätzen und Geschichten« auch »topaktuelle neue Medien« einzusetzen. Aber sie wollte, dass es ein richtiger Blog wird, nicht nur so ein Tagebuch zum Hinzufügen wie auf MySpace oder die Notizen bei Facebook. Er sollte ein Thema haben, und sie war ganz aufgeregt wegen des Projekts.
Die meisten Schüler eher nicht. Meine besten Freundinnen - Portia Warren, Alice Taylor und Maddy Fox - ächzten und stöhnten darüber. Ich tat auch so, als würde ich stöhnen. Aber insgeheim machte es mir gar nichts aus. Ich habe nichts gegen Schreiben, solange ich mir etwas ausdenken darf. Eigentlich möchte ich nämlich Schriftstellerin werden. Eine richtig gute, die Bestseller schreibt und so. Aus normalen Englischaufsätzen mache ich mir nicht besonders viel. Ich meine solche, bei denen man darüber schreiben soll, was irgendwelche Bücher uns sagen wollen. Ich kann das zwar ganz gut, aber es macht mir keinen Spaß. Das verdirbt einem die guten Bücher, und die langweiligen Bücher werden dadurch noch langweiliger.
Ich wollte mir für meinen Blog keines der ernsten Themen aussuchen, die Ms Bryce als Vorschläge an die Tafel geschrieben hatte: »Berühmte Schriftsteller«, »Geschichtliche Themen«, »Große Reisen« und all so was. Auch nicht so etwas Einfallsloses wie »Meine Ferien« oder »Meine Familiengeschichte« (darüber hätte ich damals sowieso nichts schreiben können, da ich praktisch nichts darüber wusste). Ich wollte etwas, das Spaß macht, etwas Originelles. Deshalb beschloss ich, dass es um das Thema der drei Wünsche gehen sollte, also die Art von Wünschen, die gute Feen erfüllen.
Als ich noch klein war, glaubte ich ganz fest an gute Feen. Ich war mir sicher, sie tatsächlich sehen zu können, wenn ich die Augen ein wenig zusammenkniff und wirklich ganz genau hinsah. Ich las Feenbücher und schaute mir Bilder von Feen an. Ich zerbrach mir endlos den Kopf darüber, was ich mir wünschen sollte, wenn eines Tages plötzlich eine Fee auftauchen und verkünden würde, dass ich drei Wünsche frei hätte. Ich schrieb Wünsche auf kleine Zettelchen und legte sie unter mein Kopfkissen oder unter Bäume und überallhin sonst, wo ich dachte, dass eine Fee sie finden könnte. In einem Jahr bekam ich tatsächlich, was ich mir gewünscht hatte: eine wunderschöne Märchenprinzessinnen-Puppe in einem tollen himmelblauen Kleid und glänzenden silbernen Schuhen. Sie hatte hauchdünne Flügel und eine Krone auf dem Kopf. Da wurde mir klar, dass es gute Feen gab, denn so eine Puppe war in keinem Laden zu finden. Sie war etwas ganz Besonderes. Sie war einzigartig. Sie war ein Feenzauber, der zu mir gekommen war. Sie hieß Celestine, und ich liebte sie über alles.
Aber im Jahr danach wurde alles anders. Eines Tages, als ich in der Schule war, kam die Direktorin in unser Klassenzimmer. Sie war sehr blass. Sie nahm mich mit in ihr Büro und sagte, dass Mum und Dad auf der Autobahn frontal mit einem Lastwagen zusammengeprallt und ums Leben gekommen waren - Dad war sofort tot, Mum war auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Sie hatten keine Chance, sagte sie, absolut keine Chance. Ich kann mich noch erinnern, wie sie zu stottern begann und ihr Gesicht ganz zerknittert war. Und dauernd sagte sie: »Oh, du armes, kleines Ding, Rosie! Du armes, kleines Ding!«, und versuchte, mich zu umarmen. Ich erinnere mich daran, dass eine Fliege in dem heißen Zimmer herumschwirrte und kurz auf der Nase der Direktorin landete. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, was ich wirklich empfand. Hinterher sagten sie, ich hätte einen Schock gehabt.
Bald darauf kam Tante Jenny und nahm mich mit nach Hause - also, zu sich nach Hause. Ich kannte sie schon gut, denn sie und ihre jüngere Schwester Annie, meine Mum, standen sich sehr nah und besuchten sich häufig. Es war jedenfalls nicht weit weg - Tante Jenny wohnte nur eine Straße weiter. Sie kümmerte sich um mich, tröstete mich und gab sich in den folgenden Jahren die größte Mühe, sowohl Vater als auch Mutter für mich zu sein, auch wenn es schwer für sie war. Sie vermisste meine Eltern fast so sehr wie ich, und sie hatte nicht viel Geld.
Meine Eltern hatten mir kein Geld hinterlassen. Sie hatten gute Jobs gehabt, aber sie hatten es nie geschafft zu sparen. Sie amüsierten sich gern und mochten lustige, extravagante Unternehmungen. Einmal mieteten sie einen Rolls Royce, um an den Strand zu fahren, wo wir ein großartiges Picknick veranstalteten, das uns von einem Kellner im Smoking serviert wurde. Oder sie flogen einfach so zum Spaß über die Berge - Dad hatte einen Pilotenschein - oder kauften mir schöne Kleider oder tolles Spielzeug. Sie schöpften ihre Kreditkarte also voll aus und taten, wozu sie gerade Lust hatten, und das gefiel mir. Mit ihnen war alles möglich, so schien es. Vielleicht fiel es mir deshalb so leicht, an Feen und solche Sachen zu glauben. Meine Eltern ließen über alles Feenstaub rieseln. Und dabei ging es nicht nur darum, Geld auszugeben. Sie haben einander wirklich, wirklich sehr geliebt, und mich auch, und sie hatten keine Angst davor, das zu zeigen und es mir immer wieder zu sagen.
Deshalb starben mit ihrem Tod für mich auch die guten Feen. Ich konnte einfach nicht mehr an zauberhafte Wünsche glauben, denn das Einzige, was ich mir in dieser schrecklichen Zeit wünschte, war, dass der Unfall niemals passiert wäre und Mum und Dad und ich wieder glücklich zusammen in unserem Haus leben würden. Aber sooft ich mir das auch wünschte, es wurde natürlich nicht wahr. Schließlich gewöhnte ich mich an das Leben bei Tante Jenny, und obwohl ich meine Eltern schrecklich vermisste, ließ der Schmerz über die Lücke, die sie hinterlassen hatten, im Laufe der Jahre nach. Das lag zum einen daran, dass die Zeit verging, zum anderen lag es an Tante Jenny. Sie war viel ängstlicher, als meine Mum und mein Dad es gewesen waren, und manchmal regte sie sich unnötig auf und machte sich Sorgen, aber sie war sehr freundlich und liebevoll, und ich hätte mir keinen besseren Vormund wünschen können. Das Einzige, was ein echtes Problem darstellte, war das Geld. Tante Jenny machte sich deswegen ununterbrochen Sorgen.
Sie ist Schneiderin, eine richtig gute, aber als Geschäftsfrau ist sie ein hoffnungsloser Fall. Sie ist zu nett. Sie hat zu wenig Biss, sagen manche. Sie gewährt Kunden einen Nachlass, die sich den vollen Preis wirklich leisten könnten. Und sie findet Entschuldigungen für Leute, die ihre Rechnung nicht pünktlich begleichen und behaupten, sie wären zu pleite, um sofort zu bezahlen. Daher war das Geld immer knapp.
Sie arbeitet zu Hause, im hinteren Zimmer unserer Wohnung, das sie sich als Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Es ist eigentlich ein ziemlich schöner Raum, groß und lichtdurchflutet, mit ein paar hohen, altmodischen Spiegeln auf Ständern und zwei Schneiderpuppen. An den Wänden hängen schöne, gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos von Filmstars. Tante Jenny liebt die glamourösen Schauspielerinnen der Vergangenheit, wie Grace Kelly, Audrey Hepburn und Marilyn Monroe. Es gibt Regale für die Materialien, einen Aktenschrank für die Schnittmuster, einen Tisch für die Nähmaschine und bequeme Stühle, auf denen die Kunden sitzen, wenn sie etwas bestellen. Und dann ist da noch ein CD-Spieler, weil Tante Jenny beim Nähen gern Musik hört. Die Musik stammt fast immer aus der gleichen Zeit wie diese Filmstars - hauptsächlich Jazz. Ich glaube, sie hätte gern in so einer Welt gelebt, einer Traumwelt aus eleganter Leichtigkeit und müheloser Raffinesse. Sie hätte gern ein Designstudio, das diese glamourösen Schönheiten einkleidet.
Tante Jenny stellt alle Arten von Kleidung her, aber spezialisiert ist sie auf Abendkleider. Darin ist sie absolut unschlagbar. Ob verführerischer Satin oder aufgebauschter Organza, die neueste Mode oder traditionelle Schnitte - sie macht etwas Großartiges daraus, mit Perlen, Pailletten, Spitzen und so weiter, die sie von Hand aufnäht. Am liebsten würde sie Kleider nähen, wie sie von diesen klassischen Filmstars getragen wurden, und manchmal konnte sie die Leute davon überzeugen, dass es genau das war, was sie wollten. Aber das gelang ihr nicht oft. Die meisten wollen Sachen, die sie in Klatschmagazinen gesehen haben, Kleider, in denen spindeldürre Promis stecken. Tante Jenny ist dann enttäuscht - sie glaubt, dass ein Großteil der heutigen Mode nicht zu normalen Körperformen passt - aber sie muss tun, was die Kundinnen von ihr wollen. Und immer wird daraus etwas Schönes, ganz egal, was sie selbst davon hält.
Als ich klein war, verwendete Tante Jenny manchmal die Stoffreste prachtvoller Abendkleider dazu, mir fantastische Outfits für Schulaufführungen, Kostümfeste, Festumzüge und all so was zu nähen. Und, wie ich später erfuhr, war sie es natürlich, die meine Puppe Celestine angefertigt hatte ...
Aber nun zurück zu meinem Blog. Ich hatte also beschlossen, zu dieser fixen Idee meiner Kindheit zurückzukehren und über die drei Wünsche zu schreiben. Fragt nicht, warum ich zu etwas zurückkehrte, von dem ich glaubte, ich hätte es hinter mir gelassen. Ich hielt es zu diesem Zeitpunkt einfach für eine gute Idee. Inzwischen finde ich sie irgendwie unheimlich.
Das Internet ist eine seltsame Sache. Manchmal kommt es mir vor wie eine Art Märchenland. Es gibt Trolle, Zauberer und Zombies. Es gibt Leute, die sich hinter falschen Namen verstecken und andere, die sich im Internet in etwas verwandeln, was sie gar nicht sind. Es gibt alle möglichen Fieslinge, die nur darauf warten, unvorsichtigen Usern eine Falle zu stellen, und dann gibt es noch die guten Feen, die erstaunliche Dinge geschehen lassen. Man kann unsichtbare Freunde haben - Leute, die man noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hat. Man trifft dort auf alle Arten seltsamer Magie - gute wie schlechte. Es ist wie mit diesen Wünschen, die man sich unter das Kopfkissen steckt - nur dass es dieses Mal im Web geschieht. Vielleicht fand ich es deshalb so passend, meinen Blog Drei Wünsche zu nennen.
Als ich ihn eingerichtet hatte, fand ich, dass er ziemlich cool aussah. Ms Bryce fand das auch. Sie gab mir die volle Punktzahl dafür. Aber als ich ihn dann im Internet sah, in diesem professionellen Format, schlug mein Herz höher. Was, wenn - man weiß ja nie! - was, wenn der Blog außer bei meinen Freundinnen auch bei anderen Leuten auf Interesse stieß? Was, wenn ihn ein Verleger entdeckte und dachte Hey, das Mädchen kann schreiben, vielleicht kann sie ein Buch für uns verfassen! Ich hatte gehört, es sei schon vorgekommen, dass Blogger von Ver legern entdeckt wurden und ihr Traum von einem richtigen eigenen Buch wahr wurde. Ich dachte nicht so viel darüber nach, weil ich wusste, wie unwahrscheinlich das war. Aber zumindest manchmal hatte ich diesen Gedanken im Hinterkopf.
Okay, ihr fragt euch jetzt vielleicht, was es mit diesen drei Wünschen auf sich hat? Was ich geschrieben habe? Nun, im Grunde lauten die drei Wünsche folgendermaßen:
1. Viel Geld im Lotto gewinnen, damit sich Tante Jenny nicht alles vom Mund absparen muss (wir spielen manchmal Lotto, haben aber noch nie etwas gewonnen).
2. Ein paar silberne Schuhe wie die von Celestine, nur in meiner Größe.
3. Dass etwas Aufregendes passiert, weil ich wirklich eine gute und viel gelesene Schriftstellerin werden will, und wie kann man das werden, wenn man ein ganz normales, eintöniges Leben führt?
In meinem ersten Posting schrieb ich - sehr ernst - darüber, dass man aufpassen soll, was man sich wünscht. Ich habe über Leute geschrieben, die bescheuerte Wünsche ausgesprochen haben, und darüber, was mit ihnen passiert ist. Ich habe über Leute geschrieben, die ihre Wünsche nicht gut durchdacht hatten. Ich dachte, ich sei dagegen gefeit, weil ich über meine drei Wünsche wirklich gründlich nachgedacht hatte. Ich wollte mir nichts Unmögliches wünschen. Keine Zeitreise oder übernatürliche Kräfte oder so etwas, sondern nur Dinge, die wahr werden könnten. Portia, Alice und Maddy schrieben ihre Wünsche in die Kommentarbox, und die fand ich eine ganze Ecke unrealistischer als meine. Alice wünschte sich einen Zauberstab! (Allerdings hatte ich das als kleines Kind mit den Feen auch probiert - ich dachte, ich könnte sie austricksen, damit sie mir unbegrenzt Wünsche erfüllten.) Ich dachte, ich hätte meinen eigenen Rat ganz gut befolgt und die warnende Botschaft dieser alten Geschichten beherzigt. Nicht so klar war mir damals, dass »Pass auf, was du dir wünschst!« eigentlich nicht einfach nur ein Ratschlag oder eine Warnung ist. Sondern eine Drohung.
Die Schneekönigin
Es ist schon komisch, dass es für Tage, die das ganze Leben eines Menschen umkrempeln, keine Alarmzeichen gibt. Keine rote Flagge, die auf dem Kalender flattert, kein geisterhaftes Zeichen, dass der heutige Tag etwas anderes mit sich bringt als die übliche Routine aus Aufwachen, Aufstehen, Zur-SchuleGehen, Mit-dem-Bus-Heimkommen, Essen, Hausaufgaben-Machen, Fernsehen, Ins-Bett-Gehen. Es war wie damals an dem Tag, an dem Mum und Dad starben. Und genauso war es an dem Tag, an dem die Schneekönigin in mein Leben trat.
Es war an einem Donnerstag - achter März -, etwa drei Wochen, nachdem ich meinen Blog gestartet hatte. Das lief eigentlich ganz gut. Ich hatte ab und zu mal etwas gepostet, einschließlich eines selbst geschriebenen Märchens. Meine Freundinnen hatten Kommentare dazu abgegeben, und Ms Bryce hatte sich beeindruckt gezeigt. Eine Sache war allerdings etwas ärgerlich: Jemand, der sich Koschei nannte, war in der Kommentarbox aufgetaucht und hatte geschrieben: »Deine Wünsche wurden zur Kenntnis genommen und werden erfüllt.« Ich hatte kaum Notiz davon genommen, aber die Mädchen regten sich ein bisschen darüber auf, dass ein Fremder in unserer Mitte aufgetaucht war. Ich hielt das aber für harmlos, wenn auch etwas bemüht und dumm, von wem auch immer es kam. Damals konnte ich noch nicht wissen, dass ...
Nein, nein, noch nicht. Erst mal zurück zu dem Tag, an dem die Schneekönigin auftauchte. Es war einer dieser Tage, an denen das Wetter nicht so recht weiß, was es will. Es war nicht sonnig, aber auch nicht regnerisch. Nachts hatte es ein bisschen geregnet, aber gegen Morgen hatte es aufgehört, und der Tag war geprägt von einer kühlen, grauen, langweiligen Stille, die ab und zu von einem schwachen Nieselregen unterbrochen wurde. Alles in allem ein Tag, den man am besten mit einem guten Buch oder einem guten Film oder beidem auf dem Sofa verbrachte, vorzugsweise mit heißer Schokolade und Marshmellows. Wenn es ein Wochenende gewesen wäre, hätte ich auch genau das getan. Aber so musste ich mit dem Bus zur Schule fahren. Dort war es an diesem Tag besonders langweilig, weil keine meiner Freundinnen in der Schule war. Portia und Alice waren auf einer Musik-Exkursion in der Stadt, und Maddy lag mit Magen-Darm-Grippe im Bett. Zu allem Überfluss hatten wir in Mathe auch noch einen Aushilfslehrer, der darauf bestand, uns ein paar Formeln endlos wiederholen zu lassen, die wir mit unserem normalen Lehrer schon seit Wochen übten. Es war eine Doppelstunde in Mathe, und das auch noch am Ende des Schultags. Genug Überdruss, um jemanden in den Suff zu treiben, wie Tante Jenny auf ihre lustige, altmodische Art sagen würde. Aber vollkommen ereignislos. Tatsächlich könnte man sagen, dass nichts an diesem Tag ein Ereignis war. Bis ich nach Hause kam.
Den ersten Hinweis darauf, dass etwas anders war als sonst, lieferte mir das Auto, das vor unserem Wohnblock stand. Ein dunkelblaues Sport-Cabrio mit weißem Dach. Das war genau die Art von Wagen, mit dem Grace Kelly in einem dieser alten Filme, auf die Tante Jenny so scharf war, sehr schnell eine Straße mit Haarnadelkurven entlangfuhr. Er musste wohl einer ihrer Kundinnen gehören. Allerdings keiner, die ich kannte. Ich hatte dieses Auto noch nie gesehen. Ich schloss die Wohnungstür auf und ging direkt in die Küche, um erst einmal etwas zu essen. Wenn Tante Jenny eine neue Kundin dahatte, wollte sie nicht, dass ich sie störe, deshalb rief ich sie nicht oder so. Aber sie musste gehört haben, wie die Tür zuschlug, denn sie kam in die Küche, noch bevor ich den Inhalt des Kühlschranks genauer in Augenschein nehmen konnte.
Sie sah seltsam aus. Blass, und ihre Augen schimmerten ein wenig zu sehr. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als mir plötzlich klar wurde, dass sie an dem Nachmittag, als Dad und Mum gestorben waren und sie mich von der Schule abgeholt hatte, genauso ausgesehen hatte. Ich hatte seit Jahren nicht mehr an dieses Bild gedacht. Aber jetzt war es wieder da und traf mich wie ein Donnerschlag - und es wurde noch schlimmer, als sie anfing zu sprechen.
»Rose«, sagte sie. »Gott sei Dank, dass du wieder da bist. Da ist etwas ... etwas ist geschehen.«
»Was ist passiert? Geht es um meine Freundinnen?«, sprudelte es aus mir heraus. In rascher Folge schossen mir Bilder durch den Kopf - Portias und Alices' Exkursionsbus hatte sich überschlagen, Maddys Magen-Darm-Grippe hatte sich als Magenkrebs entpuppt.
»Nein, mit ihnen hat es nichts zu tun. Nein. Rose, ich muss dir etwas sagen ... Es tut mir leid, dass ich nie ... «
»Ah! Sie ist zurück.« Eine hochgewachsene Frau stand in der Küchentür, hinter ihr ein Mann. Sie hatte dunkles Haar, blaue Augen, und alles an ihr war glänzend und perfekt, von ihrem fachmännisch gestylten Haar, das sich sanft um ihre Ohren schmiegte, bis hinunter zur Spitze ihrer schicken dunkelblauen Schuhe mit den hohen Absätzen. Sie war schlicht, aber offensichtlich teuer gekleidet - sie trug einen marineblauen Anzug, der aus einer eng taillierten Jacke und einem Bleistiftrock bestand. Sie war eine der schönsten Frauen, die ich je außerhalb von Magazinseiten oder Filmszenen gesehen hatte. Trotz ihrer makellosen Schönheit hatte sie jedoch etwas Kaltes, Beherrschtes an sich. Sie erinnerte mich an die Schneekönigin aus dem Märchen von Hans Christian Andersen. Vor dieser Figur hatte ich mich schon immer gefürchtet - sie stach Glassplitter in die Herzen der Leute, die dann nicht mehr in der Lage waren, warmherzig und menschlich zu handeln oder andere Menschen lieb zu haben.
Die Schneekönigin sah mich an und bedachte mich mit einem schmalen Lächeln. Mit ihren eisblauen Augen musterte sie mich von meinen zerzausten braunen Haaren über den verknitterten Pulli und den am Saum ausgefransten Rock meiner Schul uniform bis hinunter zu den abgewetzten Schuhen. Ich finde nicht, dass ich direkt hässlich bin. Tatsächlich hat man mir schon gesagt, ich sei hübsch, auch wenn ich nicht weiß, ob ich das glauben soll. Unter dem unheilvollen Blick der Schneekönigin fühlte ich mich jedoch, als hätte man mich soeben in einen schwitzenden Kartoffelsack oder so etwas Ähnliches verwandelt.
»Du bist Rose Dumerle«, stellte sie fest.
Zu meinem eigenen Entsetzen hörte ich mich stottern: »Wer, ähm, wer möchte das ... das wissen?«
»Ich bin Madame Randal. Madame Blanche Randal«, sagte die Frau, und obwohl sie sehr gut Englisch sprach, bemerkte ich jetzt ihren Akzent. Er hörte sich französisch an. »Du kannst mich Madame Blanche nennen, wenn du möchtest, Rose. Du kennst mich nicht, aber du wirst mich bald kennenlernen.«
Das klang auffallend nach einer Drohung. Ich warf meiner Tante einen Blick zu. Sie sah verwirrt, beinahe hilflos aus. Also wandte ich mich an den Mann hinter Blanche Randal. Anders als sie war er grau und gewöhnlich, er trug einen langweiligen Anzug und hatte eine langweilige Frisur. Blanche Randal gab ihm ein Zeichen, und er sagte hastig: »Miss Dumerle, ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen. Es wäre klug, wenn Sie sich hinsetzen würden, denn es könnte ein kleiner Schock für Sie sein.«
»Nicht hier«, meinte Tante Jenny, die endlich auch mal etwas sagte. »Kommen Sie doch ins Wohnzimmer.«
Sie sah mich nicht an und sagte auch nichts, als sie vor uns ins Wohnzimmer ging. Ich folgte ihr wie betäubt, wobei mein Gehirn alle Arten von wilden Gedanken aufwarf. Steckte Tante Jenny in Schwierigkeiten? Waren wir pleite? Oder hatte sie womöglich etwas Unrechtes getan? Wer waren diese Leute? Vielleicht waren sie vom Sozialamt oder so, und ich würde Tante Jenny weggenommen. Da würde ich mich aber weigern. Ich würde nicht in eine Pflegefamilie oder ein Heim oder sonst wohin gehen. Ich würde weglaufen. Ich war sechzehn, beinahe siebzehn. Alt genug, um selbst Geld zu verdienen. Außerdem war ich reif für mein Alter. Das sagten alle. Ich würde anfangen, professionell zu schreiben. Ich würde für Zeitungen schreiben. Für Magazine. Onlinejournale. Werbeagenturen. Für alles Mögliche. Ich würde schreiben und Geld verdienen und Tante Jenny aus ihren Schwierigkeiten heraushelfen. Es würde mir nichts ausmachen, die Schule abzubrechen. Abgesehen vom Englischunterricht langweilte sie mich sowieso, und selbst in Englisch gab es viel zu viel von diesem Was-wollen-uns-diese-Worte-sagen-Quatsch.
Wir saßen im Wohnzimmer, ich im Sessel, die beiden Fremden auf dem Sofa und Tante Jenny auf dem unbequemsten aller Stühle. Sie hatte die Hände im Schoß verkrampft, und auf einmal hätte ich am liebsten geweint. Aber bevor ich etwas zu ihr sagen konnte, ergriff der graue Mann wieder das Wort. Er sagte: »Miss Dumerle, wie ich Miss Flanagan bereits gesagt habe, heiße ich Joseph Gilham und arbeite als Rechtsanwalt bei der Firma Gilham, Gilham und Elliott in der Stadt. Vor einiger Zeit erhielt ich eine Mitteilung von einem Klienten, der die Firma damit beauftragte, gewisse Nachforschungen anzustellen. Diese haben uns zu Ihnen geführt.«
Jetzt bekam ich allmählich wirklich Angst, und wenn ich Angst habe, werde ich immer gereizt. Ziemlich unhöflich sagte ich: »Ich wünschte, Sie würden aufhören, um den heißen Brei herumzureden. Warum sind Sie hier? Was wollen Sie von uns?«
Blanche Randal bedachte mich erneut mit einem schmalen, eisigen Lächeln. Sie sagte: »Wie ich sehe, bist du recht impulsiv, mein kleines Fräulein. Und deine Nase, deine Augenfarbe und die entschlossene Kieferpartie - ganz der Großvater. Daran besteht überhaupt kein Zweifel.«
Ich starrte sie an. »Mein Großvater? Er ist tot. Er ist vor über drei Jahren in einem Pflegeheim gestorben.« Opa war wirklich nett gewesen. Manchmal war er ein bisschen ermüdend mit seinen Geschichten über seine Kindheit im Krieg und wie sich seitdem alles verändert hat, aber er war fröhlich und lieb, und außerdem war er das einzige Mitglied unserer Familie, das außer Tante Jenny und mir noch übrig gewesen war. Meine Großmutter war schon vor Ewigkeiten gestorben, lange vor Mum und Dad. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr an sie erinnern.
Blanche Randal machte eine Bewegung mit ihrer exquisit manikürten Hand. »Nein, nicht der Vater deiner Mutter. Der Vater deines Vaters.«
»Mein Vater hat nie über seine Familie gesprochen«, sagte ich verständnislos. »Er meinte nur, dass er nicht mehr dazugehörte. Er sagte immer, wir seien seine Familie, und dieses Land sei seine Heimat. Er wollte nie mehr zurückkehren.« Ich starrte sie an. »Sie sind aus Frankreich, genau wie er. Sind Sie mit ihm verwandt?«
Sie zog eine Augenbraue nach oben. »Nein. Ich bin die Sekretärin deines Großvaters.«
Zuerst kam das gar nicht so richtig bei mir an. Ich war einfach nur froh, dass ich nicht mit der Schneekönigin verwandt war. Ich stellte mir dauernd vor, wie diese eisblauen Augen eine lähmende Scherbe in mein Herz schossen. Dann wurde mir klar, was sie gerade gesagt hatte. »Die Sekretärin meines Großvaters?«, wiederholte ich. »Wollen Sie damit sagen, dass mein französischer Großvater noch lebt?«
»Er ist krank«, sagte sie. »Vor ein paar Wochen hatte er einen Schlaganfall. Er hat sich zwar wieder gut davon erholt, aber man kann nicht sagen, wie lange das so bleibt. Er möchte dich sehen. Wir werden so bald wie möglich aufbrechen.«
Ich blinzelte. »Wie bitte?«
»Ich habe mit deiner Tante gesprochen.« Sie warf Tante Jenny einen kurzen Blick zu. »Sie ist einverstanden damit. Sie hat gesagt, dass dein Reisepass gültig ist.«
»Mein Reisepass?«, sagte ich und sah Tante Jenny an. Ich hörte zum ersten Mal, dass ich überhaupt einen Reisepass besaß.
Tante Jenny wandte sich ein wenig von den anderen ab. Ganz leise, sodass die anderen es nicht hören konnten, sagte sie: »Rose, ich habe schon immer geahnt, dass das eines Tages geschehen könnte. Ich wusste, dass du von einem Augenblick auf den anderen bereit sein müsstest zu gehen.«
»Was meinst du damit?«, rief ich. »Du hast mir nie etwas davon gesagt!«
Sie seufzte. »Als Philippe noch am Leben war, wollte er nie darüber reden. Aber deine Mutter erzählte mir, dass er einen großen Krach mit seinem Vater gehabt hatte und Frankreich verließ, um nie wieder dorthin zurückzukehren. Sie sagte, sie hoffte, dass sie sich eines Tages versöhnen würden. Sie sagte, du hättest das Recht, beide Seiten der Familie zu kennen, aber Philippe weigerte sich standhaft, das überhaupt in Erwägung zu ziehen. Er wollte ihr nicht einmal verraten, aus welchem Teil der Landes er stammte. Er sagte, er hätte sich zwanzigtausend Kilometer von Frankreich entfernt, um das alles für immer zu vergessen.« Sie zögerte. »Einmal hat sie erwähnt, sie hätte den starken Verdacht, dass Philippe Dumerle überhaupt nicht sein richtiger Name sei.«
Ich spürte, wie mir das Blut aus den Wangen wich. Das war eine Seite meiner Eltern, die ich nie kennengelernt hatte. Als Kind hatte ich mich manchmal gewundert und mich gefragt, weshalb Dad nie über seine Familie sprach, aber mit acht denkt man nicht unbedingt viel über solche Dinge nach. Es gibt nur einen einzigen Gegenstand aus seiner alten Heimat, den er meiner Mutter geschenkt hatte: eine kleine Brosche in Form eines Vogels aus schwarzem Ebenholz mit Vergoldung. Ich glaube nicht, dass sie besonders wertvoll war, aber sie war sehr hübsch. Ich wusste, dass ein Teil unseres Namens, dieses »merle«, französisch war und »Amsel« bedeutete, deshalb hielt ich die kleine Brosche immer für unser Symbol. Abgesehen von der Amsel-Brosche war das Einzige, was von Dads altem Leben übrig geblieben war, sein Akzent gewesen. Sein Englisch war gut, aber mit mir hatte er, seit ich ein Baby war, immer Französisch gesprochen. Selbst nachdem meine Eltern gestorben waren, sorgte Tante Jenny dafür, dass ich mit Französisch weitermachte, indem sie mich zum Unterricht in die Alliance Fran~aise schickte. Das störte mich nicht, im Gegenteil - ich fühlte mich Dad dadurch näher. Und Tante Jenny selbst war auch ganz gut in Französisch, denn sie hatte es an der Universität studiert. Deshalb war ich praktisch zweisprachig. Meine Französischlehrerin an der Schule sagte, ich könne mich glücklich schätzen.
Doch im Moment kam ich mir nicht so vor, als könnte ich mich glücklich schätzen. Meine Welt stürzte in sich zusammen. »Was meinen Sie mit >Philippe Dumerle war nicht sein richtiger Name<?«, quietschte ich.
Das kam lauter heraus, als ich vorgehabt hatte. Blanche Randal schnitt mir ziemlich verächtlich das Wort ab. »Es war in der Tat nicht der richtige Name deines Vaters. Oder besser, nicht sein voller Name. Er kam als Philippe Auguste du Merle de la Tour d'Argent auf die Welt.«
»Ganz schön lang«, sagte ich und war so schockiert, dass ich völligen Blödsinn redete: »Philip August Amsel vom Silberturm heißt das, nicht wahr? Klingt wie etwas aus Fluch der Karibik! Stammte Dad von Piraten ab?«
Ihre Augen schossen blaues Feuer nach mir, als hätte ich eine Sünde begangen. »Es ist ein alter Name, auf den man sehr stolz sein kann«, fuhr sie mich an. »Wenn er noch leben würde, hätte dein Vater den Familientitel und das Anwesen geerbt.« Sie sah, dass ich überhaupt nichts begriff. »Dein Großvater ist Graf Valentin du Merle de la Tour d'Argent. Er gehört nicht nur zu einer der bedeutendsten Adelsfamilien Frankreichs, sondern ist auch ein sehr berühmter Schriftsteller.«
»Ein Schriftsteller!« Das war überraschender für mich als die Tatsache, dass er ein Graf war. Ich hatte nur eine verschwommene Ahnung davon, was Grafen mit bizarren Namen so trieben - außerhalb von Schauerromanen oder Märchen.
Aber ein Schriftsteller - das war etwas anderes! Das war aufregend. Ich hatte immer gedacht, dass meine Begabung für das Schreiben aus dem Nichts aufgetaucht wäre. Weder Mum noch Dad hatten gern einen Stift in die Hand genommen oder auf der Tastatur herumgeklappert. Tante Jenny auch nicht, auch wenn sie fast so gern las wie Mum. Dad bevorzugte Musik und Sport, vor allem Segeln und Tennis. Er las nur den Wirtschaftsteil der Zeitung - er arbeitete in einer Bank - und gelegentlich das Guinessbuch der Rekorde. Oh, und noch gelegentlicher meine Schulaufsätze, wenn Mum ihn dazu drängte. Er sagte, dass er als Kind immer Bücher angefangen und nicht zu Ende gelesen hätte. Das fand ich wirklich komisch, denn wenn mich ein Buch erst mal am Haken hatte, konnte ich es nicht mehr aus der Hand legen!
...
Übersetzung: Sonja Häußler
© 2011 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
... weniger
Autoren-Porträt von Isabelle Merlin
Sonja Häußler, geb. 1971 in Marbach am Neckar, arbeitete nach dem Studium der Angewandten Sprachwissenschaft (Englisch und Italienisch) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Germersheim zunächst im Bereich Journalismus, bevor sie sich ihrer Leidenschaft, den Büchern, zuwandte. Heute übersetzt sie Kinder- und Jugendliteratur sowie Bildbände und Reiseführer.
Bibliographische Angaben
- Autor: Isabelle Merlin
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2011, 381 Seiten, Maße: 12,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Häußler, Sonja
- Übersetzer: Sonja Häußler
- Verlag: cbj
- ISBN-10: 3570400972
- ISBN-13: 9783570400975
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