Ice - Hüter des Nordens
Roman. Deutsche Erstausgabe
Die junge Cassie lebt mit ihrem Vater auf einer Forschungsstation in der Arktis. Ihre Mutter ist angeblich bei ihrer Geburt gestorben, doch Cassie wächst mit rätselhaften Geschichten über ihren Tod auf. Kurz vor Cassies achtzehntem Geburtstag kommt es zu...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ice - Hüter des Nordens “
Klappentext zu „Ice - Hüter des Nordens “
Die junge Cassie lebt mit ihrem Vater auf einer Forschungsstation in der Arktis. Ihre Mutter ist angeblich bei ihrer Geburt gestorben, doch Cassie wächst mit rätselhaften Geschichten über ihren Tod auf. Kurz vor Cassies achtzehntem Geburtstag kommt es zu einer merkwürdigen Begebenheit: Cassie trifft auf einen Eisbären, der zu ihr spricht und ihr berichtet, dass die alten Legenden wahr sind. Ihre Mutter ist noch am Leben und wird in der Festung der Trolle gefangen gehalten. Doch um sie zu befreien, muss Cassie den Eisbären heiraten, der sich des Nachts in einen Menschen verwandelt. Zwischen Cassie und dem magischen Wesen entwickelt sich eine zarte Liebe, die jedoch von einem geheimnisvollen Fluch bedroht wird ...
Lese-Probe zu „Ice - Hüter des Nordens “
Ice - Hüter des Nordens von Sarah B. DurstProlog
Die Tochter des Nordwinds
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»Es war einmal vor langer, langer Zeit, da sagte der Nordwind zum König der Eisbären: >Stehle mir eine Tochter, und wenn sie herangewachsen ist, soll sie deine Braut sein.‹«
Cassie, vier Jahre alt, klammerte sich fest an ihre Bettdecke und blickte unverwandt auf ihre Großmutter. Die saß steif auf der äußersten Kante von Cassies Bett und erinnerte, hochgewachsen und aufrecht, in ihrer linken Hand einen Gehstock aus Mahagoni, an einen Armeegeneral. Dad war heute Abend nicht da. Er hatte außerhalb der Station zu tun. Das bedeutete, Cassie würde die Geschichte hören. Gram erzählte sie niemals, wenn er zu Hause war. und es war die einzige Geschichte, die sie überhaupt je erzählte.
»und so kam es, dass der König der Eisbären ein Menschenkind entführte und es dem Nordwind brachte. Von da an lebte es bei ihm. Der Nordwind war sein Vater, und der Westwind, der Südwind und der Ostwind waren seine Onkel. Es wuchs zu einer wunderschönen, aber sehr einsamen jungen Frau heran. Eines Tages, als die Winde nicht da waren (was oft geschah), traf sie einen Menschen, einen Mann. Sie freundete sich mit ihm an, und schließlich verliebten sich die beiden ineinander.
Als nun der König der Eisbären erschien, um seine Braut einzufordern, wies sie ihn ab. Ihr Herz, sagte sie, gehöre einem anderen. >Ich will keine Braut, die nur aus Zwang die Meine wird‹, sagte er zu ihr. >Aber dein Vater hat mir ein Versprechen gegeben.‹
Die Tochter des Nordwinds wusste um die Macht magischer Versprechen, und so versuchte sie, dem ihres Vaters ein eigenes entgegenzusetzen: ›Dann werde ich dir etwas versprechen<, erwiderte sie. ›Bring mich zu meinem Liebsten, und verstecke uns vor meinem Vater, und wenn ich eine Tochter bekomme, dann soll sie deine Braut sein.<
und so brachte der König der Eisbären die Tochter des Nordwinds zu ihrem Menschenmann und versteckte die beiden im ewigen Eis.
Voller Zorn fegte der Nordwind über Himmel, Land und Meer. Aber er konnte sie nirgends finden. und so waren die Tochter des Nordwinds und ihr Mann lange miteinander glücklich.
Nach der üblichen Zeit bekam die Frau ein Kind. Der Westwind, der zufällig gerade vorüberflog, hörte die Geburt und eilte zum Nordwind, um ihm zu sagen, wo er seine Tochter finden könne. Da stürzte sich der Nordwind mit der Kraft von tausend Schneestürmen hinunter auf das Haus, in dem seine Tochter, ihr Mann und das Neugeborene lebten. Beinahe hätte er es in tausend Stücke zerfetzt, aber die Frau rannte hinaus zu ihm. ›Nimm mich mit dir<, rief sie weinend, ›aber verschone meine Liebsten!<
und der Nordwind blies sie so weit fort, wie er nur irgend konnte - bis zu der Festung hinter dem Ende der Welt. Dort stürzte sie zu Boden, und Trolle nahmen sie gefangen.«
Gram stand auf, und Cassie hörte das Bett knarren. Die kräftige Stimme ihrer Großmutter klang jetzt viel sanfter. »Es heißt, wenn der Wind aus dem Norden heult, weint er um seine verlorene Tochter.«
Cassie blinzelte ihre Tränen weg. »und Mami ist immer noch dort?«
Gram war ein Schatten im Türrahmen. »Ja.«
Kapitel Eins
Vor langer, langer Zeit, da lebte in einem Land hoch im Norden eine liebliche Jungfrau ...
Geografische Breite: 72° 13' 30" N
Geografische Länge: 152° 06' 52" W höhe: 1 m
CASSIE SCHALTETE DEN MOTOR IHRES SCHNEEMOBILS AUS. Vollkommene Stille, ihr Lieblingsgeräusch. Eiskristalle tanzten in der arktischen Luft, glitzerten im Licht der frühen Morgendämmerung wie Diamantstaub. ein Lächeln erschien unter der eisverkrusteten Gesichtsmaske. Cassie liebte das: nur sie, das Eis und der Bär.
»Nicht bewegen«, flüsterte sie zu dem Eisbären hinüber.
Ohne den Blick abzuwenden, griff sie nach hinten und hakte das Gewehr los. Der Bär stand reglos da, wie eine Statue aus Marmor. Ohne das Tier auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, lud Cassie die Waffe mit einem Betäubungspfeil, rein nach Gefühl. Weiß auf Weiß in einem Alkoven aus Eis sah er aus wie ein König auf seinem Thron. Einen Augenblick lang war Cassie, als könnte sie die Stimme von Gram hören, ihrer Großmutter, wie sie die Geschichte vom König der Eisbären erzählte ... Sie hatte sie nicht mehr gehört seit jenem Tag, an dem Gram die Forschungsstation verlassen hatte, doch Cassie erinnerte sich immer noch an jedes einzelne Wort. Sie hatte damals geglaubt, die Erzählung sei wahr.
als kleines Mädchen hatte Cassie vor der arktischen Forschungsstation ihres Vaters unzählige Rettungsmissionen geprobt. Sie häufte alte Teile von Schneemobilen und kaputte Stromaggregate übereinander, um die Festung der Trolle nachzubauen. Dann kletterte sie die »Festungsmauern« hinauf und fesselte die »Trolle« (mit Kissen ausgestopfte alte Kleidungsstücke) mit Hilfe von Kletterseilen. Einmal hatte ihr Vater sie mit angeschnallten Skiern auf dem Dach der Station erwischt, bereit, auf ihnen bis hinter das Ende der Welt zu laufen, um ihre Mutter zu retten. Er nahm ihr die Skier weg und verbot Gram, die Geschichte jemals wieder zu erzählen. Doch das hatte Cassie nicht aufgehalten. Im Gegenteil. Wenn ihr Vater unterwegs war, flehte sie Gram ganz einfach an, die Geschichte zu erzählen. Und sie erfand ein neues Spiel, in dem ein Segel aus Zeltleinwand und ein ausrangierter Schlitten die Hauptrollen spielten. Selbst als sie bereits die Wahrheit kannte - Großmutters Geschichte sollte ihr auf nette Art und Weise begreiflich machen, dass ihre Mutter gestorben war -, hatte sie diese Spiele weiter gespielt.
Spiele brauche ich jetzt nicht mehr, dachte Cassie und grinste. Sie ließ die Spritze einrasten und hob das Gewehr an die Schulter. und dieser Bär, so dachte sie, brauchte keine Gutenachtgeschichte. Er wirkte auch so überaus prachtvoll, war so vollkommen wie ein Bild aus einem Lehrbuch: cremefarben, muskulös und ohne jede Narbe. Wenn ihre Schätzung stimmte, war er der größte jemals gesichtete Eisbär. Und sie hatte ihn gefunden.
Als Cassie den Hahn des Betäubungsgewehrs spannte, drehte der Bär den Kopf und blickte direkt in ihre Richtung. Sie hielt den Atem an und erstarrte. Wind pfiff über das Eis und wirbelte losen Schnee zwischen ihr und ihm auf. Sie hörte ihr Herz so laut in den eigenen Ohren pochen, dass sie fast glaubte, er könne es auch hören. Das war es - das Ende der Verfolgungsjagd. Als sie aufgebrochen war, hatte Polarlicht am Himmel getanzt. In seinem Leuchten hatte sie die Spuren des Bären drei Meilen von der Station Richtung Norden verfolgt. Lockeres Meereis hatte sich gegen die Küste gedrängt, doch sie war darüber hinweg und hinaus aufs Packeis gefahren. Bis hier herauf, zu einem Block wirr aufgetürmter Eisblöcke, die wie eine Bergkette en miniature aussahen, hatte sie ihn verfolgt. Sie hatte keine Ahnung, wie es ihm gelungen war, ihr während der ganzen Jagd so weit vorauszubleiben. Die höchste Geschwindigkeit, die ein erwachsener männlicher Eisbär erreichen konnte, lag bei dreißig Meilen pro Stunde, und mit ihrem Schneemobil kam sie auf sechzig Meilen pro Stunde. Vielleicht waren seine Spuren ja nicht so frisch gewesen, wie sie aussahen. Oder sie hatte eine Art superschnellen Bär entdeckt. Angesichts der Lächerlichkeit dieser Vorstellung musste sie grinsen. Welche Erklärung es dafür auch immer geben mochte, die Spuren hatten sie hierher geführt, zu diesem wunderschönen, majestätischen, perfekten Bären. Sie hatte gewonnen.
Einen Augenblick später wandte der Bär seinen Blick von ihr ab und sah hinaus auf die gefrorene See.
»Du gehörst mir«, flüsterte Cassie, während sie ihn anvisierte. Da trat der Bär in das Eis hinein. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung richtete er sich auf und tapste rückwärts. Es sah aus, als würde er in das Innere einer Wolke gehen. Zuerst verschwanden die Hinterbeine im Weiß, dann auch der Körper.
Unmöglich.
Sie senkte das Gewehr und starrte wie gebannt zu der Stelle hinüber. Das konnte nicht sein. Sie sah das hier nicht wirklich. Die Eiswand schien ihn förmlich zu verschlucken. Jetzt waren nur noch seine Schultern und der Kopf zu sehen. Cassie schüttelte sich. Er würde entkommen! Wie, war völlig egal. Sie hob das Gewehr und drückte den Abzug. Der Rückstoß schlug den Kolben der Waffe gegen ihre Schulter. Reflexartig blinzelte sie. Der Bär war weg.
»Nein«, sagte sie laut. Sie hatte ihn doch gehabt! Was war passiert? Bären gingen nicht durch Eis, konnten nicht durch Eis gehen. Es musste eine Sinnestäuschung gewesen sein. Irgendein Streich, den die arktische Luft ihr spielte. Sie riss sich die Brille vom Kopf. Sofort presste die Kälte ihre Augäpfel zusammen, und das grelle Weiß blendete sie. Cassie suchte die gefrorenen Wellen ab. Schnee trieb über das Eis wie schnell dahinziehende Wolken. Das Land war so tot wie eine Wüste. Erst als die Kälte zu sehr schmerzte und sie es keine Sekunde länger aushalten konnte, setzte sie ihre Brille wieder auf.
Ein Prasseln in ihrem Funkgerät. Sie holte es aus der Tasche ihres Parkas. »Hier Cassie«, sagte sie und versuchte, gelassen zu klingen. Sie hatte den Bären bis hinaus auf das Packeis verfolgt - ohne Rückendeckung. Hätte sie ihn gefangen, wäre das nicht so schlimm. Aber so ... Wie sollte sie das hier bloß erklären? Sie konnte es ja noch nicht einmal sich selbst erklären.
»Cassandra Elizabeth Dasent, nach Hause mit dir. SOFORT.«
Dads Stimme. Und er klang alles andere als glücklich.
Nun, sie war es auch nicht. Sie hatte vorgehabt, einen Bären zu markieren - als Geburtstagsgeschenk für sich selbst. In wenigen Stunden würde sie achtzehn werden. Es schien die ideale Möglichkeit für die einzige Tochter des leitenden Wissenschaftlers der Meeresforschungsstation in der Eastern Beaufort Sea zu sein, das Erreichen ihrer Volljährigkeit zu feiern. Als dieser Bär an der Station vorbeispazierte, befand sie sich gerade draußen, um die Funkantenne zu reparieren, und es hatte sich wie ein Geschenk angefühlt. Sie hatte doch nicht damit gerechnet, dass die Verfolgungsjagd sie so weit hinaus aufs Eis führen würde! Und sie hatte ebenfalls nicht damit gerechnet, dass der Bär ... Er konnte nicht weit gekommen sein. Bestimmt war er gleich irgendwo hinter dem Kamm aus Eis. Sie prüfte die Tankanzeige. Der Treibstoff reichte noch für drei Stunden.
»Cassie? Cassie? Hörst du mich?«
»Ich verfolge ihn weiter«, sagte sie in das Funkgerät. Dann ließ sie den Motor aufheulen. Das Geräusch verschluckte die Antwort ihres Vaters, und Cassie fuhr los, weiter hinein ins Eis.
...
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
»Es war einmal vor langer, langer Zeit, da sagte der Nordwind zum König der Eisbären: >Stehle mir eine Tochter, und wenn sie herangewachsen ist, soll sie deine Braut sein.‹«
Cassie, vier Jahre alt, klammerte sich fest an ihre Bettdecke und blickte unverwandt auf ihre Großmutter. Die saß steif auf der äußersten Kante von Cassies Bett und erinnerte, hochgewachsen und aufrecht, in ihrer linken Hand einen Gehstock aus Mahagoni, an einen Armeegeneral. Dad war heute Abend nicht da. Er hatte außerhalb der Station zu tun. Das bedeutete, Cassie würde die Geschichte hören. Gram erzählte sie niemals, wenn er zu Hause war. und es war die einzige Geschichte, die sie überhaupt je erzählte.
»und so kam es, dass der König der Eisbären ein Menschenkind entführte und es dem Nordwind brachte. Von da an lebte es bei ihm. Der Nordwind war sein Vater, und der Westwind, der Südwind und der Ostwind waren seine Onkel. Es wuchs zu einer wunderschönen, aber sehr einsamen jungen Frau heran. Eines Tages, als die Winde nicht da waren (was oft geschah), traf sie einen Menschen, einen Mann. Sie freundete sich mit ihm an, und schließlich verliebten sich die beiden ineinander.
Als nun der König der Eisbären erschien, um seine Braut einzufordern, wies sie ihn ab. Ihr Herz, sagte sie, gehöre einem anderen. >Ich will keine Braut, die nur aus Zwang die Meine wird‹, sagte er zu ihr. >Aber dein Vater hat mir ein Versprechen gegeben.‹
Die Tochter des Nordwinds wusste um die Macht magischer Versprechen, und so versuchte sie, dem ihres Vaters ein eigenes entgegenzusetzen: ›Dann werde ich dir etwas versprechen<, erwiderte sie. ›Bring mich zu meinem Liebsten, und verstecke uns vor meinem Vater, und wenn ich eine Tochter bekomme, dann soll sie deine Braut sein.<
und so brachte der König der Eisbären die Tochter des Nordwinds zu ihrem Menschenmann und versteckte die beiden im ewigen Eis.
Voller Zorn fegte der Nordwind über Himmel, Land und Meer. Aber er konnte sie nirgends finden. und so waren die Tochter des Nordwinds und ihr Mann lange miteinander glücklich.
Nach der üblichen Zeit bekam die Frau ein Kind. Der Westwind, der zufällig gerade vorüberflog, hörte die Geburt und eilte zum Nordwind, um ihm zu sagen, wo er seine Tochter finden könne. Da stürzte sich der Nordwind mit der Kraft von tausend Schneestürmen hinunter auf das Haus, in dem seine Tochter, ihr Mann und das Neugeborene lebten. Beinahe hätte er es in tausend Stücke zerfetzt, aber die Frau rannte hinaus zu ihm. ›Nimm mich mit dir<, rief sie weinend, ›aber verschone meine Liebsten!<
und der Nordwind blies sie so weit fort, wie er nur irgend konnte - bis zu der Festung hinter dem Ende der Welt. Dort stürzte sie zu Boden, und Trolle nahmen sie gefangen.«
Gram stand auf, und Cassie hörte das Bett knarren. Die kräftige Stimme ihrer Großmutter klang jetzt viel sanfter. »Es heißt, wenn der Wind aus dem Norden heult, weint er um seine verlorene Tochter.«
Cassie blinzelte ihre Tränen weg. »und Mami ist immer noch dort?«
Gram war ein Schatten im Türrahmen. »Ja.«
Kapitel Eins
Vor langer, langer Zeit, da lebte in einem Land hoch im Norden eine liebliche Jungfrau ...
Geografische Breite: 72° 13' 30" N
Geografische Länge: 152° 06' 52" W höhe: 1 m
CASSIE SCHALTETE DEN MOTOR IHRES SCHNEEMOBILS AUS. Vollkommene Stille, ihr Lieblingsgeräusch. Eiskristalle tanzten in der arktischen Luft, glitzerten im Licht der frühen Morgendämmerung wie Diamantstaub. ein Lächeln erschien unter der eisverkrusteten Gesichtsmaske. Cassie liebte das: nur sie, das Eis und der Bär.
»Nicht bewegen«, flüsterte sie zu dem Eisbären hinüber.
Ohne den Blick abzuwenden, griff sie nach hinten und hakte das Gewehr los. Der Bär stand reglos da, wie eine Statue aus Marmor. Ohne das Tier auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, lud Cassie die Waffe mit einem Betäubungspfeil, rein nach Gefühl. Weiß auf Weiß in einem Alkoven aus Eis sah er aus wie ein König auf seinem Thron. Einen Augenblick lang war Cassie, als könnte sie die Stimme von Gram hören, ihrer Großmutter, wie sie die Geschichte vom König der Eisbären erzählte ... Sie hatte sie nicht mehr gehört seit jenem Tag, an dem Gram die Forschungsstation verlassen hatte, doch Cassie erinnerte sich immer noch an jedes einzelne Wort. Sie hatte damals geglaubt, die Erzählung sei wahr.
als kleines Mädchen hatte Cassie vor der arktischen Forschungsstation ihres Vaters unzählige Rettungsmissionen geprobt. Sie häufte alte Teile von Schneemobilen und kaputte Stromaggregate übereinander, um die Festung der Trolle nachzubauen. Dann kletterte sie die »Festungsmauern« hinauf und fesselte die »Trolle« (mit Kissen ausgestopfte alte Kleidungsstücke) mit Hilfe von Kletterseilen. Einmal hatte ihr Vater sie mit angeschnallten Skiern auf dem Dach der Station erwischt, bereit, auf ihnen bis hinter das Ende der Welt zu laufen, um ihre Mutter zu retten. Er nahm ihr die Skier weg und verbot Gram, die Geschichte jemals wieder zu erzählen. Doch das hatte Cassie nicht aufgehalten. Im Gegenteil. Wenn ihr Vater unterwegs war, flehte sie Gram ganz einfach an, die Geschichte zu erzählen. Und sie erfand ein neues Spiel, in dem ein Segel aus Zeltleinwand und ein ausrangierter Schlitten die Hauptrollen spielten. Selbst als sie bereits die Wahrheit kannte - Großmutters Geschichte sollte ihr auf nette Art und Weise begreiflich machen, dass ihre Mutter gestorben war -, hatte sie diese Spiele weiter gespielt.
Spiele brauche ich jetzt nicht mehr, dachte Cassie und grinste. Sie ließ die Spritze einrasten und hob das Gewehr an die Schulter. und dieser Bär, so dachte sie, brauchte keine Gutenachtgeschichte. Er wirkte auch so überaus prachtvoll, war so vollkommen wie ein Bild aus einem Lehrbuch: cremefarben, muskulös und ohne jede Narbe. Wenn ihre Schätzung stimmte, war er der größte jemals gesichtete Eisbär. Und sie hatte ihn gefunden.
Als Cassie den Hahn des Betäubungsgewehrs spannte, drehte der Bär den Kopf und blickte direkt in ihre Richtung. Sie hielt den Atem an und erstarrte. Wind pfiff über das Eis und wirbelte losen Schnee zwischen ihr und ihm auf. Sie hörte ihr Herz so laut in den eigenen Ohren pochen, dass sie fast glaubte, er könne es auch hören. Das war es - das Ende der Verfolgungsjagd. Als sie aufgebrochen war, hatte Polarlicht am Himmel getanzt. In seinem Leuchten hatte sie die Spuren des Bären drei Meilen von der Station Richtung Norden verfolgt. Lockeres Meereis hatte sich gegen die Küste gedrängt, doch sie war darüber hinweg und hinaus aufs Packeis gefahren. Bis hier herauf, zu einem Block wirr aufgetürmter Eisblöcke, die wie eine Bergkette en miniature aussahen, hatte sie ihn verfolgt. Sie hatte keine Ahnung, wie es ihm gelungen war, ihr während der ganzen Jagd so weit vorauszubleiben. Die höchste Geschwindigkeit, die ein erwachsener männlicher Eisbär erreichen konnte, lag bei dreißig Meilen pro Stunde, und mit ihrem Schneemobil kam sie auf sechzig Meilen pro Stunde. Vielleicht waren seine Spuren ja nicht so frisch gewesen, wie sie aussahen. Oder sie hatte eine Art superschnellen Bär entdeckt. Angesichts der Lächerlichkeit dieser Vorstellung musste sie grinsen. Welche Erklärung es dafür auch immer geben mochte, die Spuren hatten sie hierher geführt, zu diesem wunderschönen, majestätischen, perfekten Bären. Sie hatte gewonnen.
Einen Augenblick später wandte der Bär seinen Blick von ihr ab und sah hinaus auf die gefrorene See.
»Du gehörst mir«, flüsterte Cassie, während sie ihn anvisierte. Da trat der Bär in das Eis hinein. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung richtete er sich auf und tapste rückwärts. Es sah aus, als würde er in das Innere einer Wolke gehen. Zuerst verschwanden die Hinterbeine im Weiß, dann auch der Körper.
Unmöglich.
Sie senkte das Gewehr und starrte wie gebannt zu der Stelle hinüber. Das konnte nicht sein. Sie sah das hier nicht wirklich. Die Eiswand schien ihn förmlich zu verschlucken. Jetzt waren nur noch seine Schultern und der Kopf zu sehen. Cassie schüttelte sich. Er würde entkommen! Wie, war völlig egal. Sie hob das Gewehr und drückte den Abzug. Der Rückstoß schlug den Kolben der Waffe gegen ihre Schulter. Reflexartig blinzelte sie. Der Bär war weg.
»Nein«, sagte sie laut. Sie hatte ihn doch gehabt! Was war passiert? Bären gingen nicht durch Eis, konnten nicht durch Eis gehen. Es musste eine Sinnestäuschung gewesen sein. Irgendein Streich, den die arktische Luft ihr spielte. Sie riss sich die Brille vom Kopf. Sofort presste die Kälte ihre Augäpfel zusammen, und das grelle Weiß blendete sie. Cassie suchte die gefrorenen Wellen ab. Schnee trieb über das Eis wie schnell dahinziehende Wolken. Das Land war so tot wie eine Wüste. Erst als die Kälte zu sehr schmerzte und sie es keine Sekunde länger aushalten konnte, setzte sie ihre Brille wieder auf.
Ein Prasseln in ihrem Funkgerät. Sie holte es aus der Tasche ihres Parkas. »Hier Cassie«, sagte sie und versuchte, gelassen zu klingen. Sie hatte den Bären bis hinaus auf das Packeis verfolgt - ohne Rückendeckung. Hätte sie ihn gefangen, wäre das nicht so schlimm. Aber so ... Wie sollte sie das hier bloß erklären? Sie konnte es ja noch nicht einmal sich selbst erklären.
»Cassandra Elizabeth Dasent, nach Hause mit dir. SOFORT.«
Dads Stimme. Und er klang alles andere als glücklich.
Nun, sie war es auch nicht. Sie hatte vorgehabt, einen Bären zu markieren - als Geburtstagsgeschenk für sich selbst. In wenigen Stunden würde sie achtzehn werden. Es schien die ideale Möglichkeit für die einzige Tochter des leitenden Wissenschaftlers der Meeresforschungsstation in der Eastern Beaufort Sea zu sein, das Erreichen ihrer Volljährigkeit zu feiern. Als dieser Bär an der Station vorbeispazierte, befand sie sich gerade draußen, um die Funkantenne zu reparieren, und es hatte sich wie ein Geschenk angefühlt. Sie hatte doch nicht damit gerechnet, dass die Verfolgungsjagd sie so weit hinaus aufs Eis führen würde! Und sie hatte ebenfalls nicht damit gerechnet, dass der Bär ... Er konnte nicht weit gekommen sein. Bestimmt war er gleich irgendwo hinter dem Kamm aus Eis. Sie prüfte die Tankanzeige. Der Treibstoff reichte noch für drei Stunden.
»Cassie? Cassie? Hörst du mich?«
»Ich verfolge ihn weiter«, sagte sie in das Funkgerät. Dann ließ sie den Motor aufheulen. Das Geräusch verschluckte die Antwort ihres Vaters, und Cassie fuhr los, weiter hinein ins Eis.
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© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
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Autoren-Porträt von Sarah B. Durst
Sarah Beth Durst wurde in Massachusetts geboren. Sie hat an der Princeton University Englisch studiert und begann danach eine Karriere als Jugendbuchautorin. Heute lebt sie mit ihrem Mann und zwei Kindern in New York.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sarah B. Durst
- 2012, 320 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Harlaß, Katrin
- Übersetzer: Katrin Harlaß
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802586026
- ISBN-13: 9783802586026
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