Das finstere Tal
Roman | »Alpenroman, Krimi und Western: Ein kühner Genremix, aber absolut gelungen.« Christine Westermann, WDR 2
Die Alpen, Ende des 19. Jahrhunderts, kurz vor Winterbeginn. Ein Fremder kommt in ein einsam gelegenes Hochtal. Er sei Maler und suche Quartier. Die Bewohner sind misstrauisch, lassen sich aber von seinem Gold überzeugen. Der erste Schnee schneidet das Tal...
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Das finstere Tal “
Klappentext zu „Das finstere Tal “
Die Alpen, Ende des 19. Jahrhunderts, kurz vor Winterbeginn. Ein Fremder kommt in ein einsam gelegenes Hochtal. Er sei Maler und suche Quartier. Die Bewohner sind misstrauisch, lassen sich aber von seinem Gold überzeugen. Der erste Schnee schneidet das Tal von der Außenwelt ab. Das Leben im Dorf kommt zur Ruhe, man hat sich an den Fremden gewöhnt. Doch dann gibt es den ersten Toten, bald darauf einen zweiten. Eine dramatische Geschichte von Liebe und Hass, Schuld und Vergeltung nimmt ihren Lauf.Lese-Probe zu „Das finstere Tal “
Das finstere Tal von Thomas Willmann1
Als der Fremde mit seinem Maultier das Hochtal erreichte, lag in der Luft schon der Geruch des ersten Schnees. Der Atem des Mannes und des Tieres malte kleine Wolken in die klare Luft, und er ging schwer - die beiden hatten den felsigen Anstieg hart genommen, um vor dem Mittag ihr Ziel zu erreichen.
In dem kleinen Dorf, das sie unten hinter sich gelassen hatten, war die Sonne noch über einem Herbsttag aufgegangen, dem die letzte Erinnerung an die Wärme des Sommers in den Spinnweben hing. Hier oben aber konnte man bereits den Winter ungeduldig mit seinen Knochen klappern hören. Vom Fuß der Bergkette aus, wo im Morgengrauen der Weg des Fremden begonnen hatte, bot sich selbst dem Kundigen kein sichtbarer Hinweis auf die Existenz des Hochtals, in das er mit seinem Packtier nun einschritt. Zu hoch gelegen, zu schmal und langgezogen war die Kluft zwischen den Felswänden, die den einzigen Zugang bildete. Und der Pfad dorthin war wenig mehr als ein halbverwitterter Fußsteig - viel Verkehr herrschte nicht, hatte nie geherrscht zwischen den Bewohnern der Ebene und denen des riesigen Felskessels hier in der Höhe. Dass dort so nah unter dem Himmel jemand lebte, war unten kaum mehr als eine halbvergessene Legende. Und das war den Leuten hier oben gerade recht so. Der fremde Mann - ein schlanker, kräftiger Bursche von etwas mehr als zwanzig Jahren - war in jene Stoffe gekleidet, aus denen man hier in der Gegend das Gewand wirkte: wildlederne Hosen, ein Hemd aus Leinen, Jacke aus Loden, die Knöpfe aus Hirschhorn. Aber all das hätte zusammengenommen selbst dann keine der örtlichen Trachten ergeben, wenn nicht zwei Kleidungsstücke überhaupt ungewohnt geschienen hätten - ein Paar spitze, ausgetretene braune Lederstiefel und ein heller Staubmantel. Alles außer ebendiesen beiden Dingen machte den Eindruck, dass es zwar schon eine Weile seinen Dienst
... mehr
auf einer nicht allzu komfortablen Reise tat, dass es aber erst zum Zweck ebendieser Reise angeschafft und nicht schon Jahre im alltäglichen Gebrauch war. Es schien nicht wirklich zu diesem Körper zu gehören, es wirkte an ihm wie die Tarnung mancher Tiere, die sich an ihre Umgebung anpassen, um nicht von ihren Feinden verschlungen zu werden - oder um ihre Beute in Sicherheit zu wiegen. Sein Gesicht war klar geschnitten und seine Haut von einer Glätte, die einer scharfen Rasur geschuldet sein mochte oder der bloßen Jugend. Doch in seinen Augen saß Entschlossenheit. Als hätten die schon mehr als nur dieses Leben gesehen. Das Maultier war beladen mit reichlich Gepäck - allerdings nicht mehr, als einer anhäufen würde, der beabsichtigt, seine Habe längere Zeit mit sich zu tragen. Nur zwei lange, rohrförmige Lederfutterale und eine offenbar zusammengeklappte Apparatur aus mehreren Holzstreben schienen fehl am Platze für einen einsam Reisenden, der darauf bedacht ist, nur das Nötige mit sich zu führen.
So kamen also Mann und Tier aus dem Schatten des schmalen Felsdurchgangs, der das karge, steinige Antlitz des Bergmassivs ein gutes Stück über dessen halber Höhe durchschnitt und sich auf eine riesige Ebene hin öffnete, die umschlossen von Gipfelketten in unvermuteter Ruhe und einsamer Fruchtbarkeit lag. Es war ein Ort, der sich selbst genügte, der kein Außen duldete. Er wehrte sich nicht gegen Besucher - aber er schloss hinter ihnen sofort wieder den Durchlass zu jeder anderen Welt. Wer hierherkam, den verleibte er sich ein. Es mochte einen knappen Tagesmarsch dauern, den ganzen, länglich ovalen Saum der Ebene abzuschreiten, die umfangen war von steilen Felswänden und finsteren, hageren Bergwäldern. Der Fremde aber blieb auf dem Weg, der sich vom Schlund des Durchgangs entlangzog, durch das Hochtal hindurch und auf die Ansiedlung hinzu, die sich etwa in dessen Mitte befand.
Die Sonne stand hoch, und die Luft war klar und kalt, so dass die Ebene weithin vor ihm ausgebreitet lag. Sie bot das Bild einer Stätte, wo man beizeiten eingefahren hatte, was der Herr in seiner Güte gab - weil man nicht auf die allzu lange Dauer dieser Güte vertrauen mochte. Felder und Früchte waren abgeerntet, das Heu war gemacht, nur wenig Vieh wurde noch ins Freie zum Grasen geschickt. In Frühjahr und Sommer mochte das Blühen, Sprießen undWuchern einem in seiner Gewalt fast den Atem nehmen, denn Boden und Witterung verliehen der Ebene eine in dieser Höhe unerwartete Üppigkeit. Nun aber war der Natur bereits alles geraubt, was in den kommenden Monaten der Entbehrung den Menschen Nahrung geben konnte, und der unverwertbare Rest stand in trügerischem Trotz und harrte des Todes durch den ersten Frost.
Jetzt, da sein Wegziel so gut wie erreicht war, nahm sich der Fremde Zeit, ließ das zuvor so harsch angetriebene Maultier gemächlich einhertrotten, gönnte ihm gelegentliche Bissen vom Gewächs amWegrand. Immer wieder blickte er sich um im Rund der Ebene, schien ihr Bild mit den Augen aufzusaugen, er lauschte, schnupperte. Als wäre er an den Ort einer lang vertrauten Legende gekommen und müsse nun jeden Eindruck korrigierend, ergänzend, bestätigend vergleichen mit der Vision, die er schon seit Jahren im Kopf trug. Als wolle er seine vorläufige Einsamkeit an diesem Ort auskosten und denMoment hinauszögern, an dem er hier auf einen Menschen treffen würde.
Wieder und wieder ging sein Blick nach oben, suchte den Saum der Bergrücken ab - bis er schließlich das einzige Gipfelkreuz entdeckte, das den Kesselrand zierte. Lange verharrte er in dessen Betrachtung.
Schließlich aber war doch der Zeitpunkt gekommen, an dem sich unleugbar bewies, dass er nicht allein war hier im Tal. Von weitem schon hatte er die Gestalt gesehen - ein kleiner Bub, der nahe demWeg im Gras spielte. Anfangs hatte er ihn nicht genau ausmachen können, aber bald war er nahe genug, um das helle Hemd, die dunklen Hosen und das braune Gesicht unter dem strubbeligen schwarzen Haar zu erkennen.
Eine ganze Weile schritt er auf dem Weg dahin, ehe auch der Bub ihn zu bemerken schien. Er hörte auf zu spielen, richtete sich auf, stapfte durch die hohe Wiese zum Rand des Weges und blieb dort stehen, den Blick starr auf den Fremden mit seinem Maulesel gerichtet, der da auf ihn zukam. Sie hatten einander nun fest in den Augen, aber noch war die Strecke zwischen ihnen zu weit, um sie mit freundlicher Stimme zu überbrücken. Das Kind stand stocksteif da, die Fäuste in die Hosentaschen gestemmt - und dem Mann schien seinerseits ein Winken nur falsch und gespielt wirken zu können. So blieb ihm nichts, als festen Schrittes voranzugehen. Doch nun war sich jede seiner Bewegungen der Beobachtung bewusst, sein Gang verlor jede natürliche Selbstverständlichkeit und bemühte sich um einen Eindruck von freundlicher Gesinnung, harmlosem Wohlwollen.
Nach einer Ewigkeit, in der die Schatten des frühen Nachmittags nicht einmal einen Zentimeter vorankamen, waren die beiden sich endlich nahe genug, um ohne großes Heben der Stimme eine Unterhaltung zu führen. Doch sie schwiegen noch immer. Der Fremde verlangsamte seinen Gang, lächelte dem Buben, der ihm kaum bis zur Hüfte reichte, zu. Im Blick des Kindes aber lag nichts Freundliches. Groß und dunkel waren seine Augen, die ohne Scheu in die des Mannes starrten und ihn dann von oben bis unten musterten. Die Augenwinkel und die blassen Lippen bargen etwas Verkniffenes, das zu alt war für die Lebensjahre des Kindes. Selbst wenn der Fremde einem so jungen Gesicht echten Hass zugetraut hätte, wäre dieser noch etwas zu Lebendiges gewesen für das, was er in diesen Zügen sah.
Das Kind schwieg. Der Mann war stehen geblieben, obwohl der Bub ihm nicht den Weg versperrte. Lange Atemzüge verharrten sie so. Dann, gerade als der Fremde zu einem Wort anheben wollte, zog das Kind die Fäuste aus den Taschen, drehte sich um und rannte quer über die Wiese fort, auf das Dorf zu, das in der Ferne zu erkennen war.
Was sollte hinter alldem mehr gesteckt haben als das verständliche Verhalten eines Kindes, das wohl in seinem ganzen Leben nie jemanden gesehen hatte, den es nicht aus der kleinen Gemeinschaft der Talbewohner kannte? Es war hier keine Gegend, die zur Neugier und Offenheit erzog und wo das Unbekannte willkommen war.
Aber dem Mann blieb nach der Begegnung mit dem Kind ein seltsames Gefühl. Es schien unzweifelhaft, dass er im Dorf erst ankam, nachdem Kunde von ihm schon längst eingetroffen war. Kein Mensch war zu sehen vor den Höfen, die den Weg in die Siedlung säumten, doch sobald er an einem von ihnen vorbei war, meinte er, hinter sich das Geräusch sich öffnender Fensterläden zu hören.
Das Dorf war eine Ansammlung von vielleicht zwei Dutzend dunklen Gebäuden, die jenen wenigen Bauernhöfen glichen, die versprengt im Tal lagen. Die Siedlung hatte etwas trutzig Gedrängtes, als hätten ihre Erbauer nur deswegen widerwillig die Nähe zueinander gesucht, weil die Abneigung gegen die übrige Welt in ihnen einen Druck aufbaute, der alles Auseinanderstrebende niederhielt. Das Dorf wirkte wie eine Art zweiter Festung inmitten des Schutzwalls des Bergkessels - aber man hätte nicht leicht entscheiden mögen, ob es eine weitere Verteidigungslinie gegen Eindringlinge von außen war oder ob es eine Wehrgemeinschaft war gegen den von der Natur geschaffenen Ort selbst, der sie duldete und umschloss.
Jedenfalls spazierte der Fremde unbehelligt und allein in das Dorf hinein wie in eine aufgelassene Burg. Doch kaum war er auf dem engenHauptplatz angelangt, endete auch diese Illusion. Dort waren, wie zufällig, mehrere kräftige Männer mit runden, schwarzen Hüten versammelt. Viel Anstalten machten sie nicht, vorzugeben, hier mit anderem beschäftigt zu sein als dem Warten auf seine Ankunft. Der Fremde grüßte sie freundlich, aber stumm mit einem Kopfnicken. Die Männer kamen näher, bildeten um den Eindringling, der auf derMitte des Platzes mit seinem Maultier zum Stehen gekommen war, einen Halbkreis, der nur wenig enger hätte werden müssen, um unverhohlen bedrohlich zu sein. Rundum öffneten sich allmählich Türen und Fenster, Menschen kamen aus den Gassen, so dass sich die Ränder des Platzes bald mit leise tuschelnden Zuschauern füllten. Die Männer, die dem Fremden gegenübertraten, ein halbes Dutzend an der Zahl, hatten zum Teil gerade erst die Jugend hinter sich gelassen, zum Teil waren sie gerade noch im besten Mannesalter.
Der Jüngste hatte seine Wangen, die in der Kälte rosig leuchteten, glatt rasiert; zwei trugen Schnauzbärte, einer einen buschigen Backenbart, zwei sauber gestutzte, schwarze Vollbärte - aber nichts davon konnte die Ähnlichkeit ihrer Gesichter verbergen. Hätte man nur die zwei Männer gesehen, die sich am wenigsten glichen, so wären sie einem noch immer erkennbar als Typen einer Region erschienen. Durch die anderen vier aber waren ihre Gemeinsamkeiten wie die Unterschiede über so vielfältige, feine Stufen vermittelt - fand sich jeder Zug, der einen der Männer speziell auszuzeichnen schien, in wenigstens einem der anderen wieder -, dass höchstens der Grad, nicht aber die Tatsache ihre Verwandtschaft untereinander zweifelhaft schien.
Das erste Wort sprach einer der beiden Vollbärtigen, offenbar der Älteste in dem Halbkreis, in dessen Mitte er dem Fremden genau gegenüberstand.
»Grüß dich.«
»Grüß euch«, antwortete der Neuankömmling, mit einem langsamen, unbeugsamen Blick durch das Halbrund.
»Bist fremd hier.«
Ob Frage oder Feststellung war nicht zu entscheiden. Der Mann nickte.
»Wer bist du?« Die Frage kam hart, gerade, in den kehligen Lauten des hiesigen Dialekts.
»Greider«, antwortete der Fremde, noch knapper, grader heraus.
»Und was willst?«
»Quartier.«
»Wirst net finden. Mir brauchen keine Fremden. Is kei guade Zeit, es kommt bald der Schnee. Dann kommst nimmer nunter. Schaug lieber, dass d' glei umkehrst.«
Greider stand still da, als seien die Worte nicht an ihn gerichtet.
Ruhig und gleichmäßig dampfte sein Atem in der kühlen Luft, durch die - obwohl kaumWolken zu sehen waren - zitternd vereinzelte Schneekörner tanzten.
»Hast net g'hört? Umkehr'n sollst. Gibt für Fremde nix hier im Tal.«
Wieder blieb Greider stumm, als hätten die Worte einem anderen gegolten und als wartete er darauf, endlich angesprochen zu werden.
Die Stimme des anderen - bisher von einem nachsichtigen Ton, als spräche sie zu einem, der unwissentlich einen Fehler gemacht hatte - wurde eisiger.
»Was willst überhaupt hier?«
Nun endlich antwortete Greider, höflich, ganz selbstverständlich und indem er auf die langen, runden Lederfutterale und die seltsame, zusammengeklappte Holzkonstruktion zeigte, die auf dem Rücken seines Maultiers festgezurrt waren:
»Malen.«
Ein fast erschrockenes Tuscheln und Raunen brandete rings auf - ›Was hat er gesagt? Malen? Wirklich Malen?‹
Einen kurzen Moment blickte auch der Bärtige verdutzt, aber dann, als er wusste, dass nun alle auf seine Antwort warteten - denn es schien völlig ohne Zweifel, dass er allein hier Wort zu führen hatte -, da fragte er, so laut, dass jeder es sicher hören konnte, und voll höhnisch gespielter Freundlichkeit: »Ah so, mahlen willst? Mir ham aber schon an Müller!«
Das rief johlendes Gelächter im Rund hervor. Nur Greider verzog so wenig die Miene wie die sechs Männer, die um ihn standen.
Ganz ernst und betont höflich, als hätte ihn der andere tatsächlich missverstanden, sagte er:
»Net Müller. Maler. Bilder will ich malen.«
Da war nun der Bärtige um eine Antwort verlegen. Greider nutzte den Moment, um erstmals ungefragt zu sprechen.
Als hätte der andere nicht erklärt, dass es so etwas hier nicht gebe, sagte er:
»Ich zahl's Quartier auch gut.«
Copyright © 2011 by Ullstein
So kamen also Mann und Tier aus dem Schatten des schmalen Felsdurchgangs, der das karge, steinige Antlitz des Bergmassivs ein gutes Stück über dessen halber Höhe durchschnitt und sich auf eine riesige Ebene hin öffnete, die umschlossen von Gipfelketten in unvermuteter Ruhe und einsamer Fruchtbarkeit lag. Es war ein Ort, der sich selbst genügte, der kein Außen duldete. Er wehrte sich nicht gegen Besucher - aber er schloss hinter ihnen sofort wieder den Durchlass zu jeder anderen Welt. Wer hierherkam, den verleibte er sich ein. Es mochte einen knappen Tagesmarsch dauern, den ganzen, länglich ovalen Saum der Ebene abzuschreiten, die umfangen war von steilen Felswänden und finsteren, hageren Bergwäldern. Der Fremde aber blieb auf dem Weg, der sich vom Schlund des Durchgangs entlangzog, durch das Hochtal hindurch und auf die Ansiedlung hinzu, die sich etwa in dessen Mitte befand.
Die Sonne stand hoch, und die Luft war klar und kalt, so dass die Ebene weithin vor ihm ausgebreitet lag. Sie bot das Bild einer Stätte, wo man beizeiten eingefahren hatte, was der Herr in seiner Güte gab - weil man nicht auf die allzu lange Dauer dieser Güte vertrauen mochte. Felder und Früchte waren abgeerntet, das Heu war gemacht, nur wenig Vieh wurde noch ins Freie zum Grasen geschickt. In Frühjahr und Sommer mochte das Blühen, Sprießen undWuchern einem in seiner Gewalt fast den Atem nehmen, denn Boden und Witterung verliehen der Ebene eine in dieser Höhe unerwartete Üppigkeit. Nun aber war der Natur bereits alles geraubt, was in den kommenden Monaten der Entbehrung den Menschen Nahrung geben konnte, und der unverwertbare Rest stand in trügerischem Trotz und harrte des Todes durch den ersten Frost.
Jetzt, da sein Wegziel so gut wie erreicht war, nahm sich der Fremde Zeit, ließ das zuvor so harsch angetriebene Maultier gemächlich einhertrotten, gönnte ihm gelegentliche Bissen vom Gewächs amWegrand. Immer wieder blickte er sich um im Rund der Ebene, schien ihr Bild mit den Augen aufzusaugen, er lauschte, schnupperte. Als wäre er an den Ort einer lang vertrauten Legende gekommen und müsse nun jeden Eindruck korrigierend, ergänzend, bestätigend vergleichen mit der Vision, die er schon seit Jahren im Kopf trug. Als wolle er seine vorläufige Einsamkeit an diesem Ort auskosten und denMoment hinauszögern, an dem er hier auf einen Menschen treffen würde.
Wieder und wieder ging sein Blick nach oben, suchte den Saum der Bergrücken ab - bis er schließlich das einzige Gipfelkreuz entdeckte, das den Kesselrand zierte. Lange verharrte er in dessen Betrachtung.
Schließlich aber war doch der Zeitpunkt gekommen, an dem sich unleugbar bewies, dass er nicht allein war hier im Tal. Von weitem schon hatte er die Gestalt gesehen - ein kleiner Bub, der nahe demWeg im Gras spielte. Anfangs hatte er ihn nicht genau ausmachen können, aber bald war er nahe genug, um das helle Hemd, die dunklen Hosen und das braune Gesicht unter dem strubbeligen schwarzen Haar zu erkennen.
Eine ganze Weile schritt er auf dem Weg dahin, ehe auch der Bub ihn zu bemerken schien. Er hörte auf zu spielen, richtete sich auf, stapfte durch die hohe Wiese zum Rand des Weges und blieb dort stehen, den Blick starr auf den Fremden mit seinem Maulesel gerichtet, der da auf ihn zukam. Sie hatten einander nun fest in den Augen, aber noch war die Strecke zwischen ihnen zu weit, um sie mit freundlicher Stimme zu überbrücken. Das Kind stand stocksteif da, die Fäuste in die Hosentaschen gestemmt - und dem Mann schien seinerseits ein Winken nur falsch und gespielt wirken zu können. So blieb ihm nichts, als festen Schrittes voranzugehen. Doch nun war sich jede seiner Bewegungen der Beobachtung bewusst, sein Gang verlor jede natürliche Selbstverständlichkeit und bemühte sich um einen Eindruck von freundlicher Gesinnung, harmlosem Wohlwollen.
Nach einer Ewigkeit, in der die Schatten des frühen Nachmittags nicht einmal einen Zentimeter vorankamen, waren die beiden sich endlich nahe genug, um ohne großes Heben der Stimme eine Unterhaltung zu führen. Doch sie schwiegen noch immer. Der Fremde verlangsamte seinen Gang, lächelte dem Buben, der ihm kaum bis zur Hüfte reichte, zu. Im Blick des Kindes aber lag nichts Freundliches. Groß und dunkel waren seine Augen, die ohne Scheu in die des Mannes starrten und ihn dann von oben bis unten musterten. Die Augenwinkel und die blassen Lippen bargen etwas Verkniffenes, das zu alt war für die Lebensjahre des Kindes. Selbst wenn der Fremde einem so jungen Gesicht echten Hass zugetraut hätte, wäre dieser noch etwas zu Lebendiges gewesen für das, was er in diesen Zügen sah.
Das Kind schwieg. Der Mann war stehen geblieben, obwohl der Bub ihm nicht den Weg versperrte. Lange Atemzüge verharrten sie so. Dann, gerade als der Fremde zu einem Wort anheben wollte, zog das Kind die Fäuste aus den Taschen, drehte sich um und rannte quer über die Wiese fort, auf das Dorf zu, das in der Ferne zu erkennen war.
Was sollte hinter alldem mehr gesteckt haben als das verständliche Verhalten eines Kindes, das wohl in seinem ganzen Leben nie jemanden gesehen hatte, den es nicht aus der kleinen Gemeinschaft der Talbewohner kannte? Es war hier keine Gegend, die zur Neugier und Offenheit erzog und wo das Unbekannte willkommen war.
Aber dem Mann blieb nach der Begegnung mit dem Kind ein seltsames Gefühl. Es schien unzweifelhaft, dass er im Dorf erst ankam, nachdem Kunde von ihm schon längst eingetroffen war. Kein Mensch war zu sehen vor den Höfen, die den Weg in die Siedlung säumten, doch sobald er an einem von ihnen vorbei war, meinte er, hinter sich das Geräusch sich öffnender Fensterläden zu hören.
Das Dorf war eine Ansammlung von vielleicht zwei Dutzend dunklen Gebäuden, die jenen wenigen Bauernhöfen glichen, die versprengt im Tal lagen. Die Siedlung hatte etwas trutzig Gedrängtes, als hätten ihre Erbauer nur deswegen widerwillig die Nähe zueinander gesucht, weil die Abneigung gegen die übrige Welt in ihnen einen Druck aufbaute, der alles Auseinanderstrebende niederhielt. Das Dorf wirkte wie eine Art zweiter Festung inmitten des Schutzwalls des Bergkessels - aber man hätte nicht leicht entscheiden mögen, ob es eine weitere Verteidigungslinie gegen Eindringlinge von außen war oder ob es eine Wehrgemeinschaft war gegen den von der Natur geschaffenen Ort selbst, der sie duldete und umschloss.
Jedenfalls spazierte der Fremde unbehelligt und allein in das Dorf hinein wie in eine aufgelassene Burg. Doch kaum war er auf dem engenHauptplatz angelangt, endete auch diese Illusion. Dort waren, wie zufällig, mehrere kräftige Männer mit runden, schwarzen Hüten versammelt. Viel Anstalten machten sie nicht, vorzugeben, hier mit anderem beschäftigt zu sein als dem Warten auf seine Ankunft. Der Fremde grüßte sie freundlich, aber stumm mit einem Kopfnicken. Die Männer kamen näher, bildeten um den Eindringling, der auf derMitte des Platzes mit seinem Maultier zum Stehen gekommen war, einen Halbkreis, der nur wenig enger hätte werden müssen, um unverhohlen bedrohlich zu sein. Rundum öffneten sich allmählich Türen und Fenster, Menschen kamen aus den Gassen, so dass sich die Ränder des Platzes bald mit leise tuschelnden Zuschauern füllten. Die Männer, die dem Fremden gegenübertraten, ein halbes Dutzend an der Zahl, hatten zum Teil gerade erst die Jugend hinter sich gelassen, zum Teil waren sie gerade noch im besten Mannesalter.
Der Jüngste hatte seine Wangen, die in der Kälte rosig leuchteten, glatt rasiert; zwei trugen Schnauzbärte, einer einen buschigen Backenbart, zwei sauber gestutzte, schwarze Vollbärte - aber nichts davon konnte die Ähnlichkeit ihrer Gesichter verbergen. Hätte man nur die zwei Männer gesehen, die sich am wenigsten glichen, so wären sie einem noch immer erkennbar als Typen einer Region erschienen. Durch die anderen vier aber waren ihre Gemeinsamkeiten wie die Unterschiede über so vielfältige, feine Stufen vermittelt - fand sich jeder Zug, der einen der Männer speziell auszuzeichnen schien, in wenigstens einem der anderen wieder -, dass höchstens der Grad, nicht aber die Tatsache ihre Verwandtschaft untereinander zweifelhaft schien.
Das erste Wort sprach einer der beiden Vollbärtigen, offenbar der Älteste in dem Halbkreis, in dessen Mitte er dem Fremden genau gegenüberstand.
»Grüß dich.«
»Grüß euch«, antwortete der Neuankömmling, mit einem langsamen, unbeugsamen Blick durch das Halbrund.
»Bist fremd hier.«
Ob Frage oder Feststellung war nicht zu entscheiden. Der Mann nickte.
»Wer bist du?« Die Frage kam hart, gerade, in den kehligen Lauten des hiesigen Dialekts.
»Greider«, antwortete der Fremde, noch knapper, grader heraus.
»Und was willst?«
»Quartier.«
»Wirst net finden. Mir brauchen keine Fremden. Is kei guade Zeit, es kommt bald der Schnee. Dann kommst nimmer nunter. Schaug lieber, dass d' glei umkehrst.«
Greider stand still da, als seien die Worte nicht an ihn gerichtet.
Ruhig und gleichmäßig dampfte sein Atem in der kühlen Luft, durch die - obwohl kaumWolken zu sehen waren - zitternd vereinzelte Schneekörner tanzten.
»Hast net g'hört? Umkehr'n sollst. Gibt für Fremde nix hier im Tal.«
Wieder blieb Greider stumm, als hätten die Worte einem anderen gegolten und als wartete er darauf, endlich angesprochen zu werden.
Die Stimme des anderen - bisher von einem nachsichtigen Ton, als spräche sie zu einem, der unwissentlich einen Fehler gemacht hatte - wurde eisiger.
»Was willst überhaupt hier?«
Nun endlich antwortete Greider, höflich, ganz selbstverständlich und indem er auf die langen, runden Lederfutterale und die seltsame, zusammengeklappte Holzkonstruktion zeigte, die auf dem Rücken seines Maultiers festgezurrt waren:
»Malen.«
Ein fast erschrockenes Tuscheln und Raunen brandete rings auf - ›Was hat er gesagt? Malen? Wirklich Malen?‹
Einen kurzen Moment blickte auch der Bärtige verdutzt, aber dann, als er wusste, dass nun alle auf seine Antwort warteten - denn es schien völlig ohne Zweifel, dass er allein hier Wort zu führen hatte -, da fragte er, so laut, dass jeder es sicher hören konnte, und voll höhnisch gespielter Freundlichkeit: »Ah so, mahlen willst? Mir ham aber schon an Müller!«
Das rief johlendes Gelächter im Rund hervor. Nur Greider verzog so wenig die Miene wie die sechs Männer, die um ihn standen.
Ganz ernst und betont höflich, als hätte ihn der andere tatsächlich missverstanden, sagte er:
»Net Müller. Maler. Bilder will ich malen.«
Da war nun der Bärtige um eine Antwort verlegen. Greider nutzte den Moment, um erstmals ungefragt zu sprechen.
Als hätte der andere nicht erklärt, dass es so etwas hier nicht gebe, sagte er:
»Ich zahl's Quartier auch gut.«
Copyright © 2011 by Ullstein
... weniger
Autoren-Porträt von Thomas Willmann
Thomas Willmann, Jahrgang 1969, lebt als freier Kulturjournalist, Autor und Übersetzer in München. Sein erster Roman, Das finstere Tal, machte international Furore und wurde mit Sam Riley, Tobias Moretti und Paula Beer verfilmt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas Willmann
- 2011, 13. Aufl., 320 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548283683
- ISBN-13: 9783548283685
- Erscheinungsdatum: 05.10.2011
Rezension zu „Das finstere Tal “
»Deutsches Gebirgstal/Wilder Westen: Greider dringt in das abgelegene Hochtal vor, wo die Brenners mächtig sind. Den Winter über malt er ein Gruppenbild. Am Ende werden alle Porträtierten tot sein. Eine Gewaltgeschichte - jedes Komma 19. Jahrhundert. Alpin-Western und Blutheimat-Roman. Tolles Stück.« KRIMI-BESTENLISTE 2010 / Die 10 besten Krimis des Jahres, Urteil der Jury »Thomas Willmanns Debüt bewältigt meisterhaft Genres und Stile. Und eine überaus raffinierte Geschichte erzählt es auch.... Willmann spielt mit klassischen Heimat- und Westernbildern - und richtet sie dann gegen sich selbst. Diese Alpengeschichte lebt von der Stilisierung ihrer Figuren, von einem Hauch Ironie, ohne komödiantisch zu werden. Was vielleicht das Faszinierendste ist: Sie beantwortet den Heimatmythos ihrerseits mit einem Mythos, der sich vom Größenwahn seines Helden nährt. Das ist durchaus tollkühn und bewusst überhöht erzählt. Insgesamt hat Thomas Willmann seine Geschichte so gut im Griff wie Howard Hawks einen Western.« FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, Anja Hirsch »Ein altmodisches Buch mit saftiger Sprache, vielen Naturbeschreibungen, einem offensiven Umgang mit Klischees und einem fulminanten Showdown.« SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 21.9.2010, Egbert Tholl»Das Bestechende an Willmanns Roman ist die bedrohliche Atmosphäre, die sich wie ein Gewitter zusammen¬braut und schließlich in einem so spektakulären wie verstörenden Showdown mündet.« KulturSPIEGEL, Christoph Schröder »Eine Art Anti-Heimatroman - rau, düster, atmosphärisch dicht.« FOCUS, Jobst-Ulrich Brand »Die Sprache ist von urtümlicher Kraft, die Konstruktion raffiniert, der hämmernd inszenierte Showdown ohne Gnade.« STERN, Helge Hopp »Das Wunder des deutschsprachigen Krimis bringt so wunderbare Bücher hervor wie 'Das finstere Tal' von Thomas Willmann. Ein Krimi, der im 19. Jahrhundert spielt. Der Autor bedankt sich in der Danksagung bei seinen zwei Hausheiligen, Ludwig Ganghofer und Sergio Leone. Und genau so liest es sich, als hätten
... mehr
die beiden zusammen einen Roman verfasst. Eine finstere Rachegeschichte, man muss das Buch im Grunde so halten, dass das Blut nicht heraustrieft.« DENNIS SCHECK
... weniger
Kommentare zu "Das finstere Tal"
0 Gebrauchte Artikel zu „Das finstere Tal“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
5 von 5 Sternen
5 Sterne 2Schreiben Sie einen Kommentar zu "Das finstere Tal".
Kommentar verfassen