Nichts als Erlösung
Kriminalroman. Judith Kriegers fünfter Fall
'Ein Toter ohne Gesicht mitten in der Kölner Altstadt. Die Ermittlungen führen Hauptkommissarin Judith Krieger in die Vergangenheit. Zu einer Familientragödie. Und zu einem Kinderheim, dessen Wurzeln bis in die NS-Zeit reichen. Ist der Täter ein ehemaliges...
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Produktinformationen zu „Nichts als Erlösung “
'Ein Toter ohne Gesicht mitten in der Kölner Altstadt. Die Ermittlungen führen Hauptkommissarin Judith Krieger in die Vergangenheit. Zu einer Familientragödie. Und zu einem Kinderheim, dessen Wurzeln bis in die NS-Zeit reichen. Ist der Täter ein ehemaliges Heimkind? Ist Rache sein Motiv? Schon bald fordert er Judith Krieger zu einem perfiden Wettkampf heraus. Ein eindringlicher und rasant erzählter Kriminalroman über ein lange verschwiegenes Kapitel der deutschen Geschichte.
Lese-Probe zu „Nichts als Erlösung “
Nichts als Erlösung von Gisa Klönne1. Teil Zuhause
Wenn es je einen Ort gab, der mir ein Zuhause wurde, dann dieser. Jetzt, da ich Abschied nehme, wird mir das erst bewusst. Ich gehe noch einmal durch die stillen Zimmer. Das Wohnzimmer, das trotz seiner Möbel und Teppiche niemals wohnlich war. Das Schlafzimmer, wo die Verzweiflung nistet. Ich betrachte den Stuhl, auf dem ich so oft gesessen habe. Hier wog die Last nicht ganz so schwer, fühlte ich mich dir nah. Ich schiebe den Stuhl an den Tisch, vergewissere mich, dass ich wirklich nichts übersehen habe. Es tut weh, diesen Ort zu verlassen, damit habe ich nicht gerechnet. Ein neuer Schmerz, der sich zum vergangenen fügt. Der Koffer in meiner Hand ist leicht. Ich brauche nicht viel. Alles, was wichtig ist, habe ich schon vor Jahren in Sicherheit gebracht. Ich wusste ja immer, dass meine Zeit hier nur gestohlen war. Dass ich nicht bleiben durfte, jedenfalls nicht für immer. Die Handschuhe kleben an meinen Fingern, eine feuchte, lebendige, zweite Haut. Ich widerstehe der Versuchung, sie auszuziehen, tupfe mir mit dem Jackenärmel Schweiß von der Stirn. Geliehene Zeit, geliehenes Leben. Zuerst war ich wütend, als ich begriff, dass sie mich auch von hier wieder vertrieben. Dann sah ich die Chance, die sich daraus ergab. Die Möglichkeit, es zu Ende zu bringen. Jetzt, endlich, nach all diesen Jahren. Ein letzter Blick, ein stummer Gruß. Dann ziehe ich die Tür hinter mir zu und verschwinde im Schatten der Hecken. Es gibt kein Zurück mehr. Ich habe alles geplant und vorbereitet. Nichts wird nun je wieder sein, wie es war. Ich lächle, als ich an unser Wiedersehen denke. Ich hoffe, dass Du mir gnädig bist.
Samstag, 1. August
... mehr
Der Mond ist noch nicht aufgegangen, kein künstliches Licht erhellt das Gelände, und einen Moment lang erscheint ihm die dunkle Masse des Waldes bedrohlich. Als ob die dicht stehenden Stämme und Büsche ein einziges Lebewesen seien, ein Organismus, der ihn belauert, ja, näher zusammenrückt und sich ihm entgegenstemmt. Absurd, so etwas zu denken, völlig absurd. Der Wald ist sein Freund, war das immer schon. Eric Sievert blickt auf den Feldweg, der sich als hellgraue Spur in den Schatten verliert. Nichts ist dort, niemand, er ist allein hier. Der Revierförster ist ein scharfer Hund, vor ein paar Wochen hätte der ihn um ein Haar erwischt. Aber daraus hat er gelernt, inzwischen kommt er später und verzieht sich, lange bevor die Dämmerung die ersten Jäger zum Ansitz aus den Betten lockt. Und er fährt die letzten Kilometer zum Wald mit dem Rad, lässt sein Auto in Biblis, wo es seine Anwesenheit im Naturschutzgebiet nicht verrät.
Eric Sievert schiebt sich ins Unterholz, fühlt einen trockenen Ast an seiner Wange, dann in seinem Haar, spannt die Muskeln an. Das Rascheln des toten Laubs unter seinen Füßen scheint in der Stille regelrecht zu explodieren. Irgendwo schreit ein Nachtvogel auf, klagend und hoch, und verstummt so abrupt, dass es unnatürlich wirkt. Er tastet sich weiter voran, blind beinahe, nach Gefühl, saugt den Geruch des Waldes tief in die Lungen. Seit er denken kann, hat es ihn nach draußen gezogen. Schon als Junge ist er aus der Enge der elterlichen Wohnung und dem winzigen Zimmer, das er mit seiner Schwester teilte, so oft es nur ging in den Wald geflohen. Menschen betrügen dich, die Natur tut das nie. Er zerrt an einem Ast, der sich in seinem Rucksack verhakt hat. Das Holz splittert, laut, wieder ruft der Vogel, noch näher jetzt, fast direkt über ihm. Instinktiv hebt er den Kopf, kann den Schreihals jedoch nicht entdecken. Vielleicht ein Waldkauz. Wahrscheinlich sogar.
Eric bleibt stehen und tastet nach seinem GPS-Gerät, das einsatzbereit neben Klappspaten, Taschenlampe, Messer und Pointer an seinem Gürtel hängt. Hier im Ried ist es tatsächlich noch schwüler als in Darmstadt, und die Motorradlederjacke ist definitiv viel zu warm, auch Gummistiefel und Jeans sorgen nicht gerade für Abkühlung. Aber das kann er ab, er ist schließlich sportlich, und immerhin ist er so einigermaßen vor Mücken und Dornen geschützt. Er checkt sein GPS-Gerät, um sich zu orientieren. Geradeaus liegt die Ruine der Festung Zullestein, dahinter mündet die Weschnitz in den Rhein, westlich davon sind die Sternschanzen aus dem Dreißigjährigen Krieg, noch 19 Grad weiter westlich ist die Stelle, wo er gleich am ersten Tag den perfekt erhaltenen Bronzeschild gefunden hat. Ein Original aus der Römerzeit, eine echte Sensation, 17 000 Euro hat ihm der gebracht. Vor fünf Jahren noch hätte er so etwas nicht für möglich gehalten. Römer, Kelten, Germanen und Nibelungen waren für ihn in erster Linie Gestalten aus Schulbüchern oder Asterix Heften gewesen. Dass die tatsächlich vor seiner Haustür gelebt und gekämpft hatten und dass man die Spuren davon tatsächlich wieder ans Tageslicht bringen kann, hatte er erst durch Kurt erfahren. Kurt der Korrekte, der entsetzt wäre, wenn er ihn hier sähe, und sofort wieder über die Schäden der Raubgräberei für die Archäologie lamentieren würde. Eric löst seinen Deus XP vom Rucksack. Deus. Gott. 1400 Euro hat er dafür berappt, schwarz und in bar, ein Deal übers Internet, jeden Cent wert. Er hängt sich die Funkkopfhörer um den Hals und erweckt den Metalldetektor mit einem Knopfdruck zum Leben. Das Display blinkt auf, die Sonde vibriert. Natürlich, ja, Kurt hat schon recht. Korrekterweise dürfte er nicht hier sein, und selbstverständlich hätte er seinen Fund dem Landesamt für Denkmalpflege melden müssen, statt ihn an einen Händler im Internet zu verticken. Er wischt Schweiß von seiner Stirn, stolpert über eine Wurzel, fängt sich wieder. Der Geruch von modrigem Blattwerk steigt ihm in die Nase, faulig und schwer. Der Steiner Wald ist ein Auenwald, die Bäume krallen sich in sumpfigen Grund. Immerhin hat die Hitze der letzten Wochen dazu geführt, dass er nicht mehr bei jedem Schritt knietief in den Modder sinkt. Dafür sind die Mücken heute extra aggressiv. Obwohl er sich reichlich mit Autan eingeschmiert hat, jucken im Nacken schon die ersten Stiche. Genau hier hat er den Bronzeschild ausgegraben. Etwa 100 Quadratmeter Fläche rundum hat er seitdem fertig abgesucht und nichts weiter gefunden als den üblichen Schrott: Alumüll, rostige Nägel, Kronkorken, drei Bleikugeln aus dem Dreißigjährigen Krieg. Er entscheidet sich für ein neues Suchareal und bringt den Deus in Position. Mit jeder Minute gewöhnen sich seine Augen besser an die Dunkelheit. Selbst dort, wo kein Mondlicht den Boden erreicht, kann er nun die Konturen der Baumstämme erkennen, sogar das Unkraut, das ihm an manchen Stellen bis zur Hüfte reicht. Es ist kurz nach Mitternacht. Zwei Stunden gibt er sich, dann muss er zurück. Wegen der Jäger und wegen Sabine. Vollkommen still ist es ringsum, auf einmal fällt ihm das auf. Fast hat es den Anschein, als halte der Wald den Atem an. Wieso denkt er jetzt schon wieder so einen Quatsch? Vielleicht liegt es an der Hitze. Bestimmt sogar, er fühlt sich allmählich, als würde er gekocht. Und schon ist es mit der Stille vorbei. Etwas raschelt hinter ihm, ganz leise, eine Maus vielleicht. Er dreht sich trotzdem herum, kann nichts entdecken, richtet seine Aufmerksamkeit erneut auf den Detektor. Kopfhörer oder nicht? Die Kopfhörer sind warm und machen ihn schwerhörig gegenüber der Außenwelt. Trägt er sie aber nicht, sind das Piepen und Knarzen, mit denen die Sonde auf Metallfunde reagiert, auch für andere zu hören. Mit Kopfhörern also, sicher ist sicher. Er zerrt sie sich über die Ohren, registriert die künstliche Stille, die ihn augenblicklich umfängt, dann seinen Pulsschlag, wie ein dumpfes Rauschen. Er konzentriert sich aufs Display des Deus, überprüft die Frequenzen. Der Bronzeschild war nur der Anfang, anders kann das nicht sein. Es hat Kämpfe auf diesem Gelände gegeben. Römer, Nibelungen, Burgunder - alle waren sie hier und verluden ihre Schätze zum Weitertransport auf dem Rhein. Mein Käufer ist heiß, hat ihm darkcave gemailt, der Händler, an den er den Schild verkauft hat. Bring mir mehr. Eric Sievert führt den Metalldetektor in die erste Suchbewegung. Ein langsamer Schwung, so nah wie möglich über dem Boden. Ein unpräzises Knistern in den Kopfhörern ist die Antwort. Er tritt Unkraut zur Seite, führt die Sonde in den nächsten Schwung. Zwei Stunden noch, maximal drei. Er weiß, dass hier mehr zu holen ist, er kann das förmlich riechen.
Das Pferd reißt sie aus dem Schlaf, der Schimmel, den sie aus früheren Albträumen kennt. Über ein Jahr war er verschwunden, nun ist er wieder da. Judith liegt sehr still. Das Pferd ist ein Bote, vielleicht eine Warnung. Sie weiß, dass es ihr etwas mitteilen will. Ein weißes Pferd steht auf einem Hügel inmitten einer archaischen, unwirklich kargen Landschaft, steht regungslos und sieht sie unverwandt an. Es ist nur ein Traum, doch er lässt sie nicht los. Sie hängt in ihm fest, so wie nach Patricks Tod. Damals hatte sie dem Schimmel vertraut und war auf ihm geritten. Momente des Glücks, jede Nacht wieder, die unweigerlich damit endeten, dass das Pferd mit ihr durchging, sie zu Boden warf. Judith setzt sich auf. Karl rollt sich im Schlaf zu ihr rüber und greift nach ihr. Sie streichelt seinen Arm und schleicht aus dem Zimmer. Ihr Herz schlägt zu schnell, ihre Lunge sticht. Der Traum hält sie gefangen, trotzdem ist sie hellwach.
Es ist heiß in ihrer Dachwohnung, drückend, obwohl alle Fenster weit geöffnet sind. Judith geht in die Küche und trinkt ein Glas Wasser, versucht sich ausschließlich auf die Kühle der Fliesen unter ihren nackten Fußsohlen zu konzentrieren. Sie will nicht mehr fallen, will nicht einmal daran denken, wie sich das angefühlt hat. Sie schleicht zurück ins Schlafzimmer, streift Shorts und ein Trägertop über, läuft dann durchs Wohnzimmer auf ihre Dachterrasse. Die Stadt scheint sie zu begrüßen. Der von Straßenlaternen und Leuchtreklamen bräunliche Nachthimmel, das gedämpfte Summen von Autos und Menschen, die wie sie nicht zur Ruhe kommen. Sie könnte sich ein Kölsch aus dem Kühlschrank nehmen, es im Liegestuhl trinken und versuchen, die Sterne zu zählen. Doch das würde nichts nützen, würde ihre Unruhe nur noch weiter steigern, das weiß sie aus Erfahrung. Sie läuft zurück in ihre Wohnung, zieht Sportschuhe an, steckt im letzten Moment noch das Handy ein. Sie muss raus, sich bewegen. Den Erinnerungen weglaufen, diesem Traum, der die Ahnung von Unheil in sich birgt, vielleicht auch einfach nur ihrer verdammten Sucht nach Nikotin. Die Straßen sind wie ausgestorben, auch hier steht die Hitze, kein Luftzug weht. Unwirklich kommt ihr alles auf einmal vor, als schlafwandle sie oder sei plötzlich in einer Stadt ohne Einwohner erwacht. Selbst der Rhein scheint sich aufzulösen, wird von Tag zu Tag schmaler. Seit einer Woche ist er für die Schifffahrt gesperrt. Die Unbarmherzigkeit dieses Sommers zehrt auch an ihm. Judith läuft Richtung Altstadt. Ein Jogger mit Stirnlampe überholt sie, dann ein Radfahrer ohne Licht. Sie geht schneller, in Gedanken noch immer bei ihrem Traum. Die Landschaft war anders als früher, unbekannt, und sie ist nicht auf dem Schimmel geritten. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen, vielleicht sogar ein anderes Pferd. Vielleicht hat dieser Traum auch überhaupt nichts zu bedeuten. Über der Altstadt liegt Zwielicht. Die Kneipen und Biergärten haben längst geschlossen, doch auf den Wiesen an der Promenade lagern noch immer Nachtschwärmer, zu zweit oder in Grüppchen. Sie kann ihre Stimmen hören, Musikfetzen, Lachen. Ein eng umschlungenes Paar schlendert aus dem Lichtkegel einer Laterne ins Dunkel. Irgendwo spielt jemand Gitarre und singt von Liebe, wechselt dann übergangslos zu Bob Dylan. The answer my friend is blowin' in the wind. Lagerfeuerprotestmusik. Der Soundtrack zu einem anderen Traum. Lange her und doch nicht vergessen. Sie denkt an Karl, seinen Körper, seine Hände, wie gut es sich anfühlt mit ihm, wie richtig. Sie will zurück zu ihm, da hört sie die Schreie, unartikuliert und voller Entsetzen. Judith rennt los, dorthin, woher die Schreie zu kommen scheinen. Es ist kein bewusster Beschluss, ihr Körper reagiert, bevor sie das wirklich begreift, die Polizistin in ihr. Wo? Wer? Was? Die Fragen hämmern im Takt ihrer Schritte. Tragen sie zu der Stelle, wo sie gerade das Liebespaar sah. Jetzt sind die beiden verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Judith stoppt ab und dreht sich einmal um ihre Achse. Das Licht ist diffus, die Schatten sind tief. Sie kann das Gelände nur schwer überblicken. Wieder ein Schrei, etwas näher, schriller. Der Schrei einer Frau, begreift Judith plötzlich. Surreal fast, denn noch immer gibt es auch Gelächter und Dylan. Ein Zug auf der Eisenbahnbrücke verschluckt für Sekunden alle Geräusche. Eine der Laternen im Park flackert unkontrolliert, macht die Orientierung noch schwerer. Nur der Dom thront mit steinerner Ruhe über dem Gelände. Der Dom, die Philharmonie und daneben die Brücke.
Wo, verdammt? Wo? Der Zuglärm ebbt ab, jetzt schreit niemand mehr, aber in einem Gebüsch vor dem Aufstieg zum Dom glaubt Judith eine Bewegung zu sehen. Ist das die Stelle, woher die Schreie kamen? Judith rennt darauf zu, erkennt einen Mann, der sich aus dem Schatten löst. Einen Moment lang blickt er ihr entgegen, dann dreht er sich um und beginnt zu laufen. »Halt! Stehen bleiben! Polizei!« Ihre Kehle ist wund, ihre Lunge tobt. Der Mann hört nicht auf sie, läuft sogar noch schneller. Sie setzt ihm hinterher. Sie muss ihn stoppen, ihn zumindest erkennen, sein Gesicht, seine Kleidung, irgendwas. Aussichtslos. Chancen los, er hat viel zu viel Vorsprung. Sie stoppt ab, als sie wieder die Schreie hört, nein, keine Schreie mehr, eher ein Klagen, »No! No! No!«. Schweiß strömt Judith übers Gesicht, ihre Lunge brennt so, dass sie husten muss. Der Mann aus dem Gebüsch sprintet die Treppen zum Dom hinauf und verschwindet aus ihrem Sichtfeld. »Help! Here!« Ein Mann ruft das. Er kniet im Schatten der Brücke und hält eine Frau im Arm, die unkontrolliert zittert. Ihr helles Minikleid ist dunkel beschmiert. Judith läuft zu den beiden hinüber, hockt sich zu ihnen, tastet nach ihrem Handy.
»Police. Polizei. Sind Sie verletzt? Are you okay?« Die Frau scheint Judith überhaupt nicht wahrzunehmen, der Mann reagiert im Zeitlupentempo, nickt und zeigt hinter sich ins Dunkle. Die Gestalt eines weiteren Mannes liegt dort, bewegungslos. Die Frau stöhnt auf und beginnt ihre Hände im Gras zu reiben, zögernd erst, dann immer schneller. Unwirklichkeit, aber anders jetzt. Die Unwirklichkeit des Todes, nicht die aus einem Traum. »Hallo?« Judith fasst den Liegenden an der Schulter, riecht im selben Moment Blut. Sie drückt eine Taste ihres Handys. Das Display wirft blaues Licht auf das, was einmal ein Gesicht gewesen ist. Die Frau in Judiths Rücken beginnt sich zu erbrechen. Das Display erlischt und mit ihm die blutige Fratze.
Traum. Albtraum. Auf Fotos in der Polizeischule hat sie solche Verletzungen schon mal gesehen, aber nicht in der Realität. Sie wählt die 110, sieht im selben Moment einen Trupp Männer auf sich zulaufen.
»My wife fell right into him«, sagt der Amerikaner ins Leere. »We were just looking for a place to sit down. « Judith springt auf, läuft den Herankommenden entgegen, hebt den freien Arm zu einer imaginären Schranke. »Stopp. Polizei! Bleiben Sie stehen!« Die Männer lachen. Einer rennt sogar noch schneller, als sei sie überhaupt nicht da. Sie riecht seine Fahne, springt vor ihn und stoppt ihn, indem sie die flache Hand gegen seine Brust schlägt. Er grunzt, schwankt, fängt sich wieder und senkt seinen Blick auf ihre Brüste, ihre Shorts, ihre nackten Beine. Aus dem Handy hört sie die fragende Stimme des Kollegen der Einsatzzentrale. »KHK Krieger, KK 11, ich brauche Verstärkung. Schnell. «
Sie haspelt ihren Standort ins Handy, sieht weitere Gaffer über die Wiese kommen. Auch der Amerikaner erwacht nun aus seiner Lethargie und versucht seine Ehefrau auf die Beine zu ziehen.
»Stay here. Please!« Judith langt hinter sich, umfasst seine Schulter und drückt sie. Er gibt nach, sinkt in sich zusammen. Seine Frau ist ohnehin in ihrer eigenen Welt gefangen, sie sitzt wie erstarrt, ab und an leise wimmernd.
Der Betrunkene schiebt wieder vorwärts, zwei seiner Kumpels tun es ihm nach. Blitzlichter zucken auf. Mehrere der Schaulustigen haben ihre Handys gezückt und fotografieren. Verdammt. Verdammt! Die Situation entgleitet ihr, ist überhaupt nicht zu kontrollieren. »Polizei! Mordkommission! Treten Sie zurück!« Judith entreißt dem ihr am nächsten stehenden Knipser sein Handy. »Das ist konfisziert. Unterlassen Sie das Fotografieren! « »He! « Der Mann grapscht nach ihrem Arm. Sie weicht ihm aus. Die Meute johlt. Auf der Brücke lärmt der nächste Zug. Instinktiv blickt Judith hoch, sieht die Gestalt eines Mannes, der auf sie herabblickt. Derselbe Mann, der vorhin vor ihr weglief? Ein Zeuge? Der Täter? Jetzt, hier, lange nach der Tat? Doch selbst wenn es so wäre, wie sollte sie das beweisen? Sie hat ja nicht einmal sein Gesicht gesehen.
Wieder zuckt Blitzlicht auf, doch diesmal bekommt sie das Handy nicht zu fassen, der Gaffer ist zu schnell für sie und zu groß. Wenn sie Glück hat, ist nur sie selbst auf den Fotos zu sehen, nicht die Amerikaner, nicht das Opfer. Glück. Unglück. Man glaubt, das sind feste Größen, und vergisst, wie schnell das eine zum anderen wird. Endlich erklingt das Geheul eines Martinshorns. Ein weiteres folgt. Die Menge raunt. »Hier!« Judith schreit den Kollegen Anweisungen entgegen. »Absperren, sichern - auch oben auf der Brücke, Personalien aufnehmen. Fotohandys konfiszieren!« Zwei Polizisten entfalten eine Decke als provisorischen Sichtschutz. Sie lässt sich eine Taschenlampe geben, tritt dahinter und beugt sich über den Toten, zwingt sich hinzusehen. Ein durchtrainierter Mann, blond, braun gebrannt. Vielleicht auch ein Tourist. Ohne Gepäck. Ohne Gesicht. Welche Waffe hat solche Zerstörungskraft? Mit welcher Munition? Was für ein Albtraum für ein junges Liebespaar, an einem vermeintlich lauschigen Plätzchen im Urlaub mitten in eine blutige Fratze zu greifen. »Und, Judith, was denkst du?« Sie zuckt zusammen, sie hat ihren Chef nicht kommen gehört. Auch er hält eine Taschenlampe und geht neben ihr in die Hocke.
»Eine Hinrichtung«, sagt sie leise und sieht auf einmal wieder das Pferd aus dem Traum vor sich, sein schimmerndes Fell, seinen unverwandten Blick. Millstätt hebt die Brauen, studiert erst den Toten und dann sie. Sie wünscht sich, sie hätte etwas anderes an als die Shorts und das knappe, verschwitzte Top. Sie wünscht sich, so manchen Vorfall im letzten Jahr hätte es nicht gegeben, dann wäre ihr Verhältnis zu ihrem Chef nicht so kompliziert. »Dein Fall, Judith«, sagt er nach einer langen Pause.
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011
Der Mond ist noch nicht aufgegangen, kein künstliches Licht erhellt das Gelände, und einen Moment lang erscheint ihm die dunkle Masse des Waldes bedrohlich. Als ob die dicht stehenden Stämme und Büsche ein einziges Lebewesen seien, ein Organismus, der ihn belauert, ja, näher zusammenrückt und sich ihm entgegenstemmt. Absurd, so etwas zu denken, völlig absurd. Der Wald ist sein Freund, war das immer schon. Eric Sievert blickt auf den Feldweg, der sich als hellgraue Spur in den Schatten verliert. Nichts ist dort, niemand, er ist allein hier. Der Revierförster ist ein scharfer Hund, vor ein paar Wochen hätte der ihn um ein Haar erwischt. Aber daraus hat er gelernt, inzwischen kommt er später und verzieht sich, lange bevor die Dämmerung die ersten Jäger zum Ansitz aus den Betten lockt. Und er fährt die letzten Kilometer zum Wald mit dem Rad, lässt sein Auto in Biblis, wo es seine Anwesenheit im Naturschutzgebiet nicht verrät.
Eric Sievert schiebt sich ins Unterholz, fühlt einen trockenen Ast an seiner Wange, dann in seinem Haar, spannt die Muskeln an. Das Rascheln des toten Laubs unter seinen Füßen scheint in der Stille regelrecht zu explodieren. Irgendwo schreit ein Nachtvogel auf, klagend und hoch, und verstummt so abrupt, dass es unnatürlich wirkt. Er tastet sich weiter voran, blind beinahe, nach Gefühl, saugt den Geruch des Waldes tief in die Lungen. Seit er denken kann, hat es ihn nach draußen gezogen. Schon als Junge ist er aus der Enge der elterlichen Wohnung und dem winzigen Zimmer, das er mit seiner Schwester teilte, so oft es nur ging in den Wald geflohen. Menschen betrügen dich, die Natur tut das nie. Er zerrt an einem Ast, der sich in seinem Rucksack verhakt hat. Das Holz splittert, laut, wieder ruft der Vogel, noch näher jetzt, fast direkt über ihm. Instinktiv hebt er den Kopf, kann den Schreihals jedoch nicht entdecken. Vielleicht ein Waldkauz. Wahrscheinlich sogar.
Eric bleibt stehen und tastet nach seinem GPS-Gerät, das einsatzbereit neben Klappspaten, Taschenlampe, Messer und Pointer an seinem Gürtel hängt. Hier im Ried ist es tatsächlich noch schwüler als in Darmstadt, und die Motorradlederjacke ist definitiv viel zu warm, auch Gummistiefel und Jeans sorgen nicht gerade für Abkühlung. Aber das kann er ab, er ist schließlich sportlich, und immerhin ist er so einigermaßen vor Mücken und Dornen geschützt. Er checkt sein GPS-Gerät, um sich zu orientieren. Geradeaus liegt die Ruine der Festung Zullestein, dahinter mündet die Weschnitz in den Rhein, westlich davon sind die Sternschanzen aus dem Dreißigjährigen Krieg, noch 19 Grad weiter westlich ist die Stelle, wo er gleich am ersten Tag den perfekt erhaltenen Bronzeschild gefunden hat. Ein Original aus der Römerzeit, eine echte Sensation, 17 000 Euro hat ihm der gebracht. Vor fünf Jahren noch hätte er so etwas nicht für möglich gehalten. Römer, Kelten, Germanen und Nibelungen waren für ihn in erster Linie Gestalten aus Schulbüchern oder Asterix Heften gewesen. Dass die tatsächlich vor seiner Haustür gelebt und gekämpft hatten und dass man die Spuren davon tatsächlich wieder ans Tageslicht bringen kann, hatte er erst durch Kurt erfahren. Kurt der Korrekte, der entsetzt wäre, wenn er ihn hier sähe, und sofort wieder über die Schäden der Raubgräberei für die Archäologie lamentieren würde. Eric löst seinen Deus XP vom Rucksack. Deus. Gott. 1400 Euro hat er dafür berappt, schwarz und in bar, ein Deal übers Internet, jeden Cent wert. Er hängt sich die Funkkopfhörer um den Hals und erweckt den Metalldetektor mit einem Knopfdruck zum Leben. Das Display blinkt auf, die Sonde vibriert. Natürlich, ja, Kurt hat schon recht. Korrekterweise dürfte er nicht hier sein, und selbstverständlich hätte er seinen Fund dem Landesamt für Denkmalpflege melden müssen, statt ihn an einen Händler im Internet zu verticken. Er wischt Schweiß von seiner Stirn, stolpert über eine Wurzel, fängt sich wieder. Der Geruch von modrigem Blattwerk steigt ihm in die Nase, faulig und schwer. Der Steiner Wald ist ein Auenwald, die Bäume krallen sich in sumpfigen Grund. Immerhin hat die Hitze der letzten Wochen dazu geführt, dass er nicht mehr bei jedem Schritt knietief in den Modder sinkt. Dafür sind die Mücken heute extra aggressiv. Obwohl er sich reichlich mit Autan eingeschmiert hat, jucken im Nacken schon die ersten Stiche. Genau hier hat er den Bronzeschild ausgegraben. Etwa 100 Quadratmeter Fläche rundum hat er seitdem fertig abgesucht und nichts weiter gefunden als den üblichen Schrott: Alumüll, rostige Nägel, Kronkorken, drei Bleikugeln aus dem Dreißigjährigen Krieg. Er entscheidet sich für ein neues Suchareal und bringt den Deus in Position. Mit jeder Minute gewöhnen sich seine Augen besser an die Dunkelheit. Selbst dort, wo kein Mondlicht den Boden erreicht, kann er nun die Konturen der Baumstämme erkennen, sogar das Unkraut, das ihm an manchen Stellen bis zur Hüfte reicht. Es ist kurz nach Mitternacht. Zwei Stunden gibt er sich, dann muss er zurück. Wegen der Jäger und wegen Sabine. Vollkommen still ist es ringsum, auf einmal fällt ihm das auf. Fast hat es den Anschein, als halte der Wald den Atem an. Wieso denkt er jetzt schon wieder so einen Quatsch? Vielleicht liegt es an der Hitze. Bestimmt sogar, er fühlt sich allmählich, als würde er gekocht. Und schon ist es mit der Stille vorbei. Etwas raschelt hinter ihm, ganz leise, eine Maus vielleicht. Er dreht sich trotzdem herum, kann nichts entdecken, richtet seine Aufmerksamkeit erneut auf den Detektor. Kopfhörer oder nicht? Die Kopfhörer sind warm und machen ihn schwerhörig gegenüber der Außenwelt. Trägt er sie aber nicht, sind das Piepen und Knarzen, mit denen die Sonde auf Metallfunde reagiert, auch für andere zu hören. Mit Kopfhörern also, sicher ist sicher. Er zerrt sie sich über die Ohren, registriert die künstliche Stille, die ihn augenblicklich umfängt, dann seinen Pulsschlag, wie ein dumpfes Rauschen. Er konzentriert sich aufs Display des Deus, überprüft die Frequenzen. Der Bronzeschild war nur der Anfang, anders kann das nicht sein. Es hat Kämpfe auf diesem Gelände gegeben. Römer, Nibelungen, Burgunder - alle waren sie hier und verluden ihre Schätze zum Weitertransport auf dem Rhein. Mein Käufer ist heiß, hat ihm darkcave gemailt, der Händler, an den er den Schild verkauft hat. Bring mir mehr. Eric Sievert führt den Metalldetektor in die erste Suchbewegung. Ein langsamer Schwung, so nah wie möglich über dem Boden. Ein unpräzises Knistern in den Kopfhörern ist die Antwort. Er tritt Unkraut zur Seite, führt die Sonde in den nächsten Schwung. Zwei Stunden noch, maximal drei. Er weiß, dass hier mehr zu holen ist, er kann das förmlich riechen.
Das Pferd reißt sie aus dem Schlaf, der Schimmel, den sie aus früheren Albträumen kennt. Über ein Jahr war er verschwunden, nun ist er wieder da. Judith liegt sehr still. Das Pferd ist ein Bote, vielleicht eine Warnung. Sie weiß, dass es ihr etwas mitteilen will. Ein weißes Pferd steht auf einem Hügel inmitten einer archaischen, unwirklich kargen Landschaft, steht regungslos und sieht sie unverwandt an. Es ist nur ein Traum, doch er lässt sie nicht los. Sie hängt in ihm fest, so wie nach Patricks Tod. Damals hatte sie dem Schimmel vertraut und war auf ihm geritten. Momente des Glücks, jede Nacht wieder, die unweigerlich damit endeten, dass das Pferd mit ihr durchging, sie zu Boden warf. Judith setzt sich auf. Karl rollt sich im Schlaf zu ihr rüber und greift nach ihr. Sie streichelt seinen Arm und schleicht aus dem Zimmer. Ihr Herz schlägt zu schnell, ihre Lunge sticht. Der Traum hält sie gefangen, trotzdem ist sie hellwach.
Es ist heiß in ihrer Dachwohnung, drückend, obwohl alle Fenster weit geöffnet sind. Judith geht in die Küche und trinkt ein Glas Wasser, versucht sich ausschließlich auf die Kühle der Fliesen unter ihren nackten Fußsohlen zu konzentrieren. Sie will nicht mehr fallen, will nicht einmal daran denken, wie sich das angefühlt hat. Sie schleicht zurück ins Schlafzimmer, streift Shorts und ein Trägertop über, läuft dann durchs Wohnzimmer auf ihre Dachterrasse. Die Stadt scheint sie zu begrüßen. Der von Straßenlaternen und Leuchtreklamen bräunliche Nachthimmel, das gedämpfte Summen von Autos und Menschen, die wie sie nicht zur Ruhe kommen. Sie könnte sich ein Kölsch aus dem Kühlschrank nehmen, es im Liegestuhl trinken und versuchen, die Sterne zu zählen. Doch das würde nichts nützen, würde ihre Unruhe nur noch weiter steigern, das weiß sie aus Erfahrung. Sie läuft zurück in ihre Wohnung, zieht Sportschuhe an, steckt im letzten Moment noch das Handy ein. Sie muss raus, sich bewegen. Den Erinnerungen weglaufen, diesem Traum, der die Ahnung von Unheil in sich birgt, vielleicht auch einfach nur ihrer verdammten Sucht nach Nikotin. Die Straßen sind wie ausgestorben, auch hier steht die Hitze, kein Luftzug weht. Unwirklich kommt ihr alles auf einmal vor, als schlafwandle sie oder sei plötzlich in einer Stadt ohne Einwohner erwacht. Selbst der Rhein scheint sich aufzulösen, wird von Tag zu Tag schmaler. Seit einer Woche ist er für die Schifffahrt gesperrt. Die Unbarmherzigkeit dieses Sommers zehrt auch an ihm. Judith läuft Richtung Altstadt. Ein Jogger mit Stirnlampe überholt sie, dann ein Radfahrer ohne Licht. Sie geht schneller, in Gedanken noch immer bei ihrem Traum. Die Landschaft war anders als früher, unbekannt, und sie ist nicht auf dem Schimmel geritten. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen, vielleicht sogar ein anderes Pferd. Vielleicht hat dieser Traum auch überhaupt nichts zu bedeuten. Über der Altstadt liegt Zwielicht. Die Kneipen und Biergärten haben längst geschlossen, doch auf den Wiesen an der Promenade lagern noch immer Nachtschwärmer, zu zweit oder in Grüppchen. Sie kann ihre Stimmen hören, Musikfetzen, Lachen. Ein eng umschlungenes Paar schlendert aus dem Lichtkegel einer Laterne ins Dunkel. Irgendwo spielt jemand Gitarre und singt von Liebe, wechselt dann übergangslos zu Bob Dylan. The answer my friend is blowin' in the wind. Lagerfeuerprotestmusik. Der Soundtrack zu einem anderen Traum. Lange her und doch nicht vergessen. Sie denkt an Karl, seinen Körper, seine Hände, wie gut es sich anfühlt mit ihm, wie richtig. Sie will zurück zu ihm, da hört sie die Schreie, unartikuliert und voller Entsetzen. Judith rennt los, dorthin, woher die Schreie zu kommen scheinen. Es ist kein bewusster Beschluss, ihr Körper reagiert, bevor sie das wirklich begreift, die Polizistin in ihr. Wo? Wer? Was? Die Fragen hämmern im Takt ihrer Schritte. Tragen sie zu der Stelle, wo sie gerade das Liebespaar sah. Jetzt sind die beiden verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Judith stoppt ab und dreht sich einmal um ihre Achse. Das Licht ist diffus, die Schatten sind tief. Sie kann das Gelände nur schwer überblicken. Wieder ein Schrei, etwas näher, schriller. Der Schrei einer Frau, begreift Judith plötzlich. Surreal fast, denn noch immer gibt es auch Gelächter und Dylan. Ein Zug auf der Eisenbahnbrücke verschluckt für Sekunden alle Geräusche. Eine der Laternen im Park flackert unkontrolliert, macht die Orientierung noch schwerer. Nur der Dom thront mit steinerner Ruhe über dem Gelände. Der Dom, die Philharmonie und daneben die Brücke.
Wo, verdammt? Wo? Der Zuglärm ebbt ab, jetzt schreit niemand mehr, aber in einem Gebüsch vor dem Aufstieg zum Dom glaubt Judith eine Bewegung zu sehen. Ist das die Stelle, woher die Schreie kamen? Judith rennt darauf zu, erkennt einen Mann, der sich aus dem Schatten löst. Einen Moment lang blickt er ihr entgegen, dann dreht er sich um und beginnt zu laufen. »Halt! Stehen bleiben! Polizei!« Ihre Kehle ist wund, ihre Lunge tobt. Der Mann hört nicht auf sie, läuft sogar noch schneller. Sie setzt ihm hinterher. Sie muss ihn stoppen, ihn zumindest erkennen, sein Gesicht, seine Kleidung, irgendwas. Aussichtslos. Chancen los, er hat viel zu viel Vorsprung. Sie stoppt ab, als sie wieder die Schreie hört, nein, keine Schreie mehr, eher ein Klagen, »No! No! No!«. Schweiß strömt Judith übers Gesicht, ihre Lunge brennt so, dass sie husten muss. Der Mann aus dem Gebüsch sprintet die Treppen zum Dom hinauf und verschwindet aus ihrem Sichtfeld. »Help! Here!« Ein Mann ruft das. Er kniet im Schatten der Brücke und hält eine Frau im Arm, die unkontrolliert zittert. Ihr helles Minikleid ist dunkel beschmiert. Judith läuft zu den beiden hinüber, hockt sich zu ihnen, tastet nach ihrem Handy.
»Police. Polizei. Sind Sie verletzt? Are you okay?« Die Frau scheint Judith überhaupt nicht wahrzunehmen, der Mann reagiert im Zeitlupentempo, nickt und zeigt hinter sich ins Dunkle. Die Gestalt eines weiteren Mannes liegt dort, bewegungslos. Die Frau stöhnt auf und beginnt ihre Hände im Gras zu reiben, zögernd erst, dann immer schneller. Unwirklichkeit, aber anders jetzt. Die Unwirklichkeit des Todes, nicht die aus einem Traum. »Hallo?« Judith fasst den Liegenden an der Schulter, riecht im selben Moment Blut. Sie drückt eine Taste ihres Handys. Das Display wirft blaues Licht auf das, was einmal ein Gesicht gewesen ist. Die Frau in Judiths Rücken beginnt sich zu erbrechen. Das Display erlischt und mit ihm die blutige Fratze.
Traum. Albtraum. Auf Fotos in der Polizeischule hat sie solche Verletzungen schon mal gesehen, aber nicht in der Realität. Sie wählt die 110, sieht im selben Moment einen Trupp Männer auf sich zulaufen.
»My wife fell right into him«, sagt der Amerikaner ins Leere. »We were just looking for a place to sit down. « Judith springt auf, läuft den Herankommenden entgegen, hebt den freien Arm zu einer imaginären Schranke. »Stopp. Polizei! Bleiben Sie stehen!« Die Männer lachen. Einer rennt sogar noch schneller, als sei sie überhaupt nicht da. Sie riecht seine Fahne, springt vor ihn und stoppt ihn, indem sie die flache Hand gegen seine Brust schlägt. Er grunzt, schwankt, fängt sich wieder und senkt seinen Blick auf ihre Brüste, ihre Shorts, ihre nackten Beine. Aus dem Handy hört sie die fragende Stimme des Kollegen der Einsatzzentrale. »KHK Krieger, KK 11, ich brauche Verstärkung. Schnell. «
Sie haspelt ihren Standort ins Handy, sieht weitere Gaffer über die Wiese kommen. Auch der Amerikaner erwacht nun aus seiner Lethargie und versucht seine Ehefrau auf die Beine zu ziehen.
»Stay here. Please!« Judith langt hinter sich, umfasst seine Schulter und drückt sie. Er gibt nach, sinkt in sich zusammen. Seine Frau ist ohnehin in ihrer eigenen Welt gefangen, sie sitzt wie erstarrt, ab und an leise wimmernd.
Der Betrunkene schiebt wieder vorwärts, zwei seiner Kumpels tun es ihm nach. Blitzlichter zucken auf. Mehrere der Schaulustigen haben ihre Handys gezückt und fotografieren. Verdammt. Verdammt! Die Situation entgleitet ihr, ist überhaupt nicht zu kontrollieren. »Polizei! Mordkommission! Treten Sie zurück!« Judith entreißt dem ihr am nächsten stehenden Knipser sein Handy. »Das ist konfisziert. Unterlassen Sie das Fotografieren! « »He! « Der Mann grapscht nach ihrem Arm. Sie weicht ihm aus. Die Meute johlt. Auf der Brücke lärmt der nächste Zug. Instinktiv blickt Judith hoch, sieht die Gestalt eines Mannes, der auf sie herabblickt. Derselbe Mann, der vorhin vor ihr weglief? Ein Zeuge? Der Täter? Jetzt, hier, lange nach der Tat? Doch selbst wenn es so wäre, wie sollte sie das beweisen? Sie hat ja nicht einmal sein Gesicht gesehen.
Wieder zuckt Blitzlicht auf, doch diesmal bekommt sie das Handy nicht zu fassen, der Gaffer ist zu schnell für sie und zu groß. Wenn sie Glück hat, ist nur sie selbst auf den Fotos zu sehen, nicht die Amerikaner, nicht das Opfer. Glück. Unglück. Man glaubt, das sind feste Größen, und vergisst, wie schnell das eine zum anderen wird. Endlich erklingt das Geheul eines Martinshorns. Ein weiteres folgt. Die Menge raunt. »Hier!« Judith schreit den Kollegen Anweisungen entgegen. »Absperren, sichern - auch oben auf der Brücke, Personalien aufnehmen. Fotohandys konfiszieren!« Zwei Polizisten entfalten eine Decke als provisorischen Sichtschutz. Sie lässt sich eine Taschenlampe geben, tritt dahinter und beugt sich über den Toten, zwingt sich hinzusehen. Ein durchtrainierter Mann, blond, braun gebrannt. Vielleicht auch ein Tourist. Ohne Gepäck. Ohne Gesicht. Welche Waffe hat solche Zerstörungskraft? Mit welcher Munition? Was für ein Albtraum für ein junges Liebespaar, an einem vermeintlich lauschigen Plätzchen im Urlaub mitten in eine blutige Fratze zu greifen. »Und, Judith, was denkst du?« Sie zuckt zusammen, sie hat ihren Chef nicht kommen gehört. Auch er hält eine Taschenlampe und geht neben ihr in die Hocke.
»Eine Hinrichtung«, sagt sie leise und sieht auf einmal wieder das Pferd aus dem Traum vor sich, sein schimmerndes Fell, seinen unverwandten Blick. Millstätt hebt die Brauen, studiert erst den Toten und dann sie. Sie wünscht sich, sie hätte etwas anderes an als die Shorts und das knappe, verschwitzte Top. Sie wünscht sich, so manchen Vorfall im letzten Jahr hätte es nicht gegeben, dann wäre ihr Verhältnis zu ihrem Chef nicht so kompliziert. »Dein Fall, Judith«, sagt er nach einer langen Pause.
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011
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Autoren-Porträt von Gisa Klönne
Gisa Klönne, 1964 geboren, studierte Anglistik und war Journalistin. 2009 erhielt Gisa Klönne den Friedrich-Glauser-Preis.
Bibliographische Angaben
- Autor: Gisa Klönne
- 2011, 352 Seiten, Maße: 13,6 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Ullstein Hardcover
- ISBN-10: 3550087772
- ISBN-13: 9783550087776
Rezension zu „Nichts als Erlösung “
»Vielschichtige Charaktere und fesselnder Plot - was braucht man mehr zum Krimi-Vergnügen?« REVOLVERBLATT, September 2011 »Klönnes Krimis haben einen unwiderstehlich eigenen Ton ... Wie Gisa Klönne es schafft, mehrere Erzählstränge zu verweben, das Leid nicht nur von Heimkindern kenntnisreich und engagiert zu schildern, nebenbei über den Stand der Polizeitechnik in den 80er Jahren zu informieren und bei all dem die Spannung unerbittlich zu steigern - das ist feinste Krimi-Kunst.« KÖLNISCHE RUNDSCHAU, Brigitte Schmitz-Kunkel, 05.11.2011 »Spannender Rheinland-Krimi.« EXPRESS, 09.10.2011 »Gisa Klönne greift ein hochaktuelles Thema auf und verflechtet es zu einem komplizierten, hintergründigen und atemlosen Krimi, der bis zuletzt die Spannung hält. Fantastisch.« WDR 5, Ingrid Müller-Münch, 29.10.2011 »Gisa Klönne verknüpft in Nichts als Erlösung gekonnt Kriminal- und Gesellschaftsroman.« FREUNDIN, 02.11.2011 »In Köln spielen die Kriminalromane von Gisa Klönne. Aber 'Kölnkrimis' sind sie trotzdem nicht. Denn Gisa Klönne setzt weniger auf Lokalkolorit als auf starke Charaktere und überzeugende Fälle, die meist vor einem aktuellen gesellschaftlichen Hintergrund spielen.« WDR 2, Antje Deistler, 31.13.2011 »Spannend, intelligent, brisant - erstklassig!« HÖRZU, 21.11.2011 »Fieberhafte Spannung und Fingerspitzengefühl sind es, die Klönnes Romane auszeichnen.« FRANKFURTER sTADTKURIER »Nichts als Erlösung, das neueste Buch der Kölner Autorin Gisa Klönne, ist ein spannender Krimi, der mit den Grausamkeiten im ehemaligen Kinderheim ein topaktuelles Thema aufgreift.« MITTELBAYERISCHE ZEITUNG
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