Weihnachtsengel gibt es doch
Eine wunderschöne, herzerwärmende Weihnachtsromanze der mehrfach ausgezeichneten New-York-Times-Bestseller-Autorin Susan Wiggs.
Seit Jahren träumt Eddie immer wieder von einem Engel. Dem Engel, der ihn gerettet hat,...
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Produktinformationen zu „Weihnachtsengel gibt es doch “
Eine wunderschöne, herzerwärmende Weihnachtsromanze der mehrfach ausgezeichneten New-York-Times-Bestseller-Autorin Susan Wiggs.
Seit Jahren träumt Eddie immer wieder von einem Engel. Dem Engel, der ihn gerettet hat, als er einen Autounfall hatte - ausgerechnet an Heiligabend. Seit diesem Tag hilft er jedes Jahr bei der Vorbereitung zum großen Krippenspiel. Nur hat dieses Mal die prüde Bibliothekarin Maureen Davenport die Leitung übernommen. Mit ihrem Perfektionismus treibt sie Eddie zum Wahnsinn. Doch als er nun wieder von seinem Engel träumt, hat dieser auf einmal erstaunliche Ähnlichkeit mit einer zurückhaltenden kleinen Bibliothekarin.
Lese-Probe zu „Weihnachtsengel gibt es doch “
Weihnachtsengel gibt es doch von Susan Wiggs1.KAPITEL
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Der Junge erreichte den Ortsrand in der Abenddämmerung eines Wintertages. Auch wenn noch kein
Schnee gefallen war, lag eine erbarmungslose Kälte in der Luft, die Feldern und Wäldern jegliches Leben und alle Farbe auslaugte.
Die Straße verengte sich zu einer Spur und führte über eine überdachte Brücke, die von uralten Pfeilern aus Flusssteinen gehalten wurde. Im Laufe der Jahre war das Holz verwittert und Planke für Planke ersetzt worden, doch die Brücke selber war dabei unverändert geblieben. Die aufgeworfenen Steine und die verdorrte Vegetation am Flussufer waren von zartem Raureif überhaucht. Die Bäume in den umliegenden Obstgärten und Wäldern hatten schon lange ihre Blätter verloren. Ein Gefühl erstarrter Erwartung erfüllte das Land, als wäre die Bühne für die Aufführung bereit.
Er verspürte eine ruhige Zielstrebigkeit in sich. Er wusste, dass seine Aufgabe hier nicht einfach sein würde. Herzen würden gebrochen und wieder geheilt werden, Wahrheiten würden enthüllt, Risiken eingegangen werden. Was, wenn er es genauer bedachte, einfach das war, was man Leben nannte - chaotisch, unvorhersehbar, freudig, mysteriös, schmerzvoll und erlösend.
Ein grün-weißes Schild in Form eines Wappens verriet ihm den Namen der Stadt: Avalon. Ulster County. 1325 m ü. NN.
Etwas weiter grüßten von einer Plakatwand der Rotary Club, die Kiwanis und mindestens ein Dutzend Kirchen und Gemeindegruppen. Der Willkommensgruß lautete: Avalon - im Herzen des Waldschutzgebiets der Catskills. Ein weiteres Schild forderte die Reisenden auf, den Willow Lake zu besuchen, das „Juwel der Berge". Diese kleine Übertreibung mochte auf so einige kleine, an den Seen von Upstate New York gelegene Dörfer zutreffen, aber dieses hier hatte die Ernsthaftigkeit und den Charme eines Ortes mit einer langen und komplizierten Vergangenheit.
Er war eine dieser Komplikationen. In Gänze hatte auch er noch nicht verstanden, was ihn hierher gebracht hatte - ein winziger Blick in die geheimnisvolle Welt des menschlichen Herzens. Vielleicht sollte er gar nicht wissen, warum die Vergangenheit und die Gegenwart zu genau diesem Zeitpunkt kollidieren mussten. Vielleicht reichte es, dass er seine Aufgabe kannte: ein altes Unrecht wiedergutzumachen. Wie genau das vonstattengehen sollte - nun, das war eine weitere Unbekannte, die sich ihm sicher nach und nach enthüllen würde.
Die Hauptattraktion des Ortes war ein hübscher, gepflasterter Platz rund um ein gotisch anmutendes Gebäude, in dem sich die Gemeindebüros und das Gericht befanden. Darum herum hatten sich viele kleine Läden und Restaurants angesiedelt, aus deren Fenstern warmes Licht auf die Straße schien. Die ersten Weihnachtsgirlanden und Lichterketten wanden sich um die gusseisernen Gaslaternen rund um den Marktplatz. In der Ferne lag der Willow Lake wie ein breites indigofarbenes Laken unter dem düsteren Himmel; seine Oberfläche war von einer Eisschicht überzogen, die im Laufe des Winters immer dicker werden würde.
Ein paar Straßenblocks vom Marktplatz entfernt lag der Bahnhof. Gerade war ein Zug eingefahren und spuckte seine Passagiere aus, die von der Arbeit in einer der größeren Städte zurückkehrten - Kingston und New Paltz, Albany und Poughkeepsie, einige kamen sogar ganz aus New York City. Die Menschen eilten zu ihren Autos, begierig darauf, aus der Kälte und zu ihren Familien zu kommen. Es gab so viele Arten, eine Familie zu gründen ... und genauso viele, sie zu verlieren. Aber die menschliche Natur war aus Vergebung geschmiedet, und ein Neuanfang bedurfte vielleicht nur eines Worts oder einer freundlichen Geste.
Es fühlte sich seltsam an, nach all den Jahren zurück zu sein. Seltsam und ... wichtig. Irgendwo lauerte hier Gefahr, ob die Menschen es nun wussten oder nicht. Und irgendwie musste er helfen. Er hoffte nur, dass er es auch konnte.
Nicht weit entfernt vom Bahnhof lag die Stadtbücherei, ein rechteckiger Bau im griechischen Stil. Der Grundstein war vor genau neunundneunzig Jahren gelegt worden; dieses Datum war ihm ins Herz gebrannt. Der Bau erhob sich inmitten eines mehrere Hektar großen Stadtparks, dessen kahle Bäume und kreuz und quer verlaufende Wege nun verlassen dalagen. Die Bibliothek war auf dem Platz ihrer Vorgängerin errichtet worden, die ein Jahrhundert zuvor bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Dabei war ein Mensch ums Leben gekommen. Nur wenige Menschen kannten die Einzelheiten dessen, was damals passiert war, oder wussten von den Folgen, die der Vorfall für die Stadt gehabt hatte.
Eine reiche Familie, die um den Wert der Bibliothek wusste, spendete das Geld für den Wiederaufbau. Aus behauenen Steinen gebaut, war das neue Gebäude nahezu feuerfest, und die neue „Freie Bücherei von Avalon" hatte nun schon beinahe hundert Jahre kommen und gehen sehen. Zeiten wachsenden Wohlstands und bitterer Armut, Krieg und Frieden, soziale Unruhen und Harmonie. Die Stadt hatte sich verändert, die Welt hatte sich verändert. Die Menschen kannten einander nicht mehr. Und doch gab es ein paar Konstanten, die alles zusammenhielten. Und eine davon war die Bücherei. Zumindest im Moment.
Er seufzte. Sein Atem gefror in der Luft, als die alten Erinnerungen auf ihn einstürmten, so verstörend wie ein nicht zu Ende geträumter Traum. Vor all diesen Jahren war die erste Bibliothek zerstört worden. Nun drohte ihrer Nachfolgerin Gefahr. Nicht durch Feuer, aber durch etwas genauso Schlimmes. Vielleicht blieb noch ausreichend Zeit, sie zu retten.
Das Gebäude hatte rundherum hohe Fenster, und ein Oberlicht über dem Innenhof flutete die Räume mit Licht. Durch die Fenster konnte er die alten, aus Eichenholz erbauten Bücherregale sehen, die Tische und Arbeitsnischen, in denen die Menschen über den Lesestoff gebeugt saßen. Durch ein anderes Fenster sah er den Bereich für die Mitarbeiter.
Im Inneren, an einem überladenen Tisch, saß eine Frau im Licht einer Schreibtischlampe. Ihr blasses Gesicht war von einer tiefen Sorge gezeichnet, die schon an Verzweiflung grenzte.
Sie stand abrupt auf, als hätte sie sich gerade an etwas erinnert, und strich mit den Händen die Vorderseite ihres braunen Rocks glatt. Dann schnappte sie sich ihren Mantel von einem Haken und rüstete sich gegen die schnell einfallende Kälte - gefütterte Stiefel, Schal, Mütze, Handschuhe. Trotz der vielen Besucher schien sie abgelenkt und sehr einsam zu sein.
Die scharfe, trockene Kälte drängte ihn in Richtung Eingang, der von einem großen Steinbogen umrahmt wurde, in den weise Sprüche hineingemeißelt worden waren. Er blieb stehen, um die Worte der Gelehrten zu studieren - Plutarch, Sokrates, Judah Ibn Tibbon, Benjamin Franklin. Doch auch wenn die weisen Worte durchaus ansprechend waren, hatte der Junge keinen anderen Wegweiser als sein Herz. Es war an der Zeit loszulegen.
Beinahe wäre die Frau in ihn hineingerannt, als sie mit gesenktem Kopf durch die schwere Eingangstür eilte.
„Oh", sagte sie und trat einen Schritt zurück. „Oh, tut mir leid. Ich habe dich nicht gesehen."
„Ist schon gut", sagte der Junge.
Irgendetwas in seiner Stimme ließ sie innehalten. Sie musterte ihn einen Moment durch die dicken Gläser ihrer Brille.
Er versuchte sich vorzustellen, was sie wohl sah, wenn sie ihn anschaute - ein Junge von nicht ganz sechzehn Jahren, mit ernsten dunklen Augen, olivfarbener Haut und Haaren, die schon viel zu lange keine Schere mehr gesehen hatten. Er trug eine grünliche Cargojacke aus dem Armyshop und eine locker sitzende Latzhose, die abgetragen, aber sauber war. Die Winterkleidung verdeckte seine Narben, zumindest zum größten Teil.
„Kann ich dir helfen?", fragte sie leicht atemlos. „Ich bin gerade auf dem Weg nach Hause, aber ..."
„Ich glaube, ich finde das, was ich suche, alleine", sagte er. „Die Bücherei schließt heute um sechs", informierte sie ihn.
„Ich brauche nicht lange."
„Ich glaube nicht, dass wir uns schon mal begegnet sind", sagte sie. „Ich versuche, alle meine Besucher kennenzulernen."
„Ich heiße Jabez, Ma'am. Jabez Cantor. Ich bin ... neu hier." Das war keine wirkliche Lüge.
Sie lächelte, auch wenn ihre Augen immer noch von Sorge überschattet waren. „Maureen Davenport."
Ich weiß, dachte er. Ich weiß, wer du bist. Er verstand ihre Wichtigkeit, auch wenn sie selber nichts davon ahnte. Sie hatte so viel getan, hier, in dieser kleinen Stadt, und vermutlich wusste sie es nicht einmal.
„Ich bin die Bibliothekarin hier", erklärte sie. „Ich würde dich gerne herumführen, aber ich muss noch woanders hin." Das weiß ich auch, dachte er.
„Wir sehen uns ein andermal, Jabez", sagte sie.
Ja, dachte er, als sie davoneilte. Das werden wir.
2. KAPITEL
Zügigen Schrittes erreichte Maureen Davenport die Bäckerei. Ihre Wangen brannten nach dem kurzen Spaziergang von der Bücherei hierher. Auch wenn sie die leicht beißende Kälte mochte, war sie dankbar für den warmen Zufluchtsort, den die Sky River Bakery darstellte. Sie schälte sich aus Schal, Mütze und Handschuhen und ließ dabei ihren Blick über die Menschen gleiten, die sich um die gebogenen Glasauslagen mit Kuchen und Leckereien versammelt hatten. Auch die Bistrotische und Sitzecken um sie herum waren gut besucht.
Er war ganz offensichtlich noch nicht hier. Es war ein einzigartig unangenehmes Gefühl, auf jemanden zu warten, der nicht wusste, wie man aussah. Sie überlegte, einen Becher Tee oder eine heiße Schokolade zu bestellen, aber die Schlange war ganz schön lang. Also setzte sie sich und nahm das Buch zur Hand, das sie gerade las - 365 Tage im Jahr Weihnachten: Wie Sie den Geist der Feiertage in jeden Tag Ihres Lebens bringen.
Maureen las immer. Seitdem sie klein war, hatte sie Freude und Trost in Büchern gefunden. Eine Geschichte war für sie so viel mehr als nur Wörter auf einer Seite. Ein Buch aufzuschlagen war, wie die Tür zu einer anderen Welt zu öffnen, und sobald sie einmal die Schwelle übertreten hatte, gab es kein Zurück mehr. Wenn sie eine Geschichte las, lebte sie in einer anderen Haut.
Sie liebte alle möglichen Arten von Büchern: Romane, Sachbücher, Kinderbücher, Selbsthilfebücher. Als Stadtbibliothekarin waren Bücher ihr Job. Und als jemand, der so gerne las, wie andere Menschen aßen, waren Bücher auch ihr Leben. Sie versuchte, sich nicht zu sehr in die Seite zu versenken, die sie gerade las, denn mit einem Auge musste sie weiterhin nach ihm Ausschau halten.
Ihm. Eddie Haven. Und er verspätete sich.
Als die Minuten verrannen, wurde Maureen langsam paranoid. Was, wenn er nicht käme? Was, wenn er sie sitzen ließe? Könnte sie ihn feuern? Nein, das könnte sie nicht. Er war ein Freiwilliger, und Freiwillige konnte man nicht wirklich rausschmeißen. Außerdem war er gerichtlich dazu verpflichtet worden, bei ihr zu arbeiten.
Warum sonst würde ein Mann wie Eddie Haven auch bei ihr sein, wenn nicht per Gerichtsbeschluss? Sie versuchte, die Kränkung nicht zu sehr an sich heranzulassen - aber der einzige Weg, wie jemand wie er mit jemandem wie Maureen zusammen gesehen würde, war per Gerichtsbeschluss. Dass sie nicht zusammenpassten, war eine schlichte Tatsache. Vielleicht sogar ein Naturgesetz. Er war umwerfend gut aussehend, prominent (okay, nur ein D-Promi, aber trotzdem) und ein unglaublich talentierter Musiker. Er war beinahe berühmt.
Vor langer Zeit war er das bekannteste Gesicht des Landes gewesen. Er war einer dieser ehemaligen Kinderstars, die in jungen Jahren kurzen Ruhm erlangen und deren Flamme dann genauso schnell wieder verlischt. Dennoch hatte seine Rolle in dem einen Megaerfolg ihm jahrelang den Lebensunterhalt gesichert - auch dank der vielen Wiederholungen im Kabelfernsehen. Der Weihnachtsstreich, ein herzerwärmender Film, der die Welt begeistert hatte und inzwischen zu den weihnachtlichen Klassikern gehörte. Sie hatte seinen Namen in Verbindung mit einer Vielzahl von Frauen gehört, und ab und zu erschien sein Bild in einem der Klatschmagazine, und jedes Mal hatte er ein Starlet oder eine aufstrebende Berühmtheit an seiner Seite. Eine ganze Zeit lang war es still um ihn geworden, doch gerade war die Special-DVD zum fünfundzwanzigsten Jubiläum seines Films veröffentlicht worden, und das Interesse an ihm war erneut entflammt.
Maureen hatte nichts mit ihm gemeinsam. Ihre Lebenswege hatten sich eine Nacht lang überschnitten, an die er sich nicht mehr erinnerte, die ihr aber tief in die Seele gebrannt war. Er lebte in New York City und kam in den Ferien immer nach Avalon - allerdings gegen seinen Willen. Sie hatte gehört, dass er hier Freunde hatte, aber sie gehörte nicht dazu. Ihres Wissens nach hatte er noch nie einen Fuß in die Bücherei gesetzt.
Trotzdem hatte es sich beinahe wie eine echte Verabredung angefühlt, das Treffen hier in der Bäckerei zu vereinbaren. Das Rendezvous war natürlich per E-Mail arrangiert worden. Das Telefon zu benutzen wäre viel zu gewagt und einschüchternd gewesen. E-Mails waren ihr viel lieber. Bei E-Mails wurde sie nicht nervös. Und in E-Mails hatte sie beinahe so etwas wie eine Persönlichkeit. Sie hatte also noch nicht mit ihm gesprochen - wer musste schon sprechen, wenn er schreiben konnte? -, dennoch trug das Hin und Her beim Abmachen des Termins alle Anzeichen einer echten Verabredung. Natürlich war es keine, denn solche Sachen passierten Frauen wie Maureen nicht.
Außer vielleicht in Büchern. Und natürlich in Träumen.
Nur in Träumen konnte ein unscheinbarer, weiblicher Bücherwurm die Aufmerksamkeit von jemandem wie Eddie Haven wecken.
Selbst wenn diese unscheinbare Frau ihm einmal das Leben gerettet hatte. Sie seufzte schulterzuckend und erstickte schnell das schmerzende Flüstern der Erinnerung.
Seit sehr langer Zeit hatte sie keine Verabredung mehr gehabt. Sie war sehr anspruchsvoll, zumindest redete sie sich das ein, und dann waren da noch ihre viel zu neugierigen Geschwister und Freunde. Bei der Erinnerung an ihre letzten beiden Verabredungen zuckte sie innerlich immer noch zusammen - ein Abend mit einem Briefmarkensammler namens Alvin und ein ganz schlechtes Konzert mit Walter Grunion im letzten Jahr. Sie war mit Kopfschmerzen nach Hause gekommen und mit dem festen Entschluss, nicht mehr mit Männern auszugehen, nur weil es von ihr erwartet wurde. Sie würde von nun an aufhören, Ja zu Verabredungen mit Männern zu sagen, an denen sie nicht interessiert war, nur weil sie in den Zwanzigern war - gerade so eben noch - und man so etwas einfach tat.
Die Menschen in der Bäckerei, die kamen und gingen, beachteten Maureen kaum. Was ihr nur recht war. Sie hatte es noch nie gemocht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein. Vor langer, langer Zeit hatte sie mal davon geträumt, im Scheinwerferlicht zu stehen. Doch das Leben hatte sie von dieser Sehnsucht schnell geheilt. In gnädig jungen Jahren hatte sie gelernt, dass bekannt zu sein und erkannt zu werden kein Ersatz dafür waren, geliebt und geschätzt zu sein. Maureen war unauffällig und bescheiden; so fühlte sie sich wohl. Sich unterhalb des Radars zu bewegen war ihr nie schwergefallen. Natürlich hatte sie auch T-Shirts getragen, auf denen Sprüche standen wie „Unklarheiten vermeiden", und einen Button zur Unterstützung der intellektuellen Freiheit, aber irgendwie schien das nie jemand wahrgenommen zu haben. Vielleicht wurde das Trendige an ihrem T-Shirt auch durch den handgestrickten Pullover ihrer Lieblingstante und die Tweedröcke, dicken Strumpfhosen und Stiefel überstrahlt. Sie wusste, dass ihr Kleidungsstil schlicht und langweilig war, aber es störte sie nicht. Mode war etwas für Leute, die nach Aufmerksamkeit lechzten.
Ab und zu traf ihr Blick den eines anderen Gastes, und dann nickte man sich höflich und stumm zu. Sie war die Art Mensch, die andere nur indirekt erkannten. Sie sah irgendwie bekannt aus, wie jemand, den man ab und zu traf, aber nicht wirklich einordnen konnte.
Das gab Maureen immer wieder Rätsel auf, denn sie hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Gesichter und Namen. Das da hinten zum Beispiel war Kim Crutcher, die einen Kaffee trank, während ihre Freundin Daphne McDaniel an einem Donut knabberte, der mit Streuseln in allen Regenbogenfarben bestreut war. Beide Frauen waren regelmäßige Besucher der Bücherei. Genau wie Mr Teasdale, der auf der anderen Seite des Cafés saß und verträumt aus dem Fenster schaute. Er nutzte regelmäßig den Service für Sehbehinderte der Bücherei. Ohne große Mühen konnte Maureen die Namen der Kinder nennen, die sich nach dem Hockeytraining eine Stärkung gegönnt hatten und nun zum Ausgang drängten: Chelsea Nash, Max Bellamy, AJ Martinez, Dinky Romano.
Sie fragte sich, ob Eddie seine zweifelhafte Berühmtheit genoss. Vielleicht würde sie jetzt, wo sie zusammenarbeiteten, eine Chance kriegen, ihn danach zu fragen.
Oder auch nicht.
Traurige Tatsache war, dass sie vermutlich zu schüchtern war, ihn nach der Uhrzeit zu fragen, geschweige denn danach, wie es ihm mit den Wechselfällen des Ruhms ging. Sie wusste viel über Eddie Haven, und doch kannte sie ihn nicht. Vielleicht würde sich das in den kommenden Wochen bis Weihnachten ändern.
Oder auch nicht.
Sie fragte sich, ob es möglich war, jemanden kennenzulernen, ohne sich selber zu offenbaren. Und interessierte es sie genug, um es zu versuchen?
Sie las eine Seite in ihrem Buch und versuchte, nicht auf die erleuchtete Uhr an der Wand zu schauen. An einem nebenstehenden Tisch brandete Gelächter auf, und das Trällern einer kindlichen Stimme schwebte durch das geschäftige Café. Zusammen mit der Bücherei und der Herz-der-Berge-Kirche war die Sky River Bakery einer ihrer Lieblingsplätze im Ort. Es war unmöglich, in einer Bäckerei traurig oder deprimiert zu sein. Irgendetwas an dem zuckrigen Hefegeruch schien die Menschen mit einer tiefen Gelassenheit zu erfüllen, denn jeder, den Maureen sah, wirkte entspannt und glücklich.
Ein Mädchen in einer weißen Schürze stand auf einem
Tritt und schrieb eine Liste mit Angeboten zu Thanksgiving und einen Hinweis, dass bereits Vorbestellungen für Weihnachten entgegengenommen würden. Als sie das sah, überlief Maureen ein Schauer der Vorfreude. Weihnachten war nicht mehr weit, und trotz allem, was in ihrem Leben los war, war es ihre liebste Zeit des Jahres.
Maureen beging den Fehler, auf die Uhr zu schauen. Jetzt war Eddie Haven offiziell zu spät. Sieben Minuten, um genau zu sein. Nicht, dass sie mitzählte ... Wie lange wartete man? Fünf Minuten? Zehn? Zwanzig? Und wem oblag es, sich mit dem anderen in Verbindung zu setzen? Dem Wartenden oder dem das Warten Verursachenden?
Sie schirmte ihre Augen mit den Händen ab und schaute aus dem Fenster. Die Straße war voll mit Leuten, die von der Arbeit oder schulischen Aktivitäten nach Hause gingen. Ein Junge kam vorbei, und sie dachte, dass es vielleicht der war, den sie vorhin an der Bücherei gesehen hatte. Jabez. Er hatte unglaublich große, dunkle Augen, die von dichten, langen Wimpern umrahmt wurden. Die Haltung und Förmlichkeit, mit der er Maureen begrüßt hatte, waren ihr ungewöhnlich vorgekommen, auch wenn sie nicht sagen konnte, wieso. Er betrachtete die Regale mit Brotlaiben und Kuchen, und seine Hand glitt in die Tasche seiner olivfarbenen Jacke. Dann seufzte er, sein Atem blieb in einer Wolke in der Luft hängen. Schließlich ging er zögernd weiter. Sie verspürte den Wunsch, ihn zurückzurufen, ihm anzubieten ... was? Maureen neigte nicht zu sozialen Impulshandlungen, und außerdem zweifelte sie daran, dass ein Teenager Interesse daran hätte, von der Stadtbibliothekarin eingeladen zu werden.
Nach neun Minuten fragte sie sich, ob sie sich vielleicht mit Zeit und Ort ihres Treffens vertan hatte. Nur um sicher zugehen, blätterte sie in den Papieren auf ihrem Klemmbrett, bis sie die E-Mail fand, die sie sich ausgedruckt hatte. Nein, sie hatte sich nicht vertan. Er war zu spät. Total und unentschuldbar zu spät.
Übersetzung: Ivonne Senn
Genehmigte Sonderausgabe 2011 für Verlagsgruppe Weltbild GmbH
Der Junge erreichte den Ortsrand in der Abenddämmerung eines Wintertages. Auch wenn noch kein
Schnee gefallen war, lag eine erbarmungslose Kälte in der Luft, die Feldern und Wäldern jegliches Leben und alle Farbe auslaugte.
Die Straße verengte sich zu einer Spur und führte über eine überdachte Brücke, die von uralten Pfeilern aus Flusssteinen gehalten wurde. Im Laufe der Jahre war das Holz verwittert und Planke für Planke ersetzt worden, doch die Brücke selber war dabei unverändert geblieben. Die aufgeworfenen Steine und die verdorrte Vegetation am Flussufer waren von zartem Raureif überhaucht. Die Bäume in den umliegenden Obstgärten und Wäldern hatten schon lange ihre Blätter verloren. Ein Gefühl erstarrter Erwartung erfüllte das Land, als wäre die Bühne für die Aufführung bereit.
Er verspürte eine ruhige Zielstrebigkeit in sich. Er wusste, dass seine Aufgabe hier nicht einfach sein würde. Herzen würden gebrochen und wieder geheilt werden, Wahrheiten würden enthüllt, Risiken eingegangen werden. Was, wenn er es genauer bedachte, einfach das war, was man Leben nannte - chaotisch, unvorhersehbar, freudig, mysteriös, schmerzvoll und erlösend.
Ein grün-weißes Schild in Form eines Wappens verriet ihm den Namen der Stadt: Avalon. Ulster County. 1325 m ü. NN.
Etwas weiter grüßten von einer Plakatwand der Rotary Club, die Kiwanis und mindestens ein Dutzend Kirchen und Gemeindegruppen. Der Willkommensgruß lautete: Avalon - im Herzen des Waldschutzgebiets der Catskills. Ein weiteres Schild forderte die Reisenden auf, den Willow Lake zu besuchen, das „Juwel der Berge". Diese kleine Übertreibung mochte auf so einige kleine, an den Seen von Upstate New York gelegene Dörfer zutreffen, aber dieses hier hatte die Ernsthaftigkeit und den Charme eines Ortes mit einer langen und komplizierten Vergangenheit.
Er war eine dieser Komplikationen. In Gänze hatte auch er noch nicht verstanden, was ihn hierher gebracht hatte - ein winziger Blick in die geheimnisvolle Welt des menschlichen Herzens. Vielleicht sollte er gar nicht wissen, warum die Vergangenheit und die Gegenwart zu genau diesem Zeitpunkt kollidieren mussten. Vielleicht reichte es, dass er seine Aufgabe kannte: ein altes Unrecht wiedergutzumachen. Wie genau das vonstattengehen sollte - nun, das war eine weitere Unbekannte, die sich ihm sicher nach und nach enthüllen würde.
Die Hauptattraktion des Ortes war ein hübscher, gepflasterter Platz rund um ein gotisch anmutendes Gebäude, in dem sich die Gemeindebüros und das Gericht befanden. Darum herum hatten sich viele kleine Läden und Restaurants angesiedelt, aus deren Fenstern warmes Licht auf die Straße schien. Die ersten Weihnachtsgirlanden und Lichterketten wanden sich um die gusseisernen Gaslaternen rund um den Marktplatz. In der Ferne lag der Willow Lake wie ein breites indigofarbenes Laken unter dem düsteren Himmel; seine Oberfläche war von einer Eisschicht überzogen, die im Laufe des Winters immer dicker werden würde.
Ein paar Straßenblocks vom Marktplatz entfernt lag der Bahnhof. Gerade war ein Zug eingefahren und spuckte seine Passagiere aus, die von der Arbeit in einer der größeren Städte zurückkehrten - Kingston und New Paltz, Albany und Poughkeepsie, einige kamen sogar ganz aus New York City. Die Menschen eilten zu ihren Autos, begierig darauf, aus der Kälte und zu ihren Familien zu kommen. Es gab so viele Arten, eine Familie zu gründen ... und genauso viele, sie zu verlieren. Aber die menschliche Natur war aus Vergebung geschmiedet, und ein Neuanfang bedurfte vielleicht nur eines Worts oder einer freundlichen Geste.
Es fühlte sich seltsam an, nach all den Jahren zurück zu sein. Seltsam und ... wichtig. Irgendwo lauerte hier Gefahr, ob die Menschen es nun wussten oder nicht. Und irgendwie musste er helfen. Er hoffte nur, dass er es auch konnte.
Nicht weit entfernt vom Bahnhof lag die Stadtbücherei, ein rechteckiger Bau im griechischen Stil. Der Grundstein war vor genau neunundneunzig Jahren gelegt worden; dieses Datum war ihm ins Herz gebrannt. Der Bau erhob sich inmitten eines mehrere Hektar großen Stadtparks, dessen kahle Bäume und kreuz und quer verlaufende Wege nun verlassen dalagen. Die Bibliothek war auf dem Platz ihrer Vorgängerin errichtet worden, die ein Jahrhundert zuvor bis auf die Grundmauern niedergebrannt war. Dabei war ein Mensch ums Leben gekommen. Nur wenige Menschen kannten die Einzelheiten dessen, was damals passiert war, oder wussten von den Folgen, die der Vorfall für die Stadt gehabt hatte.
Eine reiche Familie, die um den Wert der Bibliothek wusste, spendete das Geld für den Wiederaufbau. Aus behauenen Steinen gebaut, war das neue Gebäude nahezu feuerfest, und die neue „Freie Bücherei von Avalon" hatte nun schon beinahe hundert Jahre kommen und gehen sehen. Zeiten wachsenden Wohlstands und bitterer Armut, Krieg und Frieden, soziale Unruhen und Harmonie. Die Stadt hatte sich verändert, die Welt hatte sich verändert. Die Menschen kannten einander nicht mehr. Und doch gab es ein paar Konstanten, die alles zusammenhielten. Und eine davon war die Bücherei. Zumindest im Moment.
Er seufzte. Sein Atem gefror in der Luft, als die alten Erinnerungen auf ihn einstürmten, so verstörend wie ein nicht zu Ende geträumter Traum. Vor all diesen Jahren war die erste Bibliothek zerstört worden. Nun drohte ihrer Nachfolgerin Gefahr. Nicht durch Feuer, aber durch etwas genauso Schlimmes. Vielleicht blieb noch ausreichend Zeit, sie zu retten.
Das Gebäude hatte rundherum hohe Fenster, und ein Oberlicht über dem Innenhof flutete die Räume mit Licht. Durch die Fenster konnte er die alten, aus Eichenholz erbauten Bücherregale sehen, die Tische und Arbeitsnischen, in denen die Menschen über den Lesestoff gebeugt saßen. Durch ein anderes Fenster sah er den Bereich für die Mitarbeiter.
Im Inneren, an einem überladenen Tisch, saß eine Frau im Licht einer Schreibtischlampe. Ihr blasses Gesicht war von einer tiefen Sorge gezeichnet, die schon an Verzweiflung grenzte.
Sie stand abrupt auf, als hätte sie sich gerade an etwas erinnert, und strich mit den Händen die Vorderseite ihres braunen Rocks glatt. Dann schnappte sie sich ihren Mantel von einem Haken und rüstete sich gegen die schnell einfallende Kälte - gefütterte Stiefel, Schal, Mütze, Handschuhe. Trotz der vielen Besucher schien sie abgelenkt und sehr einsam zu sein.
Die scharfe, trockene Kälte drängte ihn in Richtung Eingang, der von einem großen Steinbogen umrahmt wurde, in den weise Sprüche hineingemeißelt worden waren. Er blieb stehen, um die Worte der Gelehrten zu studieren - Plutarch, Sokrates, Judah Ibn Tibbon, Benjamin Franklin. Doch auch wenn die weisen Worte durchaus ansprechend waren, hatte der Junge keinen anderen Wegweiser als sein Herz. Es war an der Zeit loszulegen.
Beinahe wäre die Frau in ihn hineingerannt, als sie mit gesenktem Kopf durch die schwere Eingangstür eilte.
„Oh", sagte sie und trat einen Schritt zurück. „Oh, tut mir leid. Ich habe dich nicht gesehen."
„Ist schon gut", sagte der Junge.
Irgendetwas in seiner Stimme ließ sie innehalten. Sie musterte ihn einen Moment durch die dicken Gläser ihrer Brille.
Er versuchte sich vorzustellen, was sie wohl sah, wenn sie ihn anschaute - ein Junge von nicht ganz sechzehn Jahren, mit ernsten dunklen Augen, olivfarbener Haut und Haaren, die schon viel zu lange keine Schere mehr gesehen hatten. Er trug eine grünliche Cargojacke aus dem Armyshop und eine locker sitzende Latzhose, die abgetragen, aber sauber war. Die Winterkleidung verdeckte seine Narben, zumindest zum größten Teil.
„Kann ich dir helfen?", fragte sie leicht atemlos. „Ich bin gerade auf dem Weg nach Hause, aber ..."
„Ich glaube, ich finde das, was ich suche, alleine", sagte er. „Die Bücherei schließt heute um sechs", informierte sie ihn.
„Ich brauche nicht lange."
„Ich glaube nicht, dass wir uns schon mal begegnet sind", sagte sie. „Ich versuche, alle meine Besucher kennenzulernen."
„Ich heiße Jabez, Ma'am. Jabez Cantor. Ich bin ... neu hier." Das war keine wirkliche Lüge.
Sie lächelte, auch wenn ihre Augen immer noch von Sorge überschattet waren. „Maureen Davenport."
Ich weiß, dachte er. Ich weiß, wer du bist. Er verstand ihre Wichtigkeit, auch wenn sie selber nichts davon ahnte. Sie hatte so viel getan, hier, in dieser kleinen Stadt, und vermutlich wusste sie es nicht einmal.
„Ich bin die Bibliothekarin hier", erklärte sie. „Ich würde dich gerne herumführen, aber ich muss noch woanders hin." Das weiß ich auch, dachte er.
„Wir sehen uns ein andermal, Jabez", sagte sie.
Ja, dachte er, als sie davoneilte. Das werden wir.
2. KAPITEL
Zügigen Schrittes erreichte Maureen Davenport die Bäckerei. Ihre Wangen brannten nach dem kurzen Spaziergang von der Bücherei hierher. Auch wenn sie die leicht beißende Kälte mochte, war sie dankbar für den warmen Zufluchtsort, den die Sky River Bakery darstellte. Sie schälte sich aus Schal, Mütze und Handschuhen und ließ dabei ihren Blick über die Menschen gleiten, die sich um die gebogenen Glasauslagen mit Kuchen und Leckereien versammelt hatten. Auch die Bistrotische und Sitzecken um sie herum waren gut besucht.
Er war ganz offensichtlich noch nicht hier. Es war ein einzigartig unangenehmes Gefühl, auf jemanden zu warten, der nicht wusste, wie man aussah. Sie überlegte, einen Becher Tee oder eine heiße Schokolade zu bestellen, aber die Schlange war ganz schön lang. Also setzte sie sich und nahm das Buch zur Hand, das sie gerade las - 365 Tage im Jahr Weihnachten: Wie Sie den Geist der Feiertage in jeden Tag Ihres Lebens bringen.
Maureen las immer. Seitdem sie klein war, hatte sie Freude und Trost in Büchern gefunden. Eine Geschichte war für sie so viel mehr als nur Wörter auf einer Seite. Ein Buch aufzuschlagen war, wie die Tür zu einer anderen Welt zu öffnen, und sobald sie einmal die Schwelle übertreten hatte, gab es kein Zurück mehr. Wenn sie eine Geschichte las, lebte sie in einer anderen Haut.
Sie liebte alle möglichen Arten von Büchern: Romane, Sachbücher, Kinderbücher, Selbsthilfebücher. Als Stadtbibliothekarin waren Bücher ihr Job. Und als jemand, der so gerne las, wie andere Menschen aßen, waren Bücher auch ihr Leben. Sie versuchte, sich nicht zu sehr in die Seite zu versenken, die sie gerade las, denn mit einem Auge musste sie weiterhin nach ihm Ausschau halten.
Ihm. Eddie Haven. Und er verspätete sich.
Als die Minuten verrannen, wurde Maureen langsam paranoid. Was, wenn er nicht käme? Was, wenn er sie sitzen ließe? Könnte sie ihn feuern? Nein, das könnte sie nicht. Er war ein Freiwilliger, und Freiwillige konnte man nicht wirklich rausschmeißen. Außerdem war er gerichtlich dazu verpflichtet worden, bei ihr zu arbeiten.
Warum sonst würde ein Mann wie Eddie Haven auch bei ihr sein, wenn nicht per Gerichtsbeschluss? Sie versuchte, die Kränkung nicht zu sehr an sich heranzulassen - aber der einzige Weg, wie jemand wie er mit jemandem wie Maureen zusammen gesehen würde, war per Gerichtsbeschluss. Dass sie nicht zusammenpassten, war eine schlichte Tatsache. Vielleicht sogar ein Naturgesetz. Er war umwerfend gut aussehend, prominent (okay, nur ein D-Promi, aber trotzdem) und ein unglaublich talentierter Musiker. Er war beinahe berühmt.
Vor langer Zeit war er das bekannteste Gesicht des Landes gewesen. Er war einer dieser ehemaligen Kinderstars, die in jungen Jahren kurzen Ruhm erlangen und deren Flamme dann genauso schnell wieder verlischt. Dennoch hatte seine Rolle in dem einen Megaerfolg ihm jahrelang den Lebensunterhalt gesichert - auch dank der vielen Wiederholungen im Kabelfernsehen. Der Weihnachtsstreich, ein herzerwärmender Film, der die Welt begeistert hatte und inzwischen zu den weihnachtlichen Klassikern gehörte. Sie hatte seinen Namen in Verbindung mit einer Vielzahl von Frauen gehört, und ab und zu erschien sein Bild in einem der Klatschmagazine, und jedes Mal hatte er ein Starlet oder eine aufstrebende Berühmtheit an seiner Seite. Eine ganze Zeit lang war es still um ihn geworden, doch gerade war die Special-DVD zum fünfundzwanzigsten Jubiläum seines Films veröffentlicht worden, und das Interesse an ihm war erneut entflammt.
Maureen hatte nichts mit ihm gemeinsam. Ihre Lebenswege hatten sich eine Nacht lang überschnitten, an die er sich nicht mehr erinnerte, die ihr aber tief in die Seele gebrannt war. Er lebte in New York City und kam in den Ferien immer nach Avalon - allerdings gegen seinen Willen. Sie hatte gehört, dass er hier Freunde hatte, aber sie gehörte nicht dazu. Ihres Wissens nach hatte er noch nie einen Fuß in die Bücherei gesetzt.
Trotzdem hatte es sich beinahe wie eine echte Verabredung angefühlt, das Treffen hier in der Bäckerei zu vereinbaren. Das Rendezvous war natürlich per E-Mail arrangiert worden. Das Telefon zu benutzen wäre viel zu gewagt und einschüchternd gewesen. E-Mails waren ihr viel lieber. Bei E-Mails wurde sie nicht nervös. Und in E-Mails hatte sie beinahe so etwas wie eine Persönlichkeit. Sie hatte also noch nicht mit ihm gesprochen - wer musste schon sprechen, wenn er schreiben konnte? -, dennoch trug das Hin und Her beim Abmachen des Termins alle Anzeichen einer echten Verabredung. Natürlich war es keine, denn solche Sachen passierten Frauen wie Maureen nicht.
Außer vielleicht in Büchern. Und natürlich in Träumen.
Nur in Träumen konnte ein unscheinbarer, weiblicher Bücherwurm die Aufmerksamkeit von jemandem wie Eddie Haven wecken.
Selbst wenn diese unscheinbare Frau ihm einmal das Leben gerettet hatte. Sie seufzte schulterzuckend und erstickte schnell das schmerzende Flüstern der Erinnerung.
Seit sehr langer Zeit hatte sie keine Verabredung mehr gehabt. Sie war sehr anspruchsvoll, zumindest redete sie sich das ein, und dann waren da noch ihre viel zu neugierigen Geschwister und Freunde. Bei der Erinnerung an ihre letzten beiden Verabredungen zuckte sie innerlich immer noch zusammen - ein Abend mit einem Briefmarkensammler namens Alvin und ein ganz schlechtes Konzert mit Walter Grunion im letzten Jahr. Sie war mit Kopfschmerzen nach Hause gekommen und mit dem festen Entschluss, nicht mehr mit Männern auszugehen, nur weil es von ihr erwartet wurde. Sie würde von nun an aufhören, Ja zu Verabredungen mit Männern zu sagen, an denen sie nicht interessiert war, nur weil sie in den Zwanzigern war - gerade so eben noch - und man so etwas einfach tat.
Die Menschen in der Bäckerei, die kamen und gingen, beachteten Maureen kaum. Was ihr nur recht war. Sie hatte es noch nie gemocht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein. Vor langer, langer Zeit hatte sie mal davon geträumt, im Scheinwerferlicht zu stehen. Doch das Leben hatte sie von dieser Sehnsucht schnell geheilt. In gnädig jungen Jahren hatte sie gelernt, dass bekannt zu sein und erkannt zu werden kein Ersatz dafür waren, geliebt und geschätzt zu sein. Maureen war unauffällig und bescheiden; so fühlte sie sich wohl. Sich unterhalb des Radars zu bewegen war ihr nie schwergefallen. Natürlich hatte sie auch T-Shirts getragen, auf denen Sprüche standen wie „Unklarheiten vermeiden", und einen Button zur Unterstützung der intellektuellen Freiheit, aber irgendwie schien das nie jemand wahrgenommen zu haben. Vielleicht wurde das Trendige an ihrem T-Shirt auch durch den handgestrickten Pullover ihrer Lieblingstante und die Tweedröcke, dicken Strumpfhosen und Stiefel überstrahlt. Sie wusste, dass ihr Kleidungsstil schlicht und langweilig war, aber es störte sie nicht. Mode war etwas für Leute, die nach Aufmerksamkeit lechzten.
Ab und zu traf ihr Blick den eines anderen Gastes, und dann nickte man sich höflich und stumm zu. Sie war die Art Mensch, die andere nur indirekt erkannten. Sie sah irgendwie bekannt aus, wie jemand, den man ab und zu traf, aber nicht wirklich einordnen konnte.
Das gab Maureen immer wieder Rätsel auf, denn sie hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Gesichter und Namen. Das da hinten zum Beispiel war Kim Crutcher, die einen Kaffee trank, während ihre Freundin Daphne McDaniel an einem Donut knabberte, der mit Streuseln in allen Regenbogenfarben bestreut war. Beide Frauen waren regelmäßige Besucher der Bücherei. Genau wie Mr Teasdale, der auf der anderen Seite des Cafés saß und verträumt aus dem Fenster schaute. Er nutzte regelmäßig den Service für Sehbehinderte der Bücherei. Ohne große Mühen konnte Maureen die Namen der Kinder nennen, die sich nach dem Hockeytraining eine Stärkung gegönnt hatten und nun zum Ausgang drängten: Chelsea Nash, Max Bellamy, AJ Martinez, Dinky Romano.
Sie fragte sich, ob Eddie seine zweifelhafte Berühmtheit genoss. Vielleicht würde sie jetzt, wo sie zusammenarbeiteten, eine Chance kriegen, ihn danach zu fragen.
Oder auch nicht.
Traurige Tatsache war, dass sie vermutlich zu schüchtern war, ihn nach der Uhrzeit zu fragen, geschweige denn danach, wie es ihm mit den Wechselfällen des Ruhms ging. Sie wusste viel über Eddie Haven, und doch kannte sie ihn nicht. Vielleicht würde sich das in den kommenden Wochen bis Weihnachten ändern.
Oder auch nicht.
Sie fragte sich, ob es möglich war, jemanden kennenzulernen, ohne sich selber zu offenbaren. Und interessierte es sie genug, um es zu versuchen?
Sie las eine Seite in ihrem Buch und versuchte, nicht auf die erleuchtete Uhr an der Wand zu schauen. An einem nebenstehenden Tisch brandete Gelächter auf, und das Trällern einer kindlichen Stimme schwebte durch das geschäftige Café. Zusammen mit der Bücherei und der Herz-der-Berge-Kirche war die Sky River Bakery einer ihrer Lieblingsplätze im Ort. Es war unmöglich, in einer Bäckerei traurig oder deprimiert zu sein. Irgendetwas an dem zuckrigen Hefegeruch schien die Menschen mit einer tiefen Gelassenheit zu erfüllen, denn jeder, den Maureen sah, wirkte entspannt und glücklich.
Ein Mädchen in einer weißen Schürze stand auf einem
Tritt und schrieb eine Liste mit Angeboten zu Thanksgiving und einen Hinweis, dass bereits Vorbestellungen für Weihnachten entgegengenommen würden. Als sie das sah, überlief Maureen ein Schauer der Vorfreude. Weihnachten war nicht mehr weit, und trotz allem, was in ihrem Leben los war, war es ihre liebste Zeit des Jahres.
Maureen beging den Fehler, auf die Uhr zu schauen. Jetzt war Eddie Haven offiziell zu spät. Sieben Minuten, um genau zu sein. Nicht, dass sie mitzählte ... Wie lange wartete man? Fünf Minuten? Zehn? Zwanzig? Und wem oblag es, sich mit dem anderen in Verbindung zu setzen? Dem Wartenden oder dem das Warten Verursachenden?
Sie schirmte ihre Augen mit den Händen ab und schaute aus dem Fenster. Die Straße war voll mit Leuten, die von der Arbeit oder schulischen Aktivitäten nach Hause gingen. Ein Junge kam vorbei, und sie dachte, dass es vielleicht der war, den sie vorhin an der Bücherei gesehen hatte. Jabez. Er hatte unglaublich große, dunkle Augen, die von dichten, langen Wimpern umrahmt wurden. Die Haltung und Förmlichkeit, mit der er Maureen begrüßt hatte, waren ihr ungewöhnlich vorgekommen, auch wenn sie nicht sagen konnte, wieso. Er betrachtete die Regale mit Brotlaiben und Kuchen, und seine Hand glitt in die Tasche seiner olivfarbenen Jacke. Dann seufzte er, sein Atem blieb in einer Wolke in der Luft hängen. Schließlich ging er zögernd weiter. Sie verspürte den Wunsch, ihn zurückzurufen, ihm anzubieten ... was? Maureen neigte nicht zu sozialen Impulshandlungen, und außerdem zweifelte sie daran, dass ein Teenager Interesse daran hätte, von der Stadtbibliothekarin eingeladen zu werden.
Nach neun Minuten fragte sie sich, ob sie sich vielleicht mit Zeit und Ort ihres Treffens vertan hatte. Nur um sicher zugehen, blätterte sie in den Papieren auf ihrem Klemmbrett, bis sie die E-Mail fand, die sie sich ausgedruckt hatte. Nein, sie hatte sich nicht vertan. Er war zu spät. Total und unentschuldbar zu spät.
Übersetzung: Ivonne Senn
Genehmigte Sonderausgabe 2011 für Verlagsgruppe Weltbild GmbH
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Autoren-Porträt von Susan Wiggs
Susan Wiggs, die an der Harvard Universität studiert hat, ist leidenschaftlich gern Autorin. Zudem ist sie Mutter, Ehefrau und überzeugte Feministin. Ihre Hobbys sind lesen, reisen und stricken. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer Tochter und dem Hund auf einer Insel im nordwestlichen Pazifik.Susan Wiggs hat für ihre Romane viele Auszeichnungen erhalten, unter anderem den begehrten RITA Award, der von den Romance Writers of America verliehen wird.
Bibliographische Angaben
- Autor: Susan Wiggs
- 396 Seiten, Maße: 13,5 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: MIRA Taschenbuch
- ISBN-10: 3899419316
- ISBN-13: 9783899419313
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