Du hast Daddy doch lieb?
Von der Mutter im Stich gelassen - vom Vater missbraucht
Jedes Kind braucht Liebe
... aber die kleine Sally muss einen hohen Preis für die ersehnte Zuwendung bezahlen. Sie ist erst drei Jahre alt, als sie auf dem Schoß ihres Vaters sitzt und spürt, wie seine...
... aber die kleine Sally muss einen hohen Preis für die ersehnte Zuwendung bezahlen. Sie ist erst drei Jahre alt, als sie auf dem Schoß ihres Vaters sitzt und spürt, wie seine...
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Produktinformationen zu „Du hast Daddy doch lieb? “
Jedes Kind braucht Liebe
... aber die kleine Sally muss einen hohen Preis für die ersehnte Zuwendung bezahlen. Sie ist erst drei Jahre alt, als sie auf dem Schoß ihres Vaters sitzt und spürt, wie seine große Hand zwischen ihre Beine wandert. Ihre Mutter ahnt, dass etwas nicht stimmt, aber statt ihren Mann zur Rede zu stellen, flüchtet sie sich, von Depressionen gequält, in den Alkohol.
Als Sally sechs Jahre alt ist, stirbt die Mutter. Über Jahre vergeht sich der Vater an seiner Tochter, die ihm schutzlos ausgeliefert ist.
Dies ist die erschütternde, wahre Geschichte eines unschuldigen kleinen Mädchens, das physischen und psychischen Missbrauch erfährt und als Erwachsene mit diesen furchtbaren Erinnerungen leben muss.
... aber die kleine Sally muss einen hohen Preis für die ersehnte Zuwendung bezahlen. Sie ist erst drei Jahre alt, als sie auf dem Schoß ihres Vaters sitzt und spürt, wie seine große Hand zwischen ihre Beine wandert. Ihre Mutter ahnt, dass etwas nicht stimmt, aber statt ihren Mann zur Rede zu stellen, flüchtet sie sich, von Depressionen gequält, in den Alkohol.
Als Sally sechs Jahre alt ist, stirbt die Mutter. Über Jahre vergeht sich der Vater an seiner Tochter, die ihm schutzlos ausgeliefert ist.
Dies ist die erschütternde, wahre Geschichte eines unschuldigen kleinen Mädchens, das physischen und psychischen Missbrauch erfährt und als Erwachsene mit diesen furchtbaren Erinnerungen leben muss.
Klappentext zu „Du hast Daddy doch lieb? “
Sally wächst im Norden Englands in einfachen Verhältnissen auf. Ihre Mutter leidet unter Depressionen und flüchtet sich in den Alkohol. Sie vernachlässigt Sally und ihre beiden Brüder und überlässt sie oft tagelang sich selbst. Der Vater zeigt keinerlei Verständnis für die Krankheit seiner Frau, und Streitereien zwischen den Eltern sind an der Tagesordnung. Der anfangs liebevolle Vater nähert sich Sally immer häufiger auf eine Weise, die sie verunsichert und ängstigt. Und in der Schule wird Sally wegen ihrer Neurodermitis und wegen des auffälligen Verhaltens ihrer Mutter von den Mitschülern gehänselt und ausgeschlossen.Als Sally sechs Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter an Krebs. Kurz darauf hat Sally ihren ersten Asthmaanfall. Die Großmutter wird zur einzigen Bezugsperson, aber auch ihr wagt sich Sally nicht anzuvertrauen, als die Übergriffe ihres Vaters gewaltsamer werden. Mit verschiedenen Druckmitteln gelingt es ihm, sie zum Schweigen zu bringen.
Ein Jahr später heiratet der Vater wieder. Die Stiefmutter behandelt Sally und ihren kleinen Bruder kalt und gefühllos. Zu allem Überfluss verliert Sally durch einen Wohnortwechsel den Kontakt zur Großmutter. Im Alter von acht Jahren wird das Mädchen zum ersten Mal von seinem Vater vergewaltigt - und in den darauffolgenden Jahren unzählige Male. Die Kleine hat niemanden, an den sie sich wenden kann, sie ist dem Vater hilflos ausgeliefert. Als sie mit fast siebzehn Jahren von zu Hause auszieht, hofft sie, nun endlich frei zu sein - aber die Bilder der Vergangenheit lassen sie nicht los.
Lese-Probe zu „Du hast Daddy doch lieb? “
Du hast Daddy doch lieb? von Sally East & Toni MaguireAus dem Englischen von Silvia Kinkel
... mehr
Ich bin nie am Grab meines Vaters gewesen. Natürlich weiß ich, wo es ist, denn nach seinem Tod erhielt ich einen Anruf und wurde zur Beerdigung eingeladen. Aber ich beschloss, diese Einladung zu ignorieren. Ich hatte kein Bedürfnis, Abschied zu nehmen, denn das hatte ich bereits vor langer Zeit getan.
In den Jahren seit seinem Tod habe ich versucht, sämtliche Erinnerungen aus meinem Gedächtnis zu löschen. Aber noch werde ich von den Gedanken an ihn heimgesucht, ebenso wie von dem Bild des zarten blonden Mädchens mit den grünen Augen, das ich einst gewesen bin.
Ich sehe die Kleine vor mir, wie sie damals, als sie gerade sprechen konnte, an ihrem großen, gut aussehenden dunkelhaarigen Vater hing.
Wenn er abends von der Arbeit als Schreiner nach Hause kam, trat er mit diesem breiten Lächeln durch die Tür, von dem sie dachte, es sei nur für sie bestimmt. Freudig streckte sie ihm die Arme entgegen, und noch bevor ihre Patschhände die Bonbons oder die Schokolade zu fassen bekamen, die stets für sie in seiner Jackentasche versteckt waren, verlangte sie nach seiner Aufmerksamkeit. »Arm, Daddy, Arm«, drängte sie.
Über ihre Beharrlichkeit lachend, hob er sie schwungvoll hoch und wirbelte sie durch die Luft. Noch immer habe ich den Klang seiner Stimme im Ohr: »Du bist mein kleines Mädchen, nicht wahr, Sally?« Sie schlang die Arme um seinen Nacken und mochte es, von ihm gehalten zu werden.
Wie gern schnupperte sie seinen Duft, eine Mischung aus frisch gefällten Bäumen, Holzpolitur, Zigaretten und Rasierwasser, die seiner Haut, seinem Haar und seiner Kleidung anhaftete. Sie spürte seine raue Wange an ihrer und schmiegte sich an seine Brust.
»Hast du deinen Daddy lieb?«, fragte er dann und erhielt stets ein heftiges Nicken als Antwort. »Sag es!«, verlangte er, und sie sprach jene Worte aus, die er hören wollte.
»Ich hab dich lieb, Daddy.«
Das war, bevor ich anfing, mich vor ihm zu fürchten.
Kapitel 1
Die ersten sieben Jahre meines Lebens verbrachte ich in einem kleinen Ort im Norden Englands, wo die Kinder vom Frühling bis in den späten Herbst hinein draußen auf der Straße spielen und die Frauen vor den Geschäften stehen oder sich über den Gartenzaun lehnen und miteinander plaudern. Wenn der Oktober mit seinem feinen Nieselregen in den November überging und aus tiefgrauen Wolken Hagel oder Graupel niederprasselte, flohen wir Kinder auf der Suche nach Wärme in unsere Häuser. In den langen Monaten bis zum nächsten Frühling waren die Straßen öde und verwaist. Die Dunkelheit wurde lediglich unterbrochen vom flackernden Licht der Fernseher, das durch die Fenster der dämmrigen Zimmer fiel, sodass die kahlen Äste der Bäume sichtbar wurden.
Am frühen Abend verkündete das Geräusch zuknallender Autotüren die Ankunft der Männer, die von der Arbeit nach Hause zurückkehrten. Ihre zerbeulten alten Autos säumten die Straße, denn abgesehen von dem täglich einmal verkehrenden Bus und dem Fahrrad waren das die einzigen Beförderungsmittel in dieser ländlichen Region.
Das Haus, in dem ich geboren wurde, war ein Reihenhaus mit drei Schlafzimmern und lag am Ortsrand in einer Siedlung mit Sozialwohnungen. Meine Eltern waren zehn Jahre vor meiner Geburt dort eingezogen, und meine Mutter erzählte mir, dass es damals nach frischer Farbe und feuchtem Zement gerochen habe. Die kleinen Gärten, halbiert durch einen kurzen Betonweg, bestanden aus frisch aufgeschüttetem Ackerboden: Weder war dort Gras gesät, noch waren Sträucher oder Blumen gepflanzt worden.
Für viele der jungen Paare, die einen Schlüssel zu einer der Haustüren erhielten, war es das erste gemeinsame Zuhause. Sie hatten bisher bei den Eltern oder Schwiegereltern gewohnt und darauf gewartet, eine Sozialwohnung zu bekommen. Eines hatten all diese jungen Familien, die in diese Neubausiedlung zogen, gemeinsam, und das war Optimismus.
Als ich alt genug war, um den Unterschied zwischen unserem Haus und den anderen in der Siedlung zu erkennen, hatten die Jahre der Vernachlässigung bereits ihren Tribut gefordert. An den Fenster- und Türrahmen blätterte die Farbe ab, und während die Gärten unserer Nachbarn liebevoll gepflegt wurden, war unserer überwuchert mit struppigem Gras und vertrockneten Sträuchern. Der Wind trug Samen in den Garten, die sogar Wurzeln schlugen, aber schließlich verdorrten.
Abgesehen von den Phasen, in denen meine Mutter über schier unbegrenzte Energie zu verfügen schien, hingen unsere Gardinen vergilbt vor den Fenstern, während hinten im Garten Wäsche im Wind flatterte, die meine Mutter manchmal tagelang draußen auf der durchhängenden Leine ließ.
Als meine Eltern in das Haus einzogen, war mein großer Bruder Pete erst ein paar Monate alt, aber als ich groß genug war, um ihn bewusst wahrzunehmen, war er bereits ein wütender Teenager, der unser Zuhause mied und, wie es schien, auch mich.
Die Familie meines Vaters, die aus seinen drei Brüdern, deren Frauen und Kindern, seiner unverheirateten Schwester sowie meinen Großeltern bestand, lebte ebenfalls in dem Ort, und als ich klein war, hatte ich jede Menge Cousins und Cousinen unterschiedlichen Alters zum Spielen. Meine Mutter hatte nur eine Schwester, die 160 Kilometer von uns entfernt wohnte. An meine Großeltern mütterlicherseits kann ich mich nicht erinnern. Sie waren bereits mittleren Alters, als sie ihre beiden Töchter bekamen, und starben, als ich noch ein Baby war.
Jeden Sonntag traf sich unsere ganze Familie in der Kirche, die Männer in dunklen Anzügen und die Frauen in dazu passenden einfarbigen Jackenkleidern aus Perlon und mit einer bunten Mischung von Hüten auf den Köpfen. Die Kinder trugen ihre Sonntagssachen. Die kleinen Jungs erschienen in kurzen Hosen, gestärkten weißen Hemden, ihren Schulkrawatten und Blazern sowie mit ordentlich aus dem Gesicht gekämmten Haaren. Die Mädchen waren mit Rock, Bluse und Pullover herausgeputzt. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich je nach Jahreszeit entweder einen karierten oder einen pinkfarbenen Baumwollrock anhatte und dazu weiße Spitzensöckchen und schwarze Lackschuhe. Pete trug eine lange graue Flanellhose und ein dunkelblaues Jackett.
Wenn meine Mutter in einem langen Flatterkleid aus bunter indischer Baumwolle in der Kirche erschien, unterschied sie sich von den anderen Frauen. Mit ihrem schimmernden, schulterlangen blonden Haar, das sie nicht unter einem Hut verbarg, dem Porzellanteint und dem schlanken Körper war sie in meinen Augen die hübscheste Mutter von allen. Ich mochte es, wenn sie neben mir saß und meine kleine Hand in ihrer hielt. Andererseits empfand ich so etwas wie Scham, wenn sie nicht mit uns in die Kirche kam. »Zu müde«, lautete eine ihrer Entschuldigungen oder sie fühle sich nicht wohl. Wenn wir ohne sie das Haus verließen, konnte ich dem angespannten Gesicht meines Vaters die nur mit Mühe unterdrückte Wut ansehen.
»Was glaubst du eigentlich, was es für einen Eindruck macht, wenn du nicht mitkommst?«, pflegte er sie zu fragen.
Aber sie zuckte dann nur mit den Schultern und erwiderte, dass es ihr egal sei. »Euren Sonntagsbraten bekommt ihr von deiner Mutter«, sagte sie gedankenverloren zu ihm. »Sie bekocht euch gern.«
Mein Vater stampfte dann aus dem Haus, und Pete und ich folgten ihm beklommen.
Wenn uns die versammelte Familie mal wieder ohne unsere Mutter kommen sah, stieß mein strenger Großvater einen Seufzer aus, und meine Großmutter, die mit meinen Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen ungeduldig auf den Kirchenstufen auf uns gewartet hatte, schüttelte missbilligend den Kopf.
Bevor wir die Kirche betraten, um unsere Plätze einzunehmen, legte sie mir kurz die Hand auf die Schulter. Mit dieser Geste wollte sie mir versichern, dass sie nicht böse auf mich war.
Ich war noch zu klein, um die Texte der Kirchenlieder lesen zu können, kannte aber die Verse der bekanntesten Choräle auswendig und sang begeistert mit. Ich fühlte mich wohl in der Kirche mit ihren hohen Gewölbebögen und den bunten Glasfenstern, und ich mochte die reinen Klänge der Orgel und des Chors, aber die Predigt langweilte mich stets. Sie ergab für mich keinen Sinn und schien endlos zu dauern. Ich versuchte, nicht herumzuzappeln, aber das Stillsitzen fiel mir schwer. Pete langweilte sich offenbar ebenfalls und wollte mich zum Kichern bringen, indem er lustige Grimassen schnitt. Wenn mein Vater das mitbekam, warf er Pete einen strengen Blick zu. Dann schlug mein Bruder die Augen nieder und lehnte sich in der Kirchenbank schweigend zurück.
»Ihr kommt zum Mittagessen besser mit zu mir«, sagte meine Großmutter jedes Mal, wenn meine Mutter nicht zum Gottesdienst erschienen war. Ihr ungeschminkter Mund verzog sich missbilligend, weil ihre Schwiegertochter die hausfraulichen Pflichten vernachlässigte. Dann schnaubte sie laut und fügte hinzu: »Ich bezweifle, dass Laura gekocht hat.«
Das hatte sie in der Tat nicht, und da die Männer in unserem Ort es schon als Leistung ansahen, wenn sie sich selbst Tee kochten, würde mein Vater uns wohl kaum etwas zum Mittagessen zubereiten.
Das Sonntagsessen meiner Großmutter variierte nur selten.
»Männer brauchen bei jedem Wetter einen anständigen Braten «, behauptete sie stets.
Unabhängig von der Jahreszeit, stellte sie also ein großes Stück Roastbeef vor meinen Großvater, damit er es tranchierte. Der Tisch war gedeckt mit Schüsseln voller Zwiebelsoße, Röstkartoffeln, verschiedener Gemüsesorten und einer Platte mit goldgelbem Yorkshire-Pudding. Die Teller wurden vollgeladen, man wurde angehalten nachzunehmen, und als Nachtisch reichte meine Großmutter große Stücke Apfelkuchen oder mit Streuseln überbackene Früchte und Vanillesoße herum.
Ich war gern im Haus meiner Großmutter, wo die köstlichen Düfte aus der blitzsauberen Küche einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Bei ihr wurde immer viel Aufhebens um mich gemacht. Nur die verächtlichen Bemerkungen über meine Mutter hörte ich nicht gern.
»Sie fühlt sich also wieder mal unwohl«, hörte ich meine Tante zu meinem Vater sagen, bevor meine Großmutter sie ermahnen konnte, nicht in meiner Gegenwart darüber zu sprechen.
Es folgte ein tadelndes Schnauben, bis meine Großmutter ihre Gedanken nicht länger für sich behalten konnte. »Ich würde gern wissen, was Laura in ihrem Leben falsch gemacht hat, dass sie sich so sehr selbst bedauern muss.« Dann wandte sie sich ihrem Sohn zu und fuhr fort: »Du hast einen guten Job - bei den vielen neuen Häusern, die in der Gegend gebaut werden, gibt es für einen Schreiner immer Arbeit. Ihr wohnt in einem schönen Haus und habt zwei entzückende Kinder. Es mangelt ihr an nichts, oder? Was ihr fehlt, ist ein bisschen Strenge. Du bist zu gutmütig, David. Und sie ist für Pete und Sally ein schlechtes Vorbild.«
Die schweren Depressionen, unter denen meine Mutter litt, stießen auf wenig Verständnis. Manisch-depressiv, wie man es zu der Zeit meistens nannte, war keine anerkannte Krankheit, und wenn meine Mutter ihre »schlechten Tage« hatte, konnte sie bei den weiblichen Verwandten meines Vaters nicht mit Anteilnahme rechnen. Die Emanzipation der Frauen mag ja in den 60er-Jahren begonnen haben, aber an die Türen des Arbeiterstädtchens im Norden Englands hatte sie noch nicht geklopft. Wie zuvor ihre Mütter, so übten auch diese Frauen keinen Beruf aus. Stattdessen sahen sie ihre Rolle im Leben darauf beschränkt, das Haus sauber zu halten, leckeres Essen zu kochen und die Kinder auf dieselbe Weise zu erziehen, wie sie erzogen worden waren. Die Unfähigkeit meiner Mutter, diese Aufgaben kontinuierlich zu verrichten, war verpönt, und ihre Stimmungsschwankungen wurden als Faulheit und Undankbarkeit abgetan.
An den Sonntagen, die mein Vater als die »Tage des Herrn« bezeichnete, durften wir nicht auf der Straße oder dem Spielplatz spielen. »Das ist dem Herrn gegenüber respektlos«, konstatierte mein Vater streng. Sobald das Mittagessen beendet war, saß ich deshalb mit meinen Malbüchern im Wohnzimmer auf dem Fußboden oder sah mir einen alten Schwarz-Weiß-Film im Fernsehen an. Von Zeit zu Zeit wanderte mein Blick sehnsüchtig zum Fenster. Ich konnte andere Kinder draußen auf der Straße spielen hören und wünschte, dabei zu sein. Aber ich wusste, dass alles Bitten und Betteln nichts half, mein Vater würde es mir nicht erlauben.
Wenn wir abends heimgingen, empfing uns oft ein dunkles Haus. Meine Mutter war auf dem Sofa eingeschlafen, und das Feuer im Ofen, das mein Vater morgens angezündet hatte, war längst erloschen.
Kapitel 2
Bei uns zu Hause waren Gebrüll und Geschrei, gefolgt von dumpfem Schluchzen, an der Tagesordnung. Streitereien zwischen meinen Eltern hatten für mich den Anstrich von Normalität. Wenn mein Vater mit dem konfrontiert wurde, was er für die eingebildeten Krankheiten seiner Frau hielt, bemühte er sich nur selten, seine Ungeduld zu verbergen. Seine Stimme wurde laut und lauter, und er brüllte immer wieder: »Jetzt reiß dich zusammen, Laura!« Aber genau dazu schien meine Mutter manchmal tagelang nicht in der Lage zu sein.
Im Alter von etwa drei Jahren bekam ich mit, dass die von meiner Mutter sogenannten »dunklen Tage« sie zum Weinen brachten, aber ich fragte nie nach dem Grund für ihre Tränen. Ich weiß noch, wie sehr mich ihr Weinen und die Frustration meines Vaters ängstigten. Nachts, wenn ihre wütenden und verzweifelten Stimmen die Treppe hinauf bis in mein Zimmer getragen wurden, lag ich in meinem Bett, stopfte mir die Finger in die Ohren und betete, sie würden aufhören zu streiten.
Mit vierzehn war Pete ein schlaksiger, launischer und störrischer Teenager, mit einer hohen Quietschstimme im Wechsel mit einem tiefen Bass. Wenn das Gesicht meines Vaters vor Wut rot anlief und er losbrüllte, warf mein Bruder ihm einen zornigen Blick zu und stürmte aus dem Haus. Das Zuschlagen der Haustür war für ihn die einzige Möglichkeit zu zeigen, wie aufgebracht er war. Ich wünschte, ich hätte ihm folgen können, aber dafür war ich zu klein. Stattdessen rollte ich mich noch zusammen und wartete verängstigt darauf, dass das Geschrei endlich verstummte.
Im Laufe der Jahre sind die Erinnerungen an meine Mutter zu einer großen Collage verschmolzen, die vor meinem geistigen Auge auftaucht, wenn ich an damals zurückdenke. Manche Bilder sind verschwommen, als wären sie mit der Zeit verblasst, andere sind immer noch deutlich und klar. Ich kann die Bilder nicht mehr in eine zeitliche Reihenfolge bringen, aber ich weiß, dass alle Erinnerungen an meine Mutter auf die Zeit zurückgehen, bevor ich sechseinhalb Jahre alt war.
Das weiß ich so genau, weil das der Zeitpunkt war, an dem sich alles änderte.
Schon als kleines Kind lernte ich, die extremen Stimmungsschwankungen meiner Mutter zu erkennen: Ein warmes Lächeln, das mich beim Aufwachen empfing, verhieß einen guten Tag.
»Aufstehen, du kleiner Faulpelz«, sagte sie und kitzelte mich am Bauch.
An ihren guten Tagen bürstete sie mein hellblondes Haar. »So wunderschöne Haare - du darfst sie niemals abschneiden«, sagte sie, während sie es mir aus dem Gesicht strich und mit einer schwarzen Samtschleife zum Zopf band.
»Es ist wie deins, nur heller«, antwortete ich, denn das Haar meiner Mutter hatte die Farbe von reifem Korn im Spätsommer.
»Mein Haar ist nicht so schön«, widersprach sie. Behutsam zog sie mich an und nahm mich zum Frühstück mit hinunter.
Ich sehe sie noch vor mir an ihren guten, hellen Tagen, in ihrem langen Baumwollhemd und der selbst gehäkelten rotschwarzen Weste. Wie sie sich in einem Anfall von Aktionismus das schulterlange Haar hinter die Ohren strich und das Haus vom Dach bis zum Keller blitzblank putzte. Ihre grünen Augen funkelten vor Lebensfreude, während sie die Betten frisch bezog, die Teppiche saugte, die Fenster putzte und die Gardinen wusch, die von den vielen Zigaretten, die sie rauchte, gelblich verfärbt waren. Überall roch es nach Bleichmittel und Politur. Verstreut herumliegende Kissen wurden ordentlich auf der Dralon-Polstergarnitur verteilt, alte Zeitschriften und Tageszeitungen aussortiert und überall aufgeräumt, bis nichts mehr herumlag.
An jenen Tagen waren wir beide allein, bis mein Bruder aus der Schule und mein Vater von der Arbeit nach Hause kamen. Sobald die Hausarbeit erledigt war, spielten wir etwas oder saßen auf dem Sofa, ich im Arm meiner Mutter, und sie las mir vor. Noddy und sein Freund Big Ears erwachten für mich ebenso zum Leben wie Schneewittchen und die sieben Zwerge. Manchmal dachte sich meine Mutter selbst Geschichten aus, in denen ich die Heldin war. Darin begegnete ich Feen, freundlichen Drachen und lachenden Riesen, und es waren diese Geschichten, die ich am meisten liebte.
An anderen guten Tagen verbrachten wir den ganzen Nachmittag mit Malen und Zeichnen. Meine Mutter legte große Malbücher auf den Tisch und band mir zum Schutz meiner Kleidung eine Schürze um. Während ich mich darin vertiefte, leuchtende Farben auf dem Papier zu verteilen, backte sie oft Kuchen oder Plätzchen und gab mir die Rührschüssel zum Auslecken. Aus den Augenwinkeln behielt ich die ganze Zeit über den Backofen im Auge. Ich wusste, dass sie mir den ersten Keks geben würde, sobald er kalt genug war.
Es gab Zeiten, da raste meine Mutter durch verschiedene Geschäfte, um Zutaten zu kaufen, weil sie in einer Zeitschrift ein neues Rezept entdeckt hatte und erpicht darauf war, es auszuprobieren. Kaum war sie wieder zu Hause, dauerte es nicht lange, und der Tisch war bestückt mit zahlreichen Schüsseln, das Gemüse fachgerecht gewürfelt, das Fleisch aufgeschnitten und die Sahne geschlagen.
»Sally, wir müssen den Tisch ordentlich decken«, sagte sie nach ihren seltenen frenetischen Kochorgien.
Sie holte das Tafelgeschirr, ein Hochzeitsgeschenk, aus dem Schrank und spülte es. Außerdem förderte sie kleine Silbergegenfesterstände, einen Krug, ein paar Löffel und einen Salzstreuer, zutage, und mir wurde die Aufgabe übertragen, Silberpolitur auf ein Tuch zu geben und damit die Flecken abzureiben, die sich seit der letzten Benutzung gebildet hatten. Ich mochte das Gefühl der grobkörnigen, rosafarbenen Paste an meinen Fingern, und nach der Säuberung bewunderte ich das Schimmern jedes einzelnen Stücks.
Wenn mein Vater an diesen Abenden das Haus betrat, breitete sich sogleich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, und er lobte, wie sauber alles sei und wie köstlich es dufte. Sogar Pete setzte sich dann an den Tisch und aß mit uns, statt wie sonst mit dem Abendbrot in seinem Zimmer zu verschwinden, weil er angeblich noch Hausaufgaben machen musste. Meine Eltern wirkten entspannt, und es schien, als wären wir eine ganz normale Familie. An den guten Tagen meiner Mutter war ich glücklich. Sie war die Mutter, die ich mir wünschte, und für kurze Zeit konnte ich mir einreden, dass dieses Intermezzo anhalten würde - was es jedoch nie tat.
Kapitel 3
In der Nähe unseres Hauses gab es einen öffentlichen Spielplatz, auf dem meine Mutter und ich oft die Vormittage verbrachten. Ich stürmte immer zuerst zur Schaukel und bettelte meine Mutter an, mich immer fester anzuschubsen. Mit ausgestreckten Beinen und den Kopf in den Nacken gelegt, quietschte ich vor Vergnügen, wenn ich mit jedem Schwung höher schaukelte. Von dort oben sah ich Nachbarinnen, die ihre Wäsche aufhängten, spielende Kinder und Teenager, die sich sonnten. Wenn meine Mutter genug davon hatte, mich anzuschubsen, wechselten wir zur Wippe, wo sie mich rauf- und runterhüpfen ließ.
An ihren schlechten Tagen, wenn meine Mutter mein Flehen ignorierte, mit mir auf den Spielplatz zu gehen, weil sie zu kraftlos war, spielte ich in unserem kleinen Garten. Ich holte den leuchtend roten Hüpfball mit den Antennengriffen heraus und hüpfte damit stundenlang den kaputten Betonweg entlang.
Ich überlegte damals oft, ob ich der Grund für die Traurigkeit meiner Mutter sei. Wie sollte ich verstehen, warum sie an manchen Tagen glücklich und an anderen so unglücklich war? Vielleicht, so dachte ich, lag es an meinem hässlichen roten Ausschlag, der kurz nach der Geburt ausgebrochen und nie wieder ganz verschwunden war. Aber ich fand nie den Mut, meine Mutter danach zu fragen.
»Du bist ein wunderschönes kleines Mädchen«, sagte sie mir an ihren guten Tagen, aber als ich eingeschult wurde, hatte ich längst aufgehört, ihr das zu glauben.
Ich kann nur ahnen, wie sich meine Mutter gefühlt haben mochte, als mich die Hebamme ihr zum ersten Mal in den Arm legte. Sie erzählte mir oft davon, wie Mütter das nun einmal tun. »Ich liebte dich von dem Moment an, als ich dich zum ersten Mal sah«, versicherte sie mir. »Du warst so ein süßes Baby, mit deinem blonden Haarflaum und deinen großen Augen.« Ich befürchtete jedoch, dass das nur die halbe Wahrheit war und sie diesen Augenblick im Nachhinein verklärte.
Vielleicht war ich für sie wirklich ein niedliches Baby, aber jedes Mal, wenn sie darüber sprach, musste ich an meinen Ausschlag denken. Er bedeckte meine Arme, kroch über meinen Hals und besprenkelte meine Brust. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich als Baby ausgesehen haben mochte, mit der von dem aggressiven roten Ekzem angegriffenen Haut. Seit ich denken kann, habe ich die Kommentare wohlmeinender Menschen im Ohr. Während ich neben meiner Mutter herging, meine winzige Hand von ihrer umschlossen, damit sie mich halten konnte, falls ich stolperte oder fiel, hörte ich, wie sich Freunde oder Nachbarn nach meiner Gesundheit und dem Ausschlag erkundigten. Ich blickte zu ihnen hoch und bat sie stumm, sich zu mir herunterzubeugen und mich selbst zu fragen, was sie jedoch nie taten. Sie verhielten sich so, als sei ich durch diese roten Flecken unsichtbar und taub.
»Wird das mit dem Ausschlag noch besser?«, pflegten sie zu fragen. »Hat sie Schmerzen?« Und: »Verwächst es sich, wenn sie älter wird?« Jedes Mal, wenn uns jemand darauf ansprach, spürte ich, wie der Griff meiner Mutter um meine kleine Hand fester wurde. »Natürlich verwächst es sich«, versicherte sie stets. »Das ist nur eine Kinderkrankheit.«
Während ich heranwuchs, hielt das Interesse der Leute an meiner Krankheit an, aber weiterhin ignorierten sie mich. Wenn die Leute mich gefragt hätten, dann hätte ich ihnen gesagt, dass es wehtat und wie sehr ich diese roten Flecken und das Jucken hasste. Aber da sie immer nur meine Mutter ansprachen, bekam ich nie die Gelegenheit dazu.
Jeden Tag trug meine Mutter eine Creme auf die roten Stellen auf, die meine Haut beruhigte. »Sogar als Baby hast du schön stillgehalten, wenn ich dir die Creme einmassieren musste«, erzählte mir meine Mutter. »Du hast nie geweint.«
Das konnte ich mir kaum vorstellen.
Abends wurden meine Fingernägel kurz geschnitten, und wenn sich der Ausschlag verschlimmerte und ich mir am ganzen Körper die Haut blutig gekratzt hatte, steckte meine Mutter mir die Hände in Fäustlinge und schnürte sie zu, damit ich mich nicht mehr kratzen konnte. Meine Großmutter erfand eine andere Methode, mich vom Kratzen abzuhalten. Wenn sich der Ausschlag über meine Arme ausbreitete, schnitt sie von leeren Plastikflaschen für Putzmittel den Deckel und den Boden ab, schob meine Arme in die Plastikröhren und klebte sie fest.
»Es wird nur schlimmer, wenn du kratzt. Das hier soll dir helfen «, sagte sie. Dann holte sie ein Bonbon aus ihrer Handtasche und schob es mir in den Mund. »Komm, gib deiner Oma einen Kuss«, verlangte sie.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, hob die streichholzdünnen Ärmchen, die in den hässlichen Plastikröhren steckten, schlang sie um Großmutters Hals und drückte ihr zögernd einen Kuss auf die trockene, pergamentene Haut.
Wie ich mit den Plastikverpackungen aussah, hasste ich noch mehr als das Gefühl meiner unbeweglichen, sperrigen Arme. An warmen Tagen, wenn ich ein kurzärmeliges Kleid trug, wollte ich das Haus nicht verlassen und mit meiner Mutter weder einkaufen noch auf den Spielplatz gehen. Ich konnte das Mitleid im Gesicht ihrer Freundinnen und die neugierigen Blicke der anderen Kinder einfach nicht ertragen. Meine Mutter versicherte mir, dass sie mich liebe und dass mein Ausschlag überhaupt nicht so schlimm aussehe, aber nichts, was sie sagte, konnte mich trösten.
Kapitel 4
An ihren schlechten Tagen schien meine Mutter mich gar nicht zu bemerken oder überhaupt zu wissen, dass ich existierte. Wenn ich morgens aufwachte, schaute kein lächelndes Gesicht auf mich herab. Im Nachthemd kletterte ich aus dem Bett und machte mich auf die Suche nach meiner Mutter. Manchmal lag sie noch im Bett, eine zusammengekauerte Gestalt unter der Decke. An anderen Tagen lag sie mit dem Gesicht zur Wand im Wohnzimmer auf dem Sofa. Ihre Distanziertheit ängstigte mich. Leise setzte ich mich hin, beobachtete sie und wünschte, sie würde aufwachen.
Diese Tage beschleunigten offenbar das Ausbreiten meines Ausschlags, und sobald das quälende Jucken begann, konnte ich meine Finger nicht länger unter Kontrolle halten. Sie kratzten, bis die Haut in meinen Kniekehlen riss, nässte und blutete. Meine Hände verursachten immer größere Wunden. Erst wenn ich vor Schmerzen weinte, öffnete meine Mutter die Augen. Sobald sie sah, wozu ihre Vernachlässigung geführt hatte, drangen Schuldgefühle durch den dunklen Nebel ihrer Depressionen. Sie stand auf, nahm mich in die Arme und flüsterte mir tröstende Worte ins Ohr, und mein Gesicht wurde feucht von ihren Tränen.
Ihr Haar war strähnig und umrahmte das blasse, vom vielen Weinen verquollene Gesicht. Während sie mich im Arm hielt, roch ich ihren Atem, dem das süßliche Aroma überreifer Äpfel anhaftete. Ich begriff bald, dass dieser Geruch von der farblosen Flüssigkeit aus den großen braunen Flaschen herrührte, die sie vor meinem Vater und Pete versteckte.
Ich war damals zu klein, um zu verstehen, von welchen Gefühlen sie an jenen Tagen überflutet wurde, was jene Hilflosigkeit auslöste, die sie von der hübschen, lebhaften Frau in eine mir Fremde verwandelte.
Erst als ich erwachsen war und selbst manchmal einfach nur dasaß, ins Leere starrte und spürte, wie mir Tränen über die Wangen liefen, während mich unerwünschte Erinnerungen heimsuchten, begann ich zu begreifen, wie sich meine Mutter gefühlt haben musste. Wenn ich dann an sie dachte, wie sie auf dem Sofa gesessen hatte, den Kopf in die starren Finger gelegt, konnte ich nachvollziehen, welche Verzweiflung sie überkommen und ihr schier den Verstand geraubt hatte. Ich sah vor mir, wie sie ihren Rock packte und mit den Händen knetete, während ihre Augen auf etwas gerichtet waren, das nur sie sehen konnte. Wenn ich von diesen Erinnerungen eingeholt wurde und an mir hinabschaute, stellte ich fest, dass meine Hände es ihren gleichtaten.
Dann entsann ich mich an das kleine Mädchen, das ich einst war. Es beobachtete seine Mutter, die in die Dunkelheit draußen vor dem Fenster starrte. Die Mutter hatte ihm den Rücken zugewandt, das Kind sah lediglich ihren Hinterkopf und das blasse Spiegelbild ihres Gesichts in der Scheibe. Mein fünfjähriges Ich glaubte damals, dass eine böse Hexe aus dem Märchen entsprungen und meine Mutter mit einem bösen Zauber belegt habe. Angst nagte an mir, die Angst, dass ich meine Mutter vielleicht für immer verloren hatte.
An jenen Tagen stapelte sich das schmutzige Geschirr im Spülbecken, Mahlzeiten wurden ausgelassen, oder meine Mutter wärmte hastig eine Dose auf. Mein täglich notwendiges Bad und das anschließende Eincremen vergaß sie.
Kein Lachen war zu hören. Stattdessen erfüllte das Gebrüll meines Vaters das Haus, sobald er abends von der Arbeit zurückkam. »Nicht schon wieder! Reiß dich zusammen, Laura«, schrie er, wenn er sah, dass sie trübsinnig auf dem Sofa lag.
Ich war jedes Mal völlig eingeschüchtert und verhielt mich still, um seine Aufmerksamkeit nicht auf mich zu ziehen.
Es war zu dieser Zeit, als die Furcht vor meinem Vater entstand. Zunächst war es nur ein schwer zu fassendes Unbehagen, das im Laufe der Monate und Jahre Stück für Stück wuchs. Aber erst als ich schon ein Teenager war, wurde meine Liebe zu ihm endgültig zerstört.
»Komm, Sally«, sagte mein Vater, sobald ich mit dem Abendbrot fertig war, das er mir gekocht hatte. »Ich bringe dich ins Bett. Deine Mutter ist heute nicht dazu in der Lage.«
Er hob mich hoch, trug mich ins Badezimmer und setzte mich in die Wanne. Ich mochte das Gefühl des lauwarmen Wassers an meiner entzündeten Haut, und es war angenehm, wenn er mich behutsam mit dem Waschlappen einseifte. Aber ich mochte es nicht, wenn mein Vater damit zwischen meine Beine fuhr und mich seine Finger dort berührten. Mir gefiel auch nicht, was danach passierte. Er hob mich aus dem Wasser und legte mir ein weiches Handtuch um. Dann setzte er mich auf seinen Schoß und zog mich dicht an seine Brust.
Wenn ich spürte, dass etwas Hartes gegen meinen Po drückte, versuchte ich mich frei zu strampeln. Aber er hielt mich nur noch fester und flüsterte mir ein eindringliches »Nein« ins Ohr. »Halt still, und lass mich dich eincremen, Sally«, sagte er, während ich mich protestierend wand, wenn seine Hände Creme an Stellen auftrugen, bis zu denen der Ausschlag niemals vordrang.
Wenn mir dann Tränen über die Wangen liefen, wischte er sie behutsam ab. »Was ist los, Sally? Du wirst genauso schlimm wie deine Mutter. Hast du deinen Daddy denn nicht lieb?«
Aber natürlich hatte ich das - damals. Er drückte mir einen Kuss auf die Wange, schob mir eine Süßigkeit in den Mund, und er war wieder der Vater, der gut zu mir war.
Als ich älter wurde, übte mein Vater zunehmend mehr Kontrolle auf mich aus. In Gegenwart meiner Mutter und meiner Großeltern setzte er mich auf sein Knie und streichelte meine Beine. »Sie ist Daddys Mädchen. Nicht wahr, Sally?«, sagte er dann.
Ich wollte mich aus seinem Griff winden und von seinem Schoß rutschen, aber aus Angst vor seinem Unmut blieb ich sitzen.
Wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam, schlang er immer häufiger seine Arme um mich und hielt mich fest, vor allem dann, wenn meine Mutter dem keine Aufmerksamkeit schenkte und mein Bruder nicht im Zimmer war. Dann wanderten seine Hände unter meinen Rock, und ich spürte seine große Handfläche, die meinen Po streichelte, und den Druck seiner Finger, wenn er die verborgene Stelle zwischen meinen Beinen fand. Ich wollte ihn auffordern, damit aufzuhören, aber mir fehlten die richtigen Worte, um meine Gefühle auszudrücken.
»Komm her, Sally«, sagte er, wenn ich zögerte, mich ihm zu nähern. »Was ist los mit dir? Hast du deinen Daddy nicht lieb?« Er beugte sich zu mir herab und streckte die Arme nach mir aus. Ich sah, wie sich sein Ärger zusammenbraute, und ging widerstrebend zu ihm.
Mit der Zeit ließ seine Zärtlichkeit nach. Immer häufiger wurde er ärgerlich. »Jetzt sei nicht so ein Baby - du wirst genauso schlimm wie deine Mutter«, rief er, wenn ich ihm sagte, dass ich von seinem Knie herunterwolle. Also gab ich jeden Widerstand auf. Die Angst vor seiner Wut hielt mich auf seinem Schoß, während ich spürte, wie das harte Ding, für das ich keinen Namen hatte, gegen mein Gesäß drückte.
Kapitel 5
Irgendwann zwischen meinem dritten und vierten Geburtstag sagte mir meine Mutter, dass ich ein neues Geschwisterchen bekommen würde. Ich saß neben ihr auf dem Sofa und sah mir im Fernsehen eine meiner Lieblingssendungen, Spiele ohne Grenzen, an. Meine Mutter amüsierte sich köstlich über die Teilnehmer, die sperrige Schaumstoffteile in Form von Hamburger-Zutaten trugen und gleichzeitig versuchten, einen riesigen aufblasbaren Hindernisparcours zu überwinden. Die Aufgabe der Teilnehmer bestand darin, den jeweiligen Gegenstand einem Teammitglied zu übergeben, das am Ende des Parcours wartete. Dann ging es zurück zum Start, damit ein anderes Teammitglied losrennen und etwas überbringen konnte. Weil die Gegenstände so groß waren, gab es jede Menge Fehlstarts, Stürze und lustige Situationen, über die wir herzhaft lachten.
Während ich mich an meine Mutter schmiegte, fiel mir auf, wie dick ihr Bauch geworden war, und ich fragte sie nach dem Grund.
»Weil da drin ein Baby ist«, verriet sie mir.
An die darauffolgenden Monate kann ich mich kaum erinnern, ich weiß nur noch, dass der Bauch meiner Mutter immer dicker wurde. Dann war sie für ein paar Tage fort, und als sie zurückkehrte, war sie dünner und trug meinen kleinen Bruder Billy im Arm.
Meine Mutter war blass und müde und erzählte mir, dass sie im Krankenhaus kaum Schlaf bekommen habe. Wie so oft ignorierte sie meine Bedürfnisse, sie gab mir nichts zu essen und ließ die Hausarbeit liegen.
Nach einer Woche kam die Schwester meiner Mutter, Tante Janet, für eine Weile zu uns. Sie wusch die Berge schmutziger Kleidung und Bettwäsche, und die schmutzigen Stoffwindeln, die aus dem übervollen Windeleimer im Bad quollen, weichte sie in Bleichmittel ein. Dreimal am Tag stand eine selbst zubereitete Mahlzeit auf dem Tisch. Tante Janet übernahm am Abend auch mein Bade- und Eincremeritual, zog mir das Nachthemd an und las mir eine Gutenachtgeschichte vor.
Unsere Haustür stand immer offen für Freunde und Verwandte, die das neue Baby sehen wollten. Und jeder Besucher brachte Geschenke mit und bestaunte den winzigen Billy. Das Wohnzimmer war voll mit Kuscheltieren, selbst gestrickten Jäckchen, Mützchen und Strampelanzügen in Hellblau oder Weiß. Eine flauschige Decke, an der meine Mutter viele Stunden lang gehäkelt hatte, lag über der Wiege.
»Was sagst du zu deinem kleinen Bruder?« Das war plötzlich die einzige Frage, die man mir stellte. Ansonsten interessierte sich niemand für mich. Alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf Billy, und meine Mutter hatte kaum noch Zeit für mich. Es war das Baby, mit dem sie kuschelte und redete, nicht mit mir.
Ich fühlte mich zurückgewiesen und einsam und betrachtete unseren winzigen glucksenden Familienzuwachs voller Feindseligkeit. Seit seinem Auftauchen kümmerte sich nur noch mein Vater um mich. »Du bist mein ganz besonderes kleines Mädchen«, sagte er immer wieder, und ich, gierig nach Zuneigung, kuschelte mich an ihn.
Meine Tante reiste schließlich wieder ab, weil sie zurück zu ihrer eigenen Familie musste, und nun waren es wieder die großen Hände meines Vaters, die mich am ganzen Körper eincremten.
»Ich will, dass Mami das macht«, protestierte ich.
»Deine Mutter hat zu viel mit dem Baby zu tun, um dich ins Bett zu bringen«, entgegnete er jedes Mal. Dann nahm er mich mit festem Griff an der Hand und führte mich aus dem Zimmer.
»Du bist doch ein braves kleines Mädchen, nicht wahr, Sally? Du würdest alles tun, worum ich dich bitte, stimmt's?« Und als ich nickte, ging er mit seinen Berührungen zur nächsten Stufe über. Vermutlich wusste er, dass meine Mutter gerade vollauf damit beschäftigt war, Billy zu füttern. Er nahm meine kleine Hand und legte sie vorn auf seine Hose. Dann drückte er meine Hand gegen den Stoff und bewegte sie hoch und runter. Aus Angst, den einzigen Menschen zu verärgern, für den ich anscheinend noch wichtig war, leistete ich keinen Widerstand und rieb über die Stelle. Durch den Stoff der Hose fühlte es sich hart an, und als ich tat wie angewiesen, spürte ich, wie etwas zuckte, als würde es zum Leben erwachen. Der heiße Atem meines Vaters drang in mein Ohr, während er meine Finger immer schneller bewegte, bis ich spürte, wie seine Knie zuckten und ein Zittern durch seinen Körper lief. Mit einem Seufzen löste er dann seine Hand und schob mich weg. Ich mochte ihn nicht so anfassen. Das Gefühl, wie sich dieses harte Ding bewegte, und der heiße Atem meines Vaters an meiner Wange stießen mich ab.
Kapitel 6
Es war mein vierter Geburtstag. Das weiß ich deshalb so genau, weil meine Mutter es mir sagte, als sie mich morgens weckte. Nachdem sie mich nach unten gebracht hatte, zeigte sie auf eine schmale blaue Schachtel neben meinem Frühstücksteller.
»Das ist für dich, Sally«, sagte sie. »Es ist dein Geschenk.«
Ich öffnete die Schachtel und fand darin ein silbernes Armband.
»Sieh hier! Wenn du größer wirst, kannst du es erweitern«, sagte meine Mutter und zeigte mir, wie man das Armband verstellen konnte. Dann legte sie es mir um.
»Du hast noch ein Geschenk«, verriet sie mir und wies auf ein riesiges Paket in bunt gemustertem Geschenkpapier, das mit einer goldenen Schleife verschnürt war und auf dem Küchenboden stand. »Warte, ich helfe dir«, bot sie an, als ich mit der Verpackung kämpfte.
Nach einer paar Schnitten mit der Schere fiel das Papier ab und enthüllte ein Puppenhaus aus lackiertem Holz.
Vorn ließ es sich öffnen, und im Innern entdeckte ich winzige Holzmöbel und eine Puppenfamilie. Ich juchzte vor Freude. Genau so ein Haus hatte ich im Schaufenster eines Spielwarengeschäfts bestaunt und meiner Mutter gesagt, dass ich noch nie etwas Schöneres gesehen hätte. Aber ich hatte nicht im Traum damit gerechnet, jemals so etwas zu besitzen.
»Ich habe es selbst gemacht«, sagte mein Vater schroff.
»Ja, er hat Stunden damit verbracht und ganz allein in dem alten Schuppen gearbeitet«, fügte meine Mutter stolz hinzu.
Mein Vater breitete die Arme aus, und ich stürzte mich hinein, um mich umarmen zu lassen. Ich spürte seine kratzigen Bartstoppeln an meiner Wange. Er hob mich auf seinen Schoß.
»Gefallen dir deine Geschenke?«, fragte er.
Ich nickte begeistert.
»Dann gib deinem Daddy einen dicken Kuss.«
Gehorsam presste ich meine Lippen auf seine Wange.
»Pass auf, Sally, ich zeige dir etwas. Siehst du diesen winzigen Schalter?« Er legte ihn mit dem Finger um, und kleine Lampen leuchteten hinter den Fenstern auf.
Vor Begeisterung war ich sprachlos. Schließlich begann ich, vorsichtig mit dem Puppenhaus zu spielen.
»Sally«, sagte meine Mutter kurz darauf, »geh in den Garten, solange ich hier aufräume.« Zögernd ließ ich meinen kostbaren neuen Besitz zurück und ging nach draußen, um mit dem Hüpfball zu spielen.
Später an diesem Tag führte meine Mutter mich nach oben in mein Zimmer und zeigte aufs Bett: Dort lag ein neues blassrosafarbenes Baumwollkleidchen, das mit winzigen pinkfarbenen Rosenknospen bestickt war.
»Ein neues Kleid für mein besonderes Geburtstagskind«, sagte sie. »Oma und deine Tanten, Cousins und Cousinen kommen zum Tee«, fügte sie hinzu. Sie fing an, mein Haar zu bürsten, bis es glänzte, sie wusch mein Gesicht und streifte mir dann das neue Kleid über meine Schultern. Danach stellte meine Mutter mich vor den Spiegel. »Siehst du, wie hübsch du bist?«
Ich strahlte ihr lächelndes Spiegelbild an.
Als meine Oma, die Tanten und ihre Kinder zum Tee eintrafen, brachten sie noch mehr Geschenke mit, und dieses Mal stand nicht Billy, sondern ich im Zentrum der Aufmerksamkeit. »Happy Birthday, liebe Sally, happy birthday to you«, sangen alle gemeinsam. Ich wurde gedrückt und geküsst, und dann wurden mir Pakete in den unterschiedlichsten Formen und Größen überreicht.
»Na los, Sally, du darfst sie öffnen«, forderte meine Mutter mich auf.
Als Erstes öffnete ich das Paket meiner Großmutter. Es war eine Tiny-Tears-Babypuppe, die ich mir schön länger gewünscht hatte. Oma zeigte mir, wie ich der Puppe die mit Wasser gefüllte Trinkflasche zwischen die rosigen Lippen schieben konnte und anschließend die feuchten Windeln wechseln musste. In den anderen Paketen waren Bilderbücher, noch mehr neue Anziehsachen und in dem letzten, einem Geschenk von meiner unverheirateten Tante, ein winziges Teeservice.
»Jetzt kannst du mit deinen Puppen eigene Teepartys feiern«, erklärte sie mir.
Pete kam direkt nach der Schule nach Hause, um pünktlich zum Tee da zu sein. Sobald er den Raum betrat, überreichte er mir ein mit einer Kordel verschnürtes Päckchen. »Herzlichen Glückwunsch, Sally«, sagte er und wurde rot. In dem Päckchen waren ein Spiegel und Bilder im Miniaturformat. »Für dein Puppenhaus«, erläuterte er. »Ich wusste, dass Dad dir eins baut.«
Über sein Geschenk freute ich mich am meisten, denn trotz meiner Bemühungen, seine Aufmerksamkeit zu erringen, ignorierte er mich die meiste Zeit über.
Als meine Mutter die Geburtstagstorte hereintrug, verstand ich plötzlich, warum ich morgens zum Spielen in den Garten geschickt worden war. Mit weißer Schrift stand oben auf der rosafarbenen Glasur: »Happy Birthday, Sally«, und in der Mitte brannten vier Kerzen. Für jedes Lebensjahr eine, wie man mir sagte.
»Du musst sie auspusten, Sally«, forderten mich alle wie aus einem Munde auf.
»Und dabei darfst du dir etwas wünschen«, erklärte meine Mutter.
Ich blähte meine Wangen auf, pustete mit aller Kraft und quietschte vor Begeisterung, als die Flammen flackerten und erloschen. Aber ich war so aufgeregt, dass ich ganz vergaß, mir etwas zu wünschen. Noch heute frage ich mich, ob die Dinge anders gelaufen wären, wenn ich es nicht vergessen hätte.
An diesem Abend brachte mein Vater mich ins Bett. Trotz meines Protests, dass Mami mich ins Bett bringen solle, führte er mich aus dem Zimmer. Sobald wir im Badezimmer waren, lief dasselbe Ritual ab wie immer. Zuerst badete er mich, dann setzte er mich nackt auf sein Knie. Dieses Mal jammerte ich laut, er verderbe mir meinen Geburtstag, sodass es meine Mutter ins Badezimmer lockte.
Als sie den Raum betrat, sah sie, wie mein Vater mir gerade den Pyjama über meinen kleinen zappelnden Körper zog. »Was ist los, Sally? Warum weinst du?« Da ich nicht antwortete, wandte sie sich meinem Vater zu. »Was hat sie denn? Warum ist sie so aufgebracht?«
»Ach, es ist nichts, Laura. Sie ist ausgerutscht und hingefallen. Das ist alles, nicht wahr, Sally?«
Ich versuchte, die Tränen zu stoppen, und antwortete: »Ja.« Und mit diesem einen falschen Wort hatte ich meine Einwilligung gegeben.
Meine Mutter stand einen Moment lang da und sah ihrem Mann in die Augen. Offenbar zufrieden mit der Erklärung, drehte sie sich dann um und verließ schweigend das Badezimmer. Wenn ich alt genug gewesen wäre, um den Ausdruck in ihrem Gesicht zu deuten, was hätte ich dann gesehen? Misstrauen? Eine leise Ahnung? Oder beides, gefolgt von Resignation? Ihrem Verhalten zwei Jahre später nach zu urteilen, war es das Dritte.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Ich bin nie am Grab meines Vaters gewesen. Natürlich weiß ich, wo es ist, denn nach seinem Tod erhielt ich einen Anruf und wurde zur Beerdigung eingeladen. Aber ich beschloss, diese Einladung zu ignorieren. Ich hatte kein Bedürfnis, Abschied zu nehmen, denn das hatte ich bereits vor langer Zeit getan.
In den Jahren seit seinem Tod habe ich versucht, sämtliche Erinnerungen aus meinem Gedächtnis zu löschen. Aber noch werde ich von den Gedanken an ihn heimgesucht, ebenso wie von dem Bild des zarten blonden Mädchens mit den grünen Augen, das ich einst gewesen bin.
Ich sehe die Kleine vor mir, wie sie damals, als sie gerade sprechen konnte, an ihrem großen, gut aussehenden dunkelhaarigen Vater hing.
Wenn er abends von der Arbeit als Schreiner nach Hause kam, trat er mit diesem breiten Lächeln durch die Tür, von dem sie dachte, es sei nur für sie bestimmt. Freudig streckte sie ihm die Arme entgegen, und noch bevor ihre Patschhände die Bonbons oder die Schokolade zu fassen bekamen, die stets für sie in seiner Jackentasche versteckt waren, verlangte sie nach seiner Aufmerksamkeit. »Arm, Daddy, Arm«, drängte sie.
Über ihre Beharrlichkeit lachend, hob er sie schwungvoll hoch und wirbelte sie durch die Luft. Noch immer habe ich den Klang seiner Stimme im Ohr: »Du bist mein kleines Mädchen, nicht wahr, Sally?« Sie schlang die Arme um seinen Nacken und mochte es, von ihm gehalten zu werden.
Wie gern schnupperte sie seinen Duft, eine Mischung aus frisch gefällten Bäumen, Holzpolitur, Zigaretten und Rasierwasser, die seiner Haut, seinem Haar und seiner Kleidung anhaftete. Sie spürte seine raue Wange an ihrer und schmiegte sich an seine Brust.
»Hast du deinen Daddy lieb?«, fragte er dann und erhielt stets ein heftiges Nicken als Antwort. »Sag es!«, verlangte er, und sie sprach jene Worte aus, die er hören wollte.
»Ich hab dich lieb, Daddy.«
Das war, bevor ich anfing, mich vor ihm zu fürchten.
Kapitel 1
Die ersten sieben Jahre meines Lebens verbrachte ich in einem kleinen Ort im Norden Englands, wo die Kinder vom Frühling bis in den späten Herbst hinein draußen auf der Straße spielen und die Frauen vor den Geschäften stehen oder sich über den Gartenzaun lehnen und miteinander plaudern. Wenn der Oktober mit seinem feinen Nieselregen in den November überging und aus tiefgrauen Wolken Hagel oder Graupel niederprasselte, flohen wir Kinder auf der Suche nach Wärme in unsere Häuser. In den langen Monaten bis zum nächsten Frühling waren die Straßen öde und verwaist. Die Dunkelheit wurde lediglich unterbrochen vom flackernden Licht der Fernseher, das durch die Fenster der dämmrigen Zimmer fiel, sodass die kahlen Äste der Bäume sichtbar wurden.
Am frühen Abend verkündete das Geräusch zuknallender Autotüren die Ankunft der Männer, die von der Arbeit nach Hause zurückkehrten. Ihre zerbeulten alten Autos säumten die Straße, denn abgesehen von dem täglich einmal verkehrenden Bus und dem Fahrrad waren das die einzigen Beförderungsmittel in dieser ländlichen Region.
Das Haus, in dem ich geboren wurde, war ein Reihenhaus mit drei Schlafzimmern und lag am Ortsrand in einer Siedlung mit Sozialwohnungen. Meine Eltern waren zehn Jahre vor meiner Geburt dort eingezogen, und meine Mutter erzählte mir, dass es damals nach frischer Farbe und feuchtem Zement gerochen habe. Die kleinen Gärten, halbiert durch einen kurzen Betonweg, bestanden aus frisch aufgeschüttetem Ackerboden: Weder war dort Gras gesät, noch waren Sträucher oder Blumen gepflanzt worden.
Für viele der jungen Paare, die einen Schlüssel zu einer der Haustüren erhielten, war es das erste gemeinsame Zuhause. Sie hatten bisher bei den Eltern oder Schwiegereltern gewohnt und darauf gewartet, eine Sozialwohnung zu bekommen. Eines hatten all diese jungen Familien, die in diese Neubausiedlung zogen, gemeinsam, und das war Optimismus.
Als ich alt genug war, um den Unterschied zwischen unserem Haus und den anderen in der Siedlung zu erkennen, hatten die Jahre der Vernachlässigung bereits ihren Tribut gefordert. An den Fenster- und Türrahmen blätterte die Farbe ab, und während die Gärten unserer Nachbarn liebevoll gepflegt wurden, war unserer überwuchert mit struppigem Gras und vertrockneten Sträuchern. Der Wind trug Samen in den Garten, die sogar Wurzeln schlugen, aber schließlich verdorrten.
Abgesehen von den Phasen, in denen meine Mutter über schier unbegrenzte Energie zu verfügen schien, hingen unsere Gardinen vergilbt vor den Fenstern, während hinten im Garten Wäsche im Wind flatterte, die meine Mutter manchmal tagelang draußen auf der durchhängenden Leine ließ.
Als meine Eltern in das Haus einzogen, war mein großer Bruder Pete erst ein paar Monate alt, aber als ich groß genug war, um ihn bewusst wahrzunehmen, war er bereits ein wütender Teenager, der unser Zuhause mied und, wie es schien, auch mich.
Die Familie meines Vaters, die aus seinen drei Brüdern, deren Frauen und Kindern, seiner unverheirateten Schwester sowie meinen Großeltern bestand, lebte ebenfalls in dem Ort, und als ich klein war, hatte ich jede Menge Cousins und Cousinen unterschiedlichen Alters zum Spielen. Meine Mutter hatte nur eine Schwester, die 160 Kilometer von uns entfernt wohnte. An meine Großeltern mütterlicherseits kann ich mich nicht erinnern. Sie waren bereits mittleren Alters, als sie ihre beiden Töchter bekamen, und starben, als ich noch ein Baby war.
Jeden Sonntag traf sich unsere ganze Familie in der Kirche, die Männer in dunklen Anzügen und die Frauen in dazu passenden einfarbigen Jackenkleidern aus Perlon und mit einer bunten Mischung von Hüten auf den Köpfen. Die Kinder trugen ihre Sonntagssachen. Die kleinen Jungs erschienen in kurzen Hosen, gestärkten weißen Hemden, ihren Schulkrawatten und Blazern sowie mit ordentlich aus dem Gesicht gekämmten Haaren. Die Mädchen waren mit Rock, Bluse und Pullover herausgeputzt. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich je nach Jahreszeit entweder einen karierten oder einen pinkfarbenen Baumwollrock anhatte und dazu weiße Spitzensöckchen und schwarze Lackschuhe. Pete trug eine lange graue Flanellhose und ein dunkelblaues Jackett.
Wenn meine Mutter in einem langen Flatterkleid aus bunter indischer Baumwolle in der Kirche erschien, unterschied sie sich von den anderen Frauen. Mit ihrem schimmernden, schulterlangen blonden Haar, das sie nicht unter einem Hut verbarg, dem Porzellanteint und dem schlanken Körper war sie in meinen Augen die hübscheste Mutter von allen. Ich mochte es, wenn sie neben mir saß und meine kleine Hand in ihrer hielt. Andererseits empfand ich so etwas wie Scham, wenn sie nicht mit uns in die Kirche kam. »Zu müde«, lautete eine ihrer Entschuldigungen oder sie fühle sich nicht wohl. Wenn wir ohne sie das Haus verließen, konnte ich dem angespannten Gesicht meines Vaters die nur mit Mühe unterdrückte Wut ansehen.
»Was glaubst du eigentlich, was es für einen Eindruck macht, wenn du nicht mitkommst?«, pflegte er sie zu fragen.
Aber sie zuckte dann nur mit den Schultern und erwiderte, dass es ihr egal sei. »Euren Sonntagsbraten bekommt ihr von deiner Mutter«, sagte sie gedankenverloren zu ihm. »Sie bekocht euch gern.«
Mein Vater stampfte dann aus dem Haus, und Pete und ich folgten ihm beklommen.
Wenn uns die versammelte Familie mal wieder ohne unsere Mutter kommen sah, stieß mein strenger Großvater einen Seufzer aus, und meine Großmutter, die mit meinen Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen ungeduldig auf den Kirchenstufen auf uns gewartet hatte, schüttelte missbilligend den Kopf.
Bevor wir die Kirche betraten, um unsere Plätze einzunehmen, legte sie mir kurz die Hand auf die Schulter. Mit dieser Geste wollte sie mir versichern, dass sie nicht böse auf mich war.
Ich war noch zu klein, um die Texte der Kirchenlieder lesen zu können, kannte aber die Verse der bekanntesten Choräle auswendig und sang begeistert mit. Ich fühlte mich wohl in der Kirche mit ihren hohen Gewölbebögen und den bunten Glasfenstern, und ich mochte die reinen Klänge der Orgel und des Chors, aber die Predigt langweilte mich stets. Sie ergab für mich keinen Sinn und schien endlos zu dauern. Ich versuchte, nicht herumzuzappeln, aber das Stillsitzen fiel mir schwer. Pete langweilte sich offenbar ebenfalls und wollte mich zum Kichern bringen, indem er lustige Grimassen schnitt. Wenn mein Vater das mitbekam, warf er Pete einen strengen Blick zu. Dann schlug mein Bruder die Augen nieder und lehnte sich in der Kirchenbank schweigend zurück.
»Ihr kommt zum Mittagessen besser mit zu mir«, sagte meine Großmutter jedes Mal, wenn meine Mutter nicht zum Gottesdienst erschienen war. Ihr ungeschminkter Mund verzog sich missbilligend, weil ihre Schwiegertochter die hausfraulichen Pflichten vernachlässigte. Dann schnaubte sie laut und fügte hinzu: »Ich bezweifle, dass Laura gekocht hat.«
Das hatte sie in der Tat nicht, und da die Männer in unserem Ort es schon als Leistung ansahen, wenn sie sich selbst Tee kochten, würde mein Vater uns wohl kaum etwas zum Mittagessen zubereiten.
Das Sonntagsessen meiner Großmutter variierte nur selten.
»Männer brauchen bei jedem Wetter einen anständigen Braten «, behauptete sie stets.
Unabhängig von der Jahreszeit, stellte sie also ein großes Stück Roastbeef vor meinen Großvater, damit er es tranchierte. Der Tisch war gedeckt mit Schüsseln voller Zwiebelsoße, Röstkartoffeln, verschiedener Gemüsesorten und einer Platte mit goldgelbem Yorkshire-Pudding. Die Teller wurden vollgeladen, man wurde angehalten nachzunehmen, und als Nachtisch reichte meine Großmutter große Stücke Apfelkuchen oder mit Streuseln überbackene Früchte und Vanillesoße herum.
Ich war gern im Haus meiner Großmutter, wo die köstlichen Düfte aus der blitzsauberen Küche einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Bei ihr wurde immer viel Aufhebens um mich gemacht. Nur die verächtlichen Bemerkungen über meine Mutter hörte ich nicht gern.
»Sie fühlt sich also wieder mal unwohl«, hörte ich meine Tante zu meinem Vater sagen, bevor meine Großmutter sie ermahnen konnte, nicht in meiner Gegenwart darüber zu sprechen.
Es folgte ein tadelndes Schnauben, bis meine Großmutter ihre Gedanken nicht länger für sich behalten konnte. »Ich würde gern wissen, was Laura in ihrem Leben falsch gemacht hat, dass sie sich so sehr selbst bedauern muss.« Dann wandte sie sich ihrem Sohn zu und fuhr fort: »Du hast einen guten Job - bei den vielen neuen Häusern, die in der Gegend gebaut werden, gibt es für einen Schreiner immer Arbeit. Ihr wohnt in einem schönen Haus und habt zwei entzückende Kinder. Es mangelt ihr an nichts, oder? Was ihr fehlt, ist ein bisschen Strenge. Du bist zu gutmütig, David. Und sie ist für Pete und Sally ein schlechtes Vorbild.«
Die schweren Depressionen, unter denen meine Mutter litt, stießen auf wenig Verständnis. Manisch-depressiv, wie man es zu der Zeit meistens nannte, war keine anerkannte Krankheit, und wenn meine Mutter ihre »schlechten Tage« hatte, konnte sie bei den weiblichen Verwandten meines Vaters nicht mit Anteilnahme rechnen. Die Emanzipation der Frauen mag ja in den 60er-Jahren begonnen haben, aber an die Türen des Arbeiterstädtchens im Norden Englands hatte sie noch nicht geklopft. Wie zuvor ihre Mütter, so übten auch diese Frauen keinen Beruf aus. Stattdessen sahen sie ihre Rolle im Leben darauf beschränkt, das Haus sauber zu halten, leckeres Essen zu kochen und die Kinder auf dieselbe Weise zu erziehen, wie sie erzogen worden waren. Die Unfähigkeit meiner Mutter, diese Aufgaben kontinuierlich zu verrichten, war verpönt, und ihre Stimmungsschwankungen wurden als Faulheit und Undankbarkeit abgetan.
An den Sonntagen, die mein Vater als die »Tage des Herrn« bezeichnete, durften wir nicht auf der Straße oder dem Spielplatz spielen. »Das ist dem Herrn gegenüber respektlos«, konstatierte mein Vater streng. Sobald das Mittagessen beendet war, saß ich deshalb mit meinen Malbüchern im Wohnzimmer auf dem Fußboden oder sah mir einen alten Schwarz-Weiß-Film im Fernsehen an. Von Zeit zu Zeit wanderte mein Blick sehnsüchtig zum Fenster. Ich konnte andere Kinder draußen auf der Straße spielen hören und wünschte, dabei zu sein. Aber ich wusste, dass alles Bitten und Betteln nichts half, mein Vater würde es mir nicht erlauben.
Wenn wir abends heimgingen, empfing uns oft ein dunkles Haus. Meine Mutter war auf dem Sofa eingeschlafen, und das Feuer im Ofen, das mein Vater morgens angezündet hatte, war längst erloschen.
Kapitel 2
Bei uns zu Hause waren Gebrüll und Geschrei, gefolgt von dumpfem Schluchzen, an der Tagesordnung. Streitereien zwischen meinen Eltern hatten für mich den Anstrich von Normalität. Wenn mein Vater mit dem konfrontiert wurde, was er für die eingebildeten Krankheiten seiner Frau hielt, bemühte er sich nur selten, seine Ungeduld zu verbergen. Seine Stimme wurde laut und lauter, und er brüllte immer wieder: »Jetzt reiß dich zusammen, Laura!« Aber genau dazu schien meine Mutter manchmal tagelang nicht in der Lage zu sein.
Im Alter von etwa drei Jahren bekam ich mit, dass die von meiner Mutter sogenannten »dunklen Tage« sie zum Weinen brachten, aber ich fragte nie nach dem Grund für ihre Tränen. Ich weiß noch, wie sehr mich ihr Weinen und die Frustration meines Vaters ängstigten. Nachts, wenn ihre wütenden und verzweifelten Stimmen die Treppe hinauf bis in mein Zimmer getragen wurden, lag ich in meinem Bett, stopfte mir die Finger in die Ohren und betete, sie würden aufhören zu streiten.
Mit vierzehn war Pete ein schlaksiger, launischer und störrischer Teenager, mit einer hohen Quietschstimme im Wechsel mit einem tiefen Bass. Wenn das Gesicht meines Vaters vor Wut rot anlief und er losbrüllte, warf mein Bruder ihm einen zornigen Blick zu und stürmte aus dem Haus. Das Zuschlagen der Haustür war für ihn die einzige Möglichkeit zu zeigen, wie aufgebracht er war. Ich wünschte, ich hätte ihm folgen können, aber dafür war ich zu klein. Stattdessen rollte ich mich noch zusammen und wartete verängstigt darauf, dass das Geschrei endlich verstummte.
Im Laufe der Jahre sind die Erinnerungen an meine Mutter zu einer großen Collage verschmolzen, die vor meinem geistigen Auge auftaucht, wenn ich an damals zurückdenke. Manche Bilder sind verschwommen, als wären sie mit der Zeit verblasst, andere sind immer noch deutlich und klar. Ich kann die Bilder nicht mehr in eine zeitliche Reihenfolge bringen, aber ich weiß, dass alle Erinnerungen an meine Mutter auf die Zeit zurückgehen, bevor ich sechseinhalb Jahre alt war.
Das weiß ich so genau, weil das der Zeitpunkt war, an dem sich alles änderte.
Schon als kleines Kind lernte ich, die extremen Stimmungsschwankungen meiner Mutter zu erkennen: Ein warmes Lächeln, das mich beim Aufwachen empfing, verhieß einen guten Tag.
»Aufstehen, du kleiner Faulpelz«, sagte sie und kitzelte mich am Bauch.
An ihren guten Tagen bürstete sie mein hellblondes Haar. »So wunderschöne Haare - du darfst sie niemals abschneiden«, sagte sie, während sie es mir aus dem Gesicht strich und mit einer schwarzen Samtschleife zum Zopf band.
»Es ist wie deins, nur heller«, antwortete ich, denn das Haar meiner Mutter hatte die Farbe von reifem Korn im Spätsommer.
»Mein Haar ist nicht so schön«, widersprach sie. Behutsam zog sie mich an und nahm mich zum Frühstück mit hinunter.
Ich sehe sie noch vor mir an ihren guten, hellen Tagen, in ihrem langen Baumwollhemd und der selbst gehäkelten rotschwarzen Weste. Wie sie sich in einem Anfall von Aktionismus das schulterlange Haar hinter die Ohren strich und das Haus vom Dach bis zum Keller blitzblank putzte. Ihre grünen Augen funkelten vor Lebensfreude, während sie die Betten frisch bezog, die Teppiche saugte, die Fenster putzte und die Gardinen wusch, die von den vielen Zigaretten, die sie rauchte, gelblich verfärbt waren. Überall roch es nach Bleichmittel und Politur. Verstreut herumliegende Kissen wurden ordentlich auf der Dralon-Polstergarnitur verteilt, alte Zeitschriften und Tageszeitungen aussortiert und überall aufgeräumt, bis nichts mehr herumlag.
An jenen Tagen waren wir beide allein, bis mein Bruder aus der Schule und mein Vater von der Arbeit nach Hause kamen. Sobald die Hausarbeit erledigt war, spielten wir etwas oder saßen auf dem Sofa, ich im Arm meiner Mutter, und sie las mir vor. Noddy und sein Freund Big Ears erwachten für mich ebenso zum Leben wie Schneewittchen und die sieben Zwerge. Manchmal dachte sich meine Mutter selbst Geschichten aus, in denen ich die Heldin war. Darin begegnete ich Feen, freundlichen Drachen und lachenden Riesen, und es waren diese Geschichten, die ich am meisten liebte.
An anderen guten Tagen verbrachten wir den ganzen Nachmittag mit Malen und Zeichnen. Meine Mutter legte große Malbücher auf den Tisch und band mir zum Schutz meiner Kleidung eine Schürze um. Während ich mich darin vertiefte, leuchtende Farben auf dem Papier zu verteilen, backte sie oft Kuchen oder Plätzchen und gab mir die Rührschüssel zum Auslecken. Aus den Augenwinkeln behielt ich die ganze Zeit über den Backofen im Auge. Ich wusste, dass sie mir den ersten Keks geben würde, sobald er kalt genug war.
Es gab Zeiten, da raste meine Mutter durch verschiedene Geschäfte, um Zutaten zu kaufen, weil sie in einer Zeitschrift ein neues Rezept entdeckt hatte und erpicht darauf war, es auszuprobieren. Kaum war sie wieder zu Hause, dauerte es nicht lange, und der Tisch war bestückt mit zahlreichen Schüsseln, das Gemüse fachgerecht gewürfelt, das Fleisch aufgeschnitten und die Sahne geschlagen.
»Sally, wir müssen den Tisch ordentlich decken«, sagte sie nach ihren seltenen frenetischen Kochorgien.
Sie holte das Tafelgeschirr, ein Hochzeitsgeschenk, aus dem Schrank und spülte es. Außerdem förderte sie kleine Silbergegenfesterstände, einen Krug, ein paar Löffel und einen Salzstreuer, zutage, und mir wurde die Aufgabe übertragen, Silberpolitur auf ein Tuch zu geben und damit die Flecken abzureiben, die sich seit der letzten Benutzung gebildet hatten. Ich mochte das Gefühl der grobkörnigen, rosafarbenen Paste an meinen Fingern, und nach der Säuberung bewunderte ich das Schimmern jedes einzelnen Stücks.
Wenn mein Vater an diesen Abenden das Haus betrat, breitete sich sogleich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, und er lobte, wie sauber alles sei und wie köstlich es dufte. Sogar Pete setzte sich dann an den Tisch und aß mit uns, statt wie sonst mit dem Abendbrot in seinem Zimmer zu verschwinden, weil er angeblich noch Hausaufgaben machen musste. Meine Eltern wirkten entspannt, und es schien, als wären wir eine ganz normale Familie. An den guten Tagen meiner Mutter war ich glücklich. Sie war die Mutter, die ich mir wünschte, und für kurze Zeit konnte ich mir einreden, dass dieses Intermezzo anhalten würde - was es jedoch nie tat.
Kapitel 3
In der Nähe unseres Hauses gab es einen öffentlichen Spielplatz, auf dem meine Mutter und ich oft die Vormittage verbrachten. Ich stürmte immer zuerst zur Schaukel und bettelte meine Mutter an, mich immer fester anzuschubsen. Mit ausgestreckten Beinen und den Kopf in den Nacken gelegt, quietschte ich vor Vergnügen, wenn ich mit jedem Schwung höher schaukelte. Von dort oben sah ich Nachbarinnen, die ihre Wäsche aufhängten, spielende Kinder und Teenager, die sich sonnten. Wenn meine Mutter genug davon hatte, mich anzuschubsen, wechselten wir zur Wippe, wo sie mich rauf- und runterhüpfen ließ.
An ihren schlechten Tagen, wenn meine Mutter mein Flehen ignorierte, mit mir auf den Spielplatz zu gehen, weil sie zu kraftlos war, spielte ich in unserem kleinen Garten. Ich holte den leuchtend roten Hüpfball mit den Antennengriffen heraus und hüpfte damit stundenlang den kaputten Betonweg entlang.
Ich überlegte damals oft, ob ich der Grund für die Traurigkeit meiner Mutter sei. Wie sollte ich verstehen, warum sie an manchen Tagen glücklich und an anderen so unglücklich war? Vielleicht, so dachte ich, lag es an meinem hässlichen roten Ausschlag, der kurz nach der Geburt ausgebrochen und nie wieder ganz verschwunden war. Aber ich fand nie den Mut, meine Mutter danach zu fragen.
»Du bist ein wunderschönes kleines Mädchen«, sagte sie mir an ihren guten Tagen, aber als ich eingeschult wurde, hatte ich längst aufgehört, ihr das zu glauben.
Ich kann nur ahnen, wie sich meine Mutter gefühlt haben mochte, als mich die Hebamme ihr zum ersten Mal in den Arm legte. Sie erzählte mir oft davon, wie Mütter das nun einmal tun. »Ich liebte dich von dem Moment an, als ich dich zum ersten Mal sah«, versicherte sie mir. »Du warst so ein süßes Baby, mit deinem blonden Haarflaum und deinen großen Augen.« Ich befürchtete jedoch, dass das nur die halbe Wahrheit war und sie diesen Augenblick im Nachhinein verklärte.
Vielleicht war ich für sie wirklich ein niedliches Baby, aber jedes Mal, wenn sie darüber sprach, musste ich an meinen Ausschlag denken. Er bedeckte meine Arme, kroch über meinen Hals und besprenkelte meine Brust. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich als Baby ausgesehen haben mochte, mit der von dem aggressiven roten Ekzem angegriffenen Haut. Seit ich denken kann, habe ich die Kommentare wohlmeinender Menschen im Ohr. Während ich neben meiner Mutter herging, meine winzige Hand von ihrer umschlossen, damit sie mich halten konnte, falls ich stolperte oder fiel, hörte ich, wie sich Freunde oder Nachbarn nach meiner Gesundheit und dem Ausschlag erkundigten. Ich blickte zu ihnen hoch und bat sie stumm, sich zu mir herunterzubeugen und mich selbst zu fragen, was sie jedoch nie taten. Sie verhielten sich so, als sei ich durch diese roten Flecken unsichtbar und taub.
»Wird das mit dem Ausschlag noch besser?«, pflegten sie zu fragen. »Hat sie Schmerzen?« Und: »Verwächst es sich, wenn sie älter wird?« Jedes Mal, wenn uns jemand darauf ansprach, spürte ich, wie der Griff meiner Mutter um meine kleine Hand fester wurde. »Natürlich verwächst es sich«, versicherte sie stets. »Das ist nur eine Kinderkrankheit.«
Während ich heranwuchs, hielt das Interesse der Leute an meiner Krankheit an, aber weiterhin ignorierten sie mich. Wenn die Leute mich gefragt hätten, dann hätte ich ihnen gesagt, dass es wehtat und wie sehr ich diese roten Flecken und das Jucken hasste. Aber da sie immer nur meine Mutter ansprachen, bekam ich nie die Gelegenheit dazu.
Jeden Tag trug meine Mutter eine Creme auf die roten Stellen auf, die meine Haut beruhigte. »Sogar als Baby hast du schön stillgehalten, wenn ich dir die Creme einmassieren musste«, erzählte mir meine Mutter. »Du hast nie geweint.«
Das konnte ich mir kaum vorstellen.
Abends wurden meine Fingernägel kurz geschnitten, und wenn sich der Ausschlag verschlimmerte und ich mir am ganzen Körper die Haut blutig gekratzt hatte, steckte meine Mutter mir die Hände in Fäustlinge und schnürte sie zu, damit ich mich nicht mehr kratzen konnte. Meine Großmutter erfand eine andere Methode, mich vom Kratzen abzuhalten. Wenn sich der Ausschlag über meine Arme ausbreitete, schnitt sie von leeren Plastikflaschen für Putzmittel den Deckel und den Boden ab, schob meine Arme in die Plastikröhren und klebte sie fest.
»Es wird nur schlimmer, wenn du kratzt. Das hier soll dir helfen «, sagte sie. Dann holte sie ein Bonbon aus ihrer Handtasche und schob es mir in den Mund. »Komm, gib deiner Oma einen Kuss«, verlangte sie.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, hob die streichholzdünnen Ärmchen, die in den hässlichen Plastikröhren steckten, schlang sie um Großmutters Hals und drückte ihr zögernd einen Kuss auf die trockene, pergamentene Haut.
Wie ich mit den Plastikverpackungen aussah, hasste ich noch mehr als das Gefühl meiner unbeweglichen, sperrigen Arme. An warmen Tagen, wenn ich ein kurzärmeliges Kleid trug, wollte ich das Haus nicht verlassen und mit meiner Mutter weder einkaufen noch auf den Spielplatz gehen. Ich konnte das Mitleid im Gesicht ihrer Freundinnen und die neugierigen Blicke der anderen Kinder einfach nicht ertragen. Meine Mutter versicherte mir, dass sie mich liebe und dass mein Ausschlag überhaupt nicht so schlimm aussehe, aber nichts, was sie sagte, konnte mich trösten.
Kapitel 4
An ihren schlechten Tagen schien meine Mutter mich gar nicht zu bemerken oder überhaupt zu wissen, dass ich existierte. Wenn ich morgens aufwachte, schaute kein lächelndes Gesicht auf mich herab. Im Nachthemd kletterte ich aus dem Bett und machte mich auf die Suche nach meiner Mutter. Manchmal lag sie noch im Bett, eine zusammengekauerte Gestalt unter der Decke. An anderen Tagen lag sie mit dem Gesicht zur Wand im Wohnzimmer auf dem Sofa. Ihre Distanziertheit ängstigte mich. Leise setzte ich mich hin, beobachtete sie und wünschte, sie würde aufwachen.
Diese Tage beschleunigten offenbar das Ausbreiten meines Ausschlags, und sobald das quälende Jucken begann, konnte ich meine Finger nicht länger unter Kontrolle halten. Sie kratzten, bis die Haut in meinen Kniekehlen riss, nässte und blutete. Meine Hände verursachten immer größere Wunden. Erst wenn ich vor Schmerzen weinte, öffnete meine Mutter die Augen. Sobald sie sah, wozu ihre Vernachlässigung geführt hatte, drangen Schuldgefühle durch den dunklen Nebel ihrer Depressionen. Sie stand auf, nahm mich in die Arme und flüsterte mir tröstende Worte ins Ohr, und mein Gesicht wurde feucht von ihren Tränen.
Ihr Haar war strähnig und umrahmte das blasse, vom vielen Weinen verquollene Gesicht. Während sie mich im Arm hielt, roch ich ihren Atem, dem das süßliche Aroma überreifer Äpfel anhaftete. Ich begriff bald, dass dieser Geruch von der farblosen Flüssigkeit aus den großen braunen Flaschen herrührte, die sie vor meinem Vater und Pete versteckte.
Ich war damals zu klein, um zu verstehen, von welchen Gefühlen sie an jenen Tagen überflutet wurde, was jene Hilflosigkeit auslöste, die sie von der hübschen, lebhaften Frau in eine mir Fremde verwandelte.
Erst als ich erwachsen war und selbst manchmal einfach nur dasaß, ins Leere starrte und spürte, wie mir Tränen über die Wangen liefen, während mich unerwünschte Erinnerungen heimsuchten, begann ich zu begreifen, wie sich meine Mutter gefühlt haben musste. Wenn ich dann an sie dachte, wie sie auf dem Sofa gesessen hatte, den Kopf in die starren Finger gelegt, konnte ich nachvollziehen, welche Verzweiflung sie überkommen und ihr schier den Verstand geraubt hatte. Ich sah vor mir, wie sie ihren Rock packte und mit den Händen knetete, während ihre Augen auf etwas gerichtet waren, das nur sie sehen konnte. Wenn ich von diesen Erinnerungen eingeholt wurde und an mir hinabschaute, stellte ich fest, dass meine Hände es ihren gleichtaten.
Dann entsann ich mich an das kleine Mädchen, das ich einst war. Es beobachtete seine Mutter, die in die Dunkelheit draußen vor dem Fenster starrte. Die Mutter hatte ihm den Rücken zugewandt, das Kind sah lediglich ihren Hinterkopf und das blasse Spiegelbild ihres Gesichts in der Scheibe. Mein fünfjähriges Ich glaubte damals, dass eine böse Hexe aus dem Märchen entsprungen und meine Mutter mit einem bösen Zauber belegt habe. Angst nagte an mir, die Angst, dass ich meine Mutter vielleicht für immer verloren hatte.
An jenen Tagen stapelte sich das schmutzige Geschirr im Spülbecken, Mahlzeiten wurden ausgelassen, oder meine Mutter wärmte hastig eine Dose auf. Mein täglich notwendiges Bad und das anschließende Eincremen vergaß sie.
Kein Lachen war zu hören. Stattdessen erfüllte das Gebrüll meines Vaters das Haus, sobald er abends von der Arbeit zurückkam. »Nicht schon wieder! Reiß dich zusammen, Laura«, schrie er, wenn er sah, dass sie trübsinnig auf dem Sofa lag.
Ich war jedes Mal völlig eingeschüchtert und verhielt mich still, um seine Aufmerksamkeit nicht auf mich zu ziehen.
Es war zu dieser Zeit, als die Furcht vor meinem Vater entstand. Zunächst war es nur ein schwer zu fassendes Unbehagen, das im Laufe der Monate und Jahre Stück für Stück wuchs. Aber erst als ich schon ein Teenager war, wurde meine Liebe zu ihm endgültig zerstört.
»Komm, Sally«, sagte mein Vater, sobald ich mit dem Abendbrot fertig war, das er mir gekocht hatte. »Ich bringe dich ins Bett. Deine Mutter ist heute nicht dazu in der Lage.«
Er hob mich hoch, trug mich ins Badezimmer und setzte mich in die Wanne. Ich mochte das Gefühl des lauwarmen Wassers an meiner entzündeten Haut, und es war angenehm, wenn er mich behutsam mit dem Waschlappen einseifte. Aber ich mochte es nicht, wenn mein Vater damit zwischen meine Beine fuhr und mich seine Finger dort berührten. Mir gefiel auch nicht, was danach passierte. Er hob mich aus dem Wasser und legte mir ein weiches Handtuch um. Dann setzte er mich auf seinen Schoß und zog mich dicht an seine Brust.
Wenn ich spürte, dass etwas Hartes gegen meinen Po drückte, versuchte ich mich frei zu strampeln. Aber er hielt mich nur noch fester und flüsterte mir ein eindringliches »Nein« ins Ohr. »Halt still, und lass mich dich eincremen, Sally«, sagte er, während ich mich protestierend wand, wenn seine Hände Creme an Stellen auftrugen, bis zu denen der Ausschlag niemals vordrang.
Wenn mir dann Tränen über die Wangen liefen, wischte er sie behutsam ab. »Was ist los, Sally? Du wirst genauso schlimm wie deine Mutter. Hast du deinen Daddy denn nicht lieb?«
Aber natürlich hatte ich das - damals. Er drückte mir einen Kuss auf die Wange, schob mir eine Süßigkeit in den Mund, und er war wieder der Vater, der gut zu mir war.
Als ich älter wurde, übte mein Vater zunehmend mehr Kontrolle auf mich aus. In Gegenwart meiner Mutter und meiner Großeltern setzte er mich auf sein Knie und streichelte meine Beine. »Sie ist Daddys Mädchen. Nicht wahr, Sally?«, sagte er dann.
Ich wollte mich aus seinem Griff winden und von seinem Schoß rutschen, aber aus Angst vor seinem Unmut blieb ich sitzen.
Wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam, schlang er immer häufiger seine Arme um mich und hielt mich fest, vor allem dann, wenn meine Mutter dem keine Aufmerksamkeit schenkte und mein Bruder nicht im Zimmer war. Dann wanderten seine Hände unter meinen Rock, und ich spürte seine große Handfläche, die meinen Po streichelte, und den Druck seiner Finger, wenn er die verborgene Stelle zwischen meinen Beinen fand. Ich wollte ihn auffordern, damit aufzuhören, aber mir fehlten die richtigen Worte, um meine Gefühle auszudrücken.
»Komm her, Sally«, sagte er, wenn ich zögerte, mich ihm zu nähern. »Was ist los mit dir? Hast du deinen Daddy nicht lieb?« Er beugte sich zu mir herab und streckte die Arme nach mir aus. Ich sah, wie sich sein Ärger zusammenbraute, und ging widerstrebend zu ihm.
Mit der Zeit ließ seine Zärtlichkeit nach. Immer häufiger wurde er ärgerlich. »Jetzt sei nicht so ein Baby - du wirst genauso schlimm wie deine Mutter«, rief er, wenn ich ihm sagte, dass ich von seinem Knie herunterwolle. Also gab ich jeden Widerstand auf. Die Angst vor seiner Wut hielt mich auf seinem Schoß, während ich spürte, wie das harte Ding, für das ich keinen Namen hatte, gegen mein Gesäß drückte.
Kapitel 5
Irgendwann zwischen meinem dritten und vierten Geburtstag sagte mir meine Mutter, dass ich ein neues Geschwisterchen bekommen würde. Ich saß neben ihr auf dem Sofa und sah mir im Fernsehen eine meiner Lieblingssendungen, Spiele ohne Grenzen, an. Meine Mutter amüsierte sich köstlich über die Teilnehmer, die sperrige Schaumstoffteile in Form von Hamburger-Zutaten trugen und gleichzeitig versuchten, einen riesigen aufblasbaren Hindernisparcours zu überwinden. Die Aufgabe der Teilnehmer bestand darin, den jeweiligen Gegenstand einem Teammitglied zu übergeben, das am Ende des Parcours wartete. Dann ging es zurück zum Start, damit ein anderes Teammitglied losrennen und etwas überbringen konnte. Weil die Gegenstände so groß waren, gab es jede Menge Fehlstarts, Stürze und lustige Situationen, über die wir herzhaft lachten.
Während ich mich an meine Mutter schmiegte, fiel mir auf, wie dick ihr Bauch geworden war, und ich fragte sie nach dem Grund.
»Weil da drin ein Baby ist«, verriet sie mir.
An die darauffolgenden Monate kann ich mich kaum erinnern, ich weiß nur noch, dass der Bauch meiner Mutter immer dicker wurde. Dann war sie für ein paar Tage fort, und als sie zurückkehrte, war sie dünner und trug meinen kleinen Bruder Billy im Arm.
Meine Mutter war blass und müde und erzählte mir, dass sie im Krankenhaus kaum Schlaf bekommen habe. Wie so oft ignorierte sie meine Bedürfnisse, sie gab mir nichts zu essen und ließ die Hausarbeit liegen.
Nach einer Woche kam die Schwester meiner Mutter, Tante Janet, für eine Weile zu uns. Sie wusch die Berge schmutziger Kleidung und Bettwäsche, und die schmutzigen Stoffwindeln, die aus dem übervollen Windeleimer im Bad quollen, weichte sie in Bleichmittel ein. Dreimal am Tag stand eine selbst zubereitete Mahlzeit auf dem Tisch. Tante Janet übernahm am Abend auch mein Bade- und Eincremeritual, zog mir das Nachthemd an und las mir eine Gutenachtgeschichte vor.
Unsere Haustür stand immer offen für Freunde und Verwandte, die das neue Baby sehen wollten. Und jeder Besucher brachte Geschenke mit und bestaunte den winzigen Billy. Das Wohnzimmer war voll mit Kuscheltieren, selbst gestrickten Jäckchen, Mützchen und Strampelanzügen in Hellblau oder Weiß. Eine flauschige Decke, an der meine Mutter viele Stunden lang gehäkelt hatte, lag über der Wiege.
»Was sagst du zu deinem kleinen Bruder?« Das war plötzlich die einzige Frage, die man mir stellte. Ansonsten interessierte sich niemand für mich. Alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf Billy, und meine Mutter hatte kaum noch Zeit für mich. Es war das Baby, mit dem sie kuschelte und redete, nicht mit mir.
Ich fühlte mich zurückgewiesen und einsam und betrachtete unseren winzigen glucksenden Familienzuwachs voller Feindseligkeit. Seit seinem Auftauchen kümmerte sich nur noch mein Vater um mich. »Du bist mein ganz besonderes kleines Mädchen«, sagte er immer wieder, und ich, gierig nach Zuneigung, kuschelte mich an ihn.
Meine Tante reiste schließlich wieder ab, weil sie zurück zu ihrer eigenen Familie musste, und nun waren es wieder die großen Hände meines Vaters, die mich am ganzen Körper eincremten.
»Ich will, dass Mami das macht«, protestierte ich.
»Deine Mutter hat zu viel mit dem Baby zu tun, um dich ins Bett zu bringen«, entgegnete er jedes Mal. Dann nahm er mich mit festem Griff an der Hand und führte mich aus dem Zimmer.
»Du bist doch ein braves kleines Mädchen, nicht wahr, Sally? Du würdest alles tun, worum ich dich bitte, stimmt's?« Und als ich nickte, ging er mit seinen Berührungen zur nächsten Stufe über. Vermutlich wusste er, dass meine Mutter gerade vollauf damit beschäftigt war, Billy zu füttern. Er nahm meine kleine Hand und legte sie vorn auf seine Hose. Dann drückte er meine Hand gegen den Stoff und bewegte sie hoch und runter. Aus Angst, den einzigen Menschen zu verärgern, für den ich anscheinend noch wichtig war, leistete ich keinen Widerstand und rieb über die Stelle. Durch den Stoff der Hose fühlte es sich hart an, und als ich tat wie angewiesen, spürte ich, wie etwas zuckte, als würde es zum Leben erwachen. Der heiße Atem meines Vaters drang in mein Ohr, während er meine Finger immer schneller bewegte, bis ich spürte, wie seine Knie zuckten und ein Zittern durch seinen Körper lief. Mit einem Seufzen löste er dann seine Hand und schob mich weg. Ich mochte ihn nicht so anfassen. Das Gefühl, wie sich dieses harte Ding bewegte, und der heiße Atem meines Vaters an meiner Wange stießen mich ab.
Kapitel 6
Es war mein vierter Geburtstag. Das weiß ich deshalb so genau, weil meine Mutter es mir sagte, als sie mich morgens weckte. Nachdem sie mich nach unten gebracht hatte, zeigte sie auf eine schmale blaue Schachtel neben meinem Frühstücksteller.
»Das ist für dich, Sally«, sagte sie. »Es ist dein Geschenk.«
Ich öffnete die Schachtel und fand darin ein silbernes Armband.
»Sieh hier! Wenn du größer wirst, kannst du es erweitern«, sagte meine Mutter und zeigte mir, wie man das Armband verstellen konnte. Dann legte sie es mir um.
»Du hast noch ein Geschenk«, verriet sie mir und wies auf ein riesiges Paket in bunt gemustertem Geschenkpapier, das mit einer goldenen Schleife verschnürt war und auf dem Küchenboden stand. »Warte, ich helfe dir«, bot sie an, als ich mit der Verpackung kämpfte.
Nach einer paar Schnitten mit der Schere fiel das Papier ab und enthüllte ein Puppenhaus aus lackiertem Holz.
Vorn ließ es sich öffnen, und im Innern entdeckte ich winzige Holzmöbel und eine Puppenfamilie. Ich juchzte vor Freude. Genau so ein Haus hatte ich im Schaufenster eines Spielwarengeschäfts bestaunt und meiner Mutter gesagt, dass ich noch nie etwas Schöneres gesehen hätte. Aber ich hatte nicht im Traum damit gerechnet, jemals so etwas zu besitzen.
»Ich habe es selbst gemacht«, sagte mein Vater schroff.
»Ja, er hat Stunden damit verbracht und ganz allein in dem alten Schuppen gearbeitet«, fügte meine Mutter stolz hinzu.
Mein Vater breitete die Arme aus, und ich stürzte mich hinein, um mich umarmen zu lassen. Ich spürte seine kratzigen Bartstoppeln an meiner Wange. Er hob mich auf seinen Schoß.
»Gefallen dir deine Geschenke?«, fragte er.
Ich nickte begeistert.
»Dann gib deinem Daddy einen dicken Kuss.«
Gehorsam presste ich meine Lippen auf seine Wange.
»Pass auf, Sally, ich zeige dir etwas. Siehst du diesen winzigen Schalter?« Er legte ihn mit dem Finger um, und kleine Lampen leuchteten hinter den Fenstern auf.
Vor Begeisterung war ich sprachlos. Schließlich begann ich, vorsichtig mit dem Puppenhaus zu spielen.
»Sally«, sagte meine Mutter kurz darauf, »geh in den Garten, solange ich hier aufräume.« Zögernd ließ ich meinen kostbaren neuen Besitz zurück und ging nach draußen, um mit dem Hüpfball zu spielen.
Später an diesem Tag führte meine Mutter mich nach oben in mein Zimmer und zeigte aufs Bett: Dort lag ein neues blassrosafarbenes Baumwollkleidchen, das mit winzigen pinkfarbenen Rosenknospen bestickt war.
»Ein neues Kleid für mein besonderes Geburtstagskind«, sagte sie. »Oma und deine Tanten, Cousins und Cousinen kommen zum Tee«, fügte sie hinzu. Sie fing an, mein Haar zu bürsten, bis es glänzte, sie wusch mein Gesicht und streifte mir dann das neue Kleid über meine Schultern. Danach stellte meine Mutter mich vor den Spiegel. »Siehst du, wie hübsch du bist?«
Ich strahlte ihr lächelndes Spiegelbild an.
Als meine Oma, die Tanten und ihre Kinder zum Tee eintrafen, brachten sie noch mehr Geschenke mit, und dieses Mal stand nicht Billy, sondern ich im Zentrum der Aufmerksamkeit. »Happy Birthday, liebe Sally, happy birthday to you«, sangen alle gemeinsam. Ich wurde gedrückt und geküsst, und dann wurden mir Pakete in den unterschiedlichsten Formen und Größen überreicht.
»Na los, Sally, du darfst sie öffnen«, forderte meine Mutter mich auf.
Als Erstes öffnete ich das Paket meiner Großmutter. Es war eine Tiny-Tears-Babypuppe, die ich mir schön länger gewünscht hatte. Oma zeigte mir, wie ich der Puppe die mit Wasser gefüllte Trinkflasche zwischen die rosigen Lippen schieben konnte und anschließend die feuchten Windeln wechseln musste. In den anderen Paketen waren Bilderbücher, noch mehr neue Anziehsachen und in dem letzten, einem Geschenk von meiner unverheirateten Tante, ein winziges Teeservice.
»Jetzt kannst du mit deinen Puppen eigene Teepartys feiern«, erklärte sie mir.
Pete kam direkt nach der Schule nach Hause, um pünktlich zum Tee da zu sein. Sobald er den Raum betrat, überreichte er mir ein mit einer Kordel verschnürtes Päckchen. »Herzlichen Glückwunsch, Sally«, sagte er und wurde rot. In dem Päckchen waren ein Spiegel und Bilder im Miniaturformat. »Für dein Puppenhaus«, erläuterte er. »Ich wusste, dass Dad dir eins baut.«
Über sein Geschenk freute ich mich am meisten, denn trotz meiner Bemühungen, seine Aufmerksamkeit zu erringen, ignorierte er mich die meiste Zeit über.
Als meine Mutter die Geburtstagstorte hereintrug, verstand ich plötzlich, warum ich morgens zum Spielen in den Garten geschickt worden war. Mit weißer Schrift stand oben auf der rosafarbenen Glasur: »Happy Birthday, Sally«, und in der Mitte brannten vier Kerzen. Für jedes Lebensjahr eine, wie man mir sagte.
»Du musst sie auspusten, Sally«, forderten mich alle wie aus einem Munde auf.
»Und dabei darfst du dir etwas wünschen«, erklärte meine Mutter.
Ich blähte meine Wangen auf, pustete mit aller Kraft und quietschte vor Begeisterung, als die Flammen flackerten und erloschen. Aber ich war so aufgeregt, dass ich ganz vergaß, mir etwas zu wünschen. Noch heute frage ich mich, ob die Dinge anders gelaufen wären, wenn ich es nicht vergessen hätte.
An diesem Abend brachte mein Vater mich ins Bett. Trotz meines Protests, dass Mami mich ins Bett bringen solle, führte er mich aus dem Zimmer. Sobald wir im Badezimmer waren, lief dasselbe Ritual ab wie immer. Zuerst badete er mich, dann setzte er mich nackt auf sein Knie. Dieses Mal jammerte ich laut, er verderbe mir meinen Geburtstag, sodass es meine Mutter ins Badezimmer lockte.
Als sie den Raum betrat, sah sie, wie mein Vater mir gerade den Pyjama über meinen kleinen zappelnden Körper zog. »Was ist los, Sally? Warum weinst du?« Da ich nicht antwortete, wandte sie sich meinem Vater zu. »Was hat sie denn? Warum ist sie so aufgebracht?«
»Ach, es ist nichts, Laura. Sie ist ausgerutscht und hingefallen. Das ist alles, nicht wahr, Sally?«
Ich versuchte, die Tränen zu stoppen, und antwortete: »Ja.« Und mit diesem einen falschen Wort hatte ich meine Einwilligung gegeben.
Meine Mutter stand einen Moment lang da und sah ihrem Mann in die Augen. Offenbar zufrieden mit der Erklärung, drehte sie sich dann um und verließ schweigend das Badezimmer. Wenn ich alt genug gewesen wäre, um den Ausdruck in ihrem Gesicht zu deuten, was hätte ich dann gesehen? Misstrauen? Eine leise Ahnung? Oder beides, gefolgt von Resignation? Ihrem Verhalten zwei Jahre später nach zu urteilen, war es das Dritte.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von SALLY EAST
Sally East verlor als Sechsjährige ihre depressive und alkoholkranke Mutter. Vom Vater wurde sie jahrelang missbraucht und von der Stiefmutter drangsaliert. Sally wurde später Altenpflegerin. Sie konnte keine Liebe für einen Mann empfinden, bis sie nach einem Zusammenbruch in einer Klinik behandelt wurde und dort einen anderen Patienten kennen und lieben lernte.Toni Maguire lebt in Norfolk. Ihre Autobiographie "Kein Wort zu Mami" wurde zum Bestseller. Inzwischen hilft sie anderen Menschen, ihre Lebensgeschichte in Worte zu fassen.
Bibliographische Angaben
- Autor: SALLY EAST
- 2013, 1, 272 Seiten, Maße: 13,9 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863650956
- ISBN-13: 9783863650957
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