Kauri Trilogie Band 3: Die Tränen der Maori-Göttin
Roman
Neuseeland, 1899: Lizzie und Michael müssen ihren Sohn Kevin ziehen lassen. Er dient als Stabsarzt im Burenkrieg. Für Roberta ist das ein Schock und sie versucht alles, ihre Beziehung zu Kevin zu retten. Gleichzeitig beginnt Matarikis Tochter...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Kauri Trilogie Band 3: Die Tränen der Maori-Göttin “
Neuseeland, 1899: Lizzie und Michael müssen ihren Sohn Kevin ziehen lassen. Er dient als Stabsarzt im Burenkrieg. Für Roberta ist das ein Schock und sie versucht alles, ihre Beziehung zu Kevin zu retten. Gleichzeitig beginnt Matarikis Tochter Atamarie als einzige Frau an der Universität mit dem Studium der Ingenieurswissenschaften. Kurz darauf lernt sie den Flugpionier Richard kennen.
Klappentext zu „Kauri Trilogie Band 3: Die Tränen der Maori-Göttin “
Neuseeland, 1899: Lizzie und Michael verabschieden ihren Sohn nach Südafrika. Kevin, junger Mediziner und verwegener Reiter, zieht als Stabsarzt in den Burenkrieg. Für Roberta bricht damit eine Welt zusammen; sie ist entschlossen, für ihr gemeinsames Glück zu kämpfen - und ihr Wagemut ist dabei grenzenlos. Auch Matarikis Tochter Atamarie stellt sich einer großen Herausforderung: Sie schreibt sich als einziges Mädchen an der Universität für Ingenieurswissenschaften ein. Seit ihrer Kindheit faszinieren sie die Lenkdrachen der Maori. Das bringt sie mit dem Flugpionier Richard Pearce zusammen - und verlangt von ihr eine folgenschwere Entscheidung ...
Lese-Probe zu „Kauri Trilogie Band 3: Die Tränen der Maori-Göttin “
Die Tränen der Maori-Göttin von Sarah LarkProlog
Neuseeland
Parihaka
1894
... mehr
Langsam senkte sich die Dämmerung über die Berge und die See. Die Sonne, die jetzt, im Winter, ohnehin nicht hoch am Himmel gestanden hatte, ließ sich gelassen ins Meer gleiten, während ihre letzten Strahlen den majestätischen Mount Taranaki in rotgoldenes Licht tauchten.
Die Spitze des Berges war schneebedeckt und bildete eine beeindruckende Kulisse für das Dorf Parihaka. Wie ein Wächter, pflegte Atamaries Mutter zu sagen, wir freuen uns an seiner Schönheit und fühlen uns sicher in seinem Schatten.
Atamarie fand das manchmal ein bisschen befremdlich - schließlich lernte sie in der Schule, dass der Mount Taranaki ein Vulkan war und keineswegs ein friedlicher! Vor hundertfünfzig Jahren war er das letzte Mal ausgebrochen, und theoretisch konnte das jederzeit wieder passieren. Ihre Mutter winkte jedoch ab, wenn Atamarie ihr das vorhielt. Aber nein, Atamarie, die Götter werden jetzt Frieden halten, die Zeit der Kriege ist vorbei, sagte sie. Und dann erzählte sie Atamarie und den anderen Kindern die Legende rund um den Gott des Mount Taranaki, der sich mit einem anderen Berggott um die Liebe einer Waldgöttin stritt. Die Göttin Pihanga entschied sich schließlich für seinen Rivalen, und Taranaki zog sich nach dem Kampf mit den anderen Berggöttern verärgert an die Küste zurück. Damit kam der Krieg in ihre Welt und auch in die der Menschen. Aber es gab Hoffnung. Irgendwann würde Taranaki einlenken, und wenn die Götter sich dann wieder vertrugen, konnten auch die Menschen mit dauerhaftem Frieden rechnen.
Die meisten Kinder lauschten diesen Geschichten mit offenen Mündern und voller Ernst, aber Atamarie interessierte sich eigentlich mehr für die vulkanische Aktivität des Mount Taranaki und ihre Auswirkungen auf das Land. Ihre Lieblingsfächer in der Otago Girls' School in Dunedin waren Mathematik, Physik und Geografie. Für romantische Geschichten war eher ihre Freundin Roberta zuständig.
Insofern hatte Atamarie auch an diesem Abend wenig Sinn für die Erzählungen und Lieder der alten Menschen in Parihaka, die den Kindern von der Sternkonstellation berichteten, die sich in dieser oder einer der nächsten Nächte am Himmel zeigen sollte: von Matariki - den Augen des Gottes Tawhirimatea - oder von einer Mutter mit sechs Töchtern, auf dem Weg, der erschöpften Sonne zu helfen, sich nach dem Winter erneut zu erheben ... Für Atamarie waren es einfach die Plejaden, die jeden Winter um diese Zeit am Himmel über Neuseeland in Sicht kamen. Sehr nützlich zur Bestimmung der Wintersonnenwende und früher auch für die Navigation auf dem Meer zwischen Hawaiki, der ursprünglichen Heimat der Maori, und Aotearoa, dem Land, in dem sie heute lebten und das die Weißen Neuseeland nannten. Und sehr hübsch anzusehen natürlich am nächtlichen Himmel. Die Magie der Sterne erschloss sich Atamarie allerdings nicht, und den Sagen und Märchen rund um Matariki lauschte sie stets nur mit halbem Ohr.
Dafür interessierte sie sich umso mehr für die Funktion der Erdöfen, welche die Bewohner Parihakas zuvor mit Gemüse und Fleisch befüllt hatten. Dies gehörte zur Zeremonie des Neujahrsfestes, das die Maori beim Auftauchen der Plejaden Ende Mai oder Anfang Juni begingen.
Atamarie linste begeistert in die glühend heißen Höhlen, welche die Männer schon am Vormittag ausgehoben hatten. Hangi nutzten die vulkanische Aktivität des Taranaki zum Garen der Speisen. Man wickelte Fleisch und Gemüse in Blätter, legte sie in Körbe und stellte sie auf die kochend heißen Steine. Anschließend wurden sie mit nassen Tüchern bedeckt, und dann verschloss man die Grube mit Erde. Im Laufe der nächsten Stunden sollten die Speisen garen - und möglichst genau dann fertig sein, wenn das Sternbild Matariki am Himmel aufleuchtete.
Atamarie sah genauso begierig nach den Sternen aus wie die anderen Kinder. Sie freute sich auf das Fest, schließlich war sie extra dafür aus Dunedin auf die Nordinsel gekommen. Wobei natürlich nicht sicher war, dass die Plejaden sich wirklich während der kurzen Winterferien zeigen würden. Aber Matariki und Kupe, Atamaries Mutter und ihr Stiefvater, hatten es darauf ankommen lassen.
»Du musst das Neujahrsfest mal in Parihaka erleben!«, hatte Matariki, die nach dem Sternbild benannt worden war, geschrieben. Viele Maori-Namen bezeichneten ursprünglich Naturphänomene - Atamarie hieß nach dem Sonnenaufgang. »Es hat hier einen besonderen Zauber.«
Atamarie verdrehte ein bisschen die Augen. Für ihre Eltern hatte alles, was mit Parihaka zusammenhing, einen besonderen Zauber. Sie hatten schon lange vor Atamaries Geburt in dem berühmten Dorf gelebt, damals, als der Prophet Te Whiti hier noch den Frieden zwischen den Weißen, den pakeha, und den Maori gepredigt hatte. Kupe hatte im Gefängnis gesessen, nachdem das Dorf dann von den Engländern gestürmt und die Bewohner enteignet worden waren. Und Matariki war mit dem Mann fortgelaufen, der Atamaries Vater werden sollte.
Sehr viel später war Te Whiti allerdings nach Parihaka zurückgekehrt und mit ihm viele seiner treuen Anhänger. Sie hatten das Dorf wieder aufgebaut und waren dabei, es erneut zu einem spirituellen Zentrum der ersten Siedler Neuseelands werden zu lassen. Diesmal allerdings weniger von Träumen getragen als von Verträgen und sicheren Absprachen. Kupe und Matariki hatten ihr Stück Land von der Regierung Taranakis gekauft - auch wenn sie es nach wie vor nicht richtig fanden, den Weißen Geld für ihr eigenes Stammland zu geben. Kupe, inzwischen Rechtsanwalt, hatte einige Klagen angestrengt. Es war recht wahrscheinlich, dass Te Whiti und sein Stamm Entschädigungszahlungen erhalten und auf Dauer ihr Land zurückbekommen würden.
Die Menschen jedenfalls kamen wieder, und es gab auch erneut Kinder in Parihaka, die Matariki in einer neuen Schule unterrichtete. An eine High School war vorerst allerdings nicht zu denken. Atamarie besuchte deshalb eine renommierte Mädchenschule in Dunedin und verbrachte die Wochenenden abwechselnd bei ihren Großeltern und in der Familie ihrer Freundin Roberta.
Parihaka konnte Atamarie nur in den Ferien besuchen, was sie wunderbar fand. Sie freute sich auf ihre Eltern und das freie Leben im Maori-Dorf, in dem es sehr viel weniger Regeln und Verbote gab als in der Otago Girls' School. Einige Wochen Flachsweben, Tanzen und Spielen der traditionellen Maori-Musikinstrumente, Fischen und Arbeit auf den Feldern genügten ihr aber stets. Das Motto von Parihaka Wir wollen die Welt zu einem besseren Ort machen! kam Atamaries Neigungen zwar entgegen, allerdings hatte sie völlig andere Vorstellungen als die Leute, die in Parihaka die traditionellen Künste des Maori-Volkes unterrichteten. Immer wenn das Mädchen Anstrengungen machte, etwas konkret zu verbessern - den Webrahmen zum Beispiel, an dem sie Flachs weben sollte, oder die Reuse zum Fischefangen -, lehnte man seine Vorschläge empört ab. Und manchmal fielen sogar unfreundliche Worte über Atamaries pakeha-Abstammung, worüber sich Matariki mehr aufregte als ihre Tochter. Atamarie war es gänzlich egal, wie viele ihrer Vorfahren aus dem einen oder dem anderen Volk stammten. Sie wollte nur nicht mehr Stunden mit Webarbeiten verbringen als unbedingt nötig, und sie hatte keine Lust, Fische zu verlieren, weil die Reuse nicht richtig schloss.
Am Ende der Ferien würde sie froh sein, Parihaka wieder verlassen und nach Dunedin zurückkehren zu können. Die Otago Girls' School war eine äußerst moderne Einrichtung, und die Lehrerinnen unterstützten Erfindungsreichtum bei ihren Schülerinnen.
Jetzt aber stand das Neujahrsfest der Maori bevor, und irgendwann mussten die Plejaden erscheinen. Die alten Leute wachten bereits die dritte Nacht in Folge, obwohl das eigentlich sinnlos war. Wenn die Sterne in Sicht kamen, so in der Regel gleich nach Sonnenuntergang.
»Es ist eine Zeit des Wartens und des Sicherinnerns, Atamarie «, erklärte Matariki. »Die alten Leute denken über das Gestern, Heute und Morgen nach, über das alte Jahr und das neue ... Da ist es gar nicht so wichtig, ob die Sterne an diesem Tag erscheinen oder an einem anderen.« Atamarie verstand das zwar nicht, aber es zwang sie natürlich auch keiner dazu, wach zu bleiben. Wenn das Essen gar und verspeist war und die Erwachsenen noch Musik machten und redeten, verzogen sich die Kinder schon in die Schlafhäuser, kuschelten sich aneinander und erzählten Geschichten. Für Atamarie war das dann fast wie im Internat in Dunedin - nur dass hier nicht mit dem Auftauchen einer Lehrerin zu rechnen war, die ihre Zöglinge energisch zur Ordnung rief.
Nun sah sie gemeinsam mit den anderen Kindern zu, wie die Sonne in der Tasmansee versank. Das Licht über dem Ackerland rund um Parihaka wurde diffus, und nur der Schnee vom kegelförmigen Gipfel des Berges leuchtete noch ein wenig golden. Der Himmel verdunkelte sich rasch - und plötzlich sah Atamarie die Sterne! Strahlend hell und klar stiegen die Plejaden auf über dem Meer, angeführt von dem größten der sieben Sterne: Whanui.
Die Kinder begannen sofort, die Sternformation mit dem traditionellen Lied zu begrüßen, das ihre Lehrerin Matariki ihnen beigebracht hatte:
» Ka puta Matariki ka rere Whanui. Ko te tohu tena o te tau e!«
Matariki ist zurück! Whanui beginnt seinen Flug. Das Zeichen für ein neues Jahr!
»Und ein gutes Zeichen!«, freute sich Atamaries Mutter und nahm ihren Mann und ihre Tochter in die Arme. Kupe war extra von Wellington nach Parihaka gekommen, um das Neujahrsfest mit ihnen zu feiern. Er hatte oft dort zu tun, unter anderem bewarb er sich um einen der Maori-Sitze im Parlament. Jetzt küsste er Matariki und Atamarie und hörte zu, wie seine Frau die Zeichen deutete.
»Wenn die Sterne so klar am Himmel stehen, gibt es einen kurzen Winter, und wir können die Einsaat schon im September ausbringen«, belehrte sie ihre Familie und ihre Schüler. »Wenn sie dagegen verhangen wirken und nah beieinanderstehen, als müssten sie sich aneinander wärmen, dann wird der Winter hart, und das Pflanzen beginnt erst im Oktober.«
Atamarie runzelte mal wieder die Stirn. Ihre Lehrerin in Dunedin hätte wahrscheinlich nur ein paar Wolken dafür verantwortlich gemacht, wenn man die Sterne schlecht gesehen hätte. Atamarie stellte sich im Moment andere Fragen.
»Warum weinen die Großmütter eigentlich, Mommy?«, erkundigte sie sich. Die alten Leute waren beim Anblick der Sterne in Weinen und Wehklagen ausgebrochen. »Es ist doch schön, dass die Sterne da sind! Und ein neues Jahr!«
Matariki nickte und strich ihr langes schwarzes Haar zurück. »Ja, aber die Alten denken noch an das letzte Jahr. Sie nennen den Sternen die Namen der Menschen, die seit ihrem letzten Auftauchen verstorben sind, und beten für sie. Und dann beweinen sie die Toten zum letzten Mal, bevor das neue Jahr beginnt.«
Die alten Leute hatten nun auch begonnen, die hangi zu öffnen, wobei ihnen Kupe und die anderen Männer gleich halfen. Kurz darauf stieg aromatischer Duft aus den Erdöfen zum Himmel.
»Der Duft nährt die Sterne«, verriet Matariki, »und gibt ihnen Kraft nach ihrer langen Reise.« Atamarie lief das Wasser im Munde zusammen, aber bevor sich die Menschen von den Speisen aus den Erdöfen nährten, gab es noch verschiedene Begrüßungszeremonien für die Sterne. Junge und Alte sangen und tanzten die traditionellen haka. Dazu ließen die Erwachsenen Bier- und Weinkrüge und Whiskeyflaschen kreisen, und Matariki und Kupe wurden wie immer wehmütig und sprachen mit ihren Freunden über die alten Zeiten in Parihaka. Wenn man ihnen glaubte, war das Leben damals ein einziges Fest gewesen. Das Dorf war angefüllt mit jungen Menschen aus allen Teilen Aotearoas, und jeden Abend gab es Lachen, Musik und Tanz.
Die meisten Erwachsenen verbrachten die gesamte Neujahrsnacht draußen an den Feuern, aber Atamarie und die anderen Kinder schliefen irgendwann ein - um gleich am nächsten Morgen wieder mit Feuereifer dabei zu sein. Am Neujahrstag ging das Fest schließlich weiter, wieder wurde getanzt, gesungen, wurden Spiele gespielt, und vor allem holten die Jungen ihre Fluggeräte hervor. Drachen zu bauen gehörte zu den Traditionen Aotearoas, die in Parihaka lebendig gehalten wurden.
Das Maori-Wort dafür war manu.
Ein paar Fachleute in der Kunst des Drachenbaus hatten denn auch in den letzten Wochen im Dorf unterrichtet. Aber als Atamarie aus Dunedin gekommen war, hatten alle Männer und Kinder aus dem Dorf bereits ihre Arbeiten beendet, sie selbst hatte nicht mehr mitmachen können. Insofern stand sie jetzt mit leeren Händen daneben, während die anderen dem großen Augenblick entgegenfieberten, ihre manu als Mittler zwischen der Welt und den Sternen, den Göttern und den Menschen in den Himmel zu schicken. Natürlich war sie etwas traurig, den Lehrgang verpasst zu haben, aber dennoch konnte Atamarie es kaum abwarten, die Drachen fliegen zu sehen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Mädchen bewunderte sie nicht in erster Linie den bunten Schmuck der manu, bestehend aus Federn und Muscheln, oder die kunstvolle Bemalung, die ihnen Gesichter gab und sie zu birdmen - Vogelmenschen - machte. Atamarie war es wichtiger, herauszufinden, warum sich diese flachen, aber doch recht schweren Gestelle aus Holz und Blättern überhaupt in die Lüfte erhoben.
Sie schlenderte zu einem der Jungen hinüber, der einen besonders großen, liebevoll mit Rauten und Stammeszeichen verzierten Drachen flugfertig machte. »Der hat gar keinen Schwanz«, bemerkte sie.
Der Junge sah sie stirnrunzelnd an. »Wieso sollte ein manu einen Schwanz haben?«, erkundigte er sich. »Weil pakeha-Drachen einen haben«, belehrte ihn Atamarie. »Ich hab's auf Bildern gesehen.«
Der Junge zuckte die Schultern. »Da hat der tohunga nichts von gesagt. Nur dass man ein Gestänge braucht und eine Leine - oder zwei, wenn man lenken will. Aber das hat er uns noch nicht gezeigt. Das sei zu schwierig, meint er.«
Dennoch hatte der Junge zwei Schnüre aus Flachs an seiner Konstruktion angebracht.
»Erst mal muss das Ding aber überhaupt in die Luft«, konstatierte Atamarie. »Wie geht das? Warum steigt ein manu?«
»Durch den Atem der Götter«, antwortete der Junge. »Der manu tanzt mit ihrer Lebenskraft.«
Atamarie runzelte die Stirn. »Also durch den Wind«, sagte sie dann. »Aber wenn nun kein Wind ist?«
»Wenn die Götter ihm den Segen versagen, fliegt er nicht«,
antwortete der Junge. »Es sei denn, man lässt ihn irgendwo heruntersegeln, von einer Klippe oder so. Aber dabei vermittelt er keine Botschaften an die Götter, er tanzt ja nicht hoch, sondern gleitet nur herunter. Und außerdem ist er dann natürlich weg.« Der Junge machte sich an den Seilen seines gewaltigen Drachens zu schaffen. Atamarie half ihm, das Fluggerät aufzustellen. »Er ist fast so groß wie ich«, meinte sie. »Glaubst du, man könnte ihn sozusagen, hm ... reiten? Und mitfliegen?«
Atamarie reizte das weitaus mehr als die Kommunikation mit den Göttern.
Der Junge lachte. »Soll jedenfalls mal einer gemacht haben. Ein Häuptling der Ngati Kahungunu - Nukupewapewa. Er wollte das Pa Maungaraki erobern, aber es klappte nicht, seine Krieger konnten die Mauern des Forts nicht überwinden. Deshalb baute er einen riesigen manu aus Raupo-Blättern in der Form eines Vogels mit weit gespreizten Federn. Daran band er einen Mann fest und ließ den Drachen von einem Felsen oberhalb des Pa heruntersegeln. Er landete im Fort, und der Flieger öffnete den Eroberern die Tore.«
Atamarie lauschte mit leuchtenden Augen. »Deiner ist auch ein manu raupo«, stellte sie fest. »Du musst weit gelaufen sein, ich wüsste gar nicht, wo hier Raupo wächst.« Raupo war eine schilfartige Pflanze und wuchs in flachen Gewässern. Der Junge lächelte verschmitzt und ein bisschen, als habe sie ein Geheimnis gelüftet. »Jaaa ...«, sagte er dann, »war auch nicht einfach, ihn zu finden. Aber die Mühe lohnt sich vielleicht Der Wunsch, den er an die Götter richten wollte, stand ihm im Gesicht geschrieben.
»Rawiri! Was machst du denn? Willst du den Drachen nicht endlich steigen lassen?«
Der Junge zuckte zusammen, als er die Stimme des tohunga hörte. Tatsächlich hatten sowohl er als auch Atamarie den Start der ersten Drachen verpasst, die meisten Jungen hatten ihre Fluggeräte bereits in den Wind gehalten und sahen nun fasziniert zu, wie sie aufstiegen. Die Priester von Parihaka beteten und sangen dazu, die Drachen sollten ihre Wünsche und ihren Segen hinauf zu den Sternen tragen. Atamarie verlor sich ein paar Herzschläge lang in dem wunderschönen Anblick der bunten manu vor dem auch heute sehr klaren Winterhimmel. Auch der Meister hatte seinen gewaltigen manu aute jetzt in die Lüfte gesandt und lenkte ihn geschickt zwischen all den kleineren Drachen seiner Schüler hindurch. Rawiri kämpfte allerdings noch mit seinen zwei Schnüren und dem Problem, dass er allein kaum mit dem sehr großen Drachen fertig wurde.
»Soll ich ihn mal hochhalten?«, fragte Atamarie begierig. Der Junge nickte. Und dann griff das Mädchen nach dem Drachen und wurde fast umgerissen von der Gewalt, mit der ihn der Wind aus seinen Händen zog. Der Drachen stieg steil in den Himmel, aber als Rawiri den ersten Versuch machte, seine Bahn zu beeinflussen, indem er die rechte Leine stärker anzog als die linke, stürzte er genauso steil ab.
Atamarie und Rawiri rannten gleichermaßen erschrocken und bestürzt auf den gefallenen Drachen zu, aber zum Glück war er nicht beschädigt.
»Jedenfalls ist nichts Wichtiges kaputt«, meinte Atamarie.
Nur der Feder- und Muschelschmuck hatte ein bisschen gelitten. Rawiri runzelte die Stirn und suchte hektisch nach einer Möglichkeit, die Verzierung wieder in Ordnung zu bringen. »Der tohunga meint, das sei durchaus wichtig. Der Drachen sieht durch die Augen aus Muscheln, und die Bemalung ist unsere Botschaft an die Götter ...«
Tohunga waren nicht nur Fachleute auf speziellen Gebieten wie Drachenbau, Jadeschnitzen, Musik oder Heilkunst, sondern hielten auch Kontakt zu den für ihre Künste zuständigen Geistern.
Atamarie zuckte die Schultern. »Also zu den Göttern muss er ja erst mal raufkommen«, bemerkte sie dann. »Lass es uns noch mal probieren. Die Botschaft können wir dann schicken, wenn wir wissen, dass es klappt.« Sie hatte auf keinen Fall Lust, jetzt noch zu warten, bis Rawiri den Schmuck erneuert hatte.
Stattdessen schaute sie nun aufmerksamer zum Himmel und konzentrierte sich auf den Drachen des tohunga, der Rawiris abgestürzten Vogel eben etwas schadenfroh musterte. Natürlich, er hatte ihm gleich gesagt, es sei für Anfänger zu schwierig, einen Lenkdrachen zu bauen. Aber Atamaries Ehrgeiz war jetzt geweckt.
»Du musst die Leinen weiter außen festmachen«, schlug sie vor. »Und tiefer. Und das Beste wäre überhaupt, wir hätten vier ...«
Rawiri schien ein bisschen in seiner Ehre gekränkt, aber nach einem weiteren erfolglosen Versuch fixierte er die Schnüre tatsächlich so, wie Atamarie es wollte. Mit verblüffendem Erfolg! Der Drachen stieg wieder schnell auf, stand diesmal aber viel sicherer in der Luft, und als Rawiri einen vorsichtigen Lenkversuch machte, folgte er gehorsam seinem Leinenzug. »Es geht! Er fliegt, er fliegt! Er fliegt, wohin ich will!«
Rawiri jubelte. Sein vogelartiger Drachen behauptete sich stolz neben dem dreieckigen des Meisters.
»Willst du auch mal?«, fragte er großzügig.
Atamarie griff ohne Zögern nach der Schnur. Sie war das einzige Mädchen, das hier die Leinen eines manu hielt, aber das störte sie nicht. In großen Schwüngen lenkte sie den Drachen über den Himmel.
»Ich glaube, sie stimmt, diese Legende von den Ngati Kahungunu«, meinte Rawiri. »Man kann mitfliegen. Wie ein Vogel. Der Drachen muss nur groß sein und die Götter auf seiner Seite haben.«
Atamarie nickte. Natürlich konnte man mitfliegen, der Wind hätte sie ja eben schon fast mit hochgerissen. Aber ... »Es muss auch ohne Wind gehen«, gab sie entschieden zurück.
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Langsam senkte sich die Dämmerung über die Berge und die See. Die Sonne, die jetzt, im Winter, ohnehin nicht hoch am Himmel gestanden hatte, ließ sich gelassen ins Meer gleiten, während ihre letzten Strahlen den majestätischen Mount Taranaki in rotgoldenes Licht tauchten.
Die Spitze des Berges war schneebedeckt und bildete eine beeindruckende Kulisse für das Dorf Parihaka. Wie ein Wächter, pflegte Atamaries Mutter zu sagen, wir freuen uns an seiner Schönheit und fühlen uns sicher in seinem Schatten.
Atamarie fand das manchmal ein bisschen befremdlich - schließlich lernte sie in der Schule, dass der Mount Taranaki ein Vulkan war und keineswegs ein friedlicher! Vor hundertfünfzig Jahren war er das letzte Mal ausgebrochen, und theoretisch konnte das jederzeit wieder passieren. Ihre Mutter winkte jedoch ab, wenn Atamarie ihr das vorhielt. Aber nein, Atamarie, die Götter werden jetzt Frieden halten, die Zeit der Kriege ist vorbei, sagte sie. Und dann erzählte sie Atamarie und den anderen Kindern die Legende rund um den Gott des Mount Taranaki, der sich mit einem anderen Berggott um die Liebe einer Waldgöttin stritt. Die Göttin Pihanga entschied sich schließlich für seinen Rivalen, und Taranaki zog sich nach dem Kampf mit den anderen Berggöttern verärgert an die Küste zurück. Damit kam der Krieg in ihre Welt und auch in die der Menschen. Aber es gab Hoffnung. Irgendwann würde Taranaki einlenken, und wenn die Götter sich dann wieder vertrugen, konnten auch die Menschen mit dauerhaftem Frieden rechnen.
Die meisten Kinder lauschten diesen Geschichten mit offenen Mündern und voller Ernst, aber Atamarie interessierte sich eigentlich mehr für die vulkanische Aktivität des Mount Taranaki und ihre Auswirkungen auf das Land. Ihre Lieblingsfächer in der Otago Girls' School in Dunedin waren Mathematik, Physik und Geografie. Für romantische Geschichten war eher ihre Freundin Roberta zuständig.
Insofern hatte Atamarie auch an diesem Abend wenig Sinn für die Erzählungen und Lieder der alten Menschen in Parihaka, die den Kindern von der Sternkonstellation berichteten, die sich in dieser oder einer der nächsten Nächte am Himmel zeigen sollte: von Matariki - den Augen des Gottes Tawhirimatea - oder von einer Mutter mit sechs Töchtern, auf dem Weg, der erschöpften Sonne zu helfen, sich nach dem Winter erneut zu erheben ... Für Atamarie waren es einfach die Plejaden, die jeden Winter um diese Zeit am Himmel über Neuseeland in Sicht kamen. Sehr nützlich zur Bestimmung der Wintersonnenwende und früher auch für die Navigation auf dem Meer zwischen Hawaiki, der ursprünglichen Heimat der Maori, und Aotearoa, dem Land, in dem sie heute lebten und das die Weißen Neuseeland nannten. Und sehr hübsch anzusehen natürlich am nächtlichen Himmel. Die Magie der Sterne erschloss sich Atamarie allerdings nicht, und den Sagen und Märchen rund um Matariki lauschte sie stets nur mit halbem Ohr.
Dafür interessierte sie sich umso mehr für die Funktion der Erdöfen, welche die Bewohner Parihakas zuvor mit Gemüse und Fleisch befüllt hatten. Dies gehörte zur Zeremonie des Neujahrsfestes, das die Maori beim Auftauchen der Plejaden Ende Mai oder Anfang Juni begingen.
Atamarie linste begeistert in die glühend heißen Höhlen, welche die Männer schon am Vormittag ausgehoben hatten. Hangi nutzten die vulkanische Aktivität des Taranaki zum Garen der Speisen. Man wickelte Fleisch und Gemüse in Blätter, legte sie in Körbe und stellte sie auf die kochend heißen Steine. Anschließend wurden sie mit nassen Tüchern bedeckt, und dann verschloss man die Grube mit Erde. Im Laufe der nächsten Stunden sollten die Speisen garen - und möglichst genau dann fertig sein, wenn das Sternbild Matariki am Himmel aufleuchtete.
Atamarie sah genauso begierig nach den Sternen aus wie die anderen Kinder. Sie freute sich auf das Fest, schließlich war sie extra dafür aus Dunedin auf die Nordinsel gekommen. Wobei natürlich nicht sicher war, dass die Plejaden sich wirklich während der kurzen Winterferien zeigen würden. Aber Matariki und Kupe, Atamaries Mutter und ihr Stiefvater, hatten es darauf ankommen lassen.
»Du musst das Neujahrsfest mal in Parihaka erleben!«, hatte Matariki, die nach dem Sternbild benannt worden war, geschrieben. Viele Maori-Namen bezeichneten ursprünglich Naturphänomene - Atamarie hieß nach dem Sonnenaufgang. »Es hat hier einen besonderen Zauber.«
Atamarie verdrehte ein bisschen die Augen. Für ihre Eltern hatte alles, was mit Parihaka zusammenhing, einen besonderen Zauber. Sie hatten schon lange vor Atamaries Geburt in dem berühmten Dorf gelebt, damals, als der Prophet Te Whiti hier noch den Frieden zwischen den Weißen, den pakeha, und den Maori gepredigt hatte. Kupe hatte im Gefängnis gesessen, nachdem das Dorf dann von den Engländern gestürmt und die Bewohner enteignet worden waren. Und Matariki war mit dem Mann fortgelaufen, der Atamaries Vater werden sollte.
Sehr viel später war Te Whiti allerdings nach Parihaka zurückgekehrt und mit ihm viele seiner treuen Anhänger. Sie hatten das Dorf wieder aufgebaut und waren dabei, es erneut zu einem spirituellen Zentrum der ersten Siedler Neuseelands werden zu lassen. Diesmal allerdings weniger von Träumen getragen als von Verträgen und sicheren Absprachen. Kupe und Matariki hatten ihr Stück Land von der Regierung Taranakis gekauft - auch wenn sie es nach wie vor nicht richtig fanden, den Weißen Geld für ihr eigenes Stammland zu geben. Kupe, inzwischen Rechtsanwalt, hatte einige Klagen angestrengt. Es war recht wahrscheinlich, dass Te Whiti und sein Stamm Entschädigungszahlungen erhalten und auf Dauer ihr Land zurückbekommen würden.
Die Menschen jedenfalls kamen wieder, und es gab auch erneut Kinder in Parihaka, die Matariki in einer neuen Schule unterrichtete. An eine High School war vorerst allerdings nicht zu denken. Atamarie besuchte deshalb eine renommierte Mädchenschule in Dunedin und verbrachte die Wochenenden abwechselnd bei ihren Großeltern und in der Familie ihrer Freundin Roberta.
Parihaka konnte Atamarie nur in den Ferien besuchen, was sie wunderbar fand. Sie freute sich auf ihre Eltern und das freie Leben im Maori-Dorf, in dem es sehr viel weniger Regeln und Verbote gab als in der Otago Girls' School. Einige Wochen Flachsweben, Tanzen und Spielen der traditionellen Maori-Musikinstrumente, Fischen und Arbeit auf den Feldern genügten ihr aber stets. Das Motto von Parihaka Wir wollen die Welt zu einem besseren Ort machen! kam Atamaries Neigungen zwar entgegen, allerdings hatte sie völlig andere Vorstellungen als die Leute, die in Parihaka die traditionellen Künste des Maori-Volkes unterrichteten. Immer wenn das Mädchen Anstrengungen machte, etwas konkret zu verbessern - den Webrahmen zum Beispiel, an dem sie Flachs weben sollte, oder die Reuse zum Fischefangen -, lehnte man seine Vorschläge empört ab. Und manchmal fielen sogar unfreundliche Worte über Atamaries pakeha-Abstammung, worüber sich Matariki mehr aufregte als ihre Tochter. Atamarie war es gänzlich egal, wie viele ihrer Vorfahren aus dem einen oder dem anderen Volk stammten. Sie wollte nur nicht mehr Stunden mit Webarbeiten verbringen als unbedingt nötig, und sie hatte keine Lust, Fische zu verlieren, weil die Reuse nicht richtig schloss.
Am Ende der Ferien würde sie froh sein, Parihaka wieder verlassen und nach Dunedin zurückkehren zu können. Die Otago Girls' School war eine äußerst moderne Einrichtung, und die Lehrerinnen unterstützten Erfindungsreichtum bei ihren Schülerinnen.
Jetzt aber stand das Neujahrsfest der Maori bevor, und irgendwann mussten die Plejaden erscheinen. Die alten Leute wachten bereits die dritte Nacht in Folge, obwohl das eigentlich sinnlos war. Wenn die Sterne in Sicht kamen, so in der Regel gleich nach Sonnenuntergang.
»Es ist eine Zeit des Wartens und des Sicherinnerns, Atamarie «, erklärte Matariki. »Die alten Leute denken über das Gestern, Heute und Morgen nach, über das alte Jahr und das neue ... Da ist es gar nicht so wichtig, ob die Sterne an diesem Tag erscheinen oder an einem anderen.« Atamarie verstand das zwar nicht, aber es zwang sie natürlich auch keiner dazu, wach zu bleiben. Wenn das Essen gar und verspeist war und die Erwachsenen noch Musik machten und redeten, verzogen sich die Kinder schon in die Schlafhäuser, kuschelten sich aneinander und erzählten Geschichten. Für Atamarie war das dann fast wie im Internat in Dunedin - nur dass hier nicht mit dem Auftauchen einer Lehrerin zu rechnen war, die ihre Zöglinge energisch zur Ordnung rief.
Nun sah sie gemeinsam mit den anderen Kindern zu, wie die Sonne in der Tasmansee versank. Das Licht über dem Ackerland rund um Parihaka wurde diffus, und nur der Schnee vom kegelförmigen Gipfel des Berges leuchtete noch ein wenig golden. Der Himmel verdunkelte sich rasch - und plötzlich sah Atamarie die Sterne! Strahlend hell und klar stiegen die Plejaden auf über dem Meer, angeführt von dem größten der sieben Sterne: Whanui.
Die Kinder begannen sofort, die Sternformation mit dem traditionellen Lied zu begrüßen, das ihre Lehrerin Matariki ihnen beigebracht hatte:
» Ka puta Matariki ka rere Whanui. Ko te tohu tena o te tau e!«
Matariki ist zurück! Whanui beginnt seinen Flug. Das Zeichen für ein neues Jahr!
»Und ein gutes Zeichen!«, freute sich Atamaries Mutter und nahm ihren Mann und ihre Tochter in die Arme. Kupe war extra von Wellington nach Parihaka gekommen, um das Neujahrsfest mit ihnen zu feiern. Er hatte oft dort zu tun, unter anderem bewarb er sich um einen der Maori-Sitze im Parlament. Jetzt küsste er Matariki und Atamarie und hörte zu, wie seine Frau die Zeichen deutete.
»Wenn die Sterne so klar am Himmel stehen, gibt es einen kurzen Winter, und wir können die Einsaat schon im September ausbringen«, belehrte sie ihre Familie und ihre Schüler. »Wenn sie dagegen verhangen wirken und nah beieinanderstehen, als müssten sie sich aneinander wärmen, dann wird der Winter hart, und das Pflanzen beginnt erst im Oktober.«
Atamarie runzelte mal wieder die Stirn. Ihre Lehrerin in Dunedin hätte wahrscheinlich nur ein paar Wolken dafür verantwortlich gemacht, wenn man die Sterne schlecht gesehen hätte. Atamarie stellte sich im Moment andere Fragen.
»Warum weinen die Großmütter eigentlich, Mommy?«, erkundigte sie sich. Die alten Leute waren beim Anblick der Sterne in Weinen und Wehklagen ausgebrochen. »Es ist doch schön, dass die Sterne da sind! Und ein neues Jahr!«
Matariki nickte und strich ihr langes schwarzes Haar zurück. »Ja, aber die Alten denken noch an das letzte Jahr. Sie nennen den Sternen die Namen der Menschen, die seit ihrem letzten Auftauchen verstorben sind, und beten für sie. Und dann beweinen sie die Toten zum letzten Mal, bevor das neue Jahr beginnt.«
Die alten Leute hatten nun auch begonnen, die hangi zu öffnen, wobei ihnen Kupe und die anderen Männer gleich halfen. Kurz darauf stieg aromatischer Duft aus den Erdöfen zum Himmel.
»Der Duft nährt die Sterne«, verriet Matariki, »und gibt ihnen Kraft nach ihrer langen Reise.« Atamarie lief das Wasser im Munde zusammen, aber bevor sich die Menschen von den Speisen aus den Erdöfen nährten, gab es noch verschiedene Begrüßungszeremonien für die Sterne. Junge und Alte sangen und tanzten die traditionellen haka. Dazu ließen die Erwachsenen Bier- und Weinkrüge und Whiskeyflaschen kreisen, und Matariki und Kupe wurden wie immer wehmütig und sprachen mit ihren Freunden über die alten Zeiten in Parihaka. Wenn man ihnen glaubte, war das Leben damals ein einziges Fest gewesen. Das Dorf war angefüllt mit jungen Menschen aus allen Teilen Aotearoas, und jeden Abend gab es Lachen, Musik und Tanz.
Die meisten Erwachsenen verbrachten die gesamte Neujahrsnacht draußen an den Feuern, aber Atamarie und die anderen Kinder schliefen irgendwann ein - um gleich am nächsten Morgen wieder mit Feuereifer dabei zu sein. Am Neujahrstag ging das Fest schließlich weiter, wieder wurde getanzt, gesungen, wurden Spiele gespielt, und vor allem holten die Jungen ihre Fluggeräte hervor. Drachen zu bauen gehörte zu den Traditionen Aotearoas, die in Parihaka lebendig gehalten wurden.
Das Maori-Wort dafür war manu.
Ein paar Fachleute in der Kunst des Drachenbaus hatten denn auch in den letzten Wochen im Dorf unterrichtet. Aber als Atamarie aus Dunedin gekommen war, hatten alle Männer und Kinder aus dem Dorf bereits ihre Arbeiten beendet, sie selbst hatte nicht mehr mitmachen können. Insofern stand sie jetzt mit leeren Händen daneben, während die anderen dem großen Augenblick entgegenfieberten, ihre manu als Mittler zwischen der Welt und den Sternen, den Göttern und den Menschen in den Himmel zu schicken. Natürlich war sie etwas traurig, den Lehrgang verpasst zu haben, aber dennoch konnte Atamarie es kaum abwarten, die Drachen fliegen zu sehen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Mädchen bewunderte sie nicht in erster Linie den bunten Schmuck der manu, bestehend aus Federn und Muscheln, oder die kunstvolle Bemalung, die ihnen Gesichter gab und sie zu birdmen - Vogelmenschen - machte. Atamarie war es wichtiger, herauszufinden, warum sich diese flachen, aber doch recht schweren Gestelle aus Holz und Blättern überhaupt in die Lüfte erhoben.
Sie schlenderte zu einem der Jungen hinüber, der einen besonders großen, liebevoll mit Rauten und Stammeszeichen verzierten Drachen flugfertig machte. »Der hat gar keinen Schwanz«, bemerkte sie.
Der Junge sah sie stirnrunzelnd an. »Wieso sollte ein manu einen Schwanz haben?«, erkundigte er sich. »Weil pakeha-Drachen einen haben«, belehrte ihn Atamarie. »Ich hab's auf Bildern gesehen.«
Der Junge zuckte die Schultern. »Da hat der tohunga nichts von gesagt. Nur dass man ein Gestänge braucht und eine Leine - oder zwei, wenn man lenken will. Aber das hat er uns noch nicht gezeigt. Das sei zu schwierig, meint er.«
Dennoch hatte der Junge zwei Schnüre aus Flachs an seiner Konstruktion angebracht.
»Erst mal muss das Ding aber überhaupt in die Luft«, konstatierte Atamarie. »Wie geht das? Warum steigt ein manu?«
»Durch den Atem der Götter«, antwortete der Junge. »Der manu tanzt mit ihrer Lebenskraft.«
Atamarie runzelte die Stirn. »Also durch den Wind«, sagte sie dann. »Aber wenn nun kein Wind ist?«
»Wenn die Götter ihm den Segen versagen, fliegt er nicht«,
antwortete der Junge. »Es sei denn, man lässt ihn irgendwo heruntersegeln, von einer Klippe oder so. Aber dabei vermittelt er keine Botschaften an die Götter, er tanzt ja nicht hoch, sondern gleitet nur herunter. Und außerdem ist er dann natürlich weg.« Der Junge machte sich an den Seilen seines gewaltigen Drachens zu schaffen. Atamarie half ihm, das Fluggerät aufzustellen. »Er ist fast so groß wie ich«, meinte sie. »Glaubst du, man könnte ihn sozusagen, hm ... reiten? Und mitfliegen?«
Atamarie reizte das weitaus mehr als die Kommunikation mit den Göttern.
Der Junge lachte. »Soll jedenfalls mal einer gemacht haben. Ein Häuptling der Ngati Kahungunu - Nukupewapewa. Er wollte das Pa Maungaraki erobern, aber es klappte nicht, seine Krieger konnten die Mauern des Forts nicht überwinden. Deshalb baute er einen riesigen manu aus Raupo-Blättern in der Form eines Vogels mit weit gespreizten Federn. Daran band er einen Mann fest und ließ den Drachen von einem Felsen oberhalb des Pa heruntersegeln. Er landete im Fort, und der Flieger öffnete den Eroberern die Tore.«
Atamarie lauschte mit leuchtenden Augen. »Deiner ist auch ein manu raupo«, stellte sie fest. »Du musst weit gelaufen sein, ich wüsste gar nicht, wo hier Raupo wächst.« Raupo war eine schilfartige Pflanze und wuchs in flachen Gewässern. Der Junge lächelte verschmitzt und ein bisschen, als habe sie ein Geheimnis gelüftet. »Jaaa ...«, sagte er dann, »war auch nicht einfach, ihn zu finden. Aber die Mühe lohnt sich vielleicht Der Wunsch, den er an die Götter richten wollte, stand ihm im Gesicht geschrieben.
»Rawiri! Was machst du denn? Willst du den Drachen nicht endlich steigen lassen?«
Der Junge zuckte zusammen, als er die Stimme des tohunga hörte. Tatsächlich hatten sowohl er als auch Atamarie den Start der ersten Drachen verpasst, die meisten Jungen hatten ihre Fluggeräte bereits in den Wind gehalten und sahen nun fasziniert zu, wie sie aufstiegen. Die Priester von Parihaka beteten und sangen dazu, die Drachen sollten ihre Wünsche und ihren Segen hinauf zu den Sternen tragen. Atamarie verlor sich ein paar Herzschläge lang in dem wunderschönen Anblick der bunten manu vor dem auch heute sehr klaren Winterhimmel. Auch der Meister hatte seinen gewaltigen manu aute jetzt in die Lüfte gesandt und lenkte ihn geschickt zwischen all den kleineren Drachen seiner Schüler hindurch. Rawiri kämpfte allerdings noch mit seinen zwei Schnüren und dem Problem, dass er allein kaum mit dem sehr großen Drachen fertig wurde.
»Soll ich ihn mal hochhalten?«, fragte Atamarie begierig. Der Junge nickte. Und dann griff das Mädchen nach dem Drachen und wurde fast umgerissen von der Gewalt, mit der ihn der Wind aus seinen Händen zog. Der Drachen stieg steil in den Himmel, aber als Rawiri den ersten Versuch machte, seine Bahn zu beeinflussen, indem er die rechte Leine stärker anzog als die linke, stürzte er genauso steil ab.
Atamarie und Rawiri rannten gleichermaßen erschrocken und bestürzt auf den gefallenen Drachen zu, aber zum Glück war er nicht beschädigt.
»Jedenfalls ist nichts Wichtiges kaputt«, meinte Atamarie.
Nur der Feder- und Muschelschmuck hatte ein bisschen gelitten. Rawiri runzelte die Stirn und suchte hektisch nach einer Möglichkeit, die Verzierung wieder in Ordnung zu bringen. »Der tohunga meint, das sei durchaus wichtig. Der Drachen sieht durch die Augen aus Muscheln, und die Bemalung ist unsere Botschaft an die Götter ...«
Tohunga waren nicht nur Fachleute auf speziellen Gebieten wie Drachenbau, Jadeschnitzen, Musik oder Heilkunst, sondern hielten auch Kontakt zu den für ihre Künste zuständigen Geistern.
Atamarie zuckte die Schultern. »Also zu den Göttern muss er ja erst mal raufkommen«, bemerkte sie dann. »Lass es uns noch mal probieren. Die Botschaft können wir dann schicken, wenn wir wissen, dass es klappt.« Sie hatte auf keinen Fall Lust, jetzt noch zu warten, bis Rawiri den Schmuck erneuert hatte.
Stattdessen schaute sie nun aufmerksamer zum Himmel und konzentrierte sich auf den Drachen des tohunga, der Rawiris abgestürzten Vogel eben etwas schadenfroh musterte. Natürlich, er hatte ihm gleich gesagt, es sei für Anfänger zu schwierig, einen Lenkdrachen zu bauen. Aber Atamaries Ehrgeiz war jetzt geweckt.
»Du musst die Leinen weiter außen festmachen«, schlug sie vor. »Und tiefer. Und das Beste wäre überhaupt, wir hätten vier ...«
Rawiri schien ein bisschen in seiner Ehre gekränkt, aber nach einem weiteren erfolglosen Versuch fixierte er die Schnüre tatsächlich so, wie Atamarie es wollte. Mit verblüffendem Erfolg! Der Drachen stieg wieder schnell auf, stand diesmal aber viel sicherer in der Luft, und als Rawiri einen vorsichtigen Lenkversuch machte, folgte er gehorsam seinem Leinenzug. »Es geht! Er fliegt, er fliegt! Er fliegt, wohin ich will!«
Rawiri jubelte. Sein vogelartiger Drachen behauptete sich stolz neben dem dreieckigen des Meisters.
»Willst du auch mal?«, fragte er großzügig.
Atamarie griff ohne Zögern nach der Schnur. Sie war das einzige Mädchen, das hier die Leinen eines manu hielt, aber das störte sie nicht. In großen Schwüngen lenkte sie den Drachen über den Himmel.
»Ich glaube, sie stimmt, diese Legende von den Ngati Kahungunu«, meinte Rawiri. »Man kann mitfliegen. Wie ein Vogel. Der Drachen muss nur groß sein und die Götter auf seiner Seite haben.«
Atamarie nickte. Natürlich konnte man mitfliegen, der Wind hätte sie ja eben schon fast mit hochgerissen. Aber ... »Es muss auch ohne Wind gehen«, gab sie entschieden zurück.
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Autoren-Porträt von Sarah Lark
Sarah Lark, geb. 1958, studierte Psychologie und promovierte über das Thema 'agträume'. Nebenbei arbeitete sie lange Jahre als Reiseleiterin. Schon immer war sie fasziniert von den Sehnsuchtsorten dieser Erde. Ihre fesselnden Neuseelandromane fanden sofort ein großes Lesepublikum und sind Dauerbrenner auf der Bestsellerliste. Sarah Lark ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Schriftstellerin. Sie lebt in Spanien. Unter dem Autorennamen Ricarda Jordan entführt sie ihre Leser auch ins farbenprächtige Mittelalter.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sarah Lark
- 2012, 896 Seiten, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785760582
- ISBN-13: 9783785760581
- Erscheinungsdatum: 04.04.2012
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