Blaue Stunden
'In manchen Breitengraden gibt es vor der Sommersonnenwende und danach eine Zeitspanne, nur wenige Wochen, in der die Dämmerungen lang und blau werden. Während der blauen Stunden glaubt man, der Tag wird nie enden. Wenn die Zeit der blauen Stunden sich dem...
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Produktinformationen zu „Blaue Stunden “
'In manchen Breitengraden gibt es vor der Sommersonnenwende und danach eine Zeitspanne, nur wenige Wochen, in der die Dämmerungen lang und blau werden. Während der blauen Stunden glaubt man, der Tag wird nie enden. Wenn die Zeit der blauen Stunden sich dem Ende nähert (und das wird sie, sie endet), erlebt man ein Frösteln, eine Vorahnung der Krankheit: das blaue Licht verschwindet, die Tage werden schon kürzer, der Sommer ist vorbei. In Blaue Stunden erinnert Joan Didion sich an ihre Tochter Quintana, daran,wie es war, sie aufwachsen zu sehen und Abschied zu nehmen, als Quintana mit nur 39 Jahren starb. Eine sehr persönliche Bilanz der großen amerikanischen Autorin und ein ehrliches Buch über Tod und Vergänglichkeit, Erinnerung und Alter, über das, was wir verlieren, und das, was bleibt.
Klappentext zu „Blaue Stunden “
"In manchen Breitengraden gibt es vor der Sommersonnenwende und danach eine Zeitspanne, nur wenige Wochen, in der die Dämmerungen lang und blau werden. Während der blauen Stunden glaubt man, der Tag wird nie enden. Wenn die Zeit der blauen Stunden sich dem Ende nähert (und das wird sie, sie endet), erlebt man ein Frösteln, eine Vorahnung der Krankheit: das blaue Licht verschwindet, die Tage werden schon kürzer, der Sommer ist vorbei."In Blaue Stunden erinnert Joan Didion sich an ihre Tochter Quintana, daran,wie es war, sie aufwachsen zu sehen und Abschied zu nehmen, als Quintana mit nur 39 Jahren starb. Eine sehr persönliche Bilanz der großen amerikanischen Autorin und ein ehrliches Buch über Tod und Vergänglichkeit, Erinnerung und Alter, über das, was wir verlieren, und das, was bleibt."
Lese-Probe zu „Blaue Stunden “
Blaue Stunden von Joan Didion1.
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In manchen Breitengraden gibt es vor der Sommersonnenwende und danach eine Zeitspanne, nur wenige Wochen, in der die Dämmerungen lang und blau werden. Diese Phase der blauen Stunden kennt man im subtropischen Kalifornien nicht, wo ich die meiste Zeit, von der hier die Rede sein wird, lebte und wo das Tageslicht schnell zu Ende geht, sich verliert in der Glut der untergehenden Sonne. Aber in New York, wo ich jetzt lebe, kennt man sie. Man nimmt sie das erste Mal wahr, wenn der April endet und der Mai beginnt, eine Veränderung innerhalb der Jahreszeit, noch kaum eine Erwärmung - eigentlich überhaupt keine Erwärmung -, doch auf einmal scheint der Sommer nah zu sein, eine Möglichkeit, ein Versprechen. Man geht an einem Fenster vorbei, man läuft zum Central Park und schwimmt in der Farbe Blau: Das Licht selbst ist blau, und im Verlauf einer Stunde vertieft sich dieses Blau, es wird intensiver, je dunkler es wird, je mehr es vergeht, und schließlich gleicht es dem Blau eines Glases in Chartres an einem klaren Tag oder dem des Tscherenkow-Lichts, das die Brennstäbe in den Abklingbecken von Kernkraftwerken ausstrahlen. Die Franzosen nannten es »l'heure bleue«. Den Engländern war es »the gloaming« - der Abenddämmer. Das Wort »gloaming« strahlt zurück, es wirft ein Echo - glittern, glitzern, glänzen, Glamour -, in seinen Konsonanten trägt es die Bilder von Häusern, die zugeschlossen werden, von dunkelnden Gärten, von Flüssen mit grasbewachsenen Ufern, die durch die Schatten gleiten. Während der blauen Stunden glaubt man, der Tag wird nie enden. Wenn die Zeit der blauen Stunden sich dem Ende nähert (und das wird sie, sie endet), erlebt man ein Frösteln, eine Vorahnung der Krankheit, in diesem Moment stellt man zunächst fest: Das blaue Licht verschwindet, die Tage werden schon kürzer, der Sommer ist vorbei. Dieses Buch heißt »Blaue Stunden«, weil ich mich in der Zeit, als ich es zu schreiben begann, gedanklich immer stärker der Krankheit zugewandt habe, dem Ende des Versprechens, den kürzer werdenden Tagen, der Unausweichlichkeit des Vergehens, dem Sterben des Glanzes. Blaue Stunden sind das Gegenteil sterbenden Glanzes, aber sie sind auch seine Vorboten.
2.
26. Juli 2010
Heute wäre ihr Hochzeitstag gewesen.
Heute vor sieben Jahren nahmen wir die Leis, hawaiianische Blumenketten, aus den Kartons des Floristen und schüttelten das Wasser, in dem sie gelegen hatten, heraus auf das Gras vor der Kathedrale St. John the Divine an der Amsterdam Avenue. Der weiße Pfau fächerte sein Rad auf. Die Orgel spielte. Sie flocht weiße Stephanotis in den dicken Zopf, der über ihren Rücken fiel. Sie zog einen Tüllschleier vor das Gesicht, und die Stephanotis löste sich und fiel herunter. Die Plumeriablüte, die unter ihrer Schulter tätowiert war, war durch den Tüll zu sehen. »Lass es uns tun«, flüsterte sie. Die kleinen Mädchen tänzelten mit Leis und in blassen Kleidern durch den Mittelgang und liefen hinter ihr her zum Hochaltar. Nachdem die Worte gesprochen waren, folgten ihr die kleinen Mädchen durch das Eingangsportal der Kathedrale nach draußen und - an den Pfauen vorbei (zwei blau und grün schillernde Pfaue, ein weißer Pfau) - zum Pfarrgebäude. Es gab Sandwiches mit Gurke und Brunnenkresse, eine pfirsichfarbene Torte von Payard, roséfarbenen Champagner.
Ihre Wünsche, alles.
Sentimentale Wünsche, Dinge, an die sie sich erinnerte.
Ich erinnerte mich auch daran.
Als sie sagte, sie wolle Sandwiches mit Gurke und Brunnenkresse zu ihrer Hochzeit, erinnerte ich mich daran, wie sie Platten mit Gurken- und Brunnenkressesandwiches auf den Tischen verteilt hatte, die wir zum Lunch an ihrem sechzehnten Geburtstag rings um den Pool aufgebaut hatten. Als sie sagte, sie wolle Leis anstelle von Blumenbouquets auf ihrer Hochzeit, erinnerte ich mich daran, wie sie mit drei oder vier oder fünf auf dem Flughafen von Bradley Field in Hartford aus einem Flugzeug stieg und Leis trug, die man ihr beim Abflug in Honolulu eine Nacht zuvor gegeben hatte. An jenem Morgen herrschten in Connecticut minus sechs Grad, und sie hatte keinen Mantel (sie hatte keinen Mantel getragen, als wir von Los Angeles nach Honolulu geflogen waren, wir hatten nicht damit gerechnet, nach Hartford weiterzureisen), aber sie hatte kein Problem darin gesehen. Kinder mit Leis tragen keine Mäntel, erklärte sie mir.
Sentimentale Wünsche.
Am Tag der Hochzeit erfüllten sich alle ihre sentimentalen Wünsche außer einem: Sie hatte gewollt, dass die kleinen Mädchen barfuß in die Kathedrale gingen (Erinnerung an Malibu, sie war immer barfuß gewesen in Malibu, sie hatte immer Splitter in den Füßen gehabt von den Holzbohlen des Piers, Splitter vom Holz und Teer vom Strand und Jod für die Schrammen von den Nägeln in den Treppen dazwischen), aber die kleinen Mädchen hatten für diesen Anlass neue Schuhe und wollten sie tragen.
Mr und Mrs John Gregory Dunne geben sich die Ehre, Sie herzlich einzuladen
Zur Hochzeit ihrer Tochter Quintana Roo - Mit Mr Gerald Brian Michael
Am Samstag, den sechsundzwanzigsten Juli, vierzehn Uhr -
Die Stephanotis.
War das auch ein sentimentaler Wunsch?
Erinnerte sie sich an die Stephanotis?
Wollte sie sie deshalb, hat sie sie deshalb in ihren Zopf geflochten?
Im Haus in Brentwood Park, in dem wir von 1978 bis 1988 lebten und das von so auffallender Durchschnittlichkeit war (zwei Etagen, die Diele mit Treppe im amerikanischen Kolonialstil, Fensterläden an den Fenstern und ein Wohnzimmer neben jedem Schlafzimmer), dass es in situ schon beinahe idiosynkratisch wirkte (»euer Einfamilienhaus in Brentwood« sagte sie dazu, als wir es kauften, eine Zwölfjährige, die feststellte, dass es nicht ihre Entscheidung war, nicht ihr Geschmack, ein Kind, das den Abstand beanspruchte, den Kinder sich ein bilden zu brauchen), gab es Stephanotis, die vor den Terrassentüren wuchsen. Ich streifte die wächsernen Blumen, wenn ich in den Garten hinausging. Vor den Terrassentüren gab es auch Lavendelbeete und Minze, ein Gewirr von Minze, die ein tropfender Wasserhahn hatte üppig werden lassen. Wir zogen in jenem Sommer in dieses Haus, in dem sie in die siebte Klasse der damaligen Westlake-Mädchenschule in Holmby Hills kam. Als wäre es gestern gewesen. Wir zogen in jenem Jahr aus, in dem sie ihren Abschluss am Barnard College machte. Als wäre es gestern gewesen. Die Stephanotis und die Minze waren zu diesem Zeitpunkt eingegangen, vernichtet, nachdem der Mann, der das Haus kaufen wollte, darauf bestanden hatte, dass wir es von Termiten befreiten und es entwesten, indem wir Sulfurylfluorid und Chloropicrin hineinpumpten. Als der Käufer für das Haus geboten hatte, hatte er uns, offenbar um den Vertrag zu besiegeln, über den Makler mitteilen lassen, dass er das Haus haben wollte, weil er sich seine Tochter im Garten bei ihrer Hochzeit vorstellen konnte. Das war einige Wochen bevor er von uns verlangte, das Sulfurylfluorid hineinzupumpen, das die Stephanotis und die Minze vernichtete und auch die rosafarbene Magnolie, die die Zwölfjährige, die sich so beflissen von unserem Einfamilienhaus in Brentwood distanzierte, vom Fenster ihres Zimmers im zweiten Stock aus hatte sehen können. Die Termiten, da war ich ziemlich sicher, würden wiederkommen. Die rosafarbene Magnolie, auch da war ich ziemlich sicher, nicht.
Wir verkauften und zogen nach New York.
Wo ich schon einmal gelebt hatte, von meinem einundzwanzigsten Lebensjahr, als ich gerade mein Studium an der Englischen Fakultät in Berkeley beendet und damit begonnen hatte, bei der Vogue zu arbeiten (ein so grundlegend unnatürlicher Wechsel, dass mir, als die Personalabteilung bei Condé Nast mich darum bat, die Sprachen zu nennen, die ich fließend beherrschte, nur Mittelenglisch einfiel), bis ich neunundzwanzig war und frisch verheiratet.
Wo ich seit 1988 wieder lebe.
Warum sage ich dann, einen Großteil dieser Zeit hätte ich in Kalifornien verbracht?
Warum hatte ich dann ein so deutliches Gefühl von Verrat, als ich meinen kalifornischen Führerschein gegen einen New Yorker eintauschte? War das nicht eine ziemlich einfache Handlung? Dein Geburtstag steht an, dein Führerschein muss erneuert werden, was spielt es für eine Rolle, wo du ihn erneuerst? Was spielt es für eine Rolle, dass du diese eine County-Nummer auf deinem Führerschein hattest, seit er dir zum ersten Mal im Alter von fünfzehneinhalb vom Staat Kalifornien ausgestellt wurde? War da nicht sowieso schon immer ein Fehler auf diesem Führerschein gewesen? Ein Fehler, der dir bekannt war? Hatte dieser Führerschein nicht behauptet, du seiest eins achtundfünfzig? Obwohl du sehr genau wusstest, dass du bestenfalls (die maximale Größe, die jemals erreichte Größe, die Größe, bevor du anderthalb Zentimeter ans Alter verloren hast), obwohl du sehr genau wusstest, dass du bestenfalls eins fünfundfünzig Komma fünf groß bist?
Warum war dieser Führerschein so wichtig? Worum ging es da?
Machte mir das Abgeben des kalifornischen Führerscheins klar, dass ich nie wieder fünfzehneinhalb sein würde?
Wollte ich das sein?
Oder war die Sache mit dem Führerschein nur ein weiterer Fall von »offensichtlicher Unangemessenheit des auslösenden Ereignisses«?
Ich setze »offensichtliche Unangemessenheit des auslösenden Ereignisses« in Anführungszeichen, weil das nicht meine Formulierung ist.
Karl Menninger verwendet sie in Man Against Himself, um die Neigung zur Überreaktion auf Umstände zu beschreiben, die normal, sogar vorhersagbar erscheinen mögen: eine Neigung, die, wie Menninger...
In manchen Breitengraden gibt es vor der Sommersonnenwende und danach eine Zeitspanne, nur wenige Wochen, in der die Dämmerungen lang und blau werden. Diese Phase der blauen Stunden kennt man im subtropischen Kalifornien nicht, wo ich die meiste Zeit, von der hier die Rede sein wird, lebte und wo das Tageslicht schnell zu Ende geht, sich verliert in der Glut der untergehenden Sonne. Aber in New York, wo ich jetzt lebe, kennt man sie. Man nimmt sie das erste Mal wahr, wenn der April endet und der Mai beginnt, eine Veränderung innerhalb der Jahreszeit, noch kaum eine Erwärmung - eigentlich überhaupt keine Erwärmung -, doch auf einmal scheint der Sommer nah zu sein, eine Möglichkeit, ein Versprechen. Man geht an einem Fenster vorbei, man läuft zum Central Park und schwimmt in der Farbe Blau: Das Licht selbst ist blau, und im Verlauf einer Stunde vertieft sich dieses Blau, es wird intensiver, je dunkler es wird, je mehr es vergeht, und schließlich gleicht es dem Blau eines Glases in Chartres an einem klaren Tag oder dem des Tscherenkow-Lichts, das die Brennstäbe in den Abklingbecken von Kernkraftwerken ausstrahlen. Die Franzosen nannten es »l'heure bleue«. Den Engländern war es »the gloaming« - der Abenddämmer. Das Wort »gloaming« strahlt zurück, es wirft ein Echo - glittern, glitzern, glänzen, Glamour -, in seinen Konsonanten trägt es die Bilder von Häusern, die zugeschlossen werden, von dunkelnden Gärten, von Flüssen mit grasbewachsenen Ufern, die durch die Schatten gleiten. Während der blauen Stunden glaubt man, der Tag wird nie enden. Wenn die Zeit der blauen Stunden sich dem Ende nähert (und das wird sie, sie endet), erlebt man ein Frösteln, eine Vorahnung der Krankheit, in diesem Moment stellt man zunächst fest: Das blaue Licht verschwindet, die Tage werden schon kürzer, der Sommer ist vorbei. Dieses Buch heißt »Blaue Stunden«, weil ich mich in der Zeit, als ich es zu schreiben begann, gedanklich immer stärker der Krankheit zugewandt habe, dem Ende des Versprechens, den kürzer werdenden Tagen, der Unausweichlichkeit des Vergehens, dem Sterben des Glanzes. Blaue Stunden sind das Gegenteil sterbenden Glanzes, aber sie sind auch seine Vorboten.
2.
26. Juli 2010
Heute wäre ihr Hochzeitstag gewesen.
Heute vor sieben Jahren nahmen wir die Leis, hawaiianische Blumenketten, aus den Kartons des Floristen und schüttelten das Wasser, in dem sie gelegen hatten, heraus auf das Gras vor der Kathedrale St. John the Divine an der Amsterdam Avenue. Der weiße Pfau fächerte sein Rad auf. Die Orgel spielte. Sie flocht weiße Stephanotis in den dicken Zopf, der über ihren Rücken fiel. Sie zog einen Tüllschleier vor das Gesicht, und die Stephanotis löste sich und fiel herunter. Die Plumeriablüte, die unter ihrer Schulter tätowiert war, war durch den Tüll zu sehen. »Lass es uns tun«, flüsterte sie. Die kleinen Mädchen tänzelten mit Leis und in blassen Kleidern durch den Mittelgang und liefen hinter ihr her zum Hochaltar. Nachdem die Worte gesprochen waren, folgten ihr die kleinen Mädchen durch das Eingangsportal der Kathedrale nach draußen und - an den Pfauen vorbei (zwei blau und grün schillernde Pfaue, ein weißer Pfau) - zum Pfarrgebäude. Es gab Sandwiches mit Gurke und Brunnenkresse, eine pfirsichfarbene Torte von Payard, roséfarbenen Champagner.
Ihre Wünsche, alles.
Sentimentale Wünsche, Dinge, an die sie sich erinnerte.
Ich erinnerte mich auch daran.
Als sie sagte, sie wolle Sandwiches mit Gurke und Brunnenkresse zu ihrer Hochzeit, erinnerte ich mich daran, wie sie Platten mit Gurken- und Brunnenkressesandwiches auf den Tischen verteilt hatte, die wir zum Lunch an ihrem sechzehnten Geburtstag rings um den Pool aufgebaut hatten. Als sie sagte, sie wolle Leis anstelle von Blumenbouquets auf ihrer Hochzeit, erinnerte ich mich daran, wie sie mit drei oder vier oder fünf auf dem Flughafen von Bradley Field in Hartford aus einem Flugzeug stieg und Leis trug, die man ihr beim Abflug in Honolulu eine Nacht zuvor gegeben hatte. An jenem Morgen herrschten in Connecticut minus sechs Grad, und sie hatte keinen Mantel (sie hatte keinen Mantel getragen, als wir von Los Angeles nach Honolulu geflogen waren, wir hatten nicht damit gerechnet, nach Hartford weiterzureisen), aber sie hatte kein Problem darin gesehen. Kinder mit Leis tragen keine Mäntel, erklärte sie mir.
Sentimentale Wünsche.
Am Tag der Hochzeit erfüllten sich alle ihre sentimentalen Wünsche außer einem: Sie hatte gewollt, dass die kleinen Mädchen barfuß in die Kathedrale gingen (Erinnerung an Malibu, sie war immer barfuß gewesen in Malibu, sie hatte immer Splitter in den Füßen gehabt von den Holzbohlen des Piers, Splitter vom Holz und Teer vom Strand und Jod für die Schrammen von den Nägeln in den Treppen dazwischen), aber die kleinen Mädchen hatten für diesen Anlass neue Schuhe und wollten sie tragen.
Mr und Mrs John Gregory Dunne geben sich die Ehre, Sie herzlich einzuladen
Zur Hochzeit ihrer Tochter Quintana Roo - Mit Mr Gerald Brian Michael
Am Samstag, den sechsundzwanzigsten Juli, vierzehn Uhr -
Die Stephanotis.
War das auch ein sentimentaler Wunsch?
Erinnerte sie sich an die Stephanotis?
Wollte sie sie deshalb, hat sie sie deshalb in ihren Zopf geflochten?
Im Haus in Brentwood Park, in dem wir von 1978 bis 1988 lebten und das von so auffallender Durchschnittlichkeit war (zwei Etagen, die Diele mit Treppe im amerikanischen Kolonialstil, Fensterläden an den Fenstern und ein Wohnzimmer neben jedem Schlafzimmer), dass es in situ schon beinahe idiosynkratisch wirkte (»euer Einfamilienhaus in Brentwood« sagte sie dazu, als wir es kauften, eine Zwölfjährige, die feststellte, dass es nicht ihre Entscheidung war, nicht ihr Geschmack, ein Kind, das den Abstand beanspruchte, den Kinder sich ein bilden zu brauchen), gab es Stephanotis, die vor den Terrassentüren wuchsen. Ich streifte die wächsernen Blumen, wenn ich in den Garten hinausging. Vor den Terrassentüren gab es auch Lavendelbeete und Minze, ein Gewirr von Minze, die ein tropfender Wasserhahn hatte üppig werden lassen. Wir zogen in jenem Sommer in dieses Haus, in dem sie in die siebte Klasse der damaligen Westlake-Mädchenschule in Holmby Hills kam. Als wäre es gestern gewesen. Wir zogen in jenem Jahr aus, in dem sie ihren Abschluss am Barnard College machte. Als wäre es gestern gewesen. Die Stephanotis und die Minze waren zu diesem Zeitpunkt eingegangen, vernichtet, nachdem der Mann, der das Haus kaufen wollte, darauf bestanden hatte, dass wir es von Termiten befreiten und es entwesten, indem wir Sulfurylfluorid und Chloropicrin hineinpumpten. Als der Käufer für das Haus geboten hatte, hatte er uns, offenbar um den Vertrag zu besiegeln, über den Makler mitteilen lassen, dass er das Haus haben wollte, weil er sich seine Tochter im Garten bei ihrer Hochzeit vorstellen konnte. Das war einige Wochen bevor er von uns verlangte, das Sulfurylfluorid hineinzupumpen, das die Stephanotis und die Minze vernichtete und auch die rosafarbene Magnolie, die die Zwölfjährige, die sich so beflissen von unserem Einfamilienhaus in Brentwood distanzierte, vom Fenster ihres Zimmers im zweiten Stock aus hatte sehen können. Die Termiten, da war ich ziemlich sicher, würden wiederkommen. Die rosafarbene Magnolie, auch da war ich ziemlich sicher, nicht.
Wir verkauften und zogen nach New York.
Wo ich schon einmal gelebt hatte, von meinem einundzwanzigsten Lebensjahr, als ich gerade mein Studium an der Englischen Fakultät in Berkeley beendet und damit begonnen hatte, bei der Vogue zu arbeiten (ein so grundlegend unnatürlicher Wechsel, dass mir, als die Personalabteilung bei Condé Nast mich darum bat, die Sprachen zu nennen, die ich fließend beherrschte, nur Mittelenglisch einfiel), bis ich neunundzwanzig war und frisch verheiratet.
Wo ich seit 1988 wieder lebe.
Warum sage ich dann, einen Großteil dieser Zeit hätte ich in Kalifornien verbracht?
Warum hatte ich dann ein so deutliches Gefühl von Verrat, als ich meinen kalifornischen Führerschein gegen einen New Yorker eintauschte? War das nicht eine ziemlich einfache Handlung? Dein Geburtstag steht an, dein Führerschein muss erneuert werden, was spielt es für eine Rolle, wo du ihn erneuerst? Was spielt es für eine Rolle, dass du diese eine County-Nummer auf deinem Führerschein hattest, seit er dir zum ersten Mal im Alter von fünfzehneinhalb vom Staat Kalifornien ausgestellt wurde? War da nicht sowieso schon immer ein Fehler auf diesem Führerschein gewesen? Ein Fehler, der dir bekannt war? Hatte dieser Führerschein nicht behauptet, du seiest eins achtundfünfzig? Obwohl du sehr genau wusstest, dass du bestenfalls (die maximale Größe, die jemals erreichte Größe, die Größe, bevor du anderthalb Zentimeter ans Alter verloren hast), obwohl du sehr genau wusstest, dass du bestenfalls eins fünfundfünzig Komma fünf groß bist?
Warum war dieser Führerschein so wichtig? Worum ging es da?
Machte mir das Abgeben des kalifornischen Führerscheins klar, dass ich nie wieder fünfzehneinhalb sein würde?
Wollte ich das sein?
Oder war die Sache mit dem Führerschein nur ein weiterer Fall von »offensichtlicher Unangemessenheit des auslösenden Ereignisses«?
Ich setze »offensichtliche Unangemessenheit des auslösenden Ereignisses« in Anführungszeichen, weil das nicht meine Formulierung ist.
Karl Menninger verwendet sie in Man Against Himself, um die Neigung zur Überreaktion auf Umstände zu beschreiben, die normal, sogar vorhersagbar erscheinen mögen: eine Neigung, die, wie Menninger...
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Autoren-Porträt von Joan Didion
Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, studierte Literatur in Berkeley und arbeitete als freie Journalistin für zahlreiche große amerikanische Zeitungen. Sie war u. a. Herausgeberin der Vogue und hat vier Romane sowie zahlreiche Essaybände veröffentlicht. 2005 erhielt sie den National Book Award.Antje Rávic Strubel, geb. 1974 in Potsdam, aufgewachsen in Ludwigsfelde, Ausbildung zur Buchhändlerin, Studium in Potsdam und New York. Antje Rávic Strubel lebt in Potsdam und in ihrem Ferienhaus im schwedischen Värmland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joan Didion
- 2012, 2. Aufl., 207 Seiten, Maße: 12,5 x 19,7 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Rávic Strubel, Antje
- Übersetzer: Antje Rávic Strubel
- Verlag: Ullstein HC
- ISBN-10: 3550088868
- ISBN-13: 9783550088865
Rezension zu „Blaue Stunden “
"Eindringlicher ist der Zugriff des Lebens auf uns selten geschildert worden.", DIE ZEIT, Susanne Mayer, 23.02.2012
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