Das verborgene Haus
Literaturdozentin Viola hat das Gefühl, dass ihr Mann Axel ihr etwas verschweigt. Im Urlaub lernt Viola die 90-jährige Lea kennen, die ihr ihre unglaubliche Familiengeschichte offenbart. Je näher sich die beiden Frauen kommen, desto weiter...
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Produktinformationen zu „Das verborgene Haus “
Literaturdozentin Viola hat das Gefühl, dass ihr Mann Axel ihr etwas verschweigt. Im Urlaub lernt Viola die 90-jährige Lea kennen, die ihr ihre unglaubliche Familiengeschichte offenbart. Je näher sich die beiden Frauen kommen, desto weiter scheint sich Violas Mann von ihr zu entfernen.
Lese-Probe zu „Das verborgene Haus “
Das verborgene Haus von Maria ErnestamKapitel 1
Wenn ich daran denke, wie ich einmal war, wird alles, was geschehen ist, unbegreiflich. Im Tao Te King würde stehen, dass wir mit dem Finger zeigen können, wo sich der Mond befindet, aber dass der Finger nicht der Mond ist. Denn um den Mond zu sehen, muss man hinter den Finger sehen können.
Ich glaube, das bedeutet, dass ich am Anfang beginnen muss.
Kapitel 2
Über den Bäumen lag ein leichter Nebel, und die Sicht im Rückspiegel war eingeschränkt. Die Sonne drang durch die Fenster des Autos, und Staubpartikel wirbelten durch die Luft. Tora und Linn saßen auf dem Rücksitz. Ihr Duft kitzelte mich im Nacken.
Ich sagte etwas über den Frühling, dass er vielleicht bald kommen würde. Niemand antwortete. Axel schlief, oder vielleicht hatte er auch nur die Augen geschlossen, um nicht reden zu müssen. Er war ein Stück gefahren, hatte sich aber gefährlich nahe an der Mittellinie gehalten. Als ein anderer Autofahrer beim Überholen hupte, hatte Axel gebrüllt, heutzutage führen alle wie Idioten. Dann bat er mich, das Steuer wieder zu übernehmen, damit er Zeitung lesen könne.
Das Radio brachte die »Dreigroschenoper«, und ich versuchte, einen anderen Sender zu finden. Axel mochte Brecht nicht. Deprimierende Musik.
Das Grün der Landschaft wirkte beruhigend. Eben erst erwachte Büsche reckten ihre Zweige, Blumen richteten ihre empfindlichen Knospen nach oben. April is the cruellest month.
Wir verpassten die Abzweigung und mussten nach einigen Kilometern umkehren. Tora war übel.
»Musst du so rasant fahren?«
»Ich tue mein Bestes. Aber die Straße ...«
»Du fährst zu schnell, Viola.«
... mehr
Axel richtete sich auf. Ich stieg vom Gas.
»Wir sind bald da. Seht ihr das Meer? Als ich klein war und wir an die Westküste gefahren sind, haben wir immer nach dem Meer Ausschau gehalten. Sobald wir es entdeckt hatten, sangen wir alle ›Lamer‹.«
Plötzlich war die Erinnerung da. Meine Geschwister und ich auf der Rückbank, Papa und Mama vorne. Ein ständiges Geplapper, Singen und Lachen. Keine nervösen Fragen, ob man nicht anhalten und eine Pause machen könne. Immer Zeit für ein Eis oder einen Abstecher in den Wald. Packt die Decke aus, jetzt gibt es ein Mittagessen mit vier Gängen: Butterbrot, Obst, Süßigkeiten und Kaffee.
Linn fragte, ob es in dem Haus auch einen Fernseher gäbe.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es keinen gibt.«
»Aber hast du darauf geachtet, dass es einen gibt?«
»Haben wir darauf geachtet, Axel?«
»Wer, wir?«
Schweigend fanden wir die richtige Abzweigung und fuhren durch den Ort. Ich kurbelte das Fenster herunter und sprach einen Fußgänger an, obwohl ich wusste, dass Axel es verabscheut, nach dem Weg zu fragen. Nach einiger Zeit fanden wir das Haus. Als wir aus dem Auto stiegen, begann es zu regnen.
Das Haus war weiß gestrichen, die Fensterrahmen waren schwarz. Wir liefen eine steinerne Treppe hinauf, die Mädchen und ich je eine Tasche in der Hand, Axel mit seiner Aktentasche unter dem Arm.
Hinter dem Haus lag der Garten, den man uns beschrieben hatte. Heidekraut, Wacholderbüsche und ein schwer zu mähender hügeliger Rasen, einige Rosenbüsche. In einer Ecke lehnten große Steinblöcke aneinander, und einige Farnwedel wucherten aus den Spalten hervor. Zwei Krähen, die gerade ein Festmahl hielten, flogen rasch davon, als wir uns näherten. Ihr missbilligendes Krächzen hallte in der Stille wider.
Nach einer Weile fand Axel den Schlüssel in seiner Manteltasche. Er fluchte, als er ihm aus der Hand glitt und ins Gras fiel. Mit einiger Mühe bekam er das Schloss auf, und wir traten hinein.
Im Haus roch es nach Schmierseife und Holz. Tora und Linn verschwanden in Richtung Wohnzimmer, und ich hörte an ihren Stimmen, dass dort ein Fernseher stand. Ich drehte eine Runde und sah mir die beiden Schlafzimmer an. Betten mit gehäkelten Tagesdecken in dem einen, dezente Blümchentapeten in dem anderen. Auf einem Bord in der Küche standen Porzellangefäße mit Holzdeckeln für Kaffee, Tee und Mehl.
Ich blieb auf der Glasveranda stehen und schaute aus dem Fenster. Das mit dem Meerblick war tatsächlich nicht gelogen, auch wenn es zum Wasser ein Stück einen Hang hinunterging. Der Pfad, der sich zwischen den Wacholderbüschen hindurchschlängelte, führte sicher zu einem Strand.
Etwas streifte meine Beine, und ich bemerkte, dass irgendjemand Rezina ins Haus gebracht und aus ihrem Katzenkäfig gelassen hatte. Axel schob sich an mir vorbei. Er wirkte erhitzt.
»Sei vorsichtig, Axel. Trag nicht zu viel. Ich kann ...«
»Sie musste da raus.«
»Sicher. Ich hatte schon überlegt ... ob wir es wagen können, sie sofort nach draußen zu lassen?«
»Entscheide du. Aber ich würde es nicht tun.«
Ich drehte mich zu Tora und Linn um und bat sie, die Haustüre hinter sich zu schließen. Axel rief, dass es wirklich kalt sei und dass er die Heizung hochdrehen werde.
Eine gute Stunde später war das meiste ausgepackt. Tora und Linn lagen auf dem Sofa und zappten durch alle Sender. In Jeans, die schmalen Arme entblößt, lagen sie ausgestreckt zwischen den Kissen. Im Windfang standen Schuhe, und es gab nicht genügend Bügel für alle Kleider.
Axels Kleider hatte ich auf eines der Betten gelegt. Er wollte sie selbst in der Kommode verstauen, da er behauptete, der Einzige in der Familie zu sein, der Kleidungsstücke ordentlich zusammenfalten könne. Kleiderpflege sei eine Frage des Stils. Es sei schade, dass das nur so wenigen Menschen bewusst sei.
Er war auf die Glasveranda verschwunden. Als ich hinterherkam, um ihn zu fragen, ob er hungrig sei, saß er auf dem Sofa und telefonierte. Den Rücken an ein Heizkissen gelehnt. Ich ging in die Küche und suchte die Zutaten für eine Tomatensauce zusammen. Die Messer lagen ordentlich aufgereiht in einem Kasten. Ich wählte eines aus. Es glitt ohne jeden Widerstand durch die Tomaten.
»Hast du ordentlich gesalzen?«
Axel hatte sich von hinten herangeschlichen und mir die Hände auf die Schultern gelegt.
»Ja.«
»Und Knoblauch ist auch drin?«
»Einige Zehen.«
»Nimm noch ein paar.«
Ich rührte im Topf und sah, wie sich die Tomatenschale ablöste. Das rote Fruchtfleisch kochte zu einer dicken, glatten Masse zusammen.
»Ich habe mit der Heimleiterin des Solgården gesprochen. Mamas Zustand hat sich offenbar verschlechtert. Heute hat sie eine der Pflegerinnen in den Arm gebissen.«
Ich lachte und schämte mich sofort dafür.
»Du hast wirklich einen seltsamen Humor. Ist es etwa lustig, dass es Mama schlechter geht? Aber was kann ich schon anderes von dir erwarten. Du warst ja selbst nie ernsthaft krank und hast keine Ahnung, wie sich das anfühlt.«
Ich schaute in den Kochtopf.
»Tut mir leid. Es ist mir einfach so herausgerutscht ... ohne dass ich es wollte.«
»Sollten Tora und Linn nicht ein wenig mithelfen?«
»Ich habe sie gebeten, den Tisch zu decken.«
»Deine Bitte scheint ja recht erfolgreich zu sein.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. Kein Streit am ersten Abend. Wir hatten Ferien, begannen gerade erst.
»Ich sage ihnen noch mal Bescheid.«
Eine halbe Stunde später saßen wir am gedeckten Tisch. Der Regen war stärker geworden und jetzt überraschenderweise mit Schnee vermischt. Axel behauptete, dass es am nächsten Tag gutes Wetter geben würde. Er hatte vor, zum Strand zu gehen und sich das Motorboot anzusehen, das wir benutzen durften. Falls es nicht überhaupt für Bootsfahrten zu kalt sein würde. Anschließend wollte er gemeinsam mit uns seine Mutter besuchen. Er schien nun bessere Laune zu haben, und als ich ihn fragte, antwortete er, es gehe ihm gut.
Niemand wollte mich anschließend auf einen Abendspaziergang begleiten. Axel musste mehrere Telefonate führen, es sei ausgesprochen wichtig, dass er das sofort erledige. Linn sprach von einem neuen Buch, und Tora war ins Schlafzimmer verschwunden. Ich zog mich an und trat hinaus. Ich empfand die Einsamkeit als Geschenk.
Das Gras auf dem Weg war feucht und glatt. Ich schlängelte mich durch Wacholderbüsche und Gestrüpp und fand mich nach einiger Zeit auf einer Anhöhe wieder. Unter mir lag das Meer. Am Horizont waren einige Schiffe zu erkennen, eine Möwe schwebte über dem Wasser. Schiefergrauer Nebel zog über den Strand, und Muscheln knirschten unter meinen Sohlen.
Beim Anblick des Meeres gerätst du immer ins Schwärmen, hatte ich mir einmal sagen lassen. Seither denke ich darüber nach, was das zu bedeuten hat. Beruhigt mich der Anblick des Meeres, oder erinnert es mich in seiner Unberechenbarkeit an die Menschen?
Meine Eltern leben gerne in der Nähe des Meeres. Im Augenblick waren sie weit weg, in Piteå. Dort kümmerten sie sich um eine alte Verwandte meiner Mutter. Ich hatte einige Tage zuvor mit ihnen gesprochen, und Mama wollte wissen, ob ich alte Laken gebrauchen könne. Wegen der Spitze. Die Verwandte habe Unmengen, und aus den gestickten Monogrammen ließe sich sicher etwas machen. Im Unterschied zu ihr könne ich schließlich nähen.
Jetzt wünschte ich mir, die beiden würden neben mir stehen und mir erklären, nichts sei so schlimm, als dass es nicht noch schlimmer werden könne. Dass sie sagen würden: Mach es wie Großmutter, lache, obwohl es nichts zu lachen gibt. Anschließend fühlt man sich besser.
Ich lachte versuchsweise. Die Möwe antwortete mit einem kehligen Schrei, bevor sie auf die Wasserfläche zuschoss. Linn hat mich einmal gefragt, was aus den Vögeln würde, wenn sie tot wären. Mir war bislang keine glaubwürdige Erklärung eingefallen, aber hier zu meinen Füßen lag ein sprödes Skelett und ringsherum verstreut einige Federn. Bald würden die sterblichen Überreste dieses Seevogels vermutlich zu Staub zerfallen und vom Wind übers Wasser getragen werden.
Ich blieb am Strand, während sich die Dunkelheit über das Land senkte. Als ich mich schließlich umdrehte, um zurückzukehren, war ich vollkommen durchnässt, und der Wind hatte meine Fußspuren im Sand verweht. Durch die Fenster des Hauses, das wir vor ein paar Stunden bezogen hatten, schimmerte es anheimelnd, und als ich eintrat, rief Tora, es gebe eine frische Kanne Tee. »Der Earl Grey, den du so magst, Mama.« Mir kamen die Tränen, ich wischte sie mit dem Ärmel weg, noch ehe sie ganz da waren.
Linn erzählte, sie habe eine Treppe entdeckt, die auf einen großen Speicher führen würde. Es gebe dort eine Unmenge Gerümpel und alte Sachen, und vielleicht würde sie dort ja auch Bücher finden. Für den Fall, dass ihr der mitgebrachte Lesestoff ausgehen sollte und sie noch mehr bräuchte.
Wenig später gingen wir schlafen. Axels Bett war von meinem durch einen gemeinsamen Nachttisch getrennt, auf dem ein kleines Spitzendeckchen lag. Er legte sich in seinem neu gekauften Schlafanzug hin. Ich strich ihm über den Rücken und erhielt einen gedämpften Seufzer zur Antwort. Er hatte das Heizkissen mit ins Bett genommen. Das Radio lief und verbreitete nette Harmlosigkeiten.
Ich hatte vor, in meinen Notizen zu meiner Arbeit über die Ewigkeit zu blättern. Am Strand hatte ich das Gefühl gehabt, mich außerhalb der Zeit zu befinden und mich selbst zu beobachten. So haben es die Dichter in ihren Werken beschrieben, und ich habe genauso empfunden, als Linns Leben auf dem Spiel stand und man mir Zutritt zu einer Kirche gewährte, weil ich versuchen wollte, Gott nahezukommen.
Vielleicht hatte Axel ähnlich empfunden. Vielleicht würden wir ja morgen die Zeit finden, darüber zu sprechen.
Kapitel 3
Die Dämmerung nach einem schlechten Traum. Ein groteskes Wesen, weder Mensch noch Tier, war in ein Zimmer gekommen, in dem wir alle versammelt waren. Das Wesen hatte geschrien und um sich geschlagen, während Axel ganz ruhig erzählte, das sei sein Kind. Es stamme aus einer früheren Verbindung, und er habe das Kind all die Jahre auf dem Speicher versteckt gehalten.
Ich verließ leise das Bett, öffnete die Haustür und atmete die Morgenluft ein. Die Bäume des Gartens lagen noch im Schatten, und an einem alten Telefonmast hing ein Nistkasten. Axel hatte recht behalten. Es würde ein schöner Tag werden, obwohl es kalt war. Ich hatte das Gefühl, als läge weiterer Schnee in der Luft. Weiße Ostern statt venezianischer Frühling. Dass aus der Italienreise eine Schonenreise geworden war, lag jedoch nicht an mir. Axels Gesundheit hatte uns dazu veranlasst wieder einmal unsere Pläne zu ändern.
Rezina lag ausgestreckt vor dem Herd. Als ich mich zu ihr hinunterbeugte, legte sie sich auf den Rücken. Ich streichelte sie, und sie biss mich vorsichtig. Sie fraß das Futter, das ich ihr in den Napf füllte, und als ich das Haus verließ, drückte sie sich an mir vorbei und verschwand zwischen den Wacholderbüschen. Egal, sie würde schon allein zurechtkommen. Ich konnte weder unsere Katze noch die Mäuse, die sie jagen würde, vor allem Übel bewahren.
Linn war beinahe verzweifelt, als es hieß, wir könnten uns keine Katze zulegen. Doch dann war es mir gelungen, Axel zu überreden, aber dieser Sieg war teuer erkauft. Er mochte Rezina nicht. Er verabscheute vor allem den Schmutz, den ihr Katzenklo mit sich brachte. Ich fegte den Sand zusammen, saugte Haare mit dem Staubsauger weg und ging gegen die mindeste Andeutung eines schlechten Geruchs mit einem Spray vor. Linns Freude war der Dank dafür. Sie liebte ihre Katze über alles in der Welt.
Als meine Mutter uns besuchen kam, um sich Rezina anzuschauen, kam sie zum ersten Mal darauf zu sprechen, dass ich vielleicht wegen dem, was geschehen war, mit jemandem reden sollte. Über Axels Krankheit und deren Folgen.
»Nicht nur Axel hat damit zu kämpfen, sondern die ganze Familie. Du hast auch das Recht zu trauern«, hatte sie gesagt.
Vielleicht, aber ich empfand das nicht so. Ich konnte immer noch genauso schnell rennen wie vor einigen Jahren. Ich brauchte keine Brille und konnte unbehindert Auto fahren. Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen, dass irgendein inneres Organ plötzlich aufhörte zu funktionieren und mich dazu zwingen würde, mit Schläuchen an irgendwelche Maschinen angeschlossen, auf der Intensivstation zu liegen. Axel hatte überlebt, und wir hatten zwei Kinder, die uns brauchten. Wenn ich nicht die Kraft aufbrachte, wer dann?
Es roch nach feuchter Erde, aber als ich die Augen schloss, sah ich Leute in weißen Kitteln, und der Frühlingsduft wich dem penetranten Geruch nach Desinfektionsmittel. Im Kopf hallte immer noch die Erklärung wider. Eine Infektion. Nierenversagen. Probleme mit dem Blutkreislauf. Machen Sie sich wegen des Beatmungsgeräts keine Sorgen. Das dient nur dazu, dass sich der Körper ganz auf die Genesung konzentrieren kann. Der Körper. Axels Körper. Als wäre der etwas anderes als Axel.
All die stillen Stunden neben Axels Bett. Menschen, die kamen und gingen, die Krankenakte lasen, Blut abnahmen und manchmal auch dafür sorgten, dass ich etwas aß. Das Erwachen, die Dankbarkeit. Dann das Urteil der Ärzte.
Bald würde meine Familie erwachen, und ich konnte sie mit Liebe überhäufen, um zu beweisen, dass unsere Welt immer noch intakt war. Ich würde Wasser aufsetzen, Brot auftauen, fragen, ob jemand Orangensaft trinken wolle und was wir an diesem Tag unternehmen wollten.
Axel umarmte mich von hinten, und ich zuckte zusammen.
»Wieso stehst du nur im Nachthemd hier draußen?«
»Es war so ein schöner Morgen. Ich habe Rezina nach draußen gelassen.«
»Du frierst ja. Außerdem weiß man nicht, was für Leute hier draußen in den Büschen herumschleichen. Geh rein und zieh dich an.«
Er selbst war bereits angezogen. Er sagte etwas über das schöne Wetter und dass er gut geschlafen habe. Die Betten seien hart genug. Aber er habe das Telefon klingeln hören. Ob ich mit jemandem telefoniert hätte? Jetzt müsse er eine Zeitung auftreiben. Am liebsten das lokale Käseblatt, damit man wisse, was in der Provinz so los sei.
Axel verschwand. Dann waren das Geräusch des Motors und lautes Rumpeln zu hören. Wenig später kehrte er mit der Zeitung und frischen Brötchen zurück. Die Bäckerei hatte er entdeckt, als wir auf der Hinfahrt an ihr vorbeigefahren waren.
Das Frühstück verlief harmonisch. Um den großen, einladenden Esstisch standen alte Küchenstühle mit frisch bezogenen Polstern. Die Mädchen, die eigentlich der Meinung waren, Schonen sei mit Italien nicht zu vergleichen, schienen sich mit allem abgefunden zu haben. Linn erklärte, jeden Tag ein Bad nehmen zu wollen. Im Badezimmer gab es eine weiß gekachelte Wanne. Eine bessere Möglichkeit, sich wie in Italien zu fühlen, gab es hier nicht.
Axel wiederholte, dass er im Laufe des Tages seine Mutter besuchen wolle. Keine unserer Töchter hatte Lust, ihn zu begleiten.
Einige Stunden später waren wir auf dem Weg zum Solgården, dem Heim, in dem Axels Mutter seit einigen Monaten wohnte. Als wir ins Auto stiegen, fiel mir ein Kratzer an der Seite auf. Axel war am Morgen offenbar an der Mauer entlanggeschrammt. Der Schaden war nicht groß, und mich störte er am allerwenigsten. Vielleicht würde ich ja später eine Werkstatt aufsuchen.
Ich fuhr. Axel hatte Musik eingeschaltet und summte mit. Als ich ihn fragte, wie sein Vater ohne seine Frau zurechtkäme, antwortete er kurz angebunden. Axel hatte bisher kaum darüber sprechen wollen, dass seine Mutter unheilbar krank war, und wie nahe sie sich eigentlich standen, wusste ich nicht. Meistens hatten Axels Schwestern sie angerufen und besucht. Axel konnte als einziger Sohn seine Aufwartung machen, wann er wollte. Seine kurzen Besuche stießen immer auf Jubel.
Ich dachte daran, wie mich Axel zum ersten Mal zu seinen Eltern mit nach Hause genommen hatte, um mich ihnen vorzustellen. Es hatte ein sehr gutes Essen gegeben. Alle hatten geschwiegen, nur ich nicht, denn aus meinem Elternhaus war ich anderes gewohnt. Einzig das Klirren des Bestecks und meine Stimme waren zu hören gewesen. Später hatten Axels Eltern ausrichten lassen, dass sie mich sehr nett fänden.
Beim zweiten Besuch waren meine Eltern dabei. Mama trug mitten im Winter ein Sommerkleid und Papa eine Fliege. Axels Mutter hatte gefragt, ob sie die Heizung aufdrehen solle. Dann hatte man Papa aus der Küche vertrieben, als er beim Abwasch helfen wollte.
Jetzt befand sich Axels Mutter auf dem Weg ins Land des Vergessens und wusste bisweilen nicht einmal mehr, wozu ein Kochtopf verwendet wird. An einem Sonntag hatte sie uns mit einem tadellosen Essen empfangen, an einem anderen hatte sie beim Öffnen der Tür Handschuhe und Mütze getragen.
Die vorläufige Unterbringung im Heim hatte Axels Vater organisiert. Er kannte das Personal und hatte nur Gutes gehört. Allerdings lag das Heim ziemlich weit weg. Aber wer konnte schon wissen, wie alles weitergehen würde? Den Abwasch in dem großen Haus von Axels Eltern erledigte derweil eine Zugehfrau, die drei Mal die Woche kam.
Kurz nach dem Umzug der Mutter hatte Axel vorgeschlagen, auf die weite Autofahrt in den Süden und den Osterurlaub in Italien zu verzichten. Stattdessen könne man in einem Haus von Freunden seiner Eltern wohnen. In Schonen. Am Meer. Ganz in der Nähe des Pflegeheims seiner Mutter. Man könne ein paar Tage extra frei nehmen, sich ausruhen und zusammen sein. Tora und Linn würden schließlich langsam erwachsen. Er spüre das, sagte Axel. Er wolle die Zeit nutzen, die uns noch bliebe, bevor sie endgültig flügge seien. Wir könnten gleichzeitig seine Mutter besuchen, solange sie noch halbwegs klar war. Und ich könnte anfangen, den Artikel über die Ewigkeit zu schreiben, von dem ich gesprochen hatte.
Ich hatte mich schon an den Kanälen Venedigs flanieren sehen und gab außerdem zu bedenken, dass die Mädchen enttäuscht sein würden. Axel antwortete nur, dass schließlich er es sei, der die Rechnungen zahle. Er fuhr sich über die Augen, und ich stellte den Italienreiseführer zurück ins Bücherregal, um stattdessen Gummistiefel und Regenmäntel herauszusuchen.
Während Axel zur Kontrolle beim Arzt war, hatte ich Bettwäsche, Handtücher, Lebensmittel und Katzenfutter zusammengepackt. Er war in seine Rechtsanwaltskanzlei gegangen, um alles vorzubereiten, und ich ins Institut.
Jetzt waren wir also hier. Nur wir. Genau wie es sich Axel gewünscht hatte.
Nach einer guten Stunde bogen wir auf einen Kiesplatz ein. Der Solgården war eine prächtige Villa mit vielen Fenstern, einem überdachten Eingangstor und einem gepflegten Garten, der sowohl das Haupthaus als auch mehrere Nebengebäude umgab und in dem alte Bäume wuchsen.
Die Heimleiterin, die uns begrüßte, schien alles im Griff zu haben. Sie erinnerte sich an Axel, der beim Einzug seiner Mutter dabei gewesen war.
»Willkommen«, sagte sie und gab uns die Hand. »Marianne sitzt im Garten. Wir dachten, es würde ein warmer Tag werden, und dann war die Enttäuschung groß, als es plötzlich so aussah, als müssten wir im Haus bleiben. Deswegen haben wir uns einfach warm angezogen.«
»Wie geht es ihr?«
Wir gingen hinters Haus, und die Heimleiterin antwortete, Marianne gehe es den Umständen entsprechend gut. Axel fragte nicht weiter. Wir traten an einen Gartentisch, an dem mehrere ältere Menschen damit beschäftigt waren, zu essen und zu trinken. Die meisten saßen in Rollstühlen, einige beugten sich müde über den Tisch. Alle trugen Jacken und Mäntel, einer hatte sich einen Schal um den Kopf gewickelt.
Axels Mutter saß an der Schmalseite des Tisches. In ihrem Mantel und mit den Perlenohrringen sah sie sehr gepflegt aus.
Über ihren Knien lag eine Decke. Auf der Decke prangte ein großer Kaffeefleck.
Als sie uns sah, stand sie so hastig auf, dass eine Tasse umfiel.
»Viola! Wie schön, dass du noch einmal gekommen bist. Wir hatten es doch gestern so nett.«
Ich wagte es nicht, Axel anzusehen, der sich vorbeugte, um seine Mutter zu umarmen. Marianne schreckte zurück.
»Wer sind Sie?«
»Mama, ich bin es, Axel.« Er klang verärgert.
»Axel? Ich habe einen Sohn, der Axel heißt. Kennen Sie ihn?«
»Ich bin dein Sohn, Mama. Ich bin Axel«, antwortete Axel mit noch schärferer Stimme.
Marianne runzelte die Stirn.
»Schade, dass ihr nicht morgen kommt. Dann wollen die Leute von Saab für uns singen.«
»Saab ist eine Automarke«, sagte Axel.
»Was für eine schöne Frisur du hast, Viola.« Marianne wandte sich an mich.
»Entschuldige, aber ich glaube, ich sollte euch jetzt besser allein lassen«, flüsterte ich Axel zu und entfernte mich.
Ein Ruf, jetzt war das Maß offenbar voll. Ich spürte seinen wütenden Blick in meinem Rücken. Doch ich bog rasch um die Ecke, ließ mich auf eine Bank sinken und vergrub den Kopf in den Händen.
Das Gefühl, mich nicht beherrschen zu können, war schlimmer als Axels Wut. Absurder Irrsinn und die Trauer über den Verfall eines Menschen. So nahe lag der Abgrund, so leicht war es, einen Fehltritt zu begehen. Plötzlich begriff ich, dass sich Axel in Mariannes Welt wie ein Idiot benehmen musste. Einfach daherzukommen und zu behaupten, er sei ihr Sohn. Ein Fremder. Man brauchte das Kaleidoskop nur umzudrehen, und schon wirkte Marianne wie die Kluge von uns.
Jemand setzte sich neben mich, und ich nahm einen unbestimmten Duft nach Gebäck oder einem würzigen Parfüm wahr.
»Vielleicht sollte ich Sie besser in Ruhe lassen, aber Sie weinen so herzzerreißend. Allerdings hat Tränenvergießen noch keiner Frau zu einem glücklicheren Leben verholfen. Obwohl ich sehe, dass Sie einen Grund haben.«
Ich blickte auf. Die Frau sah aus wie ein kleiner Vogel. Ihr Haar war zu einem Knoten gebunden.
»Ich heiße Linnea, aber Sie können mich Lea nennen. Alle nennen mich so. Das passt auch besser zu mir. Ich hatte nie etwas mit diesem rosa Blümchen gemein, das sich im Moos versteckt.«
»Ich heiße Viola. Ich verstehe also, was Sie meinen.«
»Viola. Was Sie nicht sagen. So ganz abwegig ist das aber nicht. Schließlich könnte man Sie mit diesem Haar und der hellen Haut für zerbrechlich halten. Aber ich glaube, dass Sie zäher sind, als Sie aussehen. Was machen Sie hier?«
»Ich besuche zusammen mit meinem Mann meine Schwiegermutter Marianne Odin. Sie ist vor einiger Zeit hier eingezogen. «
»Marianne. Dann ist mir alles klar.«
»Sie kennen sie?«
»Ich kann nicht behaupten, sie wirklich zu kennen, aber wir haben uns einige Male unterhalten. Viel zu intelligent für dieses Heim. Humor hat sie auch.«
»Sie ist nicht ganz ... ich meine, sie ist etwas verwirrt.«
»Das sind wir doch alle. Manche mehr, manche weniger.«
Sie reichte mir ein Taschentuch und sah sich dann um.
»Wenn Sie wollen, können wir einen kleinen Spaziergang durch den Park machen. Wir können aber auch auf mein Zimmer gehen. Vielleicht wollen Sie sich ja erst mal die Nase putzen und etwas Warmes trinken. Irgendwo, wo Sie niemand sieht. Hier wird es langsam so kalt, dass man auf der Bank festfriert.«
Das Letzte, was ich jetzt wollte, war Axel und seiner Mutter zu begegnen, und so willigte ich ein. Während wir gemeinsam in Richtung Eingang liefen, fragte ich mich, warum Lea überhaupt im Solgården wohnte. Sie war zwar bedeutend älter als Marianne, wirkte aber recht rüstig. Allerdings bat sie mich nach einer Weile, sich auf meinen Arm stützen zu dürfen. Als hätte sie meine Verwunderung gespürt, begann sie zu erklären.
»Bei mir meldet sich manchmal so eine teuflische Krankheit zurück, die ich mir in Afrika zugezogen habe, mit Fieber und Schüttelfrost. Dann bin ich ganz schwach und verwirrt. Deswegen bin ich hier. Aber glücklicherweise ist das kein dauerhafter Zustand.«
»Ich kann mir vorstellen, wie deprimierend es sein muss, mit Leuten wie meiner Schwiegermutter zusammenzuleben.«
»Ach was. Marianne ist eher erfrischend. Vermutlich hat sie ihr ganzes Leben lang nur anderen gedient und ist nie auf die Idee gekommen, sich einmal das Recht herauszunehmen, ein Machtwort zu sprechen. Jetzt kommt alles hoch, und daraus mache ich ihr keinen Vorwurf. Die Leute hier können einem leid tun. Es wird zwar auch viel gelacht, aber oft fallen auch böse Worte. Dennoch ist sie, glaube ich, bei allem sehr gefasst.«
»Ja, sie hat sich wirklich ihr gesamtes Leben lang um andere gekümmert. Ich habe ihr nie bei irgendetwas helfen dürfen, wenn wir bei ihr zu Besuch waren. Axel, mein Mann, behauptete immer, sie wolle das so. Er ist eigentlich nicht der Auffassung, die Frau müsse sich um alles kümmern. Aber mein Schwiegervater hat nie im Haushalt geholfen.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass das ihr einziger Freiraum war. Verheiratet mit einem Mann, der sich wie ein Pascha auf dem Sofa ausstreckte. Ich hatte eine Freundin, die auch so einen Partner hatte. Sie sagte immer, ein arbeitender Mann sei der beste Mann. Und schlafende Kinder die besten Kinder.«
Wir hatten den Eingang erreicht und traten ein. Das Foyer war riesig, im Hintergrund führte eine breite Treppe mit einem Geländer aus poliertem Holz nach oben. An den Wänden hingen Gemälde in vergoldeten Rahmen, und es hallte, als wir über den Steinfußboden liefen. Im Stein waren blutrote Versteinerungen zu erkennen. In einer Ecke stand ein Spinnrad.
Langsam stiegen wir die Treppe hinauf. Lea atmete angestrengt. In einem Korridor blieben wir vor einigen Schwarzweißfotos stehen, auf denen Menschen zu sehen waren, die auf Pritschen in einer stillen Schneelandschaft lagen. Eine Krankenschwester servierte Suppe, und ein Patient in Pelzmütze und Handschuhen streckte die Hände aus, um einen Teller entgegenzunehmen. Ein Schild daneben erläuterte, dass der Solgården einmal ein Sanatorium für Lungenkranke war.
Nach einer Weile kamen wir zu Leas Zimmer, und sie bat mich hinein. Es war überraschend groß. In einer Ecke stand ein Metallbett und an der Wand ein Tisch aus Mahagoni. Auf dem Fensterbrett lagen einige lackierte Ziergegenstände. Neben dem Bett befand sich eine Truhe mit geschnitzten Figuren auf dem Deckel. Teppiche dämpften unsere Schritte, und als die Uhr an der Wand schlug, zuckte ich zusammen.
»Ich habe darum gebeten, einiges von zu Hause mitnehmen zu dürfen. Ich würde die vornehmen Möbel hier sonst nicht ertragen, wo ich weiß, dass ich eine ganze Weile bleiben muss.
Wollen Sie einen Kaffee? Einen richtigen Kaffee, nicht diese Brühe, die sie einem hier servieren.«
Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern griff zu einer alten Kaffeemühle, füllte sie mit Kaffeebohnen und verschwand in der Kochnische. Als sie zurückkehrte, hielt sie zwei Tassen in der Hand.
»Ist außerdem gut gegen Schmerzen.«
Sie musste bemerkt haben, dass ich Schmerzen litt. Als Kind hatte ich einmal mit meinem Bruder und meiner Schwester Kerzen gegossen. Wir hatten Kerzenstummel in einen Topf gelegt und begeistert zugesehen, wie es anfing zu brodeln. Plötzlich waren Flammen an die Decke gestiegen, ich hatte den Topf genommen und zur Spüle getragen. Dann hatte es geknallt, und heißes Wachs war über meinen Arm gelaufen.
Die Brandnarbe war verblasst. Der einzige bleibende Schaden war eine Empfindlichkeit der Haut des linken Arms. Deswegen trug ich oft lange Ärmel und sonnte mich nicht. Jetzt schmerzte die Haut richtig, und zwar so, wie sie das oft tat, seit Axel krank geworden war. Aber der Kaffee war gut, und ich lobte ihn. Dann schwiegen wir. Nur das Ticken der Uhr war zu hören und Schritte in weiter Ferne.
Das Zimmer lag im Halbdunkel, und Lea zündete eine Kerze an. Ein Stück des Streichholzes fiel auf den Tisch. Sie nahm es weg und schnippte den Ruß von der Tischdecke.
»Sie sind also die Schwiegertochter von Marianne Odin«, begann sie schließlich. »Und wie ist das?«
»Nun ... sie war immer nett zu mir.«
»Warum hätte sie das auch nicht sein sollen?«
»Da haben Sie recht. Aber ich kenne sie nicht sonderlich gut, obwohl das seltsam klingt. Axels Mutter war wie gesagt immer zu Hause. Bei uns war das nicht so, als ich klein war.«
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Axel richtete sich auf. Ich stieg vom Gas.
»Wir sind bald da. Seht ihr das Meer? Als ich klein war und wir an die Westküste gefahren sind, haben wir immer nach dem Meer Ausschau gehalten. Sobald wir es entdeckt hatten, sangen wir alle ›Lamer‹.«
Plötzlich war die Erinnerung da. Meine Geschwister und ich auf der Rückbank, Papa und Mama vorne. Ein ständiges Geplapper, Singen und Lachen. Keine nervösen Fragen, ob man nicht anhalten und eine Pause machen könne. Immer Zeit für ein Eis oder einen Abstecher in den Wald. Packt die Decke aus, jetzt gibt es ein Mittagessen mit vier Gängen: Butterbrot, Obst, Süßigkeiten und Kaffee.
Linn fragte, ob es in dem Haus auch einen Fernseher gäbe.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es keinen gibt.«
»Aber hast du darauf geachtet, dass es einen gibt?«
»Haben wir darauf geachtet, Axel?«
»Wer, wir?«
Schweigend fanden wir die richtige Abzweigung und fuhren durch den Ort. Ich kurbelte das Fenster herunter und sprach einen Fußgänger an, obwohl ich wusste, dass Axel es verabscheut, nach dem Weg zu fragen. Nach einiger Zeit fanden wir das Haus. Als wir aus dem Auto stiegen, begann es zu regnen.
Das Haus war weiß gestrichen, die Fensterrahmen waren schwarz. Wir liefen eine steinerne Treppe hinauf, die Mädchen und ich je eine Tasche in der Hand, Axel mit seiner Aktentasche unter dem Arm.
Hinter dem Haus lag der Garten, den man uns beschrieben hatte. Heidekraut, Wacholderbüsche und ein schwer zu mähender hügeliger Rasen, einige Rosenbüsche. In einer Ecke lehnten große Steinblöcke aneinander, und einige Farnwedel wucherten aus den Spalten hervor. Zwei Krähen, die gerade ein Festmahl hielten, flogen rasch davon, als wir uns näherten. Ihr missbilligendes Krächzen hallte in der Stille wider.
Nach einer Weile fand Axel den Schlüssel in seiner Manteltasche. Er fluchte, als er ihm aus der Hand glitt und ins Gras fiel. Mit einiger Mühe bekam er das Schloss auf, und wir traten hinein.
Im Haus roch es nach Schmierseife und Holz. Tora und Linn verschwanden in Richtung Wohnzimmer, und ich hörte an ihren Stimmen, dass dort ein Fernseher stand. Ich drehte eine Runde und sah mir die beiden Schlafzimmer an. Betten mit gehäkelten Tagesdecken in dem einen, dezente Blümchentapeten in dem anderen. Auf einem Bord in der Küche standen Porzellangefäße mit Holzdeckeln für Kaffee, Tee und Mehl.
Ich blieb auf der Glasveranda stehen und schaute aus dem Fenster. Das mit dem Meerblick war tatsächlich nicht gelogen, auch wenn es zum Wasser ein Stück einen Hang hinunterging. Der Pfad, der sich zwischen den Wacholderbüschen hindurchschlängelte, führte sicher zu einem Strand.
Etwas streifte meine Beine, und ich bemerkte, dass irgendjemand Rezina ins Haus gebracht und aus ihrem Katzenkäfig gelassen hatte. Axel schob sich an mir vorbei. Er wirkte erhitzt.
»Sei vorsichtig, Axel. Trag nicht zu viel. Ich kann ...«
»Sie musste da raus.«
»Sicher. Ich hatte schon überlegt ... ob wir es wagen können, sie sofort nach draußen zu lassen?«
»Entscheide du. Aber ich würde es nicht tun.«
Ich drehte mich zu Tora und Linn um und bat sie, die Haustüre hinter sich zu schließen. Axel rief, dass es wirklich kalt sei und dass er die Heizung hochdrehen werde.
Eine gute Stunde später war das meiste ausgepackt. Tora und Linn lagen auf dem Sofa und zappten durch alle Sender. In Jeans, die schmalen Arme entblößt, lagen sie ausgestreckt zwischen den Kissen. Im Windfang standen Schuhe, und es gab nicht genügend Bügel für alle Kleider.
Axels Kleider hatte ich auf eines der Betten gelegt. Er wollte sie selbst in der Kommode verstauen, da er behauptete, der Einzige in der Familie zu sein, der Kleidungsstücke ordentlich zusammenfalten könne. Kleiderpflege sei eine Frage des Stils. Es sei schade, dass das nur so wenigen Menschen bewusst sei.
Er war auf die Glasveranda verschwunden. Als ich hinterherkam, um ihn zu fragen, ob er hungrig sei, saß er auf dem Sofa und telefonierte. Den Rücken an ein Heizkissen gelehnt. Ich ging in die Küche und suchte die Zutaten für eine Tomatensauce zusammen. Die Messer lagen ordentlich aufgereiht in einem Kasten. Ich wählte eines aus. Es glitt ohne jeden Widerstand durch die Tomaten.
»Hast du ordentlich gesalzen?«
Axel hatte sich von hinten herangeschlichen und mir die Hände auf die Schultern gelegt.
»Ja.«
»Und Knoblauch ist auch drin?«
»Einige Zehen.«
»Nimm noch ein paar.«
Ich rührte im Topf und sah, wie sich die Tomatenschale ablöste. Das rote Fruchtfleisch kochte zu einer dicken, glatten Masse zusammen.
»Ich habe mit der Heimleiterin des Solgården gesprochen. Mamas Zustand hat sich offenbar verschlechtert. Heute hat sie eine der Pflegerinnen in den Arm gebissen.«
Ich lachte und schämte mich sofort dafür.
»Du hast wirklich einen seltsamen Humor. Ist es etwa lustig, dass es Mama schlechter geht? Aber was kann ich schon anderes von dir erwarten. Du warst ja selbst nie ernsthaft krank und hast keine Ahnung, wie sich das anfühlt.«
Ich schaute in den Kochtopf.
»Tut mir leid. Es ist mir einfach so herausgerutscht ... ohne dass ich es wollte.«
»Sollten Tora und Linn nicht ein wenig mithelfen?«
»Ich habe sie gebeten, den Tisch zu decken.«
»Deine Bitte scheint ja recht erfolgreich zu sein.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. Kein Streit am ersten Abend. Wir hatten Ferien, begannen gerade erst.
»Ich sage ihnen noch mal Bescheid.«
Eine halbe Stunde später saßen wir am gedeckten Tisch. Der Regen war stärker geworden und jetzt überraschenderweise mit Schnee vermischt. Axel behauptete, dass es am nächsten Tag gutes Wetter geben würde. Er hatte vor, zum Strand zu gehen und sich das Motorboot anzusehen, das wir benutzen durften. Falls es nicht überhaupt für Bootsfahrten zu kalt sein würde. Anschließend wollte er gemeinsam mit uns seine Mutter besuchen. Er schien nun bessere Laune zu haben, und als ich ihn fragte, antwortete er, es gehe ihm gut.
Niemand wollte mich anschließend auf einen Abendspaziergang begleiten. Axel musste mehrere Telefonate führen, es sei ausgesprochen wichtig, dass er das sofort erledige. Linn sprach von einem neuen Buch, und Tora war ins Schlafzimmer verschwunden. Ich zog mich an und trat hinaus. Ich empfand die Einsamkeit als Geschenk.
Das Gras auf dem Weg war feucht und glatt. Ich schlängelte mich durch Wacholderbüsche und Gestrüpp und fand mich nach einiger Zeit auf einer Anhöhe wieder. Unter mir lag das Meer. Am Horizont waren einige Schiffe zu erkennen, eine Möwe schwebte über dem Wasser. Schiefergrauer Nebel zog über den Strand, und Muscheln knirschten unter meinen Sohlen.
Beim Anblick des Meeres gerätst du immer ins Schwärmen, hatte ich mir einmal sagen lassen. Seither denke ich darüber nach, was das zu bedeuten hat. Beruhigt mich der Anblick des Meeres, oder erinnert es mich in seiner Unberechenbarkeit an die Menschen?
Meine Eltern leben gerne in der Nähe des Meeres. Im Augenblick waren sie weit weg, in Piteå. Dort kümmerten sie sich um eine alte Verwandte meiner Mutter. Ich hatte einige Tage zuvor mit ihnen gesprochen, und Mama wollte wissen, ob ich alte Laken gebrauchen könne. Wegen der Spitze. Die Verwandte habe Unmengen, und aus den gestickten Monogrammen ließe sich sicher etwas machen. Im Unterschied zu ihr könne ich schließlich nähen.
Jetzt wünschte ich mir, die beiden würden neben mir stehen und mir erklären, nichts sei so schlimm, als dass es nicht noch schlimmer werden könne. Dass sie sagen würden: Mach es wie Großmutter, lache, obwohl es nichts zu lachen gibt. Anschließend fühlt man sich besser.
Ich lachte versuchsweise. Die Möwe antwortete mit einem kehligen Schrei, bevor sie auf die Wasserfläche zuschoss. Linn hat mich einmal gefragt, was aus den Vögeln würde, wenn sie tot wären. Mir war bislang keine glaubwürdige Erklärung eingefallen, aber hier zu meinen Füßen lag ein sprödes Skelett und ringsherum verstreut einige Federn. Bald würden die sterblichen Überreste dieses Seevogels vermutlich zu Staub zerfallen und vom Wind übers Wasser getragen werden.
Ich blieb am Strand, während sich die Dunkelheit über das Land senkte. Als ich mich schließlich umdrehte, um zurückzukehren, war ich vollkommen durchnässt, und der Wind hatte meine Fußspuren im Sand verweht. Durch die Fenster des Hauses, das wir vor ein paar Stunden bezogen hatten, schimmerte es anheimelnd, und als ich eintrat, rief Tora, es gebe eine frische Kanne Tee. »Der Earl Grey, den du so magst, Mama.« Mir kamen die Tränen, ich wischte sie mit dem Ärmel weg, noch ehe sie ganz da waren.
Linn erzählte, sie habe eine Treppe entdeckt, die auf einen großen Speicher führen würde. Es gebe dort eine Unmenge Gerümpel und alte Sachen, und vielleicht würde sie dort ja auch Bücher finden. Für den Fall, dass ihr der mitgebrachte Lesestoff ausgehen sollte und sie noch mehr bräuchte.
Wenig später gingen wir schlafen. Axels Bett war von meinem durch einen gemeinsamen Nachttisch getrennt, auf dem ein kleines Spitzendeckchen lag. Er legte sich in seinem neu gekauften Schlafanzug hin. Ich strich ihm über den Rücken und erhielt einen gedämpften Seufzer zur Antwort. Er hatte das Heizkissen mit ins Bett genommen. Das Radio lief und verbreitete nette Harmlosigkeiten.
Ich hatte vor, in meinen Notizen zu meiner Arbeit über die Ewigkeit zu blättern. Am Strand hatte ich das Gefühl gehabt, mich außerhalb der Zeit zu befinden und mich selbst zu beobachten. So haben es die Dichter in ihren Werken beschrieben, und ich habe genauso empfunden, als Linns Leben auf dem Spiel stand und man mir Zutritt zu einer Kirche gewährte, weil ich versuchen wollte, Gott nahezukommen.
Vielleicht hatte Axel ähnlich empfunden. Vielleicht würden wir ja morgen die Zeit finden, darüber zu sprechen.
Kapitel 3
Die Dämmerung nach einem schlechten Traum. Ein groteskes Wesen, weder Mensch noch Tier, war in ein Zimmer gekommen, in dem wir alle versammelt waren. Das Wesen hatte geschrien und um sich geschlagen, während Axel ganz ruhig erzählte, das sei sein Kind. Es stamme aus einer früheren Verbindung, und er habe das Kind all die Jahre auf dem Speicher versteckt gehalten.
Ich verließ leise das Bett, öffnete die Haustür und atmete die Morgenluft ein. Die Bäume des Gartens lagen noch im Schatten, und an einem alten Telefonmast hing ein Nistkasten. Axel hatte recht behalten. Es würde ein schöner Tag werden, obwohl es kalt war. Ich hatte das Gefühl, als läge weiterer Schnee in der Luft. Weiße Ostern statt venezianischer Frühling. Dass aus der Italienreise eine Schonenreise geworden war, lag jedoch nicht an mir. Axels Gesundheit hatte uns dazu veranlasst wieder einmal unsere Pläne zu ändern.
Rezina lag ausgestreckt vor dem Herd. Als ich mich zu ihr hinunterbeugte, legte sie sich auf den Rücken. Ich streichelte sie, und sie biss mich vorsichtig. Sie fraß das Futter, das ich ihr in den Napf füllte, und als ich das Haus verließ, drückte sie sich an mir vorbei und verschwand zwischen den Wacholderbüschen. Egal, sie würde schon allein zurechtkommen. Ich konnte weder unsere Katze noch die Mäuse, die sie jagen würde, vor allem Übel bewahren.
Linn war beinahe verzweifelt, als es hieß, wir könnten uns keine Katze zulegen. Doch dann war es mir gelungen, Axel zu überreden, aber dieser Sieg war teuer erkauft. Er mochte Rezina nicht. Er verabscheute vor allem den Schmutz, den ihr Katzenklo mit sich brachte. Ich fegte den Sand zusammen, saugte Haare mit dem Staubsauger weg und ging gegen die mindeste Andeutung eines schlechten Geruchs mit einem Spray vor. Linns Freude war der Dank dafür. Sie liebte ihre Katze über alles in der Welt.
Als meine Mutter uns besuchen kam, um sich Rezina anzuschauen, kam sie zum ersten Mal darauf zu sprechen, dass ich vielleicht wegen dem, was geschehen war, mit jemandem reden sollte. Über Axels Krankheit und deren Folgen.
»Nicht nur Axel hat damit zu kämpfen, sondern die ganze Familie. Du hast auch das Recht zu trauern«, hatte sie gesagt.
Vielleicht, aber ich empfand das nicht so. Ich konnte immer noch genauso schnell rennen wie vor einigen Jahren. Ich brauchte keine Brille und konnte unbehindert Auto fahren. Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen, dass irgendein inneres Organ plötzlich aufhörte zu funktionieren und mich dazu zwingen würde, mit Schläuchen an irgendwelche Maschinen angeschlossen, auf der Intensivstation zu liegen. Axel hatte überlebt, und wir hatten zwei Kinder, die uns brauchten. Wenn ich nicht die Kraft aufbrachte, wer dann?
Es roch nach feuchter Erde, aber als ich die Augen schloss, sah ich Leute in weißen Kitteln, und der Frühlingsduft wich dem penetranten Geruch nach Desinfektionsmittel. Im Kopf hallte immer noch die Erklärung wider. Eine Infektion. Nierenversagen. Probleme mit dem Blutkreislauf. Machen Sie sich wegen des Beatmungsgeräts keine Sorgen. Das dient nur dazu, dass sich der Körper ganz auf die Genesung konzentrieren kann. Der Körper. Axels Körper. Als wäre der etwas anderes als Axel.
All die stillen Stunden neben Axels Bett. Menschen, die kamen und gingen, die Krankenakte lasen, Blut abnahmen und manchmal auch dafür sorgten, dass ich etwas aß. Das Erwachen, die Dankbarkeit. Dann das Urteil der Ärzte.
Bald würde meine Familie erwachen, und ich konnte sie mit Liebe überhäufen, um zu beweisen, dass unsere Welt immer noch intakt war. Ich würde Wasser aufsetzen, Brot auftauen, fragen, ob jemand Orangensaft trinken wolle und was wir an diesem Tag unternehmen wollten.
Axel umarmte mich von hinten, und ich zuckte zusammen.
»Wieso stehst du nur im Nachthemd hier draußen?«
»Es war so ein schöner Morgen. Ich habe Rezina nach draußen gelassen.«
»Du frierst ja. Außerdem weiß man nicht, was für Leute hier draußen in den Büschen herumschleichen. Geh rein und zieh dich an.«
Er selbst war bereits angezogen. Er sagte etwas über das schöne Wetter und dass er gut geschlafen habe. Die Betten seien hart genug. Aber er habe das Telefon klingeln hören. Ob ich mit jemandem telefoniert hätte? Jetzt müsse er eine Zeitung auftreiben. Am liebsten das lokale Käseblatt, damit man wisse, was in der Provinz so los sei.
Axel verschwand. Dann waren das Geräusch des Motors und lautes Rumpeln zu hören. Wenig später kehrte er mit der Zeitung und frischen Brötchen zurück. Die Bäckerei hatte er entdeckt, als wir auf der Hinfahrt an ihr vorbeigefahren waren.
Das Frühstück verlief harmonisch. Um den großen, einladenden Esstisch standen alte Küchenstühle mit frisch bezogenen Polstern. Die Mädchen, die eigentlich der Meinung waren, Schonen sei mit Italien nicht zu vergleichen, schienen sich mit allem abgefunden zu haben. Linn erklärte, jeden Tag ein Bad nehmen zu wollen. Im Badezimmer gab es eine weiß gekachelte Wanne. Eine bessere Möglichkeit, sich wie in Italien zu fühlen, gab es hier nicht.
Axel wiederholte, dass er im Laufe des Tages seine Mutter besuchen wolle. Keine unserer Töchter hatte Lust, ihn zu begleiten.
Einige Stunden später waren wir auf dem Weg zum Solgården, dem Heim, in dem Axels Mutter seit einigen Monaten wohnte. Als wir ins Auto stiegen, fiel mir ein Kratzer an der Seite auf. Axel war am Morgen offenbar an der Mauer entlanggeschrammt. Der Schaden war nicht groß, und mich störte er am allerwenigsten. Vielleicht würde ich ja später eine Werkstatt aufsuchen.
Ich fuhr. Axel hatte Musik eingeschaltet und summte mit. Als ich ihn fragte, wie sein Vater ohne seine Frau zurechtkäme, antwortete er kurz angebunden. Axel hatte bisher kaum darüber sprechen wollen, dass seine Mutter unheilbar krank war, und wie nahe sie sich eigentlich standen, wusste ich nicht. Meistens hatten Axels Schwestern sie angerufen und besucht. Axel konnte als einziger Sohn seine Aufwartung machen, wann er wollte. Seine kurzen Besuche stießen immer auf Jubel.
Ich dachte daran, wie mich Axel zum ersten Mal zu seinen Eltern mit nach Hause genommen hatte, um mich ihnen vorzustellen. Es hatte ein sehr gutes Essen gegeben. Alle hatten geschwiegen, nur ich nicht, denn aus meinem Elternhaus war ich anderes gewohnt. Einzig das Klirren des Bestecks und meine Stimme waren zu hören gewesen. Später hatten Axels Eltern ausrichten lassen, dass sie mich sehr nett fänden.
Beim zweiten Besuch waren meine Eltern dabei. Mama trug mitten im Winter ein Sommerkleid und Papa eine Fliege. Axels Mutter hatte gefragt, ob sie die Heizung aufdrehen solle. Dann hatte man Papa aus der Küche vertrieben, als er beim Abwasch helfen wollte.
Jetzt befand sich Axels Mutter auf dem Weg ins Land des Vergessens und wusste bisweilen nicht einmal mehr, wozu ein Kochtopf verwendet wird. An einem Sonntag hatte sie uns mit einem tadellosen Essen empfangen, an einem anderen hatte sie beim Öffnen der Tür Handschuhe und Mütze getragen.
Die vorläufige Unterbringung im Heim hatte Axels Vater organisiert. Er kannte das Personal und hatte nur Gutes gehört. Allerdings lag das Heim ziemlich weit weg. Aber wer konnte schon wissen, wie alles weitergehen würde? Den Abwasch in dem großen Haus von Axels Eltern erledigte derweil eine Zugehfrau, die drei Mal die Woche kam.
Kurz nach dem Umzug der Mutter hatte Axel vorgeschlagen, auf die weite Autofahrt in den Süden und den Osterurlaub in Italien zu verzichten. Stattdessen könne man in einem Haus von Freunden seiner Eltern wohnen. In Schonen. Am Meer. Ganz in der Nähe des Pflegeheims seiner Mutter. Man könne ein paar Tage extra frei nehmen, sich ausruhen und zusammen sein. Tora und Linn würden schließlich langsam erwachsen. Er spüre das, sagte Axel. Er wolle die Zeit nutzen, die uns noch bliebe, bevor sie endgültig flügge seien. Wir könnten gleichzeitig seine Mutter besuchen, solange sie noch halbwegs klar war. Und ich könnte anfangen, den Artikel über die Ewigkeit zu schreiben, von dem ich gesprochen hatte.
Ich hatte mich schon an den Kanälen Venedigs flanieren sehen und gab außerdem zu bedenken, dass die Mädchen enttäuscht sein würden. Axel antwortete nur, dass schließlich er es sei, der die Rechnungen zahle. Er fuhr sich über die Augen, und ich stellte den Italienreiseführer zurück ins Bücherregal, um stattdessen Gummistiefel und Regenmäntel herauszusuchen.
Während Axel zur Kontrolle beim Arzt war, hatte ich Bettwäsche, Handtücher, Lebensmittel und Katzenfutter zusammengepackt. Er war in seine Rechtsanwaltskanzlei gegangen, um alles vorzubereiten, und ich ins Institut.
Jetzt waren wir also hier. Nur wir. Genau wie es sich Axel gewünscht hatte.
Nach einer guten Stunde bogen wir auf einen Kiesplatz ein. Der Solgården war eine prächtige Villa mit vielen Fenstern, einem überdachten Eingangstor und einem gepflegten Garten, der sowohl das Haupthaus als auch mehrere Nebengebäude umgab und in dem alte Bäume wuchsen.
Die Heimleiterin, die uns begrüßte, schien alles im Griff zu haben. Sie erinnerte sich an Axel, der beim Einzug seiner Mutter dabei gewesen war.
»Willkommen«, sagte sie und gab uns die Hand. »Marianne sitzt im Garten. Wir dachten, es würde ein warmer Tag werden, und dann war die Enttäuschung groß, als es plötzlich so aussah, als müssten wir im Haus bleiben. Deswegen haben wir uns einfach warm angezogen.«
»Wie geht es ihr?«
Wir gingen hinters Haus, und die Heimleiterin antwortete, Marianne gehe es den Umständen entsprechend gut. Axel fragte nicht weiter. Wir traten an einen Gartentisch, an dem mehrere ältere Menschen damit beschäftigt waren, zu essen und zu trinken. Die meisten saßen in Rollstühlen, einige beugten sich müde über den Tisch. Alle trugen Jacken und Mäntel, einer hatte sich einen Schal um den Kopf gewickelt.
Axels Mutter saß an der Schmalseite des Tisches. In ihrem Mantel und mit den Perlenohrringen sah sie sehr gepflegt aus.
Über ihren Knien lag eine Decke. Auf der Decke prangte ein großer Kaffeefleck.
Als sie uns sah, stand sie so hastig auf, dass eine Tasse umfiel.
»Viola! Wie schön, dass du noch einmal gekommen bist. Wir hatten es doch gestern so nett.«
Ich wagte es nicht, Axel anzusehen, der sich vorbeugte, um seine Mutter zu umarmen. Marianne schreckte zurück.
»Wer sind Sie?«
»Mama, ich bin es, Axel.« Er klang verärgert.
»Axel? Ich habe einen Sohn, der Axel heißt. Kennen Sie ihn?«
»Ich bin dein Sohn, Mama. Ich bin Axel«, antwortete Axel mit noch schärferer Stimme.
Marianne runzelte die Stirn.
»Schade, dass ihr nicht morgen kommt. Dann wollen die Leute von Saab für uns singen.«
»Saab ist eine Automarke«, sagte Axel.
»Was für eine schöne Frisur du hast, Viola.« Marianne wandte sich an mich.
»Entschuldige, aber ich glaube, ich sollte euch jetzt besser allein lassen«, flüsterte ich Axel zu und entfernte mich.
Ein Ruf, jetzt war das Maß offenbar voll. Ich spürte seinen wütenden Blick in meinem Rücken. Doch ich bog rasch um die Ecke, ließ mich auf eine Bank sinken und vergrub den Kopf in den Händen.
Das Gefühl, mich nicht beherrschen zu können, war schlimmer als Axels Wut. Absurder Irrsinn und die Trauer über den Verfall eines Menschen. So nahe lag der Abgrund, so leicht war es, einen Fehltritt zu begehen. Plötzlich begriff ich, dass sich Axel in Mariannes Welt wie ein Idiot benehmen musste. Einfach daherzukommen und zu behaupten, er sei ihr Sohn. Ein Fremder. Man brauchte das Kaleidoskop nur umzudrehen, und schon wirkte Marianne wie die Kluge von uns.
Jemand setzte sich neben mich, und ich nahm einen unbestimmten Duft nach Gebäck oder einem würzigen Parfüm wahr.
»Vielleicht sollte ich Sie besser in Ruhe lassen, aber Sie weinen so herzzerreißend. Allerdings hat Tränenvergießen noch keiner Frau zu einem glücklicheren Leben verholfen. Obwohl ich sehe, dass Sie einen Grund haben.«
Ich blickte auf. Die Frau sah aus wie ein kleiner Vogel. Ihr Haar war zu einem Knoten gebunden.
»Ich heiße Linnea, aber Sie können mich Lea nennen. Alle nennen mich so. Das passt auch besser zu mir. Ich hatte nie etwas mit diesem rosa Blümchen gemein, das sich im Moos versteckt.«
»Ich heiße Viola. Ich verstehe also, was Sie meinen.«
»Viola. Was Sie nicht sagen. So ganz abwegig ist das aber nicht. Schließlich könnte man Sie mit diesem Haar und der hellen Haut für zerbrechlich halten. Aber ich glaube, dass Sie zäher sind, als Sie aussehen. Was machen Sie hier?«
»Ich besuche zusammen mit meinem Mann meine Schwiegermutter Marianne Odin. Sie ist vor einiger Zeit hier eingezogen. «
»Marianne. Dann ist mir alles klar.«
»Sie kennen sie?«
»Ich kann nicht behaupten, sie wirklich zu kennen, aber wir haben uns einige Male unterhalten. Viel zu intelligent für dieses Heim. Humor hat sie auch.«
»Sie ist nicht ganz ... ich meine, sie ist etwas verwirrt.«
»Das sind wir doch alle. Manche mehr, manche weniger.«
Sie reichte mir ein Taschentuch und sah sich dann um.
»Wenn Sie wollen, können wir einen kleinen Spaziergang durch den Park machen. Wir können aber auch auf mein Zimmer gehen. Vielleicht wollen Sie sich ja erst mal die Nase putzen und etwas Warmes trinken. Irgendwo, wo Sie niemand sieht. Hier wird es langsam so kalt, dass man auf der Bank festfriert.«
Das Letzte, was ich jetzt wollte, war Axel und seiner Mutter zu begegnen, und so willigte ich ein. Während wir gemeinsam in Richtung Eingang liefen, fragte ich mich, warum Lea überhaupt im Solgården wohnte. Sie war zwar bedeutend älter als Marianne, wirkte aber recht rüstig. Allerdings bat sie mich nach einer Weile, sich auf meinen Arm stützen zu dürfen. Als hätte sie meine Verwunderung gespürt, begann sie zu erklären.
»Bei mir meldet sich manchmal so eine teuflische Krankheit zurück, die ich mir in Afrika zugezogen habe, mit Fieber und Schüttelfrost. Dann bin ich ganz schwach und verwirrt. Deswegen bin ich hier. Aber glücklicherweise ist das kein dauerhafter Zustand.«
»Ich kann mir vorstellen, wie deprimierend es sein muss, mit Leuten wie meiner Schwiegermutter zusammenzuleben.«
»Ach was. Marianne ist eher erfrischend. Vermutlich hat sie ihr ganzes Leben lang nur anderen gedient und ist nie auf die Idee gekommen, sich einmal das Recht herauszunehmen, ein Machtwort zu sprechen. Jetzt kommt alles hoch, und daraus mache ich ihr keinen Vorwurf. Die Leute hier können einem leid tun. Es wird zwar auch viel gelacht, aber oft fallen auch böse Worte. Dennoch ist sie, glaube ich, bei allem sehr gefasst.«
»Ja, sie hat sich wirklich ihr gesamtes Leben lang um andere gekümmert. Ich habe ihr nie bei irgendetwas helfen dürfen, wenn wir bei ihr zu Besuch waren. Axel, mein Mann, behauptete immer, sie wolle das so. Er ist eigentlich nicht der Auffassung, die Frau müsse sich um alles kümmern. Aber mein Schwiegervater hat nie im Haushalt geholfen.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass das ihr einziger Freiraum war. Verheiratet mit einem Mann, der sich wie ein Pascha auf dem Sofa ausstreckte. Ich hatte eine Freundin, die auch so einen Partner hatte. Sie sagte immer, ein arbeitender Mann sei der beste Mann. Und schlafende Kinder die besten Kinder.«
Wir hatten den Eingang erreicht und traten ein. Das Foyer war riesig, im Hintergrund führte eine breite Treppe mit einem Geländer aus poliertem Holz nach oben. An den Wänden hingen Gemälde in vergoldeten Rahmen, und es hallte, als wir über den Steinfußboden liefen. Im Stein waren blutrote Versteinerungen zu erkennen. In einer Ecke stand ein Spinnrad.
Langsam stiegen wir die Treppe hinauf. Lea atmete angestrengt. In einem Korridor blieben wir vor einigen Schwarzweißfotos stehen, auf denen Menschen zu sehen waren, die auf Pritschen in einer stillen Schneelandschaft lagen. Eine Krankenschwester servierte Suppe, und ein Patient in Pelzmütze und Handschuhen streckte die Hände aus, um einen Teller entgegenzunehmen. Ein Schild daneben erläuterte, dass der Solgården einmal ein Sanatorium für Lungenkranke war.
Nach einer Weile kamen wir zu Leas Zimmer, und sie bat mich hinein. Es war überraschend groß. In einer Ecke stand ein Metallbett und an der Wand ein Tisch aus Mahagoni. Auf dem Fensterbrett lagen einige lackierte Ziergegenstände. Neben dem Bett befand sich eine Truhe mit geschnitzten Figuren auf dem Deckel. Teppiche dämpften unsere Schritte, und als die Uhr an der Wand schlug, zuckte ich zusammen.
»Ich habe darum gebeten, einiges von zu Hause mitnehmen zu dürfen. Ich würde die vornehmen Möbel hier sonst nicht ertragen, wo ich weiß, dass ich eine ganze Weile bleiben muss.
Wollen Sie einen Kaffee? Einen richtigen Kaffee, nicht diese Brühe, die sie einem hier servieren.«
Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern griff zu einer alten Kaffeemühle, füllte sie mit Kaffeebohnen und verschwand in der Kochnische. Als sie zurückkehrte, hielt sie zwei Tassen in der Hand.
»Ist außerdem gut gegen Schmerzen.«
Sie musste bemerkt haben, dass ich Schmerzen litt. Als Kind hatte ich einmal mit meinem Bruder und meiner Schwester Kerzen gegossen. Wir hatten Kerzenstummel in einen Topf gelegt und begeistert zugesehen, wie es anfing zu brodeln. Plötzlich waren Flammen an die Decke gestiegen, ich hatte den Topf genommen und zur Spüle getragen. Dann hatte es geknallt, und heißes Wachs war über meinen Arm gelaufen.
Die Brandnarbe war verblasst. Der einzige bleibende Schaden war eine Empfindlichkeit der Haut des linken Arms. Deswegen trug ich oft lange Ärmel und sonnte mich nicht. Jetzt schmerzte die Haut richtig, und zwar so, wie sie das oft tat, seit Axel krank geworden war. Aber der Kaffee war gut, und ich lobte ihn. Dann schwiegen wir. Nur das Ticken der Uhr war zu hören und Schritte in weiter Ferne.
Das Zimmer lag im Halbdunkel, und Lea zündete eine Kerze an. Ein Stück des Streichholzes fiel auf den Tisch. Sie nahm es weg und schnippte den Ruß von der Tischdecke.
»Sie sind also die Schwiegertochter von Marianne Odin«, begann sie schließlich. »Und wie ist das?«
»Nun ... sie war immer nett zu mir.«
»Warum hätte sie das auch nicht sein sollen?«
»Da haben Sie recht. Aber ich kenne sie nicht sonderlich gut, obwohl das seltsam klingt. Axels Mutter war wie gesagt immer zu Hause. Bei uns war das nicht so, als ich klein war.«
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Maria Ernestam
Maria Ernestam, geb. 1959, begann ihre Laufbahn als Journalistin. Sie hat lange Jahre als Auslandskorrespondentin für schwedische Zeitungen in Deutschland gelebt, daneben eine Ausbildung als Tänzerin, Sängerin und Schauspielerin absolviert. In Schweden sind mittlerweile drei hoch gelobte Romane von ihr erschienen. Maria Ernestam lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Stockholm.Holger Wolandt wurde 1962 in Würzburg geboren und studierte in München Nordistik, Anglistik und Germanistik. Heute lebt er mit seiner Familie in Schweden: im Sommer in einem gelbgestrichenen Holzhaus an einem See in Sörmland, im Winter in Stockholm. Wolandt ist Autor, Übersetzer und Herausgeber mehrerer literarischer Anthologien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Maria Ernestam
- 2012, 377 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Holger Wolandt, Lotta Rüegger
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442743982
- ISBN-13: 9783442743988
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