Sterbestunde
Ein Menschenleben bedeutet ihnen nichts...
Wegen eines Autounfalls, bei dem ein Pfleger getötet wurde, gerät ein Altenheim ins Visier der Koblenzer Polizei. Kommissar Sven Becker, der die Ermittlungen leitet, stößt...
Wegen eines Autounfalls, bei dem ein Pfleger getötet wurde, gerät ein Altenheim ins Visier der Koblenzer Polizei. Kommissar Sven Becker, der die Ermittlungen leitet, stößt...
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Produktinformationen zu „Sterbestunde “
Ein Menschenleben bedeutet ihnen nichts...
Wegen eines Autounfalls, bei dem ein Pfleger getötet wurde, gerät ein Altenheim ins Visier der Koblenzer Polizei. Kommissar Sven Becker, der die Ermittlungen leitet, stößt auf ein weiteres brisantes Detail: Die Blutprobe einer verstorbenen Heimbewohnerin enthält rätselhafte, HIV-resistente Zellen. Noch bevor der Heimdirektor dafür zur Rechenschaft gezogen werden kann, ist er verschwunden. Und Becker bekommt es mit skrupellosen Gegnern zu tun, denen ein Menschenleben nicht das Geringste bedeutet.
Lese-Probe zu „Sterbestunde “
Sterbestunde von Michael Hübner Zwei Jahre zuvor
... mehr
Wie gelähmt starrte er auf den Leichnam, der von der Decke der alten Scheune herabhing und um den Dutzende von Fliegen kreisten. Trotz des Taschentuchs, das er sich vor Mund und Nase hielt, raubte der Gestank ihm den Atem. Starr folgte sein Blick dem Verlauf des Seils, das um den rissigen Balken geknotet war, bis hinunter zu der Schlinge und dem angeschwollenen, blau verfärbten Gesicht. Milchige Augen quollen aus ihren Höhlen und sahen vorwurfsvoll auf ihn herab, als wollten sie fragen: »Warum?«
Weil du schuldig warst, redete er sich ein, doch dieser Gedanke reichte nicht aus, um sein Gewissen zu entlasten. Sein Blick glitt bis zu den Füßen des Toten hinab, die über dem umgestürzten Melkschemel pendelten. Einer der Hunde, die frei auf dem Hof herumstreunten, hatte sich an dem rechten Fuß zu schaffen gemacht. Das Fleisch war bis auf die Knochen abgenagt. Ganz kurz war Sven Becker überzeugt, dass dies der schrecklichste Anblick in seiner ganzen Laufbahn als Polizist war. Doch dann erinnerte er sich an die toten Kinder, an ihre zerschundenen Körper, die nur notdürftig in einem Waldstück verscharrt gewesen waren, und er zwang sich, erneut in die trüben Augen zu schauen.
Du warst schuldig, wiederholte er in Gedanken, als suche er nach einer Rechtfertigung für diesen Selbstmord. Aber warum kam ihm dieser Anblick dann so falsch vor? Warum
fühlte er sich dann so schuldig?
Es sollte zwei Jahre dauern, bis Kommissar Sven Becker darauf eine Antwort bekam. Denn exakt so lange schaffte es sein Gewissen, die Geschehnisse zu verdrängen, die in diesem Freitod ihren traurigen Höhepunkt gefunden hatten. Erst zwei Jahre später zwang ihn eine weitere Serie von Todesfällen dazu, sich erneut damit zu beschäftigen. Und diese Ereignisse, die mit dem Tod eines neunzehnjährigen Zivildienstleistenden begannen und später als gewaltiger Skandal in die Geschichte der Stadt Koblenz eingehen sollten, stürzten ihn in die schwerste Krise seines Lebens und hätten ihn beinahe das Leben gekostet.
1
Donner! ... Nichts weiter. Nur dieser hohle, blecherne Donner, kurz bevor die Schwerkraft aussetzte und die Welt um ihn herum zu einem rasenden Karussell wurde. Ein abstruser Mischmasch aus Farben und Formen, die in seiner Wahrnehmung stetig tiefer zu einem dunklen Grauton verschmolzen. Dann der Aufschlag - hart, aber fern jeder Realität. Allmählich begann das Grau wieder Gestalt anzunehmen, sich in dunklen Umrissen zu festigen, die wie geisterhafte Schatten in der Dunkelheit vibrierten. Er spürte den warmen Asphalt unter sich, fühlte, wie das Adrenalin seinen Körper betäubte. Ein kurzer Moment zwischen Unterbewusstsein und Wahrnehmung, zwischen Dämmerung und Tageslicht, in dem er noch immer schwerelos war.
Dann setzte der Schmerz ein.
Mit dem Schmerz kam die Erinnerung zurück wie eine tonnenschwere Last. Und als ihm klar wurde, was passiert war, wünschte er sich, er wäre nie aus dieser Schwerelosigkeit erwacht.
Nur widerwillig füllte sich seine Lunge mit Luft; es kam ihm vor, als atme er durch einen Strohhalm. Am meisten Angst jedoch machten ihm seine Beine. Alles an ihnen fühlte sich verdreht an, grotesk, irgendwie - falsch. Wie die losen Glieder einer Marionette, die man achtlos zu Boden geworfen hatte. Eine glühende Masse wabernden Schmerzes. Unmöglich, jetzt noch davonzurennen. Doch das hatte er ohnehin schon lange genug getan.
Obwohl erst wenige Sekunden vergangen waren, konnte er sich nur vage daran erinnern, wie er die Straße mit gesunden, mit richtigen Beinen überquert hatte. Mit Träumen und mit einer Zukunft. Er erinnerte sich nur an den Schock und an die Unfähigkeit zu reagieren. Daran, wie sein Kopf auf die Motorhaube geschlagen war. Danach hatte sein Verstand abgeschaltet, hatte ihm vorenthalten, wie er gegen die Frontscheibe und über das Wagendach geschleudert worden war. Erst nachdem er hier, im grellen Licht einer Straßenlaterne, liegengeblieben war, schien ein Teil seines Bewusstseins entschieden zu haben, ihn wieder an der Situation teilhaben zu lassen. Und diesen bewussten Teil seines Selbst verfluchte er nun, denn er erinnerte ihn daran, wer er war: Erik Jensen, ein Verlierer vor dem Herrn, der um jeden Preis zum Gewinner werden wollte und der nun die Rechnung dafür präsentiert bekam.
Ein Blutschwall schwappte aus seinem Mund, nahm ihm die wenige Luft zum Atmen, die ihm noch blieb. Er röchelte, spie den kupferartigen Geschmack auf die Straße.
Nicht ersticken!, schrie ein panischer Gedanke in ihm, während grelle Punkte vor seinen Augen explodierten. Sein Atem war nur noch ein pfeifendes Rasseln, aber das ständige Auf und Ab seiner Brust ging weiter. Und obwohl ihm klar war, dass er das hier nicht überleben würde, beruhigte er sich wieder, denn es war nicht die Angst vor dem Sterben, die ihn in Panik versetzte. Selbst die Tatsache, dass er schon mit neunzehn Jahren sterben würde, war ihm egal. Er wollte diesen Drecksäcken nur nicht die Genugtuung gönnen, dass er an seinem eigenen Blut erstickte. Und er würde auch nicht um sein Leben betteln. Denn dieses Leben war es nicht wert, dafür zu kämpfen.
Benommen versuchte er sich zu orientieren, doch die Straßenlaterne blendete ihn. Nur undeutlich nahm er wahr, dass er quer auf der steil abfallenden Straße lag. In einiger Entfernung erkannte er die dunklen Umrisse eines Autos. Zwei Bremslichter in der Nacht, die ihn betrachteten wie glühende Augen.
Ich lebe noch, du Scheißkerl! Also leg endlich den Rückwärtsgang ein und tu, wofür sie dich bezahlen! Sie hatten allen Grund dazu. Er wusste zu viel, war hinter ihr sorgsam gehütetes Geheimnis gekommen. Und vermutlich hatte sie das so überrascht, dass ihnen keine andere Wahl geblieben war. Sie hatten ihn unterschätzt.
Eine weitere Schmerzwoge brach über ihn herein, und er registrierte nur undeutlich, wie der Wagen aufheulend in die Dunkelheit davonraste und all seine Hoffnungen mitnahm. Du hattest es fast geschafft, dachte er benommen. Nur zwei Tage. Zwei gottverdammte Tage! Wenigstens würde er dafür sorgen, dass sie nicht ungeschoren davonkamen.
Nur mit Mühe gelang es ihm, den rechten Arm zu bewegen. Im Gegensatz zum Rest seines Körpers schien dieser den Aufprall halbwegs unbeschadet überstanden zu haben. Schwerfällig tastete sich seine Hand bis zur leeren Brusttasche seines Hemdes vor.
Es war nicht mehr da!
In panischem Schrecken zuckte sein hämmernder Kopf herum, so dass ihm schwarz vor den Augen wurde. Als er sich wieder erholt hatte, sah er es - das kleine blaue Buch, das etwa zwei Meter entfernt am Rande des Lichtkegels lag. Mit fast unmenschlicher Kraft stemmte er sich auf den Ellenbogen und zog sich ein Stück vorwärts, ignorierte den ra senden Schmerz, als seine zerschmetterten Gliedmaßen über den Straßenbelag schrammten. Es gelang ihm, einen flüchtigen Blick auf sein linkes Bein zu werfen. Ein großes Stück Knochen ragte wie ein blutiger Pfahl aus seinem Oberschenkel, und er wandte sich sofort wieder ab. Blut tropfte ihm aus Mund und Nase und bildete kleine Lachen auf dem Asphalt. Erst als seine Hand das kleine Buch zu fassen bekam, sackte er erleichtert zusammen. Sein ganzer Körper bestand nur noch aus Schmerzen. Ein dunkles Tuch legte sich über ihn, hüllte seine Wahrnehmung mehr und mehr ein, aber das war gut so. Er hatte die Dunkelheit immer gemocht, hatte sie stets als seinen einzigen Freund betrachtet. In ihrem Schutz hatte er sich nie vor anderen schämen müssen. Warum sich ihr nicht für immer anschließen?
Nur noch schwach drangen Geräusche zu ihm durch. Er hörte Schritte und Stimmen. Rollläden und Fenster, die geöffnet wurden. Jemand schrie. Das alles war nur wenige Meter entfernt, doch es drang von weit her zu ihm, aus einer Welt, die ihn sein ganzes Leben lang ignoriert hatte, weil sie nur Perfektion akzeptierte.
Seine Hände umklammerten das kleine Buch wie einen seltenen Schatz, während die Geräusche um ihn herum immer schwächer wurden, bis er nur noch leise Schritte wahrnahm, die sich ihm näherten. Sie kommen dich holen. Fast glaubte er, in blendende Klarheit einzutauchen. Wohin sie dich auch bringen, das Taxi ist soeben eingetroffen.
Blut strömte aus der klaffenden Wunde an seiner Stirn und tauchte diese letzte Vision seines sterbenden Gehirns in leuchtendes Rot.
Dann spürte er nichts mehr.
Der Wagen ruckte kurz, als er abrupt an einer Kreuzung zum Stehen kam. Um ein Haar hätte er den Motor abgewürgt. Ihn ein weiteres Mal kurzzuschließen hätte unnötig Zeit gekostet. Also ermahnte er sich, Ruhe zu bewahren, während die Scheibenwischer über das gesprungene Glas schrubbten, um die Blutspritzer zu entfernen, die ihm die Sicht nahmen. Ein Stück Kopfhaut klebte an einem Wischblatt, hob und senkte sich mit ihm. Lange, dunkelbraune Haare sprossen daraus hervor. Hektisch schaute der Fahrer sich um, doch es war niemand zu sehen. Er bog auf die Hauptstraße ein, die geradewegs durch die kleine Stadt führte und sie wie ein Fluss in zwei Ufer teilte. Erst jetzt schaltete er den einen Scheinwerfer ein, der noch intakt war, und folgte dem Verlauf einer lang gezogenen Rechtskurve.
War er tot?, fragte er sich. War der Kerl auch wirklich tot? Natürlich war er tot. Teile seines verdammten Schädels klebten an der Scheibe. Niemand hätte diesen Aufprall überlebt!
Aber du bist nicht sicher. Du hättest dich vergewissern müssen.
Das war doch lächerlich. Er hatte genug Erfahrung, um zu wissen, wann jemand tot war und wann nicht. Und dieser Kerl war tot!
Er suchte im Rückspiegel nach Verfolgern. Doch da waren nur spärlich beleuchteter Asphalt und ein Teil seines Gesichts. Eine dunkle Schirmmütze, die er tief in die Stirn gezogen hatte, verdeckte die schwarzen Haare, und der aufgeklebte Oberlippenbart ließ seine südländischen Züge wenigstens fünf Jahre älter erscheinen. Es war nur eine spärliche Tarnung, doch sie würde genügen. Den Rest würde die Dunkelheit verbergen. In einem Provinznest wie diesem war um diese Zeit ohnehin nicht mit Zeugen zu rechnen. Irgendwie bedauerte er das sogar, denn üblicherweise musste er sich mehr Mühe geben, sein Äußeres zu verändern. Er konnte sich älter oder jünger oder unsichtbar machen, wobei ihn stets eine fast kindliche Euphorie überkam, die beinahe die Lust am Töten überwog. Aber vermutlich war es die Kombination aus beidem, die diesen Rausch heraufbeschwor. Dieses freudige Prickeln, wie es Schauspieler kurz vor ihrem Auftritt verspüren. Nur lag sein Bestreben nicht darin, die Leute zu unterhalten, sondern ihnen eine Lektion zu erteilen, und zwar eine endgültige.
Du hättest dich vergewissern müssen!
Zum Teufel damit! Sein verdammter Perfektionismus brachte ihn noch um den Verstand. Aber das war nun einmal nötig, denn ein gelungener Auftritt hing von guter Vorbereitung, exaktem Timing und präziser Ausführung ab.
Sein Künstlername: Mohamed. Seine Vorliebe: Dramen mit tödlichem Ausgang. Doch trotz seiner außergewöhnlichen Begabung blieb ihm gebührende Anerkennung versagt. Ein Aspekt seiner Arbeit, der ihm zunehmend missfiel.
Er fuhr an alten Fachwerkhäusern und parkenden Autos vorbei, die zu beiden Seiten die schmale Straße säumten. Noch immer war niemand zu sehen. Es war fast schon zu leicht. Das Einzige, was ihm jetzt noch gefährlich werden konnte, war eine Begegnung mit einer Polizeistreife. Doch auch für diesen unwahrscheinlichen Fall hatte er vorgesorgt. Die Schnellfeuerwaffe, die er jederzeit griffbereit mit Klebeband an der Lehne des Beifahrersitzes angebracht hatte, würde ihm die nötige Durchsetzungskraft verschaffen.
Die Häuserreihen lichteten sich, und erst als das gelbe Ortsschild der kleinen Westerwälder Gemeinde Hillscheid am Seitenfenster vorbeiraste, entspannte er sich. Der Vorhang war gefallen, die Vorstellung vorbei. Und sie war ihm unter den gegebenen Umständen gut gelungen. Nicht perfekt, aber zufriedenstellend. Und manchmal musste das eben reichen. Es hatte wie ein Unfall aussehen sollen. Das war die einzige Bedingung gewesen, und er hatte sie erfüllt.
Vor ihm erstreckte sich ein riesiges Waldgebiet, in dem sich die Straße im Nichts verlor. Ein düsteres Lächeln umspielte seine Lippen, und in seinem Innern hörte er den tosenden Applaus eines unsichtbaren Publikums.
2
Etwa eineinhalb Stunden später hielt ein silberfarbener Opel an der Unfallstelle. Der Fahrer blieb noch einige Minuten sitzen und betrachtete das geschäftige Treiben im künstlichen Licht der Straßenbeleuchtung. Polizeiwagen säumten die Bordsteine, und etwa ein Dutzend Beamte in Uniform und Zivil waren dort zugange. Schaulustige aus den umliegenden Häusern hatten sich in kleinen Gruppen am Straßenrand versammelt oder betrachteten das Geschehen aus den Fenstern ihrer Wohnungen. Blaulicht kreiste über ihre Gesichter und an den Häuserwänden entlang und tanzte durch die Bäume der Vorgärten.
Sven Becker hatte auf all das ebenso viel Lust wie auf eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Seine Kopfschmerzen waren schlimmer geworden, was aber durchaus Vorteile hatte. Denn durch den pochenden Schmerz, der wie eine wütende Katze in seinen Ohren fauchte, hörte er die Stimme in seinem Kopf nicht mehr. Die Stimme der Vergangenheit, die ständig von den guten Zeiten schwärmte und ihn daran erinnerte, wie schlecht die Gegenwart war. Seit acht Tagen hatte er seine Wohnung nicht mehr verlassen. Und er bereute es bereits, dieses sichere Versteck aufgegeben zu haben, auch wenn es voraussichtlich nur für ein paar Stunden war.
Müde betrachtete er sich im Rückspiegel, sah die dunklen Ringe unter seinen Augen, die der fehlende Schlaf der letzten Wochen dort hinterlassen hatte. Seine Haut wirkte grau und schlaff, und seine braunen Haare hingen ihm strähnig und ungewaschen ins Gesicht. Es war das Abbild eines fünfunddreißigjährigen Mannes, dessen Leben aus den Fugen geraten war. Als der Anruf ihn vor gut zwanzig Minuten aus seiner Schlaflosigkeit gerissen hatte, hätte er eigentlich froh sein müssen. Jetzt jedoch wäre er am liebsten wieder umgedreht. Es dauerte eine Weile, bis er sich dazu durchrang, aus dem Wagen zu steigen.
Augenblicklich schlug ihm die schwüle Nachthitze ins Gesicht und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Langsam bahnte sich ein grauer Leichenwagen einen Weg durch die Absperrung, als Sven sich den Beamten näherte. Ein junger Polizist trat ihm in den Weg.
»Sie können hier nicht durch«, sagte er streng. »Polizeieinsatz.«
Sven Becker blieb stehen und betrachtete den junge Mann in seiner Uniform. »Tatsächlich?«, fragte er gereizt, während er seinen Dienstausweis aus der Gesäßtasche seiner verwaschenen Jeans zog. »Und ich dachte schon, Sie halten hier 'ne Parade ab.«
Der junge Polizist schielte auf den Ausweis und zupfte verlegen an seiner Uniformjacke. »Kripo Koblenz?«, fragte er und betrachtete irritiert Svens Hemd.
»Lassen Sie ihn durch!«, rief eine dröhnende Stimme im Hintergrund, die Sven sofort erkannte. Sie gehörte zu einem Mann, der etwa zehn Meter entfernt bei einer Gruppe Schaulustiger stand. In der einen Hand hielt er einen kleinen Notizblock, mit der anderen winkte er Sven energisch zu sich.
»Kann ich jetzt meine Arbeit machen?«, fragte Sven Becker bissig.
»Natürlich, Herr Kommissar. Entschuldigen Sie.«
Sven verstaute seinen Ausweis wieder und ging auf den Mann zu, dessen Zuruf ihm wahrscheinlich eine längere Auseinandersetzung mit diesem Jungspund erspart hatte. Dennis Bergmann hatte seine dunkelblonden Haare wie üblich mit Gel zurückgekämmt, und sein markantes Gesicht war glatt rasiert.
»Nimm's dem Jungen nicht übel«, sagte er, nachdem er Sven eingehend gemustert hatte. »In dieser Aufmachung wirkst du nicht gerade wie ein Gesetzeshüter.«
Verwundert sah Sven an sich herab und begriff erst jetzt. In der Unordnung und dem Halbdunkel seines Schlafzimmers hatte er sich das erstbeste Hemd übergestreift, das greifbar gewesen war. Dabei musste ihm entgangen sein, wie zerknittert es war. »Das trägt man jetzt so«, erwiderte er.
»Na, den Trend hab ich wohl verpasst.« Dennis betrachtete Svens geschwollene Augen. »Sind die auch modern, oder machst du jetzt einen auf Herr der Ringe?« »Ich habe einfach in letzter Zeit schlecht geschlafen.« Sven wischte sich über die schweißnasse Stirn. »Und das lag nicht an dieser verdammten Hitze.« »Ich dachte, du hättest dir ein paar Tage frei genommen.«
»Ja, das dachte ich auch, bis vor zwanzig Minuten.« Dennis sah ihn mitfühlend an. Dann griff er in die Innentasche seines Sakkos und zog einen Streifen Kaugummi heraus. »Scotch oder Bourbon?«
»Was?«, fragte Sven irritiert.
Copyright © 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag
Wie gelähmt starrte er auf den Leichnam, der von der Decke der alten Scheune herabhing und um den Dutzende von Fliegen kreisten. Trotz des Taschentuchs, das er sich vor Mund und Nase hielt, raubte der Gestank ihm den Atem. Starr folgte sein Blick dem Verlauf des Seils, das um den rissigen Balken geknotet war, bis hinunter zu der Schlinge und dem angeschwollenen, blau verfärbten Gesicht. Milchige Augen quollen aus ihren Höhlen und sahen vorwurfsvoll auf ihn herab, als wollten sie fragen: »Warum?«
Weil du schuldig warst, redete er sich ein, doch dieser Gedanke reichte nicht aus, um sein Gewissen zu entlasten. Sein Blick glitt bis zu den Füßen des Toten hinab, die über dem umgestürzten Melkschemel pendelten. Einer der Hunde, die frei auf dem Hof herumstreunten, hatte sich an dem rechten Fuß zu schaffen gemacht. Das Fleisch war bis auf die Knochen abgenagt. Ganz kurz war Sven Becker überzeugt, dass dies der schrecklichste Anblick in seiner ganzen Laufbahn als Polizist war. Doch dann erinnerte er sich an die toten Kinder, an ihre zerschundenen Körper, die nur notdürftig in einem Waldstück verscharrt gewesen waren, und er zwang sich, erneut in die trüben Augen zu schauen.
Du warst schuldig, wiederholte er in Gedanken, als suche er nach einer Rechtfertigung für diesen Selbstmord. Aber warum kam ihm dieser Anblick dann so falsch vor? Warum
fühlte er sich dann so schuldig?
Es sollte zwei Jahre dauern, bis Kommissar Sven Becker darauf eine Antwort bekam. Denn exakt so lange schaffte es sein Gewissen, die Geschehnisse zu verdrängen, die in diesem Freitod ihren traurigen Höhepunkt gefunden hatten. Erst zwei Jahre später zwang ihn eine weitere Serie von Todesfällen dazu, sich erneut damit zu beschäftigen. Und diese Ereignisse, die mit dem Tod eines neunzehnjährigen Zivildienstleistenden begannen und später als gewaltiger Skandal in die Geschichte der Stadt Koblenz eingehen sollten, stürzten ihn in die schwerste Krise seines Lebens und hätten ihn beinahe das Leben gekostet.
1
Donner! ... Nichts weiter. Nur dieser hohle, blecherne Donner, kurz bevor die Schwerkraft aussetzte und die Welt um ihn herum zu einem rasenden Karussell wurde. Ein abstruser Mischmasch aus Farben und Formen, die in seiner Wahrnehmung stetig tiefer zu einem dunklen Grauton verschmolzen. Dann der Aufschlag - hart, aber fern jeder Realität. Allmählich begann das Grau wieder Gestalt anzunehmen, sich in dunklen Umrissen zu festigen, die wie geisterhafte Schatten in der Dunkelheit vibrierten. Er spürte den warmen Asphalt unter sich, fühlte, wie das Adrenalin seinen Körper betäubte. Ein kurzer Moment zwischen Unterbewusstsein und Wahrnehmung, zwischen Dämmerung und Tageslicht, in dem er noch immer schwerelos war.
Dann setzte der Schmerz ein.
Mit dem Schmerz kam die Erinnerung zurück wie eine tonnenschwere Last. Und als ihm klar wurde, was passiert war, wünschte er sich, er wäre nie aus dieser Schwerelosigkeit erwacht.
Nur widerwillig füllte sich seine Lunge mit Luft; es kam ihm vor, als atme er durch einen Strohhalm. Am meisten Angst jedoch machten ihm seine Beine. Alles an ihnen fühlte sich verdreht an, grotesk, irgendwie - falsch. Wie die losen Glieder einer Marionette, die man achtlos zu Boden geworfen hatte. Eine glühende Masse wabernden Schmerzes. Unmöglich, jetzt noch davonzurennen. Doch das hatte er ohnehin schon lange genug getan.
Obwohl erst wenige Sekunden vergangen waren, konnte er sich nur vage daran erinnern, wie er die Straße mit gesunden, mit richtigen Beinen überquert hatte. Mit Träumen und mit einer Zukunft. Er erinnerte sich nur an den Schock und an die Unfähigkeit zu reagieren. Daran, wie sein Kopf auf die Motorhaube geschlagen war. Danach hatte sein Verstand abgeschaltet, hatte ihm vorenthalten, wie er gegen die Frontscheibe und über das Wagendach geschleudert worden war. Erst nachdem er hier, im grellen Licht einer Straßenlaterne, liegengeblieben war, schien ein Teil seines Bewusstseins entschieden zu haben, ihn wieder an der Situation teilhaben zu lassen. Und diesen bewussten Teil seines Selbst verfluchte er nun, denn er erinnerte ihn daran, wer er war: Erik Jensen, ein Verlierer vor dem Herrn, der um jeden Preis zum Gewinner werden wollte und der nun die Rechnung dafür präsentiert bekam.
Ein Blutschwall schwappte aus seinem Mund, nahm ihm die wenige Luft zum Atmen, die ihm noch blieb. Er röchelte, spie den kupferartigen Geschmack auf die Straße.
Nicht ersticken!, schrie ein panischer Gedanke in ihm, während grelle Punkte vor seinen Augen explodierten. Sein Atem war nur noch ein pfeifendes Rasseln, aber das ständige Auf und Ab seiner Brust ging weiter. Und obwohl ihm klar war, dass er das hier nicht überleben würde, beruhigte er sich wieder, denn es war nicht die Angst vor dem Sterben, die ihn in Panik versetzte. Selbst die Tatsache, dass er schon mit neunzehn Jahren sterben würde, war ihm egal. Er wollte diesen Drecksäcken nur nicht die Genugtuung gönnen, dass er an seinem eigenen Blut erstickte. Und er würde auch nicht um sein Leben betteln. Denn dieses Leben war es nicht wert, dafür zu kämpfen.
Benommen versuchte er sich zu orientieren, doch die Straßenlaterne blendete ihn. Nur undeutlich nahm er wahr, dass er quer auf der steil abfallenden Straße lag. In einiger Entfernung erkannte er die dunklen Umrisse eines Autos. Zwei Bremslichter in der Nacht, die ihn betrachteten wie glühende Augen.
Ich lebe noch, du Scheißkerl! Also leg endlich den Rückwärtsgang ein und tu, wofür sie dich bezahlen! Sie hatten allen Grund dazu. Er wusste zu viel, war hinter ihr sorgsam gehütetes Geheimnis gekommen. Und vermutlich hatte sie das so überrascht, dass ihnen keine andere Wahl geblieben war. Sie hatten ihn unterschätzt.
Eine weitere Schmerzwoge brach über ihn herein, und er registrierte nur undeutlich, wie der Wagen aufheulend in die Dunkelheit davonraste und all seine Hoffnungen mitnahm. Du hattest es fast geschafft, dachte er benommen. Nur zwei Tage. Zwei gottverdammte Tage! Wenigstens würde er dafür sorgen, dass sie nicht ungeschoren davonkamen.
Nur mit Mühe gelang es ihm, den rechten Arm zu bewegen. Im Gegensatz zum Rest seines Körpers schien dieser den Aufprall halbwegs unbeschadet überstanden zu haben. Schwerfällig tastete sich seine Hand bis zur leeren Brusttasche seines Hemdes vor.
Es war nicht mehr da!
In panischem Schrecken zuckte sein hämmernder Kopf herum, so dass ihm schwarz vor den Augen wurde. Als er sich wieder erholt hatte, sah er es - das kleine blaue Buch, das etwa zwei Meter entfernt am Rande des Lichtkegels lag. Mit fast unmenschlicher Kraft stemmte er sich auf den Ellenbogen und zog sich ein Stück vorwärts, ignorierte den ra senden Schmerz, als seine zerschmetterten Gliedmaßen über den Straßenbelag schrammten. Es gelang ihm, einen flüchtigen Blick auf sein linkes Bein zu werfen. Ein großes Stück Knochen ragte wie ein blutiger Pfahl aus seinem Oberschenkel, und er wandte sich sofort wieder ab. Blut tropfte ihm aus Mund und Nase und bildete kleine Lachen auf dem Asphalt. Erst als seine Hand das kleine Buch zu fassen bekam, sackte er erleichtert zusammen. Sein ganzer Körper bestand nur noch aus Schmerzen. Ein dunkles Tuch legte sich über ihn, hüllte seine Wahrnehmung mehr und mehr ein, aber das war gut so. Er hatte die Dunkelheit immer gemocht, hatte sie stets als seinen einzigen Freund betrachtet. In ihrem Schutz hatte er sich nie vor anderen schämen müssen. Warum sich ihr nicht für immer anschließen?
Nur noch schwach drangen Geräusche zu ihm durch. Er hörte Schritte und Stimmen. Rollläden und Fenster, die geöffnet wurden. Jemand schrie. Das alles war nur wenige Meter entfernt, doch es drang von weit her zu ihm, aus einer Welt, die ihn sein ganzes Leben lang ignoriert hatte, weil sie nur Perfektion akzeptierte.
Seine Hände umklammerten das kleine Buch wie einen seltenen Schatz, während die Geräusche um ihn herum immer schwächer wurden, bis er nur noch leise Schritte wahrnahm, die sich ihm näherten. Sie kommen dich holen. Fast glaubte er, in blendende Klarheit einzutauchen. Wohin sie dich auch bringen, das Taxi ist soeben eingetroffen.
Blut strömte aus der klaffenden Wunde an seiner Stirn und tauchte diese letzte Vision seines sterbenden Gehirns in leuchtendes Rot.
Dann spürte er nichts mehr.
Der Wagen ruckte kurz, als er abrupt an einer Kreuzung zum Stehen kam. Um ein Haar hätte er den Motor abgewürgt. Ihn ein weiteres Mal kurzzuschließen hätte unnötig Zeit gekostet. Also ermahnte er sich, Ruhe zu bewahren, während die Scheibenwischer über das gesprungene Glas schrubbten, um die Blutspritzer zu entfernen, die ihm die Sicht nahmen. Ein Stück Kopfhaut klebte an einem Wischblatt, hob und senkte sich mit ihm. Lange, dunkelbraune Haare sprossen daraus hervor. Hektisch schaute der Fahrer sich um, doch es war niemand zu sehen. Er bog auf die Hauptstraße ein, die geradewegs durch die kleine Stadt führte und sie wie ein Fluss in zwei Ufer teilte. Erst jetzt schaltete er den einen Scheinwerfer ein, der noch intakt war, und folgte dem Verlauf einer lang gezogenen Rechtskurve.
War er tot?, fragte er sich. War der Kerl auch wirklich tot? Natürlich war er tot. Teile seines verdammten Schädels klebten an der Scheibe. Niemand hätte diesen Aufprall überlebt!
Aber du bist nicht sicher. Du hättest dich vergewissern müssen.
Das war doch lächerlich. Er hatte genug Erfahrung, um zu wissen, wann jemand tot war und wann nicht. Und dieser Kerl war tot!
Er suchte im Rückspiegel nach Verfolgern. Doch da waren nur spärlich beleuchteter Asphalt und ein Teil seines Gesichts. Eine dunkle Schirmmütze, die er tief in die Stirn gezogen hatte, verdeckte die schwarzen Haare, und der aufgeklebte Oberlippenbart ließ seine südländischen Züge wenigstens fünf Jahre älter erscheinen. Es war nur eine spärliche Tarnung, doch sie würde genügen. Den Rest würde die Dunkelheit verbergen. In einem Provinznest wie diesem war um diese Zeit ohnehin nicht mit Zeugen zu rechnen. Irgendwie bedauerte er das sogar, denn üblicherweise musste er sich mehr Mühe geben, sein Äußeres zu verändern. Er konnte sich älter oder jünger oder unsichtbar machen, wobei ihn stets eine fast kindliche Euphorie überkam, die beinahe die Lust am Töten überwog. Aber vermutlich war es die Kombination aus beidem, die diesen Rausch heraufbeschwor. Dieses freudige Prickeln, wie es Schauspieler kurz vor ihrem Auftritt verspüren. Nur lag sein Bestreben nicht darin, die Leute zu unterhalten, sondern ihnen eine Lektion zu erteilen, und zwar eine endgültige.
Du hättest dich vergewissern müssen!
Zum Teufel damit! Sein verdammter Perfektionismus brachte ihn noch um den Verstand. Aber das war nun einmal nötig, denn ein gelungener Auftritt hing von guter Vorbereitung, exaktem Timing und präziser Ausführung ab.
Sein Künstlername: Mohamed. Seine Vorliebe: Dramen mit tödlichem Ausgang. Doch trotz seiner außergewöhnlichen Begabung blieb ihm gebührende Anerkennung versagt. Ein Aspekt seiner Arbeit, der ihm zunehmend missfiel.
Er fuhr an alten Fachwerkhäusern und parkenden Autos vorbei, die zu beiden Seiten die schmale Straße säumten. Noch immer war niemand zu sehen. Es war fast schon zu leicht. Das Einzige, was ihm jetzt noch gefährlich werden konnte, war eine Begegnung mit einer Polizeistreife. Doch auch für diesen unwahrscheinlichen Fall hatte er vorgesorgt. Die Schnellfeuerwaffe, die er jederzeit griffbereit mit Klebeband an der Lehne des Beifahrersitzes angebracht hatte, würde ihm die nötige Durchsetzungskraft verschaffen.
Die Häuserreihen lichteten sich, und erst als das gelbe Ortsschild der kleinen Westerwälder Gemeinde Hillscheid am Seitenfenster vorbeiraste, entspannte er sich. Der Vorhang war gefallen, die Vorstellung vorbei. Und sie war ihm unter den gegebenen Umständen gut gelungen. Nicht perfekt, aber zufriedenstellend. Und manchmal musste das eben reichen. Es hatte wie ein Unfall aussehen sollen. Das war die einzige Bedingung gewesen, und er hatte sie erfüllt.
Vor ihm erstreckte sich ein riesiges Waldgebiet, in dem sich die Straße im Nichts verlor. Ein düsteres Lächeln umspielte seine Lippen, und in seinem Innern hörte er den tosenden Applaus eines unsichtbaren Publikums.
2
Etwa eineinhalb Stunden später hielt ein silberfarbener Opel an der Unfallstelle. Der Fahrer blieb noch einige Minuten sitzen und betrachtete das geschäftige Treiben im künstlichen Licht der Straßenbeleuchtung. Polizeiwagen säumten die Bordsteine, und etwa ein Dutzend Beamte in Uniform und Zivil waren dort zugange. Schaulustige aus den umliegenden Häusern hatten sich in kleinen Gruppen am Straßenrand versammelt oder betrachteten das Geschehen aus den Fenstern ihrer Wohnungen. Blaulicht kreiste über ihre Gesichter und an den Häuserwänden entlang und tanzte durch die Bäume der Vorgärten.
Sven Becker hatte auf all das ebenso viel Lust wie auf eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Seine Kopfschmerzen waren schlimmer geworden, was aber durchaus Vorteile hatte. Denn durch den pochenden Schmerz, der wie eine wütende Katze in seinen Ohren fauchte, hörte er die Stimme in seinem Kopf nicht mehr. Die Stimme der Vergangenheit, die ständig von den guten Zeiten schwärmte und ihn daran erinnerte, wie schlecht die Gegenwart war. Seit acht Tagen hatte er seine Wohnung nicht mehr verlassen. Und er bereute es bereits, dieses sichere Versteck aufgegeben zu haben, auch wenn es voraussichtlich nur für ein paar Stunden war.
Müde betrachtete er sich im Rückspiegel, sah die dunklen Ringe unter seinen Augen, die der fehlende Schlaf der letzten Wochen dort hinterlassen hatte. Seine Haut wirkte grau und schlaff, und seine braunen Haare hingen ihm strähnig und ungewaschen ins Gesicht. Es war das Abbild eines fünfunddreißigjährigen Mannes, dessen Leben aus den Fugen geraten war. Als der Anruf ihn vor gut zwanzig Minuten aus seiner Schlaflosigkeit gerissen hatte, hätte er eigentlich froh sein müssen. Jetzt jedoch wäre er am liebsten wieder umgedreht. Es dauerte eine Weile, bis er sich dazu durchrang, aus dem Wagen zu steigen.
Augenblicklich schlug ihm die schwüle Nachthitze ins Gesicht und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Langsam bahnte sich ein grauer Leichenwagen einen Weg durch die Absperrung, als Sven sich den Beamten näherte. Ein junger Polizist trat ihm in den Weg.
»Sie können hier nicht durch«, sagte er streng. »Polizeieinsatz.«
Sven Becker blieb stehen und betrachtete den junge Mann in seiner Uniform. »Tatsächlich?«, fragte er gereizt, während er seinen Dienstausweis aus der Gesäßtasche seiner verwaschenen Jeans zog. »Und ich dachte schon, Sie halten hier 'ne Parade ab.«
Der junge Polizist schielte auf den Ausweis und zupfte verlegen an seiner Uniformjacke. »Kripo Koblenz?«, fragte er und betrachtete irritiert Svens Hemd.
»Lassen Sie ihn durch!«, rief eine dröhnende Stimme im Hintergrund, die Sven sofort erkannte. Sie gehörte zu einem Mann, der etwa zehn Meter entfernt bei einer Gruppe Schaulustiger stand. In der einen Hand hielt er einen kleinen Notizblock, mit der anderen winkte er Sven energisch zu sich.
»Kann ich jetzt meine Arbeit machen?«, fragte Sven Becker bissig.
»Natürlich, Herr Kommissar. Entschuldigen Sie.«
Sven verstaute seinen Ausweis wieder und ging auf den Mann zu, dessen Zuruf ihm wahrscheinlich eine längere Auseinandersetzung mit diesem Jungspund erspart hatte. Dennis Bergmann hatte seine dunkelblonden Haare wie üblich mit Gel zurückgekämmt, und sein markantes Gesicht war glatt rasiert.
»Nimm's dem Jungen nicht übel«, sagte er, nachdem er Sven eingehend gemustert hatte. »In dieser Aufmachung wirkst du nicht gerade wie ein Gesetzeshüter.«
Verwundert sah Sven an sich herab und begriff erst jetzt. In der Unordnung und dem Halbdunkel seines Schlafzimmers hatte er sich das erstbeste Hemd übergestreift, das greifbar gewesen war. Dabei musste ihm entgangen sein, wie zerknittert es war. »Das trägt man jetzt so«, erwiderte er.
»Na, den Trend hab ich wohl verpasst.« Dennis betrachtete Svens geschwollene Augen. »Sind die auch modern, oder machst du jetzt einen auf Herr der Ringe?« »Ich habe einfach in letzter Zeit schlecht geschlafen.« Sven wischte sich über die schweißnasse Stirn. »Und das lag nicht an dieser verdammten Hitze.« »Ich dachte, du hättest dir ein paar Tage frei genommen.«
»Ja, das dachte ich auch, bis vor zwanzig Minuten.« Dennis sah ihn mitfühlend an. Dann griff er in die Innentasche seines Sakkos und zog einen Streifen Kaugummi heraus. »Scotch oder Bourbon?«
»Was?«, fragte Sven irritiert.
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Autoren-Porträt von Michael Hübner
Michael Hübner, Jahrgang 1968, hat als als Keramiker, Logistiker und freiberuflicher Webdesigner gearbeitet, bevor er das Schreiben für sich entdeckte und seinen ersten Roman schrieb. Seine zweite Leidenschaft gilt der Fotografie und dem digitalen Bearbeiten von Bildern. Er lebt mit seiner Frau und drei Töchtern in der Nähe von Koblenz.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Hübner
- 2012, 442 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442474183
- ISBN-13: 9783442474189
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