Reizende Gäste
Roman
Eine bezaubernde Betrügerin auf Männerfang kann alle täuschen - nur nicht ihr Herz
Fleur Daxeny ist schön, skrupellos und verfügt über eine ansehnliche Sammlung schwarzer Designer-Outfits. Mit Hilfe von...
Fleur Daxeny ist schön, skrupellos und verfügt über eine ansehnliche Sammlung schwarzer Designer-Outfits. Mit Hilfe von...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Reizende Gäste “
Eine bezaubernde Betrügerin auf Männerfang kann alle täuschen - nur nicht ihr Herz
Fleur Daxeny ist schön, skrupellos und verfügt über eine ansehnliche Sammlung schwarzer Designer-Outfits. Mit Hilfe von Todesanzeigen in der Times sucht sie nach Beerdigungsfeiern mit Teilnehmern aus besseren Kreisen, um dort nach reichen, einsamen Männern Ausschau zu halten. Mit ihrem unwiderstehlichen Charme erschleicht sich Fleur Zugang zu deren Herz und Kreditkarten. Hat sie genug, sucht sie sich ein neues Opfer. Als Richard Favour, ein scheinbar langweiliger, aber erfolgreicher Geschäftsmann, die hinreißende Fleur bei der Beerdigung seiner Frau kennenlernt, ist er wie vom Blitz getroffen. Und Fleur bezaubert nach und nach nicht nur ihn, sondern auch seine Familie. Eigentlich läuft alles nach Plan - nur die Trennung von Richard zögert Fleur immer wieder hinaus.
Fleur Daxeny ist schön, skrupellos und verfügt über eine ansehnliche Sammlung schwarzer Designer-Outfits. Mit Hilfe von Todesanzeigen in der Times sucht sie nach Beerdigungsfeiern mit Teilnehmern aus besseren Kreisen, um dort nach reichen, einsamen Männern Ausschau zu halten. Mit ihrem unwiderstehlichen Charme erschleicht sich Fleur Zugang zu deren Herz und Kreditkarten. Hat sie genug, sucht sie sich ein neues Opfer. Als Richard Favour, ein scheinbar langweiliger, aber erfolgreicher Geschäftsmann, die hinreißende Fleur bei der Beerdigung seiner Frau kennenlernt, ist er wie vom Blitz getroffen. Und Fleur bezaubert nach und nach nicht nur ihn, sondern auch seine Familie. Eigentlich läuft alles nach Plan - nur die Trennung von Richard zögert Fleur immer wieder hinaus.
Klappentext zu „Reizende Gäste “
Eine bezaubernde Betrügerin auf Männerfang kann alle täuschen - nur nicht ihr HerzFleur Daxeny ist schön, skrupellos und verfügt über eine ansehnliche Sammlung schwarzer Designer-Outfits. Mit Hilfe von Todesanzeigen in der Times sucht sie nach Beerdigungsfeiern mit Teilnehmern aus besseren Kreisen, um dort nach reichen, einsamen Männern Ausschau zu halten. Mit ihrem unwiderstehlichen Charme erschleicht sich Fleur Zugang zu deren Herz und Kreditkarten. Hat sie genug, sucht sie sich ein neues Opfer. Als Richard Favour, ein scheinbar langweiliger, aber erfolgreicher Geschäftsmann, die hinreißende Fleur bei der Beerdigung seiner Frau kennenlernt, ist er wie vom Blitz getroffen. Und Fleur bezaubert nach und nach nicht nur ihn, sondern auch seine Familie. Eigentlich läuft alles nach Plan - nur die Trennung von Richard zögert Fleur immer wieder hinaus ...
Lese-Probe zu „Reizende Gäste “
Reizende Gäste von Sophie KinsellaAus dem Englischen von Heidi Lichtblau
1
Fleur Daxeny zog die Nase kraus. Sie biß sich auf die Lippen, neigte den Kopf zur Seite und betrachtete sich eine Weile schweigend im Spiegel. Dann lachte sie hell auf.
»Mir fällt die Wahl so schwer!« rief sie. »Sie sind alle umwerfend! «
Die Verkäuferin von »Take Hat!« tauschte müde Blicke mit dem nervösen jungen Haarstylisten aus, der in der Ecke auf einem vergoldeten Schemel saß. Vor einer halben Stunde war der Friseur in Fleurs Hotelsuite eingetroffen und hatte seitdem darauf gewartet, mit seiner Arbeit beginnen zu können. Die Verkäuferin fragte sich unterdessen, ob sie ihre Zeit hier nicht vollends vergeudete.
»Der mit dem Schleier gefällt mir«, meinte Fleur unvermittelt und griff nach einer kleinen Kreation aus schwarzem Satin und zartem Tüll. »Ist der nicht elegant?«
»Sehr elegant«, bestätigte die Verkäuferin und konnte gerade noch rechtzeitig herbeieilen, um einen schwarzen Seidenhut, den Fleur achtlos auf den Boden werfen wollte, auffangen zu können.
»Sehr!« echote der Haarstylist in der Ecke. Heimlich spähte er auf seine Uhr. In vierzig Minuten mußte er wieder unten im Salon sein. Trevor wäre gar nicht entzückt. Vielleicht sollte er unten anrufen und die Situation erklären. Vielleicht...
»Gut!« sagte Fleur. »Ich habe meine Wahl getroffen.« Sie schob den Schleier hoch und strahlte in die Runde. »Heute trage ich diesen hier.«
»Eine sehr kluge Entscheidung.« Die Verkäuferin klang erleichtert. »Der Hut ist bezaubernd.«
... mehr
»Wenn Sie die anderen fünf also bitte für mich verpacken könnten...« Fleur lächelte ihr Spiegelbild geheimnisvoll an und zog den dunklen Seidenschleier wieder vor das Gesicht. Die Frau von »Take Hat!« starrte sie mit offenem Mund an.
»Sie wollen alle kaufen?«
»Aber natürlich. Ich kann mich zwischen ihnen nicht entscheiden. Sie sind einfach alle zu schön!« Fleur drehte sich zu dem Haarstylisten. »Nun, mein Lieber. Haben Sie eine Idee, welche Frisur gut zu diesem Hut passen würde?« Der junge Mann erwiderte ihren Blick und spürte, wie er langsam rot anlief.
»Oh! Ja! Ich denke schon. Ich meine...« Aber Fleur hatte sich schon abgewandt.
»Wenn Sie es bitte auf meine Hotelrechnung setzen könnten. Das geht doch, oder?«
»Aber natürlich, Madam«, erwiderte die Verkäuferin beflissen. »Als Hotelgast stehen Ihnen auf alle unsere Preise fünfzehn Prozent Ermäßigung zu.«
»Was immer.« Fleur gähnte verhalten. »Hauptsache, es kann alles auf die Rechnung gesetzt werden.«
»Ich werde das sofort für Sie erledigen.«
»Gut.« Während die Verkäuferin aus dem Raum eilte, wandte Fleur sich um und schenkte dem jungen Haarstylisten ein hinreißendes Lächeln. »Jetzt gehöre ich ganz Ihnen! «
Ihre tiefe, melodiöse Stimme klang merkwürdig akzentfrei. Der Friseur vermeinte, auch einen leichten Spott herauszuhören, und er errötete zart, als er zu ihr herüberkam. Er stellte sich hinter sie, faßte ihr Haar mit einer Hand zusammen und ließ es in einer schweren, rotgoldenen Bewegung wieder fallen.
»Ihr Haar ist in einem sehr guten Zustand«, meinte er unbeholfen.
»Ja, nicht wahr?« erwiderte Fleur selbstgefällig. »Ich hatte immer gutes Haar. Und eine gute Haut natürlich.« Sie schob ihren Hotelbademantel leicht zur Seite und rieb die Wange zärtlich an der blassen, samtigen Haut ihrer Schulter. »Für wie alt würden Sie mich schätzen?« fügte sie unvermittelt hinzu.
»Ich möchte nicht... ich würde nicht...«, verhaspelte sich der junge Mann.
»Ich bin vierzig«, sagte Fleur träge. Sie schloß die Augen. »Vierzig«, wiederholte sie, als würde sie meditieren. »Da kommt man ins Grübeln, finden Sie nicht?«
»Sie sehen nicht...«, begann der Haarstylist mit linkischer Höflichkeit. Fleur öffnete ein funkelndes, katzengrünes Auge.
»Ich sehe nicht wie vierzig aus? Wie alt denn dann?«
Verlegen erwiderte der Haarstylist ihren Blick. Er öffnete den Mund, schloß ihn dann aber wieder. In Wahrheit, dachte er plötzlich, konnte man diese Frau gar keinem Alter zuordnen. Sie wirkte alterslos, klassenlos, unbestimmbar. Als sich ihre Blicke trafen, erfüllte ihn ein freudiger Schauer; eine jähe Gewißheit, daß dieser Augenblick irgendwie bedeutsam war. Seine Hände zitterten leicht, er ergriff ihr flammendrotes Haar und ließ es durch die Finger gleiten.
»Sie sehen so alt aus, wie Sie aussehen«, flüsterte er heiser. »Zahlen kommen da nicht ins Spiel.«
»Süß!« meinte Fleur darauf nur. »Und nun, Schätzchen, wie wär's, wenn Sie mir ein Glas Champagner bestellen würden, bevor Sie mit dem Frisieren beginnen?«
Etwas enttäuscht ließ der Stylist die Hände sinken und ging gehorsam zum Telefon. Während er wählte, ging die Tür auf, und die Frau von »Take Hat!« trat mit einem Stapel Hutschachteln wieder ein. »So, da wären wir«, rief sie atemlos aus. »Wenn Sie hier bitte einfach nur unterschreiben würden... «
»Ein Glas Champagner, bitte«, sagte der Stylist. »Zimmer 301.«
»Ich habe mich gefragt«, wandte sich die Verkäuferin vorsichtig an Fleur, »ob Sie wirklich alle sechs Hüte in Schwarz wollen? Momentan sind einige tolle Farben aktuell.« Sie tippte sich nachdenklich gegen die Zähne. »Es gibt da ein bezauberndes Smaragdgrün, das zu ihrem Haar einfach umwerfend aussehen müßte...«
»Schwarz«, erwiderte Fleur entschieden. »Ich bin nur an Schwarz interessiert.«
Eine Stunde darauf betrachtete Fleur sich im Spiegel, lächelte und nickte. Sie war mit einem schlichten schwarzen Kostüm angetan, das maßgeschneidert war. An ihren Beinen schimmerten hauchdünne schwarze Strümpfe; die Füße steckten in diskreten schwarzen Schuhen. Das Haar war zu einem beispielhaften Nackenknoten zusammengefaßt, zu dem der kleine schwarze Hut vortrefflich paßte.
Die lachsfarbene Seide unter ihrer Kostümjacke bildete den einzigen Farbtupfer. Fleur trug aus Prinzip stets etwas Farbe, egal wie düster die Bekleidung oder der Anlaß waren. Unter lauter trübseligen schwarzen Kostümen würde ein winziger lachsfarbener Sprenkel den Blick unbewußt auf sie lenken. Die Leute würden sie bemerken, ohne den Grund dafür genau zu kennen. Und genauso sollte es sein.
Noch immer in ihr Spiegelbild vertieft, zog Fleur den Tüllschleier über das Gesicht. Der selbstgefällige Ausdruck wich einer tiefen, unergründlichen Trauer. Eine Weile starrte sie sich wortlos an. Sie nahm ihre schwarze, lederne Ospreytasche und hielt sie unauffällig an ihre Seite. Einige Male nickte sie und beobachtete, wie der Schleier geheimnisvolle Schatten auf ihr blasses Gesicht warf.
Dann klingelte plötzlich das Telefon und holte Fleur in die Wirklichkeit zurück.
»Hallo?«
»Fleur, wo hast du gesteckt? Ich habe versucht, dich anzurufen. « Die tiefe griechische Stimme war unverkennbar. Fleur runzelte irritiert die Stirn.
»Sakis! Liebling, ich bin ein bißchen in Eile...«
»Wo willst du denn hin?«
»Nirgends Bestimmtes. Nur zum Shopping.«
»Warum denn das? Ich habe dir doch in Paris Kleider gekauft. «
»Das weiß ich, Schatz. Aber ich wollte dich heute Abend mit etwas Neuem überraschen«, gurrte sie mit überzeugender Zärtlichkeit in das Telefon. »Etwas Elegantes, Aufreizendes... « Mit einem Mal hatte sie eine Eingebung. »Und weißt du, Sakis«, fügte sie behutsam hinzu, »ich habe mich gefragt, ob es nicht eine gute Idee wäre, in bar zu bezahlen, damit ich einen guten Preis bekomme. Ich kann vom Hotel aus doch Geld abheben, oder? Von deinem Konto?«
»Einen gewissen Betrag schon. Ich glaube, bis zu zehntausend Pfund.«
»Ich brauche nicht annähernd soviel!« lachte sie amüsiert. »Ich brauche nur genug für ein Ensemble! Also maximal fünfhundert.«
»Und wenn du es gekauft hast, kehrst du geradewegs ins Hotel zurück!«
»Aber natürlich, Schatz.«
»Dein ›natürlich‹ kenne ich schon. Aber diesmal darfst du nicht zu spät kommen, Fleur. Hast du verstanden? Keine Verspätung!« bellte er in militärischem Befehlston heraus, und Fleur fuhr in stummer Verärgerung zusammen. »Es ist alles schon geregelt. Leonidas wird dich um drei Uhr abholen. Der Helikopter fliegt um vier Uhr los. Unsere Gäste kommen um sieben. Du mußt fertig sein, um sie zu begrüßen. Ich möchte nicht, daß du wieder zu spät bist wie das letzte Mal. Das war... das war ungehörig. Hörst du überhaupt zu? Fleur?«
»Aber natürlich höre ich zu! Oh, da klopft jemand. Ich schaue mal schnell, wer es ist...« Sie wartete ein paar Sekunden und legte dann entschlossen den Hörer auf. Eine Minute später hob sie ihn wieder ab.
»Hallo? Könnten Sie bitte jemanden für mein Gepäck raufschicken?«
Unten im Hotelfoyer ging es ruhig zu. Die Frau von »Take Hat!« sah Fleur an der Boutique vorbeigehen und winkte ihr zu, aber Fleur bemerkte sie gar nicht.
»Ich würde gern auschecken«, sagte sie, sobald sie die Rezeption erreicht hatte. »Und Geld abheben. Das Konto läuft unter dem Namen von Sakis Papandreous.«
»Ah ja.« Die schicke, blonde Empfangsdame blickte kurz auf ihren Computer und lächelte Fleur dann freundlich an. »Wieviel hätten Sie denn gern?« Fleur strahlte zurück.
»Zehntausend Pfund. Und könnten Sie mir bitte zwei Taxis bestellen?« Die Frau schaute überrascht auf.
»Zwei?«
»Eines für mich, eines für mein Gepäck. Mein Gepäck geht nach Chelsea.« Unter ihrem Tüllschleier senkte sie den Blick. »Ich muß zu einem Gedenkgottesdienst.«
»O je, das tut mir leid.« Die Frau reichte Fleur die Hotelrechnung, die mehrere Seiten umfaßte. »Jemand Nahestehendes? «
»Noch nicht.« Fleur unterschrieb die Rechnung, ohne sich die Mühe zu machen, sie nachzuprüfen. Sie sah zu, wie die Kassiererin dicke Geldbündel abzählte und dann in zwei Briefumschläge steckte. Sie nahm sie geradezu zärtlich entgegen, verstaute sie in ihrer Ospreytasche und verschloß diese wieder. »Aber man weiß ja nie.«
Richard Favour saß mit geschlossenen Augen in der ersten Bankreihe der St. Anselmkirche und lauschte den Geräuschen der Menschen, die allmählich die Kirche füllten - gedämpftes Flüstern und Schlurfen, das Klacken von Absätzen auf dem Fliesenboden und »Jesu, Joy of Man's Desiring«, das leise auf der Orgel gespielt wurde.
Er hatte »Jesu, Joy of Man's Desiring« immer gehaßt; der Organist hatte es bei ihrem Treffen vor drei Wochen vorgeschlagen, nachdem offensichtlich geworden war, daß Richard sich nicht an ein einziges Orgelstück erinnern konnte, das Emily besonders gefallen hatte. Es hatte betretenes Schweigen geherrscht, während Richard sich vergebens das Hirn zermartert hatte, bevor der Organist taktvoll gemurmelt hatte: »›Jesu, Joy of Man's Desiring‹ ist immer sehr beliebt... «, und Richard erleichert zugestimmt hatte.
Nun runzelte er unzufrieden die Stirn. Gewiß hätte er sich etwas Persönlicheres ausdenken können als diese schwülstige, allzu beliebte Melodie. Als ausgesprochene Musikliebhaberin war Emily immer gern in Konzerte gegangen, sofern es ihr Gesundheitszustand zuließ. Hatte sie sich denn nie einmal mit leuchtenden Augen zu ihm gewandt und gesagt: »Ich liebe dieses Stück, du nicht auch?« Er kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu erinnern. Aber das einzige Bild, das vor seinem inneren Auge erschien, war das von Emily, wie sie mit trübem Blick im Bett lag, fahl, schwach und geduldig. Schuldgefühle überkamen ihn. Wieso hatte er seine Frau nie nach ihrer Lieblingsmusik gefragt? In dreiunddreißig Ehejahren hatte er sich nie danach erkundigt. Und nun war es zu spät. Er würde es nie mehr erfahren.
Müde rieb er sich die Stirn und sah auf das Gottesdienstprogramm auf seinem Schoß nieder. Dort prangten die Worte: Gedenkgottesdienst und Dankgebet für das Leben von Emily Milicent Favour. Einfache schwarze Beschriftung, schlichte weiße Karte. Er hatte sich allen Versuchen von seiten der Drucker widersetzt, Karten mit so beliebten Dingen wie Silberumrandung oder geprägten Engeln zu verwenden. Dem hätte Emily, dachte er, zugestimmt. Zumindest... hoffte er das.
Richard hatte mehrere Ehejahre dazu gebraucht zu begreifen, daß er seine Frau nicht sehr gut kannte, und etliche mehr, bis ihm kam, daß das nie der Fall sein würde. Anfangs war ihre heitere Entrücktheit etwas gewesen, das ihn zusammen mit dem blassen hübschen Gesicht und der adretten, knabenhaften Figur, die sie so entschlossen verborgen hielt wie ihre innersten Gedanken, angezogen hatte. Je geheimnisvoller sie sich gegeben hatte, desto unwiderstehlicher hatte sie auf Richard gewirkt; dem Hochzeitstag hatte er mit einer Sehnsucht entgegengefiebert, die an Verzweiflung grenzte. Endlich, hatte er gedacht, würden er und Emily einander offenbaren können. Er hatte sich danach verzehrt, nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Gedankenwelt zu erforschen, ihre Person; ihre intimsten Ängste und Träume zu ergründen; ihr lebenslanger Seelengefährte zu werden.
Ihre Hochzeit fand an einem strahlenden, stürmischenTag in einem kleinen Dorf in Kent statt. Emily hatte die ganze Zeit gelassen und heiter gewirkt; Richard war davon ausgegangen, daß sie ihre freudige Erregung, die in ihr bestimmt genauso loderte wie in ihm, einfach besser verbergen konnte
- eine Erregung, die beim ihm stärker geworden war, als der Tag voranschritt und ihr Leben zu zweit näher rückte. Nun schloß er die Augen und erinnerte sich an die ersten prickelnden Sekunden, als sich die Tür hinter dem Träger geschlossen hatte und er zum erstenmal mit seiner Frau in der Hotelsuite in dem Eastbourner Hotel allein war. Er starrte sie an, während sie mit den üblichen glatten, präzisen Bewegungen ihren Hut abnahm. Halb sehnte er sich, daß sie das dumme Ding hinunterwerfen und in seine Arme eilen würde, und halb, daß dieses köstliche, ungewisse Warten nie enden möge. Es hatte den Eindruck gemacht, als würde Emily den Augenblick ihres Zusammenkommens absichtlich verzögern und ihn mit ihrer kühlen, geistesabwesenden Art necken, als würde sie genau wissen, was ihm durch den Kopf ging.
Dann, endlich, hatte sie sich umgewandt und seinen Blick erwidert. Er hatte tief Luft geholt, unsicher, wo er am besten begann; welche seiner angestauten Gedanken er zuerst loswerden sollte. Und sie hatte ihn mit ihren entrückten blauen Augen direkt angesehen und gefragt: »Wann gibt es Abendessen? «
Selbst da hatte er noch geglaubt, sie würde ihn foppen. Er dachte, sie würde absichtlich das Gefühl der Vorfreude verlängern, mit Bedacht ihre Empfindungen zurückhalten, bis sie nicht mehr länger beherrschbar waren, bis sie seinen in einem riesigen Strom entgegenfluten würden. So hatte er geduldig und angesichts ihrer augenscheinlichen Selbstkontrolle ehrfürchtig gewartet. Auf den Strom gewartet; den Einbruch des Wassers; die Tränen und die Hingabe.
Aber dazu war es nie gekommen. Emilys Liebe zu ihm hatte sich nie in mehr als einem bedächtigen Tröpfeln einer nachsichtigen Zuneigung offenbart; auf jede Zärtlichkeit, jede seiner vertraulichen Mitteilungen hatte sie mit dem gleichen lauwarmen Interesse reagiert. Seinen Versuchen, eine kräftige Reaktion in ihr hervorzurufen, war zunächst mit Unverständnis, dann, als er heftiger wurde, mit einem fast ängstlichen Widerstand begegnet worden.
Schließlich hatte er es aufgegeben. Und allmählich, fast unmerklich, hatte sich seine Liebe zu ihr zu wandeln begonnen. Mit den Jahren hatten seine Gefühle aufgehört, wie eine heiße, nasse Flutwelle auf der Oberfläche seiner Seele zu branden, und waren zu etwas Festem, Trockenem und Vernünftigem erstarrt. Auch Richard hatte sich gewandelt. Er hatte gelernt, seine Meinung für sich zu behalten und seine Gedanken leidenschaftslos zu sammeln. Er hatte gelernt zu lächeln, wenn er eigentlich strahlen wollte, mit der Zunge zu schnalzen, wenn er vor Frustration am liebsten geschrien hätte; sich und seine törichten Gedanken so weit es ging in Schranken zu halten.
Nun, als er auf den Beginn des Gedenkgottesdienstes wartete, pries er Emily für diese Lektionen in Selbstbeherrschung. Denn ohne sie wären ihm unkontrolliert die Tränen über die Wangen geströmt, und er hätte das Gesicht in den Händen, die jetzt ruhig das Programm hielten, vergraben und wäre von seiner Verzweiflung überwältigt worden.
Bei Fleurs Ankunft war die Kirche fast voll. Sie blieb einige Augenblicke hinten stehen und nahm die Gesichter, Bekleidungen und Stimmen vor ihr in sich auf; taxierte die Qualität der Blumenarrangements; überblickte die Kirchenbänke nach jemandem, der aufsehen und sie erkennen könnte.
Doch die Leute waren ihr samt und sonders unbekannt. Männer in langweiligen Anzügen; Damen mit einfallslosen Hüten. Leise Zweifel beschlichen Fleur. Hatte Johnny da möglicherweise den falschen Riecher gehabt? War bei dieser farblosen Menschenmenge wirklich Geld im Spiel?
»Hätten Sie gern ein Programm?« Sie blickte auf und sah, wie ein langbeiniger Mann über den Marmorboden auf sie zukam. »Es geht gleich los«, fügte er mit einem Stirnrunzeln hinzu.
»Natürlich«, murmelte Fleur. Sie hielt ihm ihre blasse, parfümierte Hand entgegen. »Fleur Daxeny. Freut mich... Tut
mir leid, ich habe Ihren Namen vergessen...«
»Lambert.«
»Lambert. Ja, natürlich. Jetzt erinnere ich mich.« Sie hielt inne und blickte ihm ins Gesicht, auf dem noch das arrogante Stirnrunzeln zu sehen war. »Sie sind der Gescheite.«
»So könnte man's wohl ausdrücken«, erwiderte Lambert achselzuckend.
Gescheit oder sexy, dachte Fleur. Eins davon wollen die Männer immer sein - oder beides. Wieder musterte sie Lambert. Seine Gesichtszüge wirkten feist und schwammig, so daß er selbst in entspanntem Zustand eine Grimasse zu schneiden schien. Belassen wir es besser bei gescheit, dachte sie bei sich.
»Tja, dann setze ich mich wohl besser«, meinte sie. »Sicher sehen wir uns später noch.«
»Hier hinten ist jede Menge Platz«, rief Lambert ihr nach. Doch Fleur schien ihn nicht zu hören. Mit feierlicher Miene und ganz in das Gottesdienstprogramm vertieft, bahnte sie sich rasch den Weg nach vorn.
»Verzeihen Sie.« Bei der drittvordersten Reihe blieb sie stehen. »Ist hier noch ein Platz frei? Hinten geht's etwas eng zu.«
Gelassen stand sie da, während die zehn Leute auf der Kirchenbank zusammenrückten, und nahm mit einer eleganten Bewegung Platz. Einen Augenblick senkte sie den Kopf und blickte dann mit einem strengen, tapferen Ausdruck wieder auf.
»Arme Emily«, sagte sie. »Arme, liebe Emily.«
»Wer war das?« flüsterte Philippa Chester ihrem Mann zu, als er sich wieder neben sie setzte.
»Keine Ahnung«, meinte Lambert. »Eine Freundin deiner Mutter, nehme ich an. Sie schien alles über mich zu wissen.«
»Ich kann mich gar nicht an sie erinnern. Wie heißt sie?«
»Fleur. Fleur Irgendwas.«
»Fleur? Noch nie gehört.«
»Vielleicht sind sie zusammen auf die Schule gegangen oder so.«
»O ja«, erwiderte Philippa. »Das könnte sein. Wie diese andere. Joan. Erinnerst du dich? Die, die uns aus heiterem Himmel besuchen kam?«
»Nein.«
»Doch, tust du. Joan. Sie hat Mummy diese scheußliche Glasschüssel geschenkt.« Philippa schielte wieder zu Fleur hinüber. »Bloß, daß die da zu jung aussieht. Ihr Hut gefällt mir. Ich wünschte, ich könnte auch solche kleinen Hüte tragen. Aber mein Kopf ist zu groß. Oder mein Haar paßt nicht. Oder sonst irgendwas.«
Sie verstummte. Lambert starrte auf ein Blatt Papier und murmelte etwas. Philippa schaute sich wieder in der Kirche um. So viele Menschen. Alle wegen ihrer Mummy. Um ein Haar wäre sie in Tränen ausgebrochen.
»Sieht mein Hut gut aus?« fragte sie unvermittelt.
»Ja, großartig«, erwiderte Lambert, ohne aufzusehen.
»Er hat ein Heidengeld gekostet. Ich konnte den Preis gar nicht fassen. Aber dann, als ich den Hut heute morgen aufsetzte, da dachte ich...«
»Philippa!« zischte Lambert. »Kannst du bitte still sein? Ich muß an meine Rede denken!«
»O ja, ja natürlich mußt du das.«
Gedemütigt senkte Philippa die Lider. Wieder einmal ging ihr ein Stich durchs Herz. Sie hatte niemand gebeten, eine Rede zu halten. Lambert hielt eine und ihr kleine Bruder Antony auch, aber sie mußte mit ihrem Hut nur ruhig dasitzen. Und selbst das konnte sie nicht sonderlich gut.
»Wenn ich sterbe«, sagte sie unvermittelt, »dann möchte ich, daß bei meinem Gedenkgottesdienst jeder eine Rede hält. Du, Antony, Gillian und alle unsere Kinder...«
»Falls wir welche haben«, versetzte Lambert, ohne aufzublicken.
»Falls wir welche haben«, echote Philippa grämlich. Sie starrte auf das Meer schwarzer Hüte. »Möglicherweise sterbe ich, bevor wir Kinder haben, das könnte doch sein? Ich meine, wir wissen ja nicht, wann wir sterben, oder? Morgen könnte ich tot sein.« Überwältigt von der Vorstellung, wie sie, umgeben von weinenden Trauernden, blaß, wächsern und romantisch im Sarg lag, hielt sie inne, den Tränen nahe. »Morgen könnte ich tot sein. Und dann wäre es...«
»Jetzt halt den Mund!« Lambert legte das Schriftstück beiseite. Unauffällig griff er nach Philippas fleischiger Wade. »Du redest Unsinn!« murmelte er. »Was tust du?«
Philippa schwieg. Lamberts Griff wurde allmählich fester, und plötzlich zwickte er sie so boshaft, daß sie nach Luft schnappte.
»Ich rede Unsinn«, erklärte sie mit schneller, leiser Stimme.
»Braves Mädchen.« Lambert ließ sie los. »So, jetzt setz dich gerade hin und reiß dich zusammen.«
»Es tut mir leid«, meinte Philippa atemlos. »Es ist nur alles ein bißchen... überwältigend. Diese vielen Leute. Ich wußte gar nicht, daß Mummy so viele Freunde hatte.«
»Deine Mutter war eine sehr beliebte Dame. Alle haben sie gemocht.«
Und mich mag niemand, hätte Philippa am liebsten erwidert. Aber statt dessen fummelte sie hilflos an ihrem Hut und zog ein paar dünne Haarlocken unter dem strengen schwarzen Hutrand hervor, so daß sie, als sie sich zum ersten Kirchenlied erhob, noch schlimmer aussah als zuvor.
2
»The day thou gavest, Lord, is ended«, sang Fleur. Sie zwang sich dazu, in das Gesangbuch hinabzusehen und vorzugeben, daß sie die Worte las. Als ob sie sie nicht im Schlaf beherrschen würde; als ob sie sie nicht bei unzähligen Begräbnissen und Gedenkgottesdiensten gesungen hätte. Warum suchten die Leute für Trauerfeiern immer dieselben langweiligen Lieder aus? War ihnen denn nicht klar, wie öde das die Dinge für jemanden machte, der regelmäßig ungebeten in Beerdigungen hereinplatzte?
In die erste Beerdigung war Fleur rein zufällig hereingeschneit. Eines trüben Morgens war sie eine kleinere Seitenstraße in Kensington entlanggeschlendert und hatte überlegt, ob sie vielleicht einen Job in einer teuren Kunstgalerie bekommen könnte, als sie eine Gesellschaft eleganter Leute auf dem Bürgersteig vor einer kleinen, aber bedeutenden Kirche herumstehen sah. Als sie sie erreicht hatte, hatte sie aus reiner Neugier den Schritt verlangsamt und war dann stehengeblieben. Sie hatte dagestanden, nicht ganz in der Gruppe, aber auch nicht ganz außerhalb, und so vielen Gesprächen wie möglich gelauscht. Als sie hörte, daß von Treuhandvermögen, Familiendiamanten und schottischen Inseln die Rede war, war ihr allmählich klar geworden, daß diese Leute Geld hatten. Und wie!
Dann war der Nieselregen plötzlich zu einem Wolkenbruch angeschwollen, und wie ein Amselschwarm, der losfliegt, hatten die Leute auf dem Bürgersteig unisono fünfundzwanzig Regenschirme aufgespannt. Es war Fleur als das Natürlichste auf der Welt vorgekommen, sich einen gütig wirkenden, älteren Herrn auszusuchen, ihm unverbindlich in die Augen zu sehen und dann mit einem dankbaren Lächeln unter den Schutz seines exklusiven Schirms aus schwarzer Seide zu schlüpfen. Es war nicht einfach gewesen, sich über den Regen, die Gespräche der anderen und den Verkehr hinweg zu unterhalten, und so hatten sie einander einfach nur angelächelt und genickt. Als der Chor mit der Probe fertig war und die Kirchentüren geöffnet wurden, da war es, als wären sie bereits alte Freunde. Er hatte sie in die Kirche geleitet und ihr ein Gottesdienstprogramm gereicht, und beide hatten sie weiter hinten zusammen Platz genommen.
»Besonders gut habe ich Benjy ja nicht gekannt«, hatte ihr der ältere Herr beim Niedersetzen anvertraut. »Aber er war ein guter Freund meiner verstorbenen Frau.«
»Er war ein Freund meines Vaters«, hatte Fleur erwidert und rasch auf das Gottesdienstprogramm gespäht, um sich den Namen »Benjamin St. John Gregory« einzuprägen. »Ich selbst habe ihn gar nicht gekannt. Aber es ist doch schön, Respekt zu zeigen.«
»Da stimme ich Ihnen zu.« Der Mann strahlte sie an und streckte ihr die Hand entgegen. »Darf ich mich vorstellen. Ich heiße Maurice Snowfield.«
Drei Monate war sie mit Maurice Snowfield zusammengewesen. Ganz so reich, wie Fleur es sich erhofft hatte, war er zwar nicht, und seine sanfte, geistesabwesende Art hatte sie fast zum Wahnsinn getrieben. Aber als sie sein Haus in Wiltshire verließ, da hatte sie ihm genug Geld abgeknöpft, um im voraus zwei Schulsemester ihrer Tochter Zara bezahlen zu können, und verfügte über eine brandneue Garderobe schwarzer Kostüme.
»...till all thy creatures own thy sway.« In der Kirche raschelte es, als alle ihre Liederbücher schlossen, Platz nahmen und das Programm konsultierten. Fleur nahm die Gelegenheit wahr, um ihre Handtasche zu öffnen und einen Blick auf den kleinen Zeitungsausschnitt zu werfen, den Johnny ihr geschickt hatte. Darauf wurde der Gedenkgottesdienst für Emily Favour am 20. April in der St. Anselmkirche angekündigt. »Ein guter Tip«, hatte Johnny gekritzelt. »Richard Favour, sehr reich, sehr ruhig.«
Fleur spähte zur vordersten Reihe. Sie konnte den Mann mit dem schwammigen Gesicht sehen, der die erste Rede gehalten hatte, und neben ihm eine unscheinbare blonde Frau mit einem gräßlichen Hut. Außerdem saß dort ein Junge im Teenageralter und eine ältere Frau mit einem sogar noch entsetzlicheren Hut... Fleurs Blick wanderte rasch weiter und hielt dann inne. Am anderen Ende der Kirchenbank saß ein unauffälliger, ergrauender Mann. Er saß vorgebeugt, die Schultern hochgezogen, den Kopf auf die Banklehne vor ihm gelegt.
Eine Weile beäugte sie ihn kritisch. Nein, er heuchelte nicht nur - er hatte seine Frau geliebt. Er vermißte sie. Und, nach seiner Körpersprache zu urteilen, sprach er mit seiner Familie nicht darüber.
Was die Dinge sehr vereinfachte. Die wahrhaft Betrübten waren die leichtesten Angriffsziele - die Männer, die sich nicht vorstellen konnten, sich je wieder zu verlieben; die ihren verstorbenen Ehefrauen ewige Treue schworen. Nach Fleurs Erfahrung bedeutete das einzig, daß sie, wenn sie sich in sie verliebten, überzeugt davon waren, daß es die wahre Liebe sein müsse.
Man hatte Richard gefragt, ob er die Lobrede halten wolle.
»Sie müssen ja daran gewöhnt sein, Reden zu halten«, hatte der Vikar gemeint, »geschäftliche Reden. Viel anders ist das auch nicht - nur eine Beschreibung des Charakters ihrer Frau, vielleicht ein oder zwei Anekdoten, eine Erwähnung der wohltätigen Einrichtungen, für die sie sich eingesetzt hat, irgend etwas, was die Gemeinde an die wahre Emily erinnert... « Angesichts Richards plötzlicher düsterer Miene verstummte er und fügte freundlich hinzu: »Sie müssen aber
nicht, vielleicht würde sie das Ganze zu sehr mitnehmen?«
Richard hatte genickt.
»Ich glaube, da haben Sie recht«, stammelte er.
»Durchaus verständlich«, hatte sich der Vikar zu sagen beeilt. »Da sind Sie nicht allein.«
Aber er war allein, hatte Richard im Stillen gedacht. Allein mit seinem Schmerz; allein mit dem Wissen, daß seine Frau gestorben war und bis auf ihn niemand je begreifen würde, wie wenig er sie gekannt hatte. Die Einsamkeit, die er während der Ehe verspürt hatte, schien ihm nun auf unerträgliche Weise gesteigert; destilliert in eine Bitterkeit, die der Wut nicht unähnlich war. Die wahre Emily! hätte er am liebsten gebrüllt. Was wußte ich schon je von der wahren Emily?
So war die Aufgabe der Lobrede auf ihren alten Freund Alec Kershaw gefallen. Richard setzte sich gerade auf, als Alec auf das Pult zusteuerte, die weißen Kärtchen vor sich zusammenklopfte und über seine randlose, halbmondförmige Brille auf die Gemeinde blickte.
»Emily Favour war eine tapfere, charmante und großzügige Frau«, begann er mit erhobener, förmlicher Stimme. »Nur ihr Mitgefühl und ihre Hilfsbereitschaft reichten an ihr Pflichtgefühl heran.«
Alec hielt inne und warf Richard einen Blick zu. Als dieser Alecs Gesichtsausdruck sah, fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Auch Alec hatte Emily nicht wirklich gekannt. Diese Worte waren hohl; abgedroschen - sollten eher ihren Zweck erfüllen als die Wahrheit sagen.
In Richard stieg ein lächerliches Angstgefühl hoch, ja, fast Panik. Wenn diese Lobrede erst einmal gehört, der Gottesdienst erst einmal beendet war und die Gemeinde die Kirche verlassen hatte, dann hatte es sich damit. Das würde die offizielle Version von Emilys Charakter sein. Ende der Geschichte. Akte geschlossen; nichts mehr zu erfahren. Konnte er das ertragen? Konnte er damit leben, daß seine Frau abschließend eine Beurteilung voller wohlmeinender Klischees erfuhr?
»Ihre Wohltätigkeitsarbeit war beispiellos - insbesondere ihr Einsatz für den Rainbow Fund und das St. Bride's Hospiz. Ich denke, viele von uns werden sich an ihre erste Weihnachtsauktion im Greyworth Golf Club erinnern, ein Ereignis, das in all unseren Terminkalendern zu einer festen Veranstaltung geworden ist.«
Mit Mühe unterdrückte Fleur ein Gähnen. Nahm die Rede dieses Mannes denn gar kein Ende?
»Und natürlich führt uns die Erwähnung des Greyworth Golf Clubs zu einem weiteren wichtigen Aspekt von Emily Favours Leben. Was manche als ein Hobby beschreiben würden... ein Spiel. Natürlich wissen wir, daß es sich dabei um eine viel ernstere Angelegenheit handelt.«
Mehrere Anwesende kicherten höflich, und Fleur blickte auf. Wovon sprach er?
»Nachdem sie Richards Frau geworden war, stand Emily vor der Wahl, eine Golfwitwe oder eine Golfpartnerin zu werden. Sie entschied sich für letzteres. Und trotz der Kränklichkeit, unter der sie litt, entwickelte sie ein beneidenswert beständiges Spiel, wie jeder von uns, der ihren schönen Sieg im Ladies' Foursome verfolgt hat, bezeugen kann.«
Golfwitwe oder Golfpartner, dachte Fleur träge. Witwe oder Partner. Na, das ist einfach - die Witwe gewinnt, jedes- mal.
Nach dem Gottesdienst steuerte Richard auf Vorschlag des Vikars auf die Westtür zu, um Freunde und Verwandte zu begrüßen. »Die Leute schätzen es, die Gelegenheit zu bekommen, ihr Beileid persönlich zu bekunden«, hatte der Vikar gesagt. Nun fragte sich Richard, ob das wirklich stimmte. Die meisten Gottesdienstbesucher hasteten an ihm vorbei und stießen eilends undeutliche Sätze des Beileids aus, die wie abergläubische Zauberformeln klangen. Einige blieben stehen, sahen ihm direkt in die Augen, schüttelten ihm die Hand; umarmten ihn sogar. Aber das waren, überraschend oft, Leute, die er kaum kannte: die Repräsentanten von Anwaltskanzleien und Privatbanken; die Ehefrauen von Geschäftsbekanntschaften.
»Auf ins Lanesborough«, erklärte Lambert gerade wichtigtuerisch auf der anderen Seite der Tür. »Im Lanesborough gibt es Drinks.«
Eine elegante Frau mit rotem Haar blieb vor Richard stehen und streckte ihm eine blasse Hand entgegen. Des Händeschüttelns müde, ergriff Richard sie.
»Die Sache ist die«, sagte die Frau, als würde sie eine bereits begonnene Unterhaltung wiederaufnehmen, »daß die Einsamkeit irgendwann ein Ende hat.« Wie vom Schlag gerührt, zuckte Richard zusammen.
»Was sagten Sie?« begann er. Aber die Frau war schon verschwunden. Richard wandte sich an seinen fünfzehnjährigen Sohn Antony, der neben ihm stand.
»Wer war das?« erkundigte er sich. Antony zuckte die Achseln.
»Keine Ahnung. Lambert und Philippa haben sich über sie unterhalten. Kann sein, daß sie Mum von der Schule gekannt hat.«
»Woher wußte sie...«, begann Richard und hielt inne. Eigentlich hatte er fragen wollen, woher sie wußte, daß er sich einsam fühlte. Statt dessen wandte er sich lächelnd an Antony und sagte: »Deine Rede hat mir gut gefallen.« Wieder zuckte Antony die Achseln.
»Aha.« Wie er es unbewußt alle drei Minuten tat, hob Antony die Hand ans Gesicht und rieb sich die Stirn - so daß das dunkelrote Muttermal, das wie eine kleine Eidechse über sein Auge sprang, einen Moment verdeckt war. Alle drei Minuten seines Lebens, wenn er nicht schlief, verbarg Antony sein Muttermal vor den Blicken anderer. Dabei war er Richards Wissen nach nie deswegen aufgezogen worden; zu Hause hatte bestimmt jeder immer so getan, als sei es nicht da. Trotzdem schnellte Antonys Hand mit fast verzweifelter Regelmäßigkeit ans Gesicht und verweilte dort gelegentlich länger, manchmal mehrere Stunden, und schützte die kleine rote Eidechse wie ein wachsamer Schutzengel vor forschenden Blicken.
»Nun denn«, meinte Richard.
»Tja«, sagte Antony.
»Vielleicht sollten wir uns auf den Weg machen.«
»Ja.«
Das war's. Ende des Gesprächs. Wann hatte er aufgehört, sich mit Antony zu unterhalten? Wie hatten sich die bezaubernden und offenen Gespräche mit seinem Sohn mit den Jahren zu leerem Small Talk wandeln können?
»Gut«, meinte er. »Dann laß uns mal gehen.«
Bei Fleurs Ankunft war der Belgravia Room im Lanesborough bereits hübsch voll. Sie nahm ein Glas Sekt mit Orangensaft, das ein gebräunter australischer Ober ihr anbot, und steuerte dann geradewegs auf Richard Favour zu. Als sie fast bei ihm war, änderte sie unmerklich die Richtung und ging direkt an ihm vorbei.
»Entschuldigen Sie«, rief er ihr nach, und ein kleines Triumphgefühl durchzuckte sie. Bisweilen konnte sie eine halbe Stunde damit verbringen, hin und her zu gehen, ehe ihr potentielles Opfer sie ansprach. So rasch wie möglich drehte sie sich um, ohne allerdings zu eifrig zu wirken, und schenkte Richard Favour das wärmste, breiteste Lächeln, das sie aufbieten konnte. Es war eine völlige Zeitverschwendung, Witwer länger zappeln zu lassen. Das hatte sie inzwischen begriffen. Manchen fehlte es an Kraft, die Verfolgung aufzunehmen; manchen mangelte es an Selbstvertrauen; manche begannen während des Umwerbens argwöhnisch zu werden. Besser war es, mitten in ihr Leben zu platzen; schnellstmöglich Teil des Status quo zu werden.
»Ja, hallo«, sagte Fleur. Sie trank einen Schluck Sekt und wartete, daß er sprach. Falls irgendwelche scharfäugigen Familienmitglieder sie beobachteten, würden sie sehen, daß er sich an sie heranmachte - nicht andersherum.
»Ich wollte mich bei Ihnen für Ihre lieben Worte bedanken «, sagte Richard. »Ich hatte das Gefühl, Sie sprächen, als wüßten Sie, wie man sich in solch einer Situation fühlt.«
Fleur blickte einen Moment zärtlich auf ihr Sektglas und überlegte, welche Geschichte sie ihm auftischen sollte. Schließlich sah sie auf und lächelte ihn tapfer an.
»Ja, das stimmt leider. Ich habe das selbst auch schon durchgemacht. Allerdings ist das schon eine Weile her.«
»Und Sie haben es überlebt.«
»Ich habe es überlebt«, echote Fleur. »Aber leicht war es nicht. Allein die Frage, mit wem man reden soll, ist manchmal schon ein Problem. Oft steht einem die eigene Familie ganz einfach zu nahe.«
»Oder nicht nahe genug.« Richard dachte düster an Antony.
»Genau. Nicht nahe genug, um zu wissen, was man wirklich durchmacht; nicht nahe genug, um... um den Kummer zu teilen.« Wieder trank sie einen Schluck Sekt und sah Richard an. Mit einem Mal wirkte er wie am Boden zerstört. Verflucht, dachte sie. Bin ich zu weit gegangen?
»Richard?« Fleur sah auf. Der Mann mit dem schwabbligen Gesicht kam auf sie zu. »Derek Cowleys ist gerade gekommen. Du erinnerst dich - der Software-Direktor von Graylows.«
»Ich habe ihn in der Kirche gesehen«, erwiderte Richard. »Wer zum Teufel hat ihn eingeladen?«
»Ich. Er ist ein nützlicher Kontakt.«
»Aha.« Richards Gesicht verhärtete sich.
»Ich habe mit ihm geplaudert«, fuhr Lambert unverdrossen fort, »aber er möchte auch mit dir sprechen. Ließe sich das einrichten? Den Vertrag habe ich noch nicht erwähnt...« Er verstummte, als würde er Fleur zum ersten Mal bemerken. Ich verstehe, dachte Fleur, und ihre Augen verengten sich. Frauen zählen nicht.
»Ah, hallo«, sagte er. »Verzeihung, wie war noch mal Ihr Name?«
»Fleur. Fleur Daxeny.«
»Ah ja. Und Sie sind - was? Eine von Emilys alten Schulfreundinnen? «
»Aber nein!« Fleur lächelte bezaubernd.
»Ich dachte mir schon, daß Sie dafür ein bißchen zu jung seien«, versetzte Lambert. »Woher kannten Sie Emily dann also?«
»Tja, das ist eine interessante Geschichte.« Fleur nahm einen weiteren gedankenvollen Schluck. Es war überraschend, wie oft eine heikle Frage dadurch umgangen werden konnte, daß man etwas trank oder einen Appetithappen aß. Sehr häufig sah jemand, der vorbeikam, daß das Gespräch zum Erliegen gekommen war, und ergriff die Gelegenheit, sich zu der Gruppe zu gesellen - und ihre Antwort war bequemerweise vergessen.
Aber heute unterbrach sie niemand, und Lambert blickte sie immer noch mit unverhohlener Neugierde an.
»Eine interessante Geschichte«, sagte Fleur wieder und richtete ihren Blick auf Richard. »Ich bin Ihrer Frau nur zweimal begegnet. Aber jedesmal hat sie großen Eindruck auf mich gemacht.«
»Wo sind Sie sich denn begegnet?« wollte Lambert wissen.
»Bei einem Lunch«, entgegnete Fleur. »Einem großen Wohltätigkeitslunch. Wir saßen am selben Tisch. Ich beklagte mich über das Essen, und sie stimmte mir eigentlich zu, war aber nicht der Typ, der sich beschwerte. Ja, und so kamen wir ins Gespräch.«
»Worüber haben Sie sich denn unterhalten?« Richard guckte Fleur neugierig an.
»Einfach alles.« Fleur erwiderte seinen Blick und bemerkte die sehnsuchtsvollen Augen. »Ich vertraute ihr alles Mögliche an«, sagte sie langsam und senkte die Stimme, so daß Richard sich unwillkürlich zu ihr beugte, »und sie vertraute mir Dinge an. Wir sprachen über unser Leben... und unsere Familien... und die Wahl, die wir getroffen hatten...«
»Was hat sie gesagt?« platzte es unwillkürlich aus Richard heraus. Fleur zuckte die Achseln.
»Das ist schon lange her. Ich bin mir nicht mal sicher, ob mich meine Erinnerung nicht trügt.« Sie lächelte. »Es war nichts, wirklich. Ich nehme an, Emily hat mich schon vor langer Zeit vergessen. Aber ich... ich habe mich immer an sie erinnert. Und als ich die Ankündigung der Gedenkfeier las, da konnte ich nicht widerstehen herzukommen.« Fleur senkte den Blick. »Es war reichlich anmaßend. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.«
»Aber natürlich nicht«, erwiderte Richard. »Jede Freundin von Emily ist äußerst willkommen.«
»Komisch, daß meine Schwiegermutter Sie nie erwähnt hat.« Lambert musterte sie kritisch.
»Es hätte mich gewundert, wenn sie es getan hätte.« Fleur lächelte ihn an. »Wirklich, es war nichts. Ein paar lange Unterhaltungen vor vielen Jahren.«
»Ich wünschte... ich wünschte, ich wüßte, was sie Ihnen erzählt hat.« Richard lachte verlegen. »Aber wenn Sie sich nicht daran erinnern können...«
»An ein bißchen was erinnere ich mich.« Fleur lächelte ihn verheißungsvoll an. »An ein paar Gesprächsfetzen. Einiges war recht überraschend. Und manches war recht... persönlich. « Sie hielt inne und warf einen Seitenblick auf Lambert.
»Lambert, du gehst jetzt mal und unterhältst dich mit Derek Cowley«, sagte Richard sofort. »Ich spreche vielleicht später mit ihm. Doch zunächst... möchte ich mich noch ein bißchen mit Mrs. Daxeny unterhalten.«
Eine Viertelstunde darauf verließ Fleur das Lanesborough und stieg in ein Taxi. In ihrer Tasche steckte Richard Favours Telefonnummer, und in ihrem Terminkalender war für den nächsten Tag eine Verabredung zum Lunch mit ihm eingetragen.
Es war alles so kinderleicht gewesen. Der arme Mann wollte ganz offensichtlich verzweifelt hören, was sie über seine Frau zu sagen hatte - war aber zu wohlerzogen, um sie zu unterbrechen, als sie, offenbar unabsichtlich, vom Thema abschweifte. Sie hatte ihn mit ein paar harmlosen Äußerungen abgespeist, dann unvermittelt einen Blick auf die Uhr geworfen und ausgerufen, daß sie schleunigst los müsse. Sein Gesicht hatte sich verdüstert, und einen Moment lang schien er sich damit abzufinden, daß die Unterhaltung damit beendet war. Aber dann, als Fleur fast schon resigniert hatte, zog er seinen Terminkalender heraus und fragte Fleur mit leicht zittriger Stimme, ob sie mit ihm zum Lunch gehen wolle. Dabei, vermutete Fleur, war das Einladen fremder Frauen sicher nichts, was Richard schon oft getan hatte. Was ihr nur recht war. Als das Taxi vor dem Wohnblock in Chelsea hielt, in dem Johnny und Felix wohnten, hatte Fleur auf einem Zettel alle Fakten niedergeschrieben, die sie über Emily Favour in Erfahrung gebracht hatte. »Kränklich« unterstrich sie. »Golf« unterstrich sie doppelt. Zu schade, daß sie nicht wußte, wie diese Frau ausgesehen hatte. Eine Fotografie wäre hilfreich gewesen. Andererseits hatte sie nicht vor, sich länger über Emily Favour zu unterhalten. Nach ihrer Erfahrung mied man es am besten, über tote Ehefrauen zu sprechen.
Sie sprang aus dem Taxi und entdeckte Johnny auf dem Bürgersteig vor dem Mietshaus, der mit Argusaugen beobachtete, wie etwas aus einem Lieferwagen geladen wurde.
Er war ein eleganter Mann Ende fünfzig, mit nußbraunem Haar und einer beständigen Sonnenbräune. Fleur kannte ihn seit zwanzig Jahren; er war der einzige Mensch, den sie noch nie belogen hatte.
»Darling!« rief sie. »Johnn-iiee! Ist mein Gepäck gut hier eingetroffen?« Als er seinen Namen hörte, wandte er sich mit einem gereizten Stirnrunzeln über die Unterbrechung um. Doch beim Anblick Fleurs hellte sich seine Miene auf.
»Fleur!« rief er. »Komm und schau dir das an!«
»Was ist das?«
»Unser neuer Tafelaufsatz. Felix hatte ihn gestern bei einer Versteigerung ergattert. Unheimlich günstig, fanden wir. Vorsicht!« blaffte er plötzlich. »Passen Sie auf, daß Sie nirgends damit anstoßen.«
»Ist Felix drinnen?«
»Ja. Geh schon mal hoch. Vorsicht, hab ich gesagt, Sie Trottel!«
Als sie die Treppe in den ersten Stock hinaufstieg, tönte ihr aus Johnnys Wohnung laut und beharrlich Wagnermusik entgegen; als sie eintrat, schien sich die Lautstärke zu verdoppeln. »Felix!« rief sie. Doch er konnte sie nicht hören. Sie ging ins Wohnzimmer, wo sie Felix vor einem Spiegel entdeckte, einen korpulenten Mann mittleren Alters, der mit einer schrillen Fistelstimme Brünnhildes Part mitsang.
Als Fleur zum ersten Mal Felix' hohe Stimme gehört hatte, hatte sie gedacht, er hätte irgendein entsetzliches Problem. Doch sie hatte bald erfahren, daß er seinen Lebensunterhalt damit verdiente, mit dieser merkwürdigen Stimme in Kirchen und Kathedralen zu singen. Manchmal gingen Johnny und sie in die St. Paul's Cathedral oder in die Westminster Abbey, um ihn die Abendandacht singen zu hören. Sie sahen ihn dann in seinen weißen Rüschen feierlich in der Prozession mitgehen. Vereinzelt bekamen sie ihn auch im Frack zu Gesicht, wenn er bei einer Aufführung von Händels Messias oder Bachs Matthäuspassion mitsang.
Fleur gefiel Felix' Stimme nicht, und die Matthäuspassion fand sie totlangweilig. Doch sie saß immer in der vordersten Reihe, applaudierte begeistert und stimmte in Johnnys Bravorufe mit ein. Denn Fleur verdankte Felix sehr viel. Zwar konnte sie in der Zeitung nachlesen, wann Gedenkgottesdienste stattfanden - aber Felix war über die Beerdigungen im Bilde. Wenn er nicht selber sang, dann kannte er jemanden, der es tat. Und die kleineren, intimeren Beerdigungen waren es, bei denen Fleur stets am erfolgreichsten gewesen war.
Als Felix sie im Spiegel sah, fuhr er ein wenig zusammen und hörte zu singen auf.
»Nicht so ganz meine Stimmlage«, rief er über die Musik hinweg. »Ein bißchen zu tief für mich. Wie war der Gedenkgottesdienst? «
»Gut!« schrie Fleur. Sie ging zum CD-Spieler und stellte die Musik leiser. »Gut«, wiederholte sie. »Recht vielversprechend. Morgen gehe ich mit Mr. Favour zum Lunch.«
»Oh, gut gemacht«, lobte Felix. »Ich wollte dir eigentlich von der Beerdigung erzählen, bei der wir morgen singen sollen. Ganz nett. Sie haben sich ›Hear My Prayer‹ gewünscht. Aber wenn du schon gebunden bist...«
»Erzähl mir lieber trotzdem davon. Restlos überzeugt von dieser Familie Favour bin ich nämlich nicht. Ob da wirklich Geld zu holen ist, halte ich noch für fraglich.«
»Wirklich?«
»Schreckliche Hüte.«
»Hm. Hüte sind nicht alles.«
»Nein.«
»Was hat Johnny über sie erzählt?«
»Was hat Johnny über wen erzählt?« Johnnys hohe Stimme schallte durch die Tür. »Vorsicht, Sie Esel! Ja. Auf den Tisch.«
Ein Mann in Overall betrat den Raum und legte einen großen Gegenstand auf den Tisch, der in braunes Papier gehüllt war.
»Wollen doch mal sehen!« rief Johnny aus und begann das Papier herunterzureißen.
»Ein Kandelaber«, sagte Fleur. »Wie hübsch!«
»Das ist ein Tafelaufsatz«, korrigierte sie Johnny. »Ist er nicht schön?«
»Was bin ich doch für ein schlaues Bürschchen«, meinte Felix, »daß ich solch ein prachtvolles Ding entdeckt habe.«
»Ich wette, der hat ein Vermögen gekostet«, sagte Fleur düster. »Ihr hättet das Geld auch für einen guten Zweck ausgeben können.«
»Und es dir geben? Davon halte ich nichts.« Johnny holte ein Taschentuch hervor und polierte damit den Tafelaufsatz. »Wenn du so dringend Geld brauchst, warum hast du dann den reizenden Sakis verlassen?«
»Von wegen reizend, ein herrischer Tyrann ist das. Er hat mich herumkommandiert, mich angebrüllt...«
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1999, 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
»Wenn Sie die anderen fünf also bitte für mich verpacken könnten...« Fleur lächelte ihr Spiegelbild geheimnisvoll an und zog den dunklen Seidenschleier wieder vor das Gesicht. Die Frau von »Take Hat!« starrte sie mit offenem Mund an.
»Sie wollen alle kaufen?«
»Aber natürlich. Ich kann mich zwischen ihnen nicht entscheiden. Sie sind einfach alle zu schön!« Fleur drehte sich zu dem Haarstylisten. »Nun, mein Lieber. Haben Sie eine Idee, welche Frisur gut zu diesem Hut passen würde?« Der junge Mann erwiderte ihren Blick und spürte, wie er langsam rot anlief.
»Oh! Ja! Ich denke schon. Ich meine...« Aber Fleur hatte sich schon abgewandt.
»Wenn Sie es bitte auf meine Hotelrechnung setzen könnten. Das geht doch, oder?«
»Aber natürlich, Madam«, erwiderte die Verkäuferin beflissen. »Als Hotelgast stehen Ihnen auf alle unsere Preise fünfzehn Prozent Ermäßigung zu.«
»Was immer.« Fleur gähnte verhalten. »Hauptsache, es kann alles auf die Rechnung gesetzt werden.«
»Ich werde das sofort für Sie erledigen.«
»Gut.« Während die Verkäuferin aus dem Raum eilte, wandte Fleur sich um und schenkte dem jungen Haarstylisten ein hinreißendes Lächeln. »Jetzt gehöre ich ganz Ihnen! «
Ihre tiefe, melodiöse Stimme klang merkwürdig akzentfrei. Der Friseur vermeinte, auch einen leichten Spott herauszuhören, und er errötete zart, als er zu ihr herüberkam. Er stellte sich hinter sie, faßte ihr Haar mit einer Hand zusammen und ließ es in einer schweren, rotgoldenen Bewegung wieder fallen.
»Ihr Haar ist in einem sehr guten Zustand«, meinte er unbeholfen.
»Ja, nicht wahr?« erwiderte Fleur selbstgefällig. »Ich hatte immer gutes Haar. Und eine gute Haut natürlich.« Sie schob ihren Hotelbademantel leicht zur Seite und rieb die Wange zärtlich an der blassen, samtigen Haut ihrer Schulter. »Für wie alt würden Sie mich schätzen?« fügte sie unvermittelt hinzu.
»Ich möchte nicht... ich würde nicht...«, verhaspelte sich der junge Mann.
»Ich bin vierzig«, sagte Fleur träge. Sie schloß die Augen. »Vierzig«, wiederholte sie, als würde sie meditieren. »Da kommt man ins Grübeln, finden Sie nicht?«
»Sie sehen nicht...«, begann der Haarstylist mit linkischer Höflichkeit. Fleur öffnete ein funkelndes, katzengrünes Auge.
»Ich sehe nicht wie vierzig aus? Wie alt denn dann?«
Verlegen erwiderte der Haarstylist ihren Blick. Er öffnete den Mund, schloß ihn dann aber wieder. In Wahrheit, dachte er plötzlich, konnte man diese Frau gar keinem Alter zuordnen. Sie wirkte alterslos, klassenlos, unbestimmbar. Als sich ihre Blicke trafen, erfüllte ihn ein freudiger Schauer; eine jähe Gewißheit, daß dieser Augenblick irgendwie bedeutsam war. Seine Hände zitterten leicht, er ergriff ihr flammendrotes Haar und ließ es durch die Finger gleiten.
»Sie sehen so alt aus, wie Sie aussehen«, flüsterte er heiser. »Zahlen kommen da nicht ins Spiel.«
»Süß!« meinte Fleur darauf nur. »Und nun, Schätzchen, wie wär's, wenn Sie mir ein Glas Champagner bestellen würden, bevor Sie mit dem Frisieren beginnen?«
Etwas enttäuscht ließ der Stylist die Hände sinken und ging gehorsam zum Telefon. Während er wählte, ging die Tür auf, und die Frau von »Take Hat!« trat mit einem Stapel Hutschachteln wieder ein. »So, da wären wir«, rief sie atemlos aus. »Wenn Sie hier bitte einfach nur unterschreiben würden... «
»Ein Glas Champagner, bitte«, sagte der Stylist. »Zimmer 301.«
»Ich habe mich gefragt«, wandte sich die Verkäuferin vorsichtig an Fleur, »ob Sie wirklich alle sechs Hüte in Schwarz wollen? Momentan sind einige tolle Farben aktuell.« Sie tippte sich nachdenklich gegen die Zähne. »Es gibt da ein bezauberndes Smaragdgrün, das zu ihrem Haar einfach umwerfend aussehen müßte...«
»Schwarz«, erwiderte Fleur entschieden. »Ich bin nur an Schwarz interessiert.«
Eine Stunde darauf betrachtete Fleur sich im Spiegel, lächelte und nickte. Sie war mit einem schlichten schwarzen Kostüm angetan, das maßgeschneidert war. An ihren Beinen schimmerten hauchdünne schwarze Strümpfe; die Füße steckten in diskreten schwarzen Schuhen. Das Haar war zu einem beispielhaften Nackenknoten zusammengefaßt, zu dem der kleine schwarze Hut vortrefflich paßte.
Die lachsfarbene Seide unter ihrer Kostümjacke bildete den einzigen Farbtupfer. Fleur trug aus Prinzip stets etwas Farbe, egal wie düster die Bekleidung oder der Anlaß waren. Unter lauter trübseligen schwarzen Kostümen würde ein winziger lachsfarbener Sprenkel den Blick unbewußt auf sie lenken. Die Leute würden sie bemerken, ohne den Grund dafür genau zu kennen. Und genauso sollte es sein.
Noch immer in ihr Spiegelbild vertieft, zog Fleur den Tüllschleier über das Gesicht. Der selbstgefällige Ausdruck wich einer tiefen, unergründlichen Trauer. Eine Weile starrte sie sich wortlos an. Sie nahm ihre schwarze, lederne Ospreytasche und hielt sie unauffällig an ihre Seite. Einige Male nickte sie und beobachtete, wie der Schleier geheimnisvolle Schatten auf ihr blasses Gesicht warf.
Dann klingelte plötzlich das Telefon und holte Fleur in die Wirklichkeit zurück.
»Hallo?«
»Fleur, wo hast du gesteckt? Ich habe versucht, dich anzurufen. « Die tiefe griechische Stimme war unverkennbar. Fleur runzelte irritiert die Stirn.
»Sakis! Liebling, ich bin ein bißchen in Eile...«
»Wo willst du denn hin?«
»Nirgends Bestimmtes. Nur zum Shopping.«
»Warum denn das? Ich habe dir doch in Paris Kleider gekauft. «
»Das weiß ich, Schatz. Aber ich wollte dich heute Abend mit etwas Neuem überraschen«, gurrte sie mit überzeugender Zärtlichkeit in das Telefon. »Etwas Elegantes, Aufreizendes... « Mit einem Mal hatte sie eine Eingebung. »Und weißt du, Sakis«, fügte sie behutsam hinzu, »ich habe mich gefragt, ob es nicht eine gute Idee wäre, in bar zu bezahlen, damit ich einen guten Preis bekomme. Ich kann vom Hotel aus doch Geld abheben, oder? Von deinem Konto?«
»Einen gewissen Betrag schon. Ich glaube, bis zu zehntausend Pfund.«
»Ich brauche nicht annähernd soviel!« lachte sie amüsiert. »Ich brauche nur genug für ein Ensemble! Also maximal fünfhundert.«
»Und wenn du es gekauft hast, kehrst du geradewegs ins Hotel zurück!«
»Aber natürlich, Schatz.«
»Dein ›natürlich‹ kenne ich schon. Aber diesmal darfst du nicht zu spät kommen, Fleur. Hast du verstanden? Keine Verspätung!« bellte er in militärischem Befehlston heraus, und Fleur fuhr in stummer Verärgerung zusammen. »Es ist alles schon geregelt. Leonidas wird dich um drei Uhr abholen. Der Helikopter fliegt um vier Uhr los. Unsere Gäste kommen um sieben. Du mußt fertig sein, um sie zu begrüßen. Ich möchte nicht, daß du wieder zu spät bist wie das letzte Mal. Das war... das war ungehörig. Hörst du überhaupt zu? Fleur?«
»Aber natürlich höre ich zu! Oh, da klopft jemand. Ich schaue mal schnell, wer es ist...« Sie wartete ein paar Sekunden und legte dann entschlossen den Hörer auf. Eine Minute später hob sie ihn wieder ab.
»Hallo? Könnten Sie bitte jemanden für mein Gepäck raufschicken?«
Unten im Hotelfoyer ging es ruhig zu. Die Frau von »Take Hat!« sah Fleur an der Boutique vorbeigehen und winkte ihr zu, aber Fleur bemerkte sie gar nicht.
»Ich würde gern auschecken«, sagte sie, sobald sie die Rezeption erreicht hatte. »Und Geld abheben. Das Konto läuft unter dem Namen von Sakis Papandreous.«
»Ah ja.« Die schicke, blonde Empfangsdame blickte kurz auf ihren Computer und lächelte Fleur dann freundlich an. »Wieviel hätten Sie denn gern?« Fleur strahlte zurück.
»Zehntausend Pfund. Und könnten Sie mir bitte zwei Taxis bestellen?« Die Frau schaute überrascht auf.
»Zwei?«
»Eines für mich, eines für mein Gepäck. Mein Gepäck geht nach Chelsea.« Unter ihrem Tüllschleier senkte sie den Blick. »Ich muß zu einem Gedenkgottesdienst.«
»O je, das tut mir leid.« Die Frau reichte Fleur die Hotelrechnung, die mehrere Seiten umfaßte. »Jemand Nahestehendes? «
»Noch nicht.« Fleur unterschrieb die Rechnung, ohne sich die Mühe zu machen, sie nachzuprüfen. Sie sah zu, wie die Kassiererin dicke Geldbündel abzählte und dann in zwei Briefumschläge steckte. Sie nahm sie geradezu zärtlich entgegen, verstaute sie in ihrer Ospreytasche und verschloß diese wieder. »Aber man weiß ja nie.«
Richard Favour saß mit geschlossenen Augen in der ersten Bankreihe der St. Anselmkirche und lauschte den Geräuschen der Menschen, die allmählich die Kirche füllten - gedämpftes Flüstern und Schlurfen, das Klacken von Absätzen auf dem Fliesenboden und »Jesu, Joy of Man's Desiring«, das leise auf der Orgel gespielt wurde.
Er hatte »Jesu, Joy of Man's Desiring« immer gehaßt; der Organist hatte es bei ihrem Treffen vor drei Wochen vorgeschlagen, nachdem offensichtlich geworden war, daß Richard sich nicht an ein einziges Orgelstück erinnern konnte, das Emily besonders gefallen hatte. Es hatte betretenes Schweigen geherrscht, während Richard sich vergebens das Hirn zermartert hatte, bevor der Organist taktvoll gemurmelt hatte: »›Jesu, Joy of Man's Desiring‹ ist immer sehr beliebt... «, und Richard erleichert zugestimmt hatte.
Nun runzelte er unzufrieden die Stirn. Gewiß hätte er sich etwas Persönlicheres ausdenken können als diese schwülstige, allzu beliebte Melodie. Als ausgesprochene Musikliebhaberin war Emily immer gern in Konzerte gegangen, sofern es ihr Gesundheitszustand zuließ. Hatte sie sich denn nie einmal mit leuchtenden Augen zu ihm gewandt und gesagt: »Ich liebe dieses Stück, du nicht auch?« Er kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu erinnern. Aber das einzige Bild, das vor seinem inneren Auge erschien, war das von Emily, wie sie mit trübem Blick im Bett lag, fahl, schwach und geduldig. Schuldgefühle überkamen ihn. Wieso hatte er seine Frau nie nach ihrer Lieblingsmusik gefragt? In dreiunddreißig Ehejahren hatte er sich nie danach erkundigt. Und nun war es zu spät. Er würde es nie mehr erfahren.
Müde rieb er sich die Stirn und sah auf das Gottesdienstprogramm auf seinem Schoß nieder. Dort prangten die Worte: Gedenkgottesdienst und Dankgebet für das Leben von Emily Milicent Favour. Einfache schwarze Beschriftung, schlichte weiße Karte. Er hatte sich allen Versuchen von seiten der Drucker widersetzt, Karten mit so beliebten Dingen wie Silberumrandung oder geprägten Engeln zu verwenden. Dem hätte Emily, dachte er, zugestimmt. Zumindest... hoffte er das.
Richard hatte mehrere Ehejahre dazu gebraucht zu begreifen, daß er seine Frau nicht sehr gut kannte, und etliche mehr, bis ihm kam, daß das nie der Fall sein würde. Anfangs war ihre heitere Entrücktheit etwas gewesen, das ihn zusammen mit dem blassen hübschen Gesicht und der adretten, knabenhaften Figur, die sie so entschlossen verborgen hielt wie ihre innersten Gedanken, angezogen hatte. Je geheimnisvoller sie sich gegeben hatte, desto unwiderstehlicher hatte sie auf Richard gewirkt; dem Hochzeitstag hatte er mit einer Sehnsucht entgegengefiebert, die an Verzweiflung grenzte. Endlich, hatte er gedacht, würden er und Emily einander offenbaren können. Er hatte sich danach verzehrt, nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Gedankenwelt zu erforschen, ihre Person; ihre intimsten Ängste und Träume zu ergründen; ihr lebenslanger Seelengefährte zu werden.
Ihre Hochzeit fand an einem strahlenden, stürmischenTag in einem kleinen Dorf in Kent statt. Emily hatte die ganze Zeit gelassen und heiter gewirkt; Richard war davon ausgegangen, daß sie ihre freudige Erregung, die in ihr bestimmt genauso loderte wie in ihm, einfach besser verbergen konnte
- eine Erregung, die beim ihm stärker geworden war, als der Tag voranschritt und ihr Leben zu zweit näher rückte. Nun schloß er die Augen und erinnerte sich an die ersten prickelnden Sekunden, als sich die Tür hinter dem Träger geschlossen hatte und er zum erstenmal mit seiner Frau in der Hotelsuite in dem Eastbourner Hotel allein war. Er starrte sie an, während sie mit den üblichen glatten, präzisen Bewegungen ihren Hut abnahm. Halb sehnte er sich, daß sie das dumme Ding hinunterwerfen und in seine Arme eilen würde, und halb, daß dieses köstliche, ungewisse Warten nie enden möge. Es hatte den Eindruck gemacht, als würde Emily den Augenblick ihres Zusammenkommens absichtlich verzögern und ihn mit ihrer kühlen, geistesabwesenden Art necken, als würde sie genau wissen, was ihm durch den Kopf ging.
Dann, endlich, hatte sie sich umgewandt und seinen Blick erwidert. Er hatte tief Luft geholt, unsicher, wo er am besten begann; welche seiner angestauten Gedanken er zuerst loswerden sollte. Und sie hatte ihn mit ihren entrückten blauen Augen direkt angesehen und gefragt: »Wann gibt es Abendessen? «
Selbst da hatte er noch geglaubt, sie würde ihn foppen. Er dachte, sie würde absichtlich das Gefühl der Vorfreude verlängern, mit Bedacht ihre Empfindungen zurückhalten, bis sie nicht mehr länger beherrschbar waren, bis sie seinen in einem riesigen Strom entgegenfluten würden. So hatte er geduldig und angesichts ihrer augenscheinlichen Selbstkontrolle ehrfürchtig gewartet. Auf den Strom gewartet; den Einbruch des Wassers; die Tränen und die Hingabe.
Aber dazu war es nie gekommen. Emilys Liebe zu ihm hatte sich nie in mehr als einem bedächtigen Tröpfeln einer nachsichtigen Zuneigung offenbart; auf jede Zärtlichkeit, jede seiner vertraulichen Mitteilungen hatte sie mit dem gleichen lauwarmen Interesse reagiert. Seinen Versuchen, eine kräftige Reaktion in ihr hervorzurufen, war zunächst mit Unverständnis, dann, als er heftiger wurde, mit einem fast ängstlichen Widerstand begegnet worden.
Schließlich hatte er es aufgegeben. Und allmählich, fast unmerklich, hatte sich seine Liebe zu ihr zu wandeln begonnen. Mit den Jahren hatten seine Gefühle aufgehört, wie eine heiße, nasse Flutwelle auf der Oberfläche seiner Seele zu branden, und waren zu etwas Festem, Trockenem und Vernünftigem erstarrt. Auch Richard hatte sich gewandelt. Er hatte gelernt, seine Meinung für sich zu behalten und seine Gedanken leidenschaftslos zu sammeln. Er hatte gelernt zu lächeln, wenn er eigentlich strahlen wollte, mit der Zunge zu schnalzen, wenn er vor Frustration am liebsten geschrien hätte; sich und seine törichten Gedanken so weit es ging in Schranken zu halten.
Nun, als er auf den Beginn des Gedenkgottesdienstes wartete, pries er Emily für diese Lektionen in Selbstbeherrschung. Denn ohne sie wären ihm unkontrolliert die Tränen über die Wangen geströmt, und er hätte das Gesicht in den Händen, die jetzt ruhig das Programm hielten, vergraben und wäre von seiner Verzweiflung überwältigt worden.
Bei Fleurs Ankunft war die Kirche fast voll. Sie blieb einige Augenblicke hinten stehen und nahm die Gesichter, Bekleidungen und Stimmen vor ihr in sich auf; taxierte die Qualität der Blumenarrangements; überblickte die Kirchenbänke nach jemandem, der aufsehen und sie erkennen könnte.
Doch die Leute waren ihr samt und sonders unbekannt. Männer in langweiligen Anzügen; Damen mit einfallslosen Hüten. Leise Zweifel beschlichen Fleur. Hatte Johnny da möglicherweise den falschen Riecher gehabt? War bei dieser farblosen Menschenmenge wirklich Geld im Spiel?
»Hätten Sie gern ein Programm?« Sie blickte auf und sah, wie ein langbeiniger Mann über den Marmorboden auf sie zukam. »Es geht gleich los«, fügte er mit einem Stirnrunzeln hinzu.
»Natürlich«, murmelte Fleur. Sie hielt ihm ihre blasse, parfümierte Hand entgegen. »Fleur Daxeny. Freut mich... Tut
mir leid, ich habe Ihren Namen vergessen...«
»Lambert.«
»Lambert. Ja, natürlich. Jetzt erinnere ich mich.« Sie hielt inne und blickte ihm ins Gesicht, auf dem noch das arrogante Stirnrunzeln zu sehen war. »Sie sind der Gescheite.«
»So könnte man's wohl ausdrücken«, erwiderte Lambert achselzuckend.
Gescheit oder sexy, dachte Fleur. Eins davon wollen die Männer immer sein - oder beides. Wieder musterte sie Lambert. Seine Gesichtszüge wirkten feist und schwammig, so daß er selbst in entspanntem Zustand eine Grimasse zu schneiden schien. Belassen wir es besser bei gescheit, dachte sie bei sich.
»Tja, dann setze ich mich wohl besser«, meinte sie. »Sicher sehen wir uns später noch.«
»Hier hinten ist jede Menge Platz«, rief Lambert ihr nach. Doch Fleur schien ihn nicht zu hören. Mit feierlicher Miene und ganz in das Gottesdienstprogramm vertieft, bahnte sie sich rasch den Weg nach vorn.
»Verzeihen Sie.« Bei der drittvordersten Reihe blieb sie stehen. »Ist hier noch ein Platz frei? Hinten geht's etwas eng zu.«
Gelassen stand sie da, während die zehn Leute auf der Kirchenbank zusammenrückten, und nahm mit einer eleganten Bewegung Platz. Einen Augenblick senkte sie den Kopf und blickte dann mit einem strengen, tapferen Ausdruck wieder auf.
»Arme Emily«, sagte sie. »Arme, liebe Emily.«
»Wer war das?« flüsterte Philippa Chester ihrem Mann zu, als er sich wieder neben sie setzte.
»Keine Ahnung«, meinte Lambert. »Eine Freundin deiner Mutter, nehme ich an. Sie schien alles über mich zu wissen.«
»Ich kann mich gar nicht an sie erinnern. Wie heißt sie?«
»Fleur. Fleur Irgendwas.«
»Fleur? Noch nie gehört.«
»Vielleicht sind sie zusammen auf die Schule gegangen oder so.«
»O ja«, erwiderte Philippa. »Das könnte sein. Wie diese andere. Joan. Erinnerst du dich? Die, die uns aus heiterem Himmel besuchen kam?«
»Nein.«
»Doch, tust du. Joan. Sie hat Mummy diese scheußliche Glasschüssel geschenkt.« Philippa schielte wieder zu Fleur hinüber. »Bloß, daß die da zu jung aussieht. Ihr Hut gefällt mir. Ich wünschte, ich könnte auch solche kleinen Hüte tragen. Aber mein Kopf ist zu groß. Oder mein Haar paßt nicht. Oder sonst irgendwas.«
Sie verstummte. Lambert starrte auf ein Blatt Papier und murmelte etwas. Philippa schaute sich wieder in der Kirche um. So viele Menschen. Alle wegen ihrer Mummy. Um ein Haar wäre sie in Tränen ausgebrochen.
»Sieht mein Hut gut aus?« fragte sie unvermittelt.
»Ja, großartig«, erwiderte Lambert, ohne aufzusehen.
»Er hat ein Heidengeld gekostet. Ich konnte den Preis gar nicht fassen. Aber dann, als ich den Hut heute morgen aufsetzte, da dachte ich...«
»Philippa!« zischte Lambert. »Kannst du bitte still sein? Ich muß an meine Rede denken!«
»O ja, ja natürlich mußt du das.«
Gedemütigt senkte Philippa die Lider. Wieder einmal ging ihr ein Stich durchs Herz. Sie hatte niemand gebeten, eine Rede zu halten. Lambert hielt eine und ihr kleine Bruder Antony auch, aber sie mußte mit ihrem Hut nur ruhig dasitzen. Und selbst das konnte sie nicht sonderlich gut.
»Wenn ich sterbe«, sagte sie unvermittelt, »dann möchte ich, daß bei meinem Gedenkgottesdienst jeder eine Rede hält. Du, Antony, Gillian und alle unsere Kinder...«
»Falls wir welche haben«, versetzte Lambert, ohne aufzublicken.
»Falls wir welche haben«, echote Philippa grämlich. Sie starrte auf das Meer schwarzer Hüte. »Möglicherweise sterbe ich, bevor wir Kinder haben, das könnte doch sein? Ich meine, wir wissen ja nicht, wann wir sterben, oder? Morgen könnte ich tot sein.« Überwältigt von der Vorstellung, wie sie, umgeben von weinenden Trauernden, blaß, wächsern und romantisch im Sarg lag, hielt sie inne, den Tränen nahe. »Morgen könnte ich tot sein. Und dann wäre es...«
»Jetzt halt den Mund!« Lambert legte das Schriftstück beiseite. Unauffällig griff er nach Philippas fleischiger Wade. »Du redest Unsinn!« murmelte er. »Was tust du?«
Philippa schwieg. Lamberts Griff wurde allmählich fester, und plötzlich zwickte er sie so boshaft, daß sie nach Luft schnappte.
»Ich rede Unsinn«, erklärte sie mit schneller, leiser Stimme.
»Braves Mädchen.« Lambert ließ sie los. »So, jetzt setz dich gerade hin und reiß dich zusammen.«
»Es tut mir leid«, meinte Philippa atemlos. »Es ist nur alles ein bißchen... überwältigend. Diese vielen Leute. Ich wußte gar nicht, daß Mummy so viele Freunde hatte.«
»Deine Mutter war eine sehr beliebte Dame. Alle haben sie gemocht.«
Und mich mag niemand, hätte Philippa am liebsten erwidert. Aber statt dessen fummelte sie hilflos an ihrem Hut und zog ein paar dünne Haarlocken unter dem strengen schwarzen Hutrand hervor, so daß sie, als sie sich zum ersten Kirchenlied erhob, noch schlimmer aussah als zuvor.
2
»The day thou gavest, Lord, is ended«, sang Fleur. Sie zwang sich dazu, in das Gesangbuch hinabzusehen und vorzugeben, daß sie die Worte las. Als ob sie sie nicht im Schlaf beherrschen würde; als ob sie sie nicht bei unzähligen Begräbnissen und Gedenkgottesdiensten gesungen hätte. Warum suchten die Leute für Trauerfeiern immer dieselben langweiligen Lieder aus? War ihnen denn nicht klar, wie öde das die Dinge für jemanden machte, der regelmäßig ungebeten in Beerdigungen hereinplatzte?
In die erste Beerdigung war Fleur rein zufällig hereingeschneit. Eines trüben Morgens war sie eine kleinere Seitenstraße in Kensington entlanggeschlendert und hatte überlegt, ob sie vielleicht einen Job in einer teuren Kunstgalerie bekommen könnte, als sie eine Gesellschaft eleganter Leute auf dem Bürgersteig vor einer kleinen, aber bedeutenden Kirche herumstehen sah. Als sie sie erreicht hatte, hatte sie aus reiner Neugier den Schritt verlangsamt und war dann stehengeblieben. Sie hatte dagestanden, nicht ganz in der Gruppe, aber auch nicht ganz außerhalb, und so vielen Gesprächen wie möglich gelauscht. Als sie hörte, daß von Treuhandvermögen, Familiendiamanten und schottischen Inseln die Rede war, war ihr allmählich klar geworden, daß diese Leute Geld hatten. Und wie!
Dann war der Nieselregen plötzlich zu einem Wolkenbruch angeschwollen, und wie ein Amselschwarm, der losfliegt, hatten die Leute auf dem Bürgersteig unisono fünfundzwanzig Regenschirme aufgespannt. Es war Fleur als das Natürlichste auf der Welt vorgekommen, sich einen gütig wirkenden, älteren Herrn auszusuchen, ihm unverbindlich in die Augen zu sehen und dann mit einem dankbaren Lächeln unter den Schutz seines exklusiven Schirms aus schwarzer Seide zu schlüpfen. Es war nicht einfach gewesen, sich über den Regen, die Gespräche der anderen und den Verkehr hinweg zu unterhalten, und so hatten sie einander einfach nur angelächelt und genickt. Als der Chor mit der Probe fertig war und die Kirchentüren geöffnet wurden, da war es, als wären sie bereits alte Freunde. Er hatte sie in die Kirche geleitet und ihr ein Gottesdienstprogramm gereicht, und beide hatten sie weiter hinten zusammen Platz genommen.
»Besonders gut habe ich Benjy ja nicht gekannt«, hatte ihr der ältere Herr beim Niedersetzen anvertraut. »Aber er war ein guter Freund meiner verstorbenen Frau.«
»Er war ein Freund meines Vaters«, hatte Fleur erwidert und rasch auf das Gottesdienstprogramm gespäht, um sich den Namen »Benjamin St. John Gregory« einzuprägen. »Ich selbst habe ihn gar nicht gekannt. Aber es ist doch schön, Respekt zu zeigen.«
»Da stimme ich Ihnen zu.« Der Mann strahlte sie an und streckte ihr die Hand entgegen. »Darf ich mich vorstellen. Ich heiße Maurice Snowfield.«
Drei Monate war sie mit Maurice Snowfield zusammengewesen. Ganz so reich, wie Fleur es sich erhofft hatte, war er zwar nicht, und seine sanfte, geistesabwesende Art hatte sie fast zum Wahnsinn getrieben. Aber als sie sein Haus in Wiltshire verließ, da hatte sie ihm genug Geld abgeknöpft, um im voraus zwei Schulsemester ihrer Tochter Zara bezahlen zu können, und verfügte über eine brandneue Garderobe schwarzer Kostüme.
»...till all thy creatures own thy sway.« In der Kirche raschelte es, als alle ihre Liederbücher schlossen, Platz nahmen und das Programm konsultierten. Fleur nahm die Gelegenheit wahr, um ihre Handtasche zu öffnen und einen Blick auf den kleinen Zeitungsausschnitt zu werfen, den Johnny ihr geschickt hatte. Darauf wurde der Gedenkgottesdienst für Emily Favour am 20. April in der St. Anselmkirche angekündigt. »Ein guter Tip«, hatte Johnny gekritzelt. »Richard Favour, sehr reich, sehr ruhig.«
Fleur spähte zur vordersten Reihe. Sie konnte den Mann mit dem schwammigen Gesicht sehen, der die erste Rede gehalten hatte, und neben ihm eine unscheinbare blonde Frau mit einem gräßlichen Hut. Außerdem saß dort ein Junge im Teenageralter und eine ältere Frau mit einem sogar noch entsetzlicheren Hut... Fleurs Blick wanderte rasch weiter und hielt dann inne. Am anderen Ende der Kirchenbank saß ein unauffälliger, ergrauender Mann. Er saß vorgebeugt, die Schultern hochgezogen, den Kopf auf die Banklehne vor ihm gelegt.
Eine Weile beäugte sie ihn kritisch. Nein, er heuchelte nicht nur - er hatte seine Frau geliebt. Er vermißte sie. Und, nach seiner Körpersprache zu urteilen, sprach er mit seiner Familie nicht darüber.
Was die Dinge sehr vereinfachte. Die wahrhaft Betrübten waren die leichtesten Angriffsziele - die Männer, die sich nicht vorstellen konnten, sich je wieder zu verlieben; die ihren verstorbenen Ehefrauen ewige Treue schworen. Nach Fleurs Erfahrung bedeutete das einzig, daß sie, wenn sie sich in sie verliebten, überzeugt davon waren, daß es die wahre Liebe sein müsse.
Man hatte Richard gefragt, ob er die Lobrede halten wolle.
»Sie müssen ja daran gewöhnt sein, Reden zu halten«, hatte der Vikar gemeint, »geschäftliche Reden. Viel anders ist das auch nicht - nur eine Beschreibung des Charakters ihrer Frau, vielleicht ein oder zwei Anekdoten, eine Erwähnung der wohltätigen Einrichtungen, für die sie sich eingesetzt hat, irgend etwas, was die Gemeinde an die wahre Emily erinnert... « Angesichts Richards plötzlicher düsterer Miene verstummte er und fügte freundlich hinzu: »Sie müssen aber
nicht, vielleicht würde sie das Ganze zu sehr mitnehmen?«
Richard hatte genickt.
»Ich glaube, da haben Sie recht«, stammelte er.
»Durchaus verständlich«, hatte sich der Vikar zu sagen beeilt. »Da sind Sie nicht allein.«
Aber er war allein, hatte Richard im Stillen gedacht. Allein mit seinem Schmerz; allein mit dem Wissen, daß seine Frau gestorben war und bis auf ihn niemand je begreifen würde, wie wenig er sie gekannt hatte. Die Einsamkeit, die er während der Ehe verspürt hatte, schien ihm nun auf unerträgliche Weise gesteigert; destilliert in eine Bitterkeit, die der Wut nicht unähnlich war. Die wahre Emily! hätte er am liebsten gebrüllt. Was wußte ich schon je von der wahren Emily?
So war die Aufgabe der Lobrede auf ihren alten Freund Alec Kershaw gefallen. Richard setzte sich gerade auf, als Alec auf das Pult zusteuerte, die weißen Kärtchen vor sich zusammenklopfte und über seine randlose, halbmondförmige Brille auf die Gemeinde blickte.
»Emily Favour war eine tapfere, charmante und großzügige Frau«, begann er mit erhobener, förmlicher Stimme. »Nur ihr Mitgefühl und ihre Hilfsbereitschaft reichten an ihr Pflichtgefühl heran.«
Alec hielt inne und warf Richard einen Blick zu. Als dieser Alecs Gesichtsausdruck sah, fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Auch Alec hatte Emily nicht wirklich gekannt. Diese Worte waren hohl; abgedroschen - sollten eher ihren Zweck erfüllen als die Wahrheit sagen.
In Richard stieg ein lächerliches Angstgefühl hoch, ja, fast Panik. Wenn diese Lobrede erst einmal gehört, der Gottesdienst erst einmal beendet war und die Gemeinde die Kirche verlassen hatte, dann hatte es sich damit. Das würde die offizielle Version von Emilys Charakter sein. Ende der Geschichte. Akte geschlossen; nichts mehr zu erfahren. Konnte er das ertragen? Konnte er damit leben, daß seine Frau abschließend eine Beurteilung voller wohlmeinender Klischees erfuhr?
»Ihre Wohltätigkeitsarbeit war beispiellos - insbesondere ihr Einsatz für den Rainbow Fund und das St. Bride's Hospiz. Ich denke, viele von uns werden sich an ihre erste Weihnachtsauktion im Greyworth Golf Club erinnern, ein Ereignis, das in all unseren Terminkalendern zu einer festen Veranstaltung geworden ist.«
Mit Mühe unterdrückte Fleur ein Gähnen. Nahm die Rede dieses Mannes denn gar kein Ende?
»Und natürlich führt uns die Erwähnung des Greyworth Golf Clubs zu einem weiteren wichtigen Aspekt von Emily Favours Leben. Was manche als ein Hobby beschreiben würden... ein Spiel. Natürlich wissen wir, daß es sich dabei um eine viel ernstere Angelegenheit handelt.«
Mehrere Anwesende kicherten höflich, und Fleur blickte auf. Wovon sprach er?
»Nachdem sie Richards Frau geworden war, stand Emily vor der Wahl, eine Golfwitwe oder eine Golfpartnerin zu werden. Sie entschied sich für letzteres. Und trotz der Kränklichkeit, unter der sie litt, entwickelte sie ein beneidenswert beständiges Spiel, wie jeder von uns, der ihren schönen Sieg im Ladies' Foursome verfolgt hat, bezeugen kann.«
Golfwitwe oder Golfpartner, dachte Fleur träge. Witwe oder Partner. Na, das ist einfach - die Witwe gewinnt, jedes- mal.
Nach dem Gottesdienst steuerte Richard auf Vorschlag des Vikars auf die Westtür zu, um Freunde und Verwandte zu begrüßen. »Die Leute schätzen es, die Gelegenheit zu bekommen, ihr Beileid persönlich zu bekunden«, hatte der Vikar gesagt. Nun fragte sich Richard, ob das wirklich stimmte. Die meisten Gottesdienstbesucher hasteten an ihm vorbei und stießen eilends undeutliche Sätze des Beileids aus, die wie abergläubische Zauberformeln klangen. Einige blieben stehen, sahen ihm direkt in die Augen, schüttelten ihm die Hand; umarmten ihn sogar. Aber das waren, überraschend oft, Leute, die er kaum kannte: die Repräsentanten von Anwaltskanzleien und Privatbanken; die Ehefrauen von Geschäftsbekanntschaften.
»Auf ins Lanesborough«, erklärte Lambert gerade wichtigtuerisch auf der anderen Seite der Tür. »Im Lanesborough gibt es Drinks.«
Eine elegante Frau mit rotem Haar blieb vor Richard stehen und streckte ihm eine blasse Hand entgegen. Des Händeschüttelns müde, ergriff Richard sie.
»Die Sache ist die«, sagte die Frau, als würde sie eine bereits begonnene Unterhaltung wiederaufnehmen, »daß die Einsamkeit irgendwann ein Ende hat.« Wie vom Schlag gerührt, zuckte Richard zusammen.
»Was sagten Sie?« begann er. Aber die Frau war schon verschwunden. Richard wandte sich an seinen fünfzehnjährigen Sohn Antony, der neben ihm stand.
»Wer war das?« erkundigte er sich. Antony zuckte die Achseln.
»Keine Ahnung. Lambert und Philippa haben sich über sie unterhalten. Kann sein, daß sie Mum von der Schule gekannt hat.«
»Woher wußte sie...«, begann Richard und hielt inne. Eigentlich hatte er fragen wollen, woher sie wußte, daß er sich einsam fühlte. Statt dessen wandte er sich lächelnd an Antony und sagte: »Deine Rede hat mir gut gefallen.« Wieder zuckte Antony die Achseln.
»Aha.« Wie er es unbewußt alle drei Minuten tat, hob Antony die Hand ans Gesicht und rieb sich die Stirn - so daß das dunkelrote Muttermal, das wie eine kleine Eidechse über sein Auge sprang, einen Moment verdeckt war. Alle drei Minuten seines Lebens, wenn er nicht schlief, verbarg Antony sein Muttermal vor den Blicken anderer. Dabei war er Richards Wissen nach nie deswegen aufgezogen worden; zu Hause hatte bestimmt jeder immer so getan, als sei es nicht da. Trotzdem schnellte Antonys Hand mit fast verzweifelter Regelmäßigkeit ans Gesicht und verweilte dort gelegentlich länger, manchmal mehrere Stunden, und schützte die kleine rote Eidechse wie ein wachsamer Schutzengel vor forschenden Blicken.
»Nun denn«, meinte Richard.
»Tja«, sagte Antony.
»Vielleicht sollten wir uns auf den Weg machen.«
»Ja.«
Das war's. Ende des Gesprächs. Wann hatte er aufgehört, sich mit Antony zu unterhalten? Wie hatten sich die bezaubernden und offenen Gespräche mit seinem Sohn mit den Jahren zu leerem Small Talk wandeln können?
»Gut«, meinte er. »Dann laß uns mal gehen.«
Bei Fleurs Ankunft war der Belgravia Room im Lanesborough bereits hübsch voll. Sie nahm ein Glas Sekt mit Orangensaft, das ein gebräunter australischer Ober ihr anbot, und steuerte dann geradewegs auf Richard Favour zu. Als sie fast bei ihm war, änderte sie unmerklich die Richtung und ging direkt an ihm vorbei.
»Entschuldigen Sie«, rief er ihr nach, und ein kleines Triumphgefühl durchzuckte sie. Bisweilen konnte sie eine halbe Stunde damit verbringen, hin und her zu gehen, ehe ihr potentielles Opfer sie ansprach. So rasch wie möglich drehte sie sich um, ohne allerdings zu eifrig zu wirken, und schenkte Richard Favour das wärmste, breiteste Lächeln, das sie aufbieten konnte. Es war eine völlige Zeitverschwendung, Witwer länger zappeln zu lassen. Das hatte sie inzwischen begriffen. Manchen fehlte es an Kraft, die Verfolgung aufzunehmen; manchen mangelte es an Selbstvertrauen; manche begannen während des Umwerbens argwöhnisch zu werden. Besser war es, mitten in ihr Leben zu platzen; schnellstmöglich Teil des Status quo zu werden.
»Ja, hallo«, sagte Fleur. Sie trank einen Schluck Sekt und wartete, daß er sprach. Falls irgendwelche scharfäugigen Familienmitglieder sie beobachteten, würden sie sehen, daß er sich an sie heranmachte - nicht andersherum.
»Ich wollte mich bei Ihnen für Ihre lieben Worte bedanken «, sagte Richard. »Ich hatte das Gefühl, Sie sprächen, als wüßten Sie, wie man sich in solch einer Situation fühlt.«
Fleur blickte einen Moment zärtlich auf ihr Sektglas und überlegte, welche Geschichte sie ihm auftischen sollte. Schließlich sah sie auf und lächelte ihn tapfer an.
»Ja, das stimmt leider. Ich habe das selbst auch schon durchgemacht. Allerdings ist das schon eine Weile her.«
»Und Sie haben es überlebt.«
»Ich habe es überlebt«, echote Fleur. »Aber leicht war es nicht. Allein die Frage, mit wem man reden soll, ist manchmal schon ein Problem. Oft steht einem die eigene Familie ganz einfach zu nahe.«
»Oder nicht nahe genug.« Richard dachte düster an Antony.
»Genau. Nicht nahe genug, um zu wissen, was man wirklich durchmacht; nicht nahe genug, um... um den Kummer zu teilen.« Wieder trank sie einen Schluck Sekt und sah Richard an. Mit einem Mal wirkte er wie am Boden zerstört. Verflucht, dachte sie. Bin ich zu weit gegangen?
»Richard?« Fleur sah auf. Der Mann mit dem schwabbligen Gesicht kam auf sie zu. »Derek Cowleys ist gerade gekommen. Du erinnerst dich - der Software-Direktor von Graylows.«
»Ich habe ihn in der Kirche gesehen«, erwiderte Richard. »Wer zum Teufel hat ihn eingeladen?«
»Ich. Er ist ein nützlicher Kontakt.«
»Aha.« Richards Gesicht verhärtete sich.
»Ich habe mit ihm geplaudert«, fuhr Lambert unverdrossen fort, »aber er möchte auch mit dir sprechen. Ließe sich das einrichten? Den Vertrag habe ich noch nicht erwähnt...« Er verstummte, als würde er Fleur zum ersten Mal bemerken. Ich verstehe, dachte Fleur, und ihre Augen verengten sich. Frauen zählen nicht.
»Ah, hallo«, sagte er. »Verzeihung, wie war noch mal Ihr Name?«
»Fleur. Fleur Daxeny.«
»Ah ja. Und Sie sind - was? Eine von Emilys alten Schulfreundinnen? «
»Aber nein!« Fleur lächelte bezaubernd.
»Ich dachte mir schon, daß Sie dafür ein bißchen zu jung seien«, versetzte Lambert. »Woher kannten Sie Emily dann also?«
»Tja, das ist eine interessante Geschichte.« Fleur nahm einen weiteren gedankenvollen Schluck. Es war überraschend, wie oft eine heikle Frage dadurch umgangen werden konnte, daß man etwas trank oder einen Appetithappen aß. Sehr häufig sah jemand, der vorbeikam, daß das Gespräch zum Erliegen gekommen war, und ergriff die Gelegenheit, sich zu der Gruppe zu gesellen - und ihre Antwort war bequemerweise vergessen.
Aber heute unterbrach sie niemand, und Lambert blickte sie immer noch mit unverhohlener Neugierde an.
»Eine interessante Geschichte«, sagte Fleur wieder und richtete ihren Blick auf Richard. »Ich bin Ihrer Frau nur zweimal begegnet. Aber jedesmal hat sie großen Eindruck auf mich gemacht.«
»Wo sind Sie sich denn begegnet?« wollte Lambert wissen.
»Bei einem Lunch«, entgegnete Fleur. »Einem großen Wohltätigkeitslunch. Wir saßen am selben Tisch. Ich beklagte mich über das Essen, und sie stimmte mir eigentlich zu, war aber nicht der Typ, der sich beschwerte. Ja, und so kamen wir ins Gespräch.«
»Worüber haben Sie sich denn unterhalten?« Richard guckte Fleur neugierig an.
»Einfach alles.« Fleur erwiderte seinen Blick und bemerkte die sehnsuchtsvollen Augen. »Ich vertraute ihr alles Mögliche an«, sagte sie langsam und senkte die Stimme, so daß Richard sich unwillkürlich zu ihr beugte, »und sie vertraute mir Dinge an. Wir sprachen über unser Leben... und unsere Familien... und die Wahl, die wir getroffen hatten...«
»Was hat sie gesagt?« platzte es unwillkürlich aus Richard heraus. Fleur zuckte die Achseln.
»Das ist schon lange her. Ich bin mir nicht mal sicher, ob mich meine Erinnerung nicht trügt.« Sie lächelte. »Es war nichts, wirklich. Ich nehme an, Emily hat mich schon vor langer Zeit vergessen. Aber ich... ich habe mich immer an sie erinnert. Und als ich die Ankündigung der Gedenkfeier las, da konnte ich nicht widerstehen herzukommen.« Fleur senkte den Blick. »Es war reichlich anmaßend. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.«
»Aber natürlich nicht«, erwiderte Richard. »Jede Freundin von Emily ist äußerst willkommen.«
»Komisch, daß meine Schwiegermutter Sie nie erwähnt hat.« Lambert musterte sie kritisch.
»Es hätte mich gewundert, wenn sie es getan hätte.« Fleur lächelte ihn an. »Wirklich, es war nichts. Ein paar lange Unterhaltungen vor vielen Jahren.«
»Ich wünschte... ich wünschte, ich wüßte, was sie Ihnen erzählt hat.« Richard lachte verlegen. »Aber wenn Sie sich nicht daran erinnern können...«
»An ein bißchen was erinnere ich mich.« Fleur lächelte ihn verheißungsvoll an. »An ein paar Gesprächsfetzen. Einiges war recht überraschend. Und manches war recht... persönlich. « Sie hielt inne und warf einen Seitenblick auf Lambert.
»Lambert, du gehst jetzt mal und unterhältst dich mit Derek Cowley«, sagte Richard sofort. »Ich spreche vielleicht später mit ihm. Doch zunächst... möchte ich mich noch ein bißchen mit Mrs. Daxeny unterhalten.«
Eine Viertelstunde darauf verließ Fleur das Lanesborough und stieg in ein Taxi. In ihrer Tasche steckte Richard Favours Telefonnummer, und in ihrem Terminkalender war für den nächsten Tag eine Verabredung zum Lunch mit ihm eingetragen.
Es war alles so kinderleicht gewesen. Der arme Mann wollte ganz offensichtlich verzweifelt hören, was sie über seine Frau zu sagen hatte - war aber zu wohlerzogen, um sie zu unterbrechen, als sie, offenbar unabsichtlich, vom Thema abschweifte. Sie hatte ihn mit ein paar harmlosen Äußerungen abgespeist, dann unvermittelt einen Blick auf die Uhr geworfen und ausgerufen, daß sie schleunigst los müsse. Sein Gesicht hatte sich verdüstert, und einen Moment lang schien er sich damit abzufinden, daß die Unterhaltung damit beendet war. Aber dann, als Fleur fast schon resigniert hatte, zog er seinen Terminkalender heraus und fragte Fleur mit leicht zittriger Stimme, ob sie mit ihm zum Lunch gehen wolle. Dabei, vermutete Fleur, war das Einladen fremder Frauen sicher nichts, was Richard schon oft getan hatte. Was ihr nur recht war. Als das Taxi vor dem Wohnblock in Chelsea hielt, in dem Johnny und Felix wohnten, hatte Fleur auf einem Zettel alle Fakten niedergeschrieben, die sie über Emily Favour in Erfahrung gebracht hatte. »Kränklich« unterstrich sie. »Golf« unterstrich sie doppelt. Zu schade, daß sie nicht wußte, wie diese Frau ausgesehen hatte. Eine Fotografie wäre hilfreich gewesen. Andererseits hatte sie nicht vor, sich länger über Emily Favour zu unterhalten. Nach ihrer Erfahrung mied man es am besten, über tote Ehefrauen zu sprechen.
Sie sprang aus dem Taxi und entdeckte Johnny auf dem Bürgersteig vor dem Mietshaus, der mit Argusaugen beobachtete, wie etwas aus einem Lieferwagen geladen wurde.
Er war ein eleganter Mann Ende fünfzig, mit nußbraunem Haar und einer beständigen Sonnenbräune. Fleur kannte ihn seit zwanzig Jahren; er war der einzige Mensch, den sie noch nie belogen hatte.
»Darling!« rief sie. »Johnn-iiee! Ist mein Gepäck gut hier eingetroffen?« Als er seinen Namen hörte, wandte er sich mit einem gereizten Stirnrunzeln über die Unterbrechung um. Doch beim Anblick Fleurs hellte sich seine Miene auf.
»Fleur!« rief er. »Komm und schau dir das an!«
»Was ist das?«
»Unser neuer Tafelaufsatz. Felix hatte ihn gestern bei einer Versteigerung ergattert. Unheimlich günstig, fanden wir. Vorsicht!« blaffte er plötzlich. »Passen Sie auf, daß Sie nirgends damit anstoßen.«
»Ist Felix drinnen?«
»Ja. Geh schon mal hoch. Vorsicht, hab ich gesagt, Sie Trottel!«
Als sie die Treppe in den ersten Stock hinaufstieg, tönte ihr aus Johnnys Wohnung laut und beharrlich Wagnermusik entgegen; als sie eintrat, schien sich die Lautstärke zu verdoppeln. »Felix!« rief sie. Doch er konnte sie nicht hören. Sie ging ins Wohnzimmer, wo sie Felix vor einem Spiegel entdeckte, einen korpulenten Mann mittleren Alters, der mit einer schrillen Fistelstimme Brünnhildes Part mitsang.
Als Fleur zum ersten Mal Felix' hohe Stimme gehört hatte, hatte sie gedacht, er hätte irgendein entsetzliches Problem. Doch sie hatte bald erfahren, daß er seinen Lebensunterhalt damit verdiente, mit dieser merkwürdigen Stimme in Kirchen und Kathedralen zu singen. Manchmal gingen Johnny und sie in die St. Paul's Cathedral oder in die Westminster Abbey, um ihn die Abendandacht singen zu hören. Sie sahen ihn dann in seinen weißen Rüschen feierlich in der Prozession mitgehen. Vereinzelt bekamen sie ihn auch im Frack zu Gesicht, wenn er bei einer Aufführung von Händels Messias oder Bachs Matthäuspassion mitsang.
Fleur gefiel Felix' Stimme nicht, und die Matthäuspassion fand sie totlangweilig. Doch sie saß immer in der vordersten Reihe, applaudierte begeistert und stimmte in Johnnys Bravorufe mit ein. Denn Fleur verdankte Felix sehr viel. Zwar konnte sie in der Zeitung nachlesen, wann Gedenkgottesdienste stattfanden - aber Felix war über die Beerdigungen im Bilde. Wenn er nicht selber sang, dann kannte er jemanden, der es tat. Und die kleineren, intimeren Beerdigungen waren es, bei denen Fleur stets am erfolgreichsten gewesen war.
Als Felix sie im Spiegel sah, fuhr er ein wenig zusammen und hörte zu singen auf.
»Nicht so ganz meine Stimmlage«, rief er über die Musik hinweg. »Ein bißchen zu tief für mich. Wie war der Gedenkgottesdienst? «
»Gut!« schrie Fleur. Sie ging zum CD-Spieler und stellte die Musik leiser. »Gut«, wiederholte sie. »Recht vielversprechend. Morgen gehe ich mit Mr. Favour zum Lunch.«
»Oh, gut gemacht«, lobte Felix. »Ich wollte dir eigentlich von der Beerdigung erzählen, bei der wir morgen singen sollen. Ganz nett. Sie haben sich ›Hear My Prayer‹ gewünscht. Aber wenn du schon gebunden bist...«
»Erzähl mir lieber trotzdem davon. Restlos überzeugt von dieser Familie Favour bin ich nämlich nicht. Ob da wirklich Geld zu holen ist, halte ich noch für fraglich.«
»Wirklich?«
»Schreckliche Hüte.«
»Hm. Hüte sind nicht alles.«
»Nein.«
»Was hat Johnny über sie erzählt?«
»Was hat Johnny über wen erzählt?« Johnnys hohe Stimme schallte durch die Tür. »Vorsicht, Sie Esel! Ja. Auf den Tisch.«
Ein Mann in Overall betrat den Raum und legte einen großen Gegenstand auf den Tisch, der in braunes Papier gehüllt war.
»Wollen doch mal sehen!« rief Johnny aus und begann das Papier herunterzureißen.
»Ein Kandelaber«, sagte Fleur. »Wie hübsch!«
»Das ist ein Tafelaufsatz«, korrigierte sie Johnny. »Ist er nicht schön?«
»Was bin ich doch für ein schlaues Bürschchen«, meinte Felix, »daß ich solch ein prachtvolles Ding entdeckt habe.«
»Ich wette, der hat ein Vermögen gekostet«, sagte Fleur düster. »Ihr hättet das Geld auch für einen guten Zweck ausgeben können.«
»Und es dir geben? Davon halte ich nichts.« Johnny holte ein Taschentuch hervor und polierte damit den Tafelaufsatz. »Wenn du so dringend Geld brauchst, warum hast du dann den reizenden Sakis verlassen?«
»Von wegen reizend, ein herrischer Tyrann ist das. Er hat mich herumkommandiert, mich angebrüllt...«
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1999, 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Sophie Kinsella
Kinsella, SophieSophie Kinsella ist ehemalige Wirtschaftsjournalistin. Ihre romantischen Komödien und Shopaholic-Romane werden von einem Millionenpublikum verschlungen und erobern regelmäßig die Bestsellerlisten. Sie lebt mit ihrer Familie in London.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sophie Kinsella
- 2012, Neuausg., 315 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Heidi Lichtblau
- Übersetzer: Heidi Lichtblau
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442476844
- ISBN-13: 9783442476848
- Erscheinungsdatum: 20.08.2012
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