Mein Weg zu dir
Roman
Amanda und Dawson sind unsterblich ineinander verliebt. Doch ihre Familien sind gegen die Beziehung. Nach einem Jahr voller Liebe werden sie getrennt. Erst 25 Jahre später treffen sie sich wieder. Sie haben noch immer dieselben Gefühle...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Mein Weg zu dir “
Amanda und Dawson sind unsterblich ineinander verliebt. Doch ihre Familien sind gegen die Beziehung. Nach einem Jahr voller Liebe werden sie getrennt. Erst 25 Jahre später treffen sie sich wieder. Sie haben noch immer dieselben Gefühle füreinander. Doch es ist viel passiert. Finden Sie wieder zueinander?
Klappentext zu „Mein Weg zu dir “
Kann Liebe die Vergangenheit überwinden?Amanda und Dawson sind erst siebzehn, als sie sich unsterblich ineinander verlieben. Doch ihre Familien bekämpfen die Beziehung, und widrige Umstände trennen sie schließlich endgültig. Fünfundzwanzig Jahre später kehren die beiden in ihr Heimatstädtchen zurück. Sie empfinden noch genauso tief füreinander wie damals. Aber beide sind von Schicksalsschlägen gezeichnet, und die Kluft zwischen ihnen scheint größer denn je zu sein ...
Mit siebzehn verlieben sich Dawson und Amanda ineinander. Sie werden ein Paar - obwohl ihre Familien nicht unterschiedlicher sein könnten und die Beziehung nach Kräften bekämpfen. Ein Jahr lang hält die Liebe stand, dann trennen die widrigen Umstände und ein Schicksalsschlag die beiden.
Erst als fünfundzwanzig Jahre später ein gemeinsamer Freund stirbt, sehen sich Dawson und Amanda anlässlich des Begräbnisses wieder. Erneut sind sie von den Gefühlen füreinander überwältigt, sie wissen, dass ihre Herzen auf ewig verbunden sind. Aber mit beiden hat es das Leben nicht nur gut gemeint, und sie haben wichtige Entscheidungen getroffen, die sie nachträglich bereuen. Die Kluft zwischen ihnen ist nur noch größer geworden. Kann ihre Liebe, die schon einmal ihr Leben verändert hat, die Vergangenheit überwinden und eine neue Zukunft für Dawson und Amanda schaffen?
Lese-Probe zu „Mein Weg zu dir “
Mein Weg zu dir von Nicholas SparksKapitel 1
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Gleich nach der Explosion auf der Bohrinsel begannen die Halluzinationen. Es war der Tag, an dem Dawson Cole eigentlich hätte sterben sollen.
Seit vierzehn Jahren arbeitete er auf verschiedenen Ölplattformen, und eigentlich glaubte er, alles, was passieren konnte, schon erlebt zu haben. 1997 hatte er zum Beispiel gesehen, wie ein Hubschrauber bei der Landung die Kontrolle verlor, auf die Plattform krachte und sich in einen glühenden Feuerball verwandelte. Dawson erlitt Verbrennungen zweiten Grades auf dem Rücken, weil er versuchte, ein paar seiner Kollegen zu retten. Dreizehn Personen starben bei dem Unglück - die meisten im Helikopter. Vier Jahre später stürzte ein Kran um, und ein Stück Metall, so groß wie ein Basketball, sauste durch die Luft und hätte beinahe Dawsons Kopf zertrümmert. 2004 war er einer der wenigen Arbeiter, die auf der Bohrinsel blieben, als sich Hurrikan Ivan näherte, mit fast zweihundert Stundenkilometern. Die Wellen waren so gigantisch, dass Dawson überlegte, ob er sich vorsichtshalber schon mal einen Fallschirm schnappen sollte, falls die gesamte Bohrinsel zusammenbrach. Und auch in der Alltagsroutine lauerten überall Gefahren. Man konnte ausrutschen, das Gleichgewicht verlieren, von Bauteilen getroffen werden - ohne Schnittwunden und Prellungen kam kaum einer davon. Dawson war Zeuge von so vielen Knochenbrüchen gewesen, dass er sie nicht mehr zählen konnte. Zweimal war die gesamte Besatzung von einer schlimmen Lebensmittelvergiftung betroffen gewesen, und vor zwei Jahren, also 2007, musste Dawson zuschauen, wie ein Versorgungsschiff unterging, als es sich von der Ölplattform entfernte. Glücklicherweise wurde die Besatzung in letzter Minute von einem Kutter der Küstenwache gerettet.
Aber die Explosion war schlimmer als alles Bisherige. Weil kein Öl austrat - die Sicherheitsventile und andere Schutzmechanismen verhinderten eine größere Umweltkatastrophe -, wurde der Zwischenfall zwar in den Nachrichten nur beiläufig erwähnt und geriet nach ein paar Tagen schon wieder in Vergessenheit. Aber für diejenigen, die dabei waren, und zu ihnen gehörte Dawson, war es ein einziger Albtraum. Das Unglück geschah an einem ganz normalen Vormittag. Alles lief nach Plan. Dawson musste wie immer die Pumpen überwachen. Aus heiterem Himmel explodierte plötzlich einer der Speichertanks. Ehe Dawson begriff, was los war, wurde er von der Wucht der Detonation in einen Schuppen in der Nähe geschleudert. Und sofort begann es überall zu brennen. Weil die gesamte Bohrinsel mit verkrusteten Ölrückständen bedeckt war, verwandelte sie sich rasend schnell in eine Flammenhölle. Dadurch gab es zwei weitere Explosionen, welche die Bohrinsel noch heftiger erschütterten. Dawson erinnerte sich, wie er mehrere Verletzte aus den Flammen zerrte, doch dann kam die vierte Explosion, noch gewaltiger als die ersten drei, und er flog erneut durch die Luft. Was danach geschah, wusste er nicht mehr genau, es waren nur noch undeutliche Bilder, bruchstückhaft - irgendwie landete er im Wasser, und nach menschlichem Ermessen hätte ihn dieser Sturz das Leben kosten müssen. Als er wieder zu sich kam, trieb er im Golf von Mexiko, etwa hundertfünfzig Kilometer südlich von Vermilion Bay, Louisiana.
Wie fast alle anderen hatte er nicht genügend Zeit gehabt, seinen Rettungsanzug überzuziehen oder sich auch nur eine Schwimmweste zu greifen. Zwischen den Wellen erblickte er in der Ferne immer wieder einen dunkelhaarigen Mann, der ihm zuwinkte und ihm signalisierte, er solle nicht aufgeben, sondern in seine Richtung weiterschwimmen. Dawson folgte der Aufforderung. Zu Tode erschöpft kämpfte er gegen den Sog der Tiefe an. Seine Kleidung und die Stiefel zogen ihn nach unten, seine Arme und Beine wurden immer schwächer. Er hatte kaum noch Überlebenschancen. Zwar kam es ihm so vor, als würde er sich dem winkenden Mann nähern, aber weil das Wasser sehr unruhig war, konnte er die Entfernung nicht richtig einschätzen. Da fiel sein Blick auf einen Rettungsring, der nicht weit von ihm zwischen den Trümmern trieb. Mit letzter Kraft klammerte er sich daran. Viel später erst erfuhr er, dass ihn nach vier Stunden ein Versorgungsschiff aufgegriffen hatte, das zur Unfallstelle geeilt war. Zu diesem Zeitpunkt war er schon mehr als anderthalb Kilometer von der Bohrinsel entfernt. Er wurde an Bord gehievt und unter Deck getragen, wo sich noch andere Überlebende aufhielten. Von der Unterkühlung war er wie erstarrt, konnte nur verschwommen sehen und auch nicht klar denken - der Arzt stellte bei ihm eine ziemlich schwere Gehirnerschütterung fest -, aber eines war ihm durchaus bewusst: dass er großes Glück gehabt hatte. Er sah Männer mit grauenvollen Verbrennungen an Armen und Schultern, andere bluteten aus den Ohren oder hielten sich die gebrochenen Gliedmaßen. Die meisten von ihnen kannte er mit Namen. Auf einer Bohrinsel gab es nur eine begrenzte Anzahl von Orten, wo man sich aufhalten konnte - letztlich war so eine Insel eine Art kleines Dorf mitten im Ozean -, und jeder kam irgendwann in die Cafeteria, in den Aufenthaltsraum oder ins Fitnesscenter. Ein Mann allerdings erschien ihm nur vage bekannt. Und ausgerechnet dieser starrte ihn unverwandt an, obwohl er am anderen Ende des Raumes saß. Er hatte dunkle Haare, war etwa vierzig Jahre alt und trug eine blaue Windjacke, die ihm vermutlich jemand vom Schiff geliehen hatte. Und irgendwie wirkte er deplatziert - er sah aus wie ein Büromensch, nicht wie ein Bohrturmarbeiter. Dieser Fremde winkte Dawson zu, was ihn an den Typ erinnerte, den er vorhin im Wasser erspäht hatte - ja, genau, das war er, der Mann aus den Wellen, ganz bestimmt! Und auf einmal spürte Dawson, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Doch bevor er genauer darüber nachdenken konnte, warum er so seltsam reagierte, legte ihm jemand eine Wolldecke um die Schultern und führte ihn zu dem Tisch, wo ihn ein Sanitätsoffizier erwartete, um ihn zu untersuchen.
Als er anschließend wieder an seinen Platz zurückkam, war der dunkelhaarige Mann verschwunden.
Im Verlauf der nächsten Stunde wurden noch weitere Überlebende an Bord gebracht. Aber wo war der Rest seiner Mannschaft?, fragte sich Dawson, während sich sein Körper langsam erwärmte. Mit manchen Kollegen arbeitete er seit Jahren zusammen, aber nun konnte er sie nirgends entdecken. Es dauerte ziemlich lange, bis er erfuhr, dass vierundzwanzig Menschen ums Leben gekommen waren. Die meisten Leichen wurden gefunden, aber nicht alle. Als Dawson im Krankenhaus lag, um wieder zu Kräften zu kommen, verging kein Tag, an dem er nicht daran denken musste, dass die Angehörigen dieser Toten nie die Möglichkeit haben würden, richtig Abschied zu nehmen.
Seit der Explosion litt er unter massiven Schlafstörungen. Nicht, weil ihn schlimme Träume quälten, sondern weil er ständig das Gefühl hatte, er würde beobachtet. Diese Wahnvorstellung konnte er einfach nicht abschütteln. Es kam ihm vor, als würde er ... verfolgt, auch wenn das absolut albern erschien. Selbst tagsüber glaubte er immer wieder, aus dem Augenwinkel etwas zu sehen, was sich heimlich in seiner Nähe bewegte, aber wenn er sich umdrehte, konnte er nichts ausmachen. War er womöglich kurz davor durchzudrehen? Sein Arzt vertrat die Theorie, dass er wegen der Explosion an einer posttraumatischen Stressreaktion litt und dass sein Gehirn immer noch durch die Erschütterung beeinträchtigt war. Das klang logisch, und vom Verstand her leuchtete es Dawson auch ein, aber es überzeugte ihn doch nicht vollständig. Er nickte höflich und bekam ein Rezept für Schlaftabletten, das er nie einlöste.
Ein halbes Jahr lang sollte er bezahlten Urlaub nehmen, während sich die Räder der Justiz und der Bürokratie langsam in Bewegung setzten. Sein Arbeitgeber bot ihm nach drei Wochen einen Vergleich an, und Dawson unterschrieb die Dokumente ohne Zögern. In der Zwischenzeit war er bereits von mindestens zehn Anwälten kontaktiert worden, die ihn alle überreden wollten, sich einer Sammelklage anzuschließen, doch das ging Dawson gegen den Strich. Zu viel Ärger, zu viel Aufwand. Er akzeptierte lieber das Angebot seiner Firma, und als der Scheck eintraf, löste er ihn noch am selben Tag ein. Nun besaß er so viel Geld, dass manche Leute ihn als reich bezeichnet hätten. Den größten Teil transferierte er auf ein Konto auf den Cayman Islands. Von dort ging die Summe auf ein Gesellschaftskonto in Panama, das er mit minimalem bürokratischen Aufwand eröffnet hatte. Erst danach wurde das Geld an sein endgültiges Ziel weitergeleitet. Wie immer war es praktisch unmöglich, den ursprünglichen Besitzer aufzuspüren.
Dawson behielt nur so viel, dass er problemlos seine Miete zahlen und noch ein paar lebenswichtige Dinge finanzieren konnte. Er lebte in einem kleinen Trailer, am Ende einer ungeteerten Straße in einem Außenbezirk von New Orleans. Beim Anblick dieses »Mobilehome« dachten die Leute bestimmt vor allem daran, dass es erstaunlicherweise den Hurrikan Katrina im Jahr 2005 unbeschadet überstanden hatte und nicht fortgeschwemmt worden war - also konnte es nicht ganz schlecht sein. Die äußere Verkleidung war aus Plastik, das schon etwas rissig wurde und verblasste, und es stand auf Betonblöcken, die ursprünglich nur als provisorisches Fundament dienen sollten. Aber mit der Zeit waren sie zur Dauerlösung geworden. Es gab in diesem Trailer ein kleines Schlafzimmer, ein Bad, eine winzige Sitzecke und eine Küche, in der kaum Platz für den Minikühlschrank war. Die Wände waren so gut wie gar nicht isoliert, und im Laufe der Jahre hatte sich wegen der Feuchtigkeit der Boden so verzogen, dass man das Gefühl bekam, ständig auf einer schiefen Ebene zu gehen. Das Linoleum in der Küche bröckelte in den Ecken, der kleine Teppich war völlig abgetreten, und die spärlichen Möbel stammten alle aus irgendwelchen Secondhandläden. Kein einziges Bild hing an der Wand, kein Foto. Dawson wohnte zwar schon fast fünfzehn Jahre dort, aber für ihn war es immer noch nicht sein Zuhause, sondern der Ort, wo er aß und schlief und sich duschte.
Obwohl der Trailer schon so viele Jahre auf dem Buckel hatte, war er makellos gepflegt und sauber. Fast so wie die Häuser im Garden District. Dawson war seit jeher ein Ordnungs- und Sauberkeitsfanatiker gewesen. Zweimal im Jahr reparierte er alle Risse und verkittete die Ritzen, um kleine Nagetiere und Insekten fernzuhalten. Und bevor er zur Bohrinsel zurückkehrte, schrubbte er jedes Mal die Fußböden in Küche und Bad mit Desinfektionsmittel und räumte alles, was verderben oder verschimmeln konnte, aus den Schränken. Was nicht in einer Dose war, vergammelte erfahrungsgemäß in weniger als einer Woche, besonders im Sommer. Normalerweise arbeitete Dawson dreißig Tage hintereinander und hatte anschließend dreißig Tage frei. Wenn er zurückkam, putzte er den Trailer wieder und lüftete gründlich, um nur ja den abgestandenen Geruch loszuwerden.
Es war hier sehr ruhig, und diese Ruhe brauchte Dawson dringend. Er wohnte zwar fast einen halben Kilometer von der Hauptstraße entfernt, und sein nächster Nachbar war sogar noch weiter fort. Aber nach einem Monat auf der Bohrinsel sehnte er sich immer nach dieser Abgeschiedenheit. Er konnte sich einfach nicht an den dauernden Krach auf der Bohrinsel gewöhnen. Überall hämmerte, klirrte und schepperte es. Kräne, die Lieferungen und Vorräte umluden, Hubschrauber, die landeten oder abhoben, das endlose Klacken von Metall auf Metall. Ein dröhnendes Konzert, das nie verstummte. Rund um die Uhr wurde Öl gepumpt, was bedeutete, dass der Lärm auch nicht aufhörte, wenn man schlafen wollte. Dawson bemühte sich stets krampfhaft, ihn auszublenden, aber jedes Mal, wenn er in seinen Trailer zurückkehrte, staunte er über die wunderbar berauschende Mittagsstille, wenn die Sonne hoch am Himmel stand. Morgens konnte er in den Bäumen die Vögel zwitschern hören, und abends, nachdem die Sonne untergegangen war, zirpten die Grillen, die Frösche quakten, und manchmal verfielen Frösche und Grillen ein paar Minuten lang in denselben Rhythmus. Meistens fand Dawson diese Geräuschkulisse sehr beruhigend, doch es konnte auch passieren, dass sie ihn zu stark an seine Heimat erinnerte. Dann zog er sich ins Innere des Trailers zurück, um die Erinnerungen zu vertreiben.
Er aß. Er schlief. Er ging joggen, er trainierte mit Gewichten, und er schraubte an seinem Auto herum. Er unternahm lange Fahrten, ohne ein festes Ziel vor Augen. Hin und wieder angelte er. Abends las er, und gelegentlich schrieb er einen Brief an Tuck Hostetler. Das war alles. Er besaß keinen Fernseher, kein Radio, und in seinem Handy waren nur Nummern gespeichert, die mit der Arbeit zusammenhingen. Einmal im Monat fuhr er zum Supermarkt und kaufte Lebensmittel und Grundvorräte. Außerdem schaute er noch in der Buchhandlung vorbei. Sonst ging er nie ins Zentrum von New Orleans. In den fast fünfzehn Jahren, die er jetzt hier lebte, war er noch nicht einmal in der Bourbon Street gewesen, er war nie durch das French Quarter geschlendert, er hatte kein einziges Mal im Café du Monde einen Kaffee getrunken oder sich in Lafitte's Blacksmith Shop Bar einen Hurricane Cocktail genehmigt. Statt ins Fitnesscenter zu gehen, trainierte er lieber hinter seinem Trailer unter einer alten Abdeckplane, die er zwischen dem Wagen und den Bäumen aufgespannt hatte. Er ging nicht ins Kino, und selbst am Sonntagnachmittag schaute er nie bei irgendwelchen Freunden vorbei, um mit ihnen Football zu gucken, wenn die New Orleans Saints spielten. Er war zweiundvierzig, und seit seiner Teenagerzeit war er nie mehr mit einem Mädchen ausgegangen.
Die meisten Menschen hätten sicher verständnislos den Kopf geschüttelt, weil sie sich solch ein Leben nur schwer vorzustellen vermochten. Sie kannten Dawson nicht - sie konnten ja nicht ahnen, wie er früher gewesen war. Und Dawson legte größten Wert darauf, dass es so blieb.
Doch dann bekam er an einem warmen Nachmittag Mitte Juni einen Anruf, und die Erinnerung an die Vergangenheit wurde wieder wach. Dawson arbeitete seit knapp neun Wochen nicht mehr, und nach beinahe zwanzig Jahren würde er nun zum ersten Mal wieder in seine Heimat zurückkehren. Bei dem Gedanken daran fühlte er sich ziemlich unwohl, aber er wusste, dass ihm keine andere Wahl blieb. Tuck war für ihn mehr gewesen als ein Freund. Fast eine Art Vaterersatz. Und während Dawson über das Jahr nachdachte, das der große Wendepunkt in seinem Leben gewesen war, nahm er wieder einmal aus dem Augenwinkel eine huschende Bewegung wahr. Als er sich umdrehte, konnte er nichts sehen. Wurde er etwa doch verrückt?
Der Anruf kam von Morgan Tanner, einem Anwalt in Oriental, North Carolina. Mr Tanner teilte Dawson mit, dass Tuck Hostetler gestorben sei. »Es gibt verschiedene Dinge zu regeln, um die Sie sich am besten persönlich kümmern sollten«, erklärte der Anwalt. Nachdem Dawson aufgelegt hatte, beschloss er, einen Flug zu buchen, in einem Bed-and-Breakfast ein Zimmer zu reservieren und dann einen Floristen anzurufen, der Blumenschmuck schicken sollte.
Nachdem er am nächsten Morgen die Tür seines Trailers verriegelt hatte, ging er zu dem Blechschuppen, in dem er immer sein Auto unterstellte. Es war der 18. Juni 2009, ein Donnerstag. Dawson hatte den einzigen Anzug, den er besaß, dabei und einen Seesack, den er mitten in der Nacht gepackt hatte, weil er nicht schlafen konnte. Er öffnete das Vorhängeschloss und rollte die Tür hoch. Helle Sonnenstrahlen fielen auf den Wagen, an dem er seit einer halben Ewigkeit herummontierte. Im Grunde seit der Highschool. Es war ein Ford Mustang, Baujahr 1969, mit Fließheck, genannt Fastback. Ein Auto, nach dem sich die Leute schon umgedreht hatten, als Nixon Präsident war. Auch heute noch erregte es Aufsehen. Es glänzte, als käme es direkt vom Fließband, und im Laufe der Jahre hatten unzählige Leute, die Dawson gar nicht kannte, ihm jede Menge Geld dafür geboten. Doch er hatte immer höflich abgelehnt. »Dieser Fastback hier ist mehr als ein Auto«, sagte er jedes Mal, ohne seine Worte näher auszuführen. Tuck hätte sofort verstanden, was er meinte.
Er warf den Seesack auf den Beifahrersitz, legte den Anzug darüber und setzte sich hinters Steuer. Als er den Zündschlüssel drehte, sprang der Motor mit einem lauten Rumpeln an. Vorsichtig fuhr Dawson aus dem Schuppen und stieg dann noch einmal aus, um das Schloss wieder anzubringen. Im Kopf ging er rasch seine Checkliste durch, ob er auch an alles gedacht hatte. Zwei Minuten später war er schon auf der Hauptstraße. Und nach einer halben Stunde stellte er den Wagen auf dem Langzeitparkplatz des Flughafens von New Orleans ab. Es fiel ihm sehr schwer, ihn dort stehen zu lassen, aber was hätte er sonst tun sollen? Er nahm sein Gepäck und begab sich zielstrebig zum Flughafengebäude, wo ihn am Schalter bereits sein Ticket erwartete.
In der Halle war viel Betrieb. Paare, Arm in Arm. Familien, die ihre Großeltern oder Disney World besuchen wollten. Studenten, die von der Uni nach Hause flogen. Geschäftsreisende zogen ihr Handgepäck hinter sich her und quasselten in ihre Handys. Dawson stand in einer Schlange, die sich extrem langsam bewegte. Als er endlich an die Reihe kam, zeigte er seinen Ausweis vor und beantwortete brav die Sicherheitsfragen, ehe man ihm die Bordkarte aushändigte. Zwischenlandung in Charlotte, in etwa einer Stunde. Ganz okay. In New Bern würde er sich einen Mietwagen nehmen. Dann musste er noch vierzig Minuten fahren. Falls es keine Verspätung gab, würde er am späten Nachmittag in Oriental eintreffen.
Als er auf seinem Platz saß, merkte er erst, wie müde er war. Er konnte sich nicht erinnern, wann er in der Nacht zuvor endlich eingeschlafen war - das letzte Mal hatte er kurz vor vier auf die Uhr geschaut und sich damit getröstet, dass er ja im Flugzeug schlafen konnte. Außerdem gab es für ihn in Oriental kaum Verpflichtungen. Er war ein Einzelkind - seine Mutter hatte sich aus dem Staub gemacht, als er drei Jahre alt war, und sein Dad hatte der Welt einen Gefallen getan, indem er sich systematisch zu Tode gesoffen hatte. Zu seinen übrigen Verwandten pflegte Dawson seit Jahren keinen Kontakt mehr, und auch jetzt wollte er am liebsten nichts mit ihnen zu tun haben.
Eine kurze Reise. Hin und wieder zurück, mehr nicht. Er würde erledigen, was erledigt werden musste, und keine Minute länger bleiben als unbedingt nötig. Klar, er war in Oriental aufgewachsen, aber richtig dazugehört hatte er nie. Die Stadt Oriental, die er kannte, hatte wenig Ähnlichkeit mit dem bunten, fröhlichen Bild, das vom Fremdenverkehrsamt entworfen wurde. Für die meisten Leute, die einen Nachmittag dort verbrachten, war Oriental ein eigenwilliges, interessantes kleines Städtchen, sehr beliebt bei Malern und Dichtern und bei Pensionären, die ihren Lebensabend damit verbringen wollten, auf dem Neuse River zu segeln. Es gab die übliche hübsche Altstadt mit Antiquitätenläden, Kunstgalerien und Cafés, und für einen Ort, der weniger als tausend Einwohner hatte, wurden dort unglaublich viele Festivals gefeiert. Aber das reale Oriental, das Dawson als Kind und Jugendlicher kennengelernt hatte, wurde dominiert von ein paar Familien, die schon seit der Kolonialzeit in dieser Gegend lebten. Menschen wie Richter McCall und Sheriff Harris, außerdem noch Eugenia Wilcox und die Familien Collier und Bennett. Ihnen gehörte das Land, sie bauten das Getreide an, verkauften das Holz und führten die Geschäfte. Sie waren mächtig und einflussreich und betrachteten die Stadt schon immer als ihr Eigentum, ohne dass dies je offiziell ausgesprochen werden musste. Und sie richteten alles so ein, wie es ihnen passte.
Das hatte Dawson ganz direkt zu spüren bekommen, als er achtzehn Jahre alt war. Und später noch einmal, mit dreiundzwanzig. Daraufhin war er für immer fortgegangen. Nirgends in Pamlico County war es leicht, ein Cole zu sein, aber am schlimmsten war es in Oriental. Soviel er wusste, hatte jeder Cole bis hin zu seinem Urgroßvater irgendwann wegen eines Delikts im Gefängnis gesessen. Die Coles waren wegen Körperverletzung und wegen Brandstiftung verurteilt worden, wegen Totschlags und auch wegen Mordes. Das steinige Grundstück mit den Bäumen, das die Großfamilie bewohnte, war wie ein Territorium mit eigenen Gesetzen: eine Handvoll baufällige Hütten, alte Wohnwagen und mehrere Schuppen voller Schrott. Wer konnte, mied dieses Gelände - selbst der Sheriff. Auch die Jäger machten einen großen Bogen um den Bereich, weil sie zu Recht vermuteten, dass das Schild mit der Aufschrift EINDRINGLINGE WERDEN ERSCHOSSEN ernst gemeint war und nicht nur als leere Warnung. Die Coles waren Schwarzbrenner und Drogenhändler, sie waren Alkoholiker und prügelten ihre Frauen, die Eltern misshandelten ihre Kinder. Sie waren Diebe und Zuhälter, und vor allem waren sie gewalttätig. In einem Artikel, der in einer inzwischen nicht mehr existierenden Zeitschrift veröffentlicht worden war, beschrieb man sie als »die brutalste, rachsüchtigste Familie östlich von Raleigh«. Dawsons Vater bildete da keine Ausnahme. Zwischen zwanzig und dreißig verbrachte er den größten Teil der Zeit im Gefängnis, und auch danach war er noch häufig dort anzutreffen, wegen aller möglichen Vergehen. Zum Beispiel attackierte er einmal einen Mann mit einem Eispickel, weil dieser ihm die Vorfahrt genommen hatte. Zweimal gab es eine Mordanklage, aber er wurde freigesprochen, nachdem mehrere Zeugen auf mysteriöse Weise verschwunden waren. Der Rest der Familie war klug genug, ihn nicht zu reizen. Wieso seine Mutter ihn geheiratet hatte, war Dawson unbegreiflich. Er nahm es ihr nicht übel, dass sie fortgelaufen war. Als Kind hätte er am liebsten ebenfalls die Flucht ergriffen. Mehr als einmal hatte er es versucht, aber vergeblich. Er machte seiner Mutter auch keine Vorwürfe, weil sie ihn nicht mitgenommen hatte. Die Männer der Familie Cole waren sehr besitzergreifend, was ihre Nachkommen anging, und Dawson zweifelte keinen Moment daran, dass sein Vater sie gnadenlos verfolgt hätte, um seinen Sohn zurückzuholen. Das hatte er ihm immer wieder versichert, und Dawson fragte ihn lieber nicht, was er getan hätte, wenn seine Mom ihn, den Sohn, nicht herausgerückt hätte. Er kannte die Antwort sowieso.
Wie viele Familienmitglieder lebten heute auf dem Gelände? Er wusste es nicht, aber als er von Oriental fortging, waren es außer seinem Vater und seinem Großvater noch vier Onkel, drei Tanten und sechzehn Cousins und Cousinen gewesen. Inzwischen waren diese natürlich längst erwachsen und hatten selbst Kinder. Nein, Dawson wollte das alles gar nicht so genau wissen. Er war in dieser Welt aufgewachsen, aber was für Oriental galt, das galt auch für die Coles: Er hatte nie richtig dazugehört. Vielleicht hatte es etwas mit seiner Mom zu tun, obwohl er sie ja gar nicht kannte, aber er war anders als die anderen. Seine Cousins gingen zwar in dieselbe Schule wie er, aber er war als Einziger nie in Schlägereien verwickelt, bekam gute Noten, nahm keine Drogen, trank keinen Alkohol,
und er war auch nicht dabei, wenn sie abends mit dem Auto durch die Straßen fuhren, um die Innenstadt aufzumischen. Meistens gab er als Begründung an, er müsse die Destille beaufsichtigen. Oder helfen, einen Wagen auseinanderzunehmen, den irgendein Familienmitglied gestohlen hatte. Er verhielt sich immer möglichst zurückhaltend und bemühte sich, nirgends groß aufzufallen.
Doch es war eine Gratwanderung. Die Coles waren zwar eine kriminelle Sippe, aber dumm waren sie deshalb noch lange nicht. Dawson wusste intuitiv, dass er sein Anderssein verbergen musste, so gut es nur ging. Er war wahrscheinlich der einzige Junge in der Geschichte der Schule, der vor einer Klassenarbeit besonders viel lernte, um dann absichtlich eine schlechte Note zu schreiben, und der sein Zeugnis fälschte, damit es nicht so gut aussah, wie es eigentlich war. Er entwickelte Strategien, wie er eine Bierdose heimlich ausleeren konnte, wenn die anderen gerade nicht hinschauten, indem er sie mit einem Messer anstach. Und wenn er die Arbeit als Ausrede benutzte, um nicht mit seinen Cousins losziehen zu müssen, schuftete er oft bis spät in die Nacht. Eine Weile lang funktionierten diese Methoden, aber mit der Zeit bekam die Fassade Risse. Einer seiner Lehrer erwähnte zum Beispiel gegenüber einem Trinkkumpan seines Vaters, dass Dawson der beste Schüler seines Jahrgangs sei. Tanten und Onkel registrierten, dass er als Einziger der Familie nicht mit dem Gesetz in Konflikt kam. In einer Familie, für die Loyalität und Konformität die höchsten Werte waren, galt so etwas als Todsünde.
Besonders sein Vater war deswegen richtig sauer. Er hatte seinen Sohn schon immer geschlagen, seit seiner frühesten Kindheit - am liebsten mit dem Gürtel oder mit einem Riemen. Aber als Dawson zwölf wurde, ging sein Vater noch methodischer vor. Er schlug ihn, bis Rücken und Brust schwarz und blau waren, und kam dann eine Stunde später wieder, um sich den Beinen und dem Gesicht zu widmen. Die Lehrer wussten genau, was in dieser Familie los war, aber sie sagten nichts, weil sie Angst um ihre eigenen Angehörigen hatten. Wenn der Sheriff Dawson auf dem Heimweg von der Schule begegnete, tat er so, als würde er die blauen Flecken und Striemen nicht bemerken. Die Mitglieder der Familie Cole fanden das alles eh völlig normal. Abee und Crazy Ted, Dawsons ältere Cousins, fielen mehr als einmal über ihn her und verprügelten ihn mindestens so gemein wie sein Vater - Abee, weil er fand, dass Dawson es verdient hatte, Crazy Ted einfach so, ohne jeden Grund. Abee war groß und kräftig und hatte Fäuste wie Bärentatzen. Er war gewalttätig und unbeherrscht, aber klüger, als man dachte. Crazy Ted hingegen war einfach nur brutal. Schon im Kindergarten griff er einen anderen Jungen mit einem spitzen Bleistift an, als die beiden sich um einen Schokoriegel stritten, und ehe er in der fünften Klasse aus der Schule ausgeschlossen wurde, hatte er einen seiner Mitschüler krankenhausreif geschlagen. Es hieß, er habe einen Junkie umgebracht, als er noch keine zwanzig war. Dawson kam zu der Überzeugung, dass es besser war, sich gar nicht gegen ihn zu wehren, und lernte stattdessen, wie er sich gegen die Schläge schützen konnte, bis seine Cousins die Aktion langweilig fanden oder müde wurden - oder beides.
Er stieg allerdings nicht in die Familiengeschäfte ein und gab deutlich zu verstehen, dass er dies nie tun werde.
...
Übersetzung: Adelheid Zöfel
Copyright © 2012 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Gleich nach der Explosion auf der Bohrinsel begannen die Halluzinationen. Es war der Tag, an dem Dawson Cole eigentlich hätte sterben sollen.
Seit vierzehn Jahren arbeitete er auf verschiedenen Ölplattformen, und eigentlich glaubte er, alles, was passieren konnte, schon erlebt zu haben. 1997 hatte er zum Beispiel gesehen, wie ein Hubschrauber bei der Landung die Kontrolle verlor, auf die Plattform krachte und sich in einen glühenden Feuerball verwandelte. Dawson erlitt Verbrennungen zweiten Grades auf dem Rücken, weil er versuchte, ein paar seiner Kollegen zu retten. Dreizehn Personen starben bei dem Unglück - die meisten im Helikopter. Vier Jahre später stürzte ein Kran um, und ein Stück Metall, so groß wie ein Basketball, sauste durch die Luft und hätte beinahe Dawsons Kopf zertrümmert. 2004 war er einer der wenigen Arbeiter, die auf der Bohrinsel blieben, als sich Hurrikan Ivan näherte, mit fast zweihundert Stundenkilometern. Die Wellen waren so gigantisch, dass Dawson überlegte, ob er sich vorsichtshalber schon mal einen Fallschirm schnappen sollte, falls die gesamte Bohrinsel zusammenbrach. Und auch in der Alltagsroutine lauerten überall Gefahren. Man konnte ausrutschen, das Gleichgewicht verlieren, von Bauteilen getroffen werden - ohne Schnittwunden und Prellungen kam kaum einer davon. Dawson war Zeuge von so vielen Knochenbrüchen gewesen, dass er sie nicht mehr zählen konnte. Zweimal war die gesamte Besatzung von einer schlimmen Lebensmittelvergiftung betroffen gewesen, und vor zwei Jahren, also 2007, musste Dawson zuschauen, wie ein Versorgungsschiff unterging, als es sich von der Ölplattform entfernte. Glücklicherweise wurde die Besatzung in letzter Minute von einem Kutter der Küstenwache gerettet.
Aber die Explosion war schlimmer als alles Bisherige. Weil kein Öl austrat - die Sicherheitsventile und andere Schutzmechanismen verhinderten eine größere Umweltkatastrophe -, wurde der Zwischenfall zwar in den Nachrichten nur beiläufig erwähnt und geriet nach ein paar Tagen schon wieder in Vergessenheit. Aber für diejenigen, die dabei waren, und zu ihnen gehörte Dawson, war es ein einziger Albtraum. Das Unglück geschah an einem ganz normalen Vormittag. Alles lief nach Plan. Dawson musste wie immer die Pumpen überwachen. Aus heiterem Himmel explodierte plötzlich einer der Speichertanks. Ehe Dawson begriff, was los war, wurde er von der Wucht der Detonation in einen Schuppen in der Nähe geschleudert. Und sofort begann es überall zu brennen. Weil die gesamte Bohrinsel mit verkrusteten Ölrückständen bedeckt war, verwandelte sie sich rasend schnell in eine Flammenhölle. Dadurch gab es zwei weitere Explosionen, welche die Bohrinsel noch heftiger erschütterten. Dawson erinnerte sich, wie er mehrere Verletzte aus den Flammen zerrte, doch dann kam die vierte Explosion, noch gewaltiger als die ersten drei, und er flog erneut durch die Luft. Was danach geschah, wusste er nicht mehr genau, es waren nur noch undeutliche Bilder, bruchstückhaft - irgendwie landete er im Wasser, und nach menschlichem Ermessen hätte ihn dieser Sturz das Leben kosten müssen. Als er wieder zu sich kam, trieb er im Golf von Mexiko, etwa hundertfünfzig Kilometer südlich von Vermilion Bay, Louisiana.
Wie fast alle anderen hatte er nicht genügend Zeit gehabt, seinen Rettungsanzug überzuziehen oder sich auch nur eine Schwimmweste zu greifen. Zwischen den Wellen erblickte er in der Ferne immer wieder einen dunkelhaarigen Mann, der ihm zuwinkte und ihm signalisierte, er solle nicht aufgeben, sondern in seine Richtung weiterschwimmen. Dawson folgte der Aufforderung. Zu Tode erschöpft kämpfte er gegen den Sog der Tiefe an. Seine Kleidung und die Stiefel zogen ihn nach unten, seine Arme und Beine wurden immer schwächer. Er hatte kaum noch Überlebenschancen. Zwar kam es ihm so vor, als würde er sich dem winkenden Mann nähern, aber weil das Wasser sehr unruhig war, konnte er die Entfernung nicht richtig einschätzen. Da fiel sein Blick auf einen Rettungsring, der nicht weit von ihm zwischen den Trümmern trieb. Mit letzter Kraft klammerte er sich daran. Viel später erst erfuhr er, dass ihn nach vier Stunden ein Versorgungsschiff aufgegriffen hatte, das zur Unfallstelle geeilt war. Zu diesem Zeitpunkt war er schon mehr als anderthalb Kilometer von der Bohrinsel entfernt. Er wurde an Bord gehievt und unter Deck getragen, wo sich noch andere Überlebende aufhielten. Von der Unterkühlung war er wie erstarrt, konnte nur verschwommen sehen und auch nicht klar denken - der Arzt stellte bei ihm eine ziemlich schwere Gehirnerschütterung fest -, aber eines war ihm durchaus bewusst: dass er großes Glück gehabt hatte. Er sah Männer mit grauenvollen Verbrennungen an Armen und Schultern, andere bluteten aus den Ohren oder hielten sich die gebrochenen Gliedmaßen. Die meisten von ihnen kannte er mit Namen. Auf einer Bohrinsel gab es nur eine begrenzte Anzahl von Orten, wo man sich aufhalten konnte - letztlich war so eine Insel eine Art kleines Dorf mitten im Ozean -, und jeder kam irgendwann in die Cafeteria, in den Aufenthaltsraum oder ins Fitnesscenter. Ein Mann allerdings erschien ihm nur vage bekannt. Und ausgerechnet dieser starrte ihn unverwandt an, obwohl er am anderen Ende des Raumes saß. Er hatte dunkle Haare, war etwa vierzig Jahre alt und trug eine blaue Windjacke, die ihm vermutlich jemand vom Schiff geliehen hatte. Und irgendwie wirkte er deplatziert - er sah aus wie ein Büromensch, nicht wie ein Bohrturmarbeiter. Dieser Fremde winkte Dawson zu, was ihn an den Typ erinnerte, den er vorhin im Wasser erspäht hatte - ja, genau, das war er, der Mann aus den Wellen, ganz bestimmt! Und auf einmal spürte Dawson, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Doch bevor er genauer darüber nachdenken konnte, warum er so seltsam reagierte, legte ihm jemand eine Wolldecke um die Schultern und führte ihn zu dem Tisch, wo ihn ein Sanitätsoffizier erwartete, um ihn zu untersuchen.
Als er anschließend wieder an seinen Platz zurückkam, war der dunkelhaarige Mann verschwunden.
Im Verlauf der nächsten Stunde wurden noch weitere Überlebende an Bord gebracht. Aber wo war der Rest seiner Mannschaft?, fragte sich Dawson, während sich sein Körper langsam erwärmte. Mit manchen Kollegen arbeitete er seit Jahren zusammen, aber nun konnte er sie nirgends entdecken. Es dauerte ziemlich lange, bis er erfuhr, dass vierundzwanzig Menschen ums Leben gekommen waren. Die meisten Leichen wurden gefunden, aber nicht alle. Als Dawson im Krankenhaus lag, um wieder zu Kräften zu kommen, verging kein Tag, an dem er nicht daran denken musste, dass die Angehörigen dieser Toten nie die Möglichkeit haben würden, richtig Abschied zu nehmen.
Seit der Explosion litt er unter massiven Schlafstörungen. Nicht, weil ihn schlimme Träume quälten, sondern weil er ständig das Gefühl hatte, er würde beobachtet. Diese Wahnvorstellung konnte er einfach nicht abschütteln. Es kam ihm vor, als würde er ... verfolgt, auch wenn das absolut albern erschien. Selbst tagsüber glaubte er immer wieder, aus dem Augenwinkel etwas zu sehen, was sich heimlich in seiner Nähe bewegte, aber wenn er sich umdrehte, konnte er nichts ausmachen. War er womöglich kurz davor durchzudrehen? Sein Arzt vertrat die Theorie, dass er wegen der Explosion an einer posttraumatischen Stressreaktion litt und dass sein Gehirn immer noch durch die Erschütterung beeinträchtigt war. Das klang logisch, und vom Verstand her leuchtete es Dawson auch ein, aber es überzeugte ihn doch nicht vollständig. Er nickte höflich und bekam ein Rezept für Schlaftabletten, das er nie einlöste.
Ein halbes Jahr lang sollte er bezahlten Urlaub nehmen, während sich die Räder der Justiz und der Bürokratie langsam in Bewegung setzten. Sein Arbeitgeber bot ihm nach drei Wochen einen Vergleich an, und Dawson unterschrieb die Dokumente ohne Zögern. In der Zwischenzeit war er bereits von mindestens zehn Anwälten kontaktiert worden, die ihn alle überreden wollten, sich einer Sammelklage anzuschließen, doch das ging Dawson gegen den Strich. Zu viel Ärger, zu viel Aufwand. Er akzeptierte lieber das Angebot seiner Firma, und als der Scheck eintraf, löste er ihn noch am selben Tag ein. Nun besaß er so viel Geld, dass manche Leute ihn als reich bezeichnet hätten. Den größten Teil transferierte er auf ein Konto auf den Cayman Islands. Von dort ging die Summe auf ein Gesellschaftskonto in Panama, das er mit minimalem bürokratischen Aufwand eröffnet hatte. Erst danach wurde das Geld an sein endgültiges Ziel weitergeleitet. Wie immer war es praktisch unmöglich, den ursprünglichen Besitzer aufzuspüren.
Dawson behielt nur so viel, dass er problemlos seine Miete zahlen und noch ein paar lebenswichtige Dinge finanzieren konnte. Er lebte in einem kleinen Trailer, am Ende einer ungeteerten Straße in einem Außenbezirk von New Orleans. Beim Anblick dieses »Mobilehome« dachten die Leute bestimmt vor allem daran, dass es erstaunlicherweise den Hurrikan Katrina im Jahr 2005 unbeschadet überstanden hatte und nicht fortgeschwemmt worden war - also konnte es nicht ganz schlecht sein. Die äußere Verkleidung war aus Plastik, das schon etwas rissig wurde und verblasste, und es stand auf Betonblöcken, die ursprünglich nur als provisorisches Fundament dienen sollten. Aber mit der Zeit waren sie zur Dauerlösung geworden. Es gab in diesem Trailer ein kleines Schlafzimmer, ein Bad, eine winzige Sitzecke und eine Küche, in der kaum Platz für den Minikühlschrank war. Die Wände waren so gut wie gar nicht isoliert, und im Laufe der Jahre hatte sich wegen der Feuchtigkeit der Boden so verzogen, dass man das Gefühl bekam, ständig auf einer schiefen Ebene zu gehen. Das Linoleum in der Küche bröckelte in den Ecken, der kleine Teppich war völlig abgetreten, und die spärlichen Möbel stammten alle aus irgendwelchen Secondhandläden. Kein einziges Bild hing an der Wand, kein Foto. Dawson wohnte zwar schon fast fünfzehn Jahre dort, aber für ihn war es immer noch nicht sein Zuhause, sondern der Ort, wo er aß und schlief und sich duschte.
Obwohl der Trailer schon so viele Jahre auf dem Buckel hatte, war er makellos gepflegt und sauber. Fast so wie die Häuser im Garden District. Dawson war seit jeher ein Ordnungs- und Sauberkeitsfanatiker gewesen. Zweimal im Jahr reparierte er alle Risse und verkittete die Ritzen, um kleine Nagetiere und Insekten fernzuhalten. Und bevor er zur Bohrinsel zurückkehrte, schrubbte er jedes Mal die Fußböden in Küche und Bad mit Desinfektionsmittel und räumte alles, was verderben oder verschimmeln konnte, aus den Schränken. Was nicht in einer Dose war, vergammelte erfahrungsgemäß in weniger als einer Woche, besonders im Sommer. Normalerweise arbeitete Dawson dreißig Tage hintereinander und hatte anschließend dreißig Tage frei. Wenn er zurückkam, putzte er den Trailer wieder und lüftete gründlich, um nur ja den abgestandenen Geruch loszuwerden.
Es war hier sehr ruhig, und diese Ruhe brauchte Dawson dringend. Er wohnte zwar fast einen halben Kilometer von der Hauptstraße entfernt, und sein nächster Nachbar war sogar noch weiter fort. Aber nach einem Monat auf der Bohrinsel sehnte er sich immer nach dieser Abgeschiedenheit. Er konnte sich einfach nicht an den dauernden Krach auf der Bohrinsel gewöhnen. Überall hämmerte, klirrte und schepperte es. Kräne, die Lieferungen und Vorräte umluden, Hubschrauber, die landeten oder abhoben, das endlose Klacken von Metall auf Metall. Ein dröhnendes Konzert, das nie verstummte. Rund um die Uhr wurde Öl gepumpt, was bedeutete, dass der Lärm auch nicht aufhörte, wenn man schlafen wollte. Dawson bemühte sich stets krampfhaft, ihn auszublenden, aber jedes Mal, wenn er in seinen Trailer zurückkehrte, staunte er über die wunderbar berauschende Mittagsstille, wenn die Sonne hoch am Himmel stand. Morgens konnte er in den Bäumen die Vögel zwitschern hören, und abends, nachdem die Sonne untergegangen war, zirpten die Grillen, die Frösche quakten, und manchmal verfielen Frösche und Grillen ein paar Minuten lang in denselben Rhythmus. Meistens fand Dawson diese Geräuschkulisse sehr beruhigend, doch es konnte auch passieren, dass sie ihn zu stark an seine Heimat erinnerte. Dann zog er sich ins Innere des Trailers zurück, um die Erinnerungen zu vertreiben.
Er aß. Er schlief. Er ging joggen, er trainierte mit Gewichten, und er schraubte an seinem Auto herum. Er unternahm lange Fahrten, ohne ein festes Ziel vor Augen. Hin und wieder angelte er. Abends las er, und gelegentlich schrieb er einen Brief an Tuck Hostetler. Das war alles. Er besaß keinen Fernseher, kein Radio, und in seinem Handy waren nur Nummern gespeichert, die mit der Arbeit zusammenhingen. Einmal im Monat fuhr er zum Supermarkt und kaufte Lebensmittel und Grundvorräte. Außerdem schaute er noch in der Buchhandlung vorbei. Sonst ging er nie ins Zentrum von New Orleans. In den fast fünfzehn Jahren, die er jetzt hier lebte, war er noch nicht einmal in der Bourbon Street gewesen, er war nie durch das French Quarter geschlendert, er hatte kein einziges Mal im Café du Monde einen Kaffee getrunken oder sich in Lafitte's Blacksmith Shop Bar einen Hurricane Cocktail genehmigt. Statt ins Fitnesscenter zu gehen, trainierte er lieber hinter seinem Trailer unter einer alten Abdeckplane, die er zwischen dem Wagen und den Bäumen aufgespannt hatte. Er ging nicht ins Kino, und selbst am Sonntagnachmittag schaute er nie bei irgendwelchen Freunden vorbei, um mit ihnen Football zu gucken, wenn die New Orleans Saints spielten. Er war zweiundvierzig, und seit seiner Teenagerzeit war er nie mehr mit einem Mädchen ausgegangen.
Die meisten Menschen hätten sicher verständnislos den Kopf geschüttelt, weil sie sich solch ein Leben nur schwer vorzustellen vermochten. Sie kannten Dawson nicht - sie konnten ja nicht ahnen, wie er früher gewesen war. Und Dawson legte größten Wert darauf, dass es so blieb.
Doch dann bekam er an einem warmen Nachmittag Mitte Juni einen Anruf, und die Erinnerung an die Vergangenheit wurde wieder wach. Dawson arbeitete seit knapp neun Wochen nicht mehr, und nach beinahe zwanzig Jahren würde er nun zum ersten Mal wieder in seine Heimat zurückkehren. Bei dem Gedanken daran fühlte er sich ziemlich unwohl, aber er wusste, dass ihm keine andere Wahl blieb. Tuck war für ihn mehr gewesen als ein Freund. Fast eine Art Vaterersatz. Und während Dawson über das Jahr nachdachte, das der große Wendepunkt in seinem Leben gewesen war, nahm er wieder einmal aus dem Augenwinkel eine huschende Bewegung wahr. Als er sich umdrehte, konnte er nichts sehen. Wurde er etwa doch verrückt?
Der Anruf kam von Morgan Tanner, einem Anwalt in Oriental, North Carolina. Mr Tanner teilte Dawson mit, dass Tuck Hostetler gestorben sei. »Es gibt verschiedene Dinge zu regeln, um die Sie sich am besten persönlich kümmern sollten«, erklärte der Anwalt. Nachdem Dawson aufgelegt hatte, beschloss er, einen Flug zu buchen, in einem Bed-and-Breakfast ein Zimmer zu reservieren und dann einen Floristen anzurufen, der Blumenschmuck schicken sollte.
Nachdem er am nächsten Morgen die Tür seines Trailers verriegelt hatte, ging er zu dem Blechschuppen, in dem er immer sein Auto unterstellte. Es war der 18. Juni 2009, ein Donnerstag. Dawson hatte den einzigen Anzug, den er besaß, dabei und einen Seesack, den er mitten in der Nacht gepackt hatte, weil er nicht schlafen konnte. Er öffnete das Vorhängeschloss und rollte die Tür hoch. Helle Sonnenstrahlen fielen auf den Wagen, an dem er seit einer halben Ewigkeit herummontierte. Im Grunde seit der Highschool. Es war ein Ford Mustang, Baujahr 1969, mit Fließheck, genannt Fastback. Ein Auto, nach dem sich die Leute schon umgedreht hatten, als Nixon Präsident war. Auch heute noch erregte es Aufsehen. Es glänzte, als käme es direkt vom Fließband, und im Laufe der Jahre hatten unzählige Leute, die Dawson gar nicht kannte, ihm jede Menge Geld dafür geboten. Doch er hatte immer höflich abgelehnt. »Dieser Fastback hier ist mehr als ein Auto«, sagte er jedes Mal, ohne seine Worte näher auszuführen. Tuck hätte sofort verstanden, was er meinte.
Er warf den Seesack auf den Beifahrersitz, legte den Anzug darüber und setzte sich hinters Steuer. Als er den Zündschlüssel drehte, sprang der Motor mit einem lauten Rumpeln an. Vorsichtig fuhr Dawson aus dem Schuppen und stieg dann noch einmal aus, um das Schloss wieder anzubringen. Im Kopf ging er rasch seine Checkliste durch, ob er auch an alles gedacht hatte. Zwei Minuten später war er schon auf der Hauptstraße. Und nach einer halben Stunde stellte er den Wagen auf dem Langzeitparkplatz des Flughafens von New Orleans ab. Es fiel ihm sehr schwer, ihn dort stehen zu lassen, aber was hätte er sonst tun sollen? Er nahm sein Gepäck und begab sich zielstrebig zum Flughafengebäude, wo ihn am Schalter bereits sein Ticket erwartete.
In der Halle war viel Betrieb. Paare, Arm in Arm. Familien, die ihre Großeltern oder Disney World besuchen wollten. Studenten, die von der Uni nach Hause flogen. Geschäftsreisende zogen ihr Handgepäck hinter sich her und quasselten in ihre Handys. Dawson stand in einer Schlange, die sich extrem langsam bewegte. Als er endlich an die Reihe kam, zeigte er seinen Ausweis vor und beantwortete brav die Sicherheitsfragen, ehe man ihm die Bordkarte aushändigte. Zwischenlandung in Charlotte, in etwa einer Stunde. Ganz okay. In New Bern würde er sich einen Mietwagen nehmen. Dann musste er noch vierzig Minuten fahren. Falls es keine Verspätung gab, würde er am späten Nachmittag in Oriental eintreffen.
Als er auf seinem Platz saß, merkte er erst, wie müde er war. Er konnte sich nicht erinnern, wann er in der Nacht zuvor endlich eingeschlafen war - das letzte Mal hatte er kurz vor vier auf die Uhr geschaut und sich damit getröstet, dass er ja im Flugzeug schlafen konnte. Außerdem gab es für ihn in Oriental kaum Verpflichtungen. Er war ein Einzelkind - seine Mutter hatte sich aus dem Staub gemacht, als er drei Jahre alt war, und sein Dad hatte der Welt einen Gefallen getan, indem er sich systematisch zu Tode gesoffen hatte. Zu seinen übrigen Verwandten pflegte Dawson seit Jahren keinen Kontakt mehr, und auch jetzt wollte er am liebsten nichts mit ihnen zu tun haben.
Eine kurze Reise. Hin und wieder zurück, mehr nicht. Er würde erledigen, was erledigt werden musste, und keine Minute länger bleiben als unbedingt nötig. Klar, er war in Oriental aufgewachsen, aber richtig dazugehört hatte er nie. Die Stadt Oriental, die er kannte, hatte wenig Ähnlichkeit mit dem bunten, fröhlichen Bild, das vom Fremdenverkehrsamt entworfen wurde. Für die meisten Leute, die einen Nachmittag dort verbrachten, war Oriental ein eigenwilliges, interessantes kleines Städtchen, sehr beliebt bei Malern und Dichtern und bei Pensionären, die ihren Lebensabend damit verbringen wollten, auf dem Neuse River zu segeln. Es gab die übliche hübsche Altstadt mit Antiquitätenläden, Kunstgalerien und Cafés, und für einen Ort, der weniger als tausend Einwohner hatte, wurden dort unglaublich viele Festivals gefeiert. Aber das reale Oriental, das Dawson als Kind und Jugendlicher kennengelernt hatte, wurde dominiert von ein paar Familien, die schon seit der Kolonialzeit in dieser Gegend lebten. Menschen wie Richter McCall und Sheriff Harris, außerdem noch Eugenia Wilcox und die Familien Collier und Bennett. Ihnen gehörte das Land, sie bauten das Getreide an, verkauften das Holz und führten die Geschäfte. Sie waren mächtig und einflussreich und betrachteten die Stadt schon immer als ihr Eigentum, ohne dass dies je offiziell ausgesprochen werden musste. Und sie richteten alles so ein, wie es ihnen passte.
Das hatte Dawson ganz direkt zu spüren bekommen, als er achtzehn Jahre alt war. Und später noch einmal, mit dreiundzwanzig. Daraufhin war er für immer fortgegangen. Nirgends in Pamlico County war es leicht, ein Cole zu sein, aber am schlimmsten war es in Oriental. Soviel er wusste, hatte jeder Cole bis hin zu seinem Urgroßvater irgendwann wegen eines Delikts im Gefängnis gesessen. Die Coles waren wegen Körperverletzung und wegen Brandstiftung verurteilt worden, wegen Totschlags und auch wegen Mordes. Das steinige Grundstück mit den Bäumen, das die Großfamilie bewohnte, war wie ein Territorium mit eigenen Gesetzen: eine Handvoll baufällige Hütten, alte Wohnwagen und mehrere Schuppen voller Schrott. Wer konnte, mied dieses Gelände - selbst der Sheriff. Auch die Jäger machten einen großen Bogen um den Bereich, weil sie zu Recht vermuteten, dass das Schild mit der Aufschrift EINDRINGLINGE WERDEN ERSCHOSSEN ernst gemeint war und nicht nur als leere Warnung. Die Coles waren Schwarzbrenner und Drogenhändler, sie waren Alkoholiker und prügelten ihre Frauen, die Eltern misshandelten ihre Kinder. Sie waren Diebe und Zuhälter, und vor allem waren sie gewalttätig. In einem Artikel, der in einer inzwischen nicht mehr existierenden Zeitschrift veröffentlicht worden war, beschrieb man sie als »die brutalste, rachsüchtigste Familie östlich von Raleigh«. Dawsons Vater bildete da keine Ausnahme. Zwischen zwanzig und dreißig verbrachte er den größten Teil der Zeit im Gefängnis, und auch danach war er noch häufig dort anzutreffen, wegen aller möglichen Vergehen. Zum Beispiel attackierte er einmal einen Mann mit einem Eispickel, weil dieser ihm die Vorfahrt genommen hatte. Zweimal gab es eine Mordanklage, aber er wurde freigesprochen, nachdem mehrere Zeugen auf mysteriöse Weise verschwunden waren. Der Rest der Familie war klug genug, ihn nicht zu reizen. Wieso seine Mutter ihn geheiratet hatte, war Dawson unbegreiflich. Er nahm es ihr nicht übel, dass sie fortgelaufen war. Als Kind hätte er am liebsten ebenfalls die Flucht ergriffen. Mehr als einmal hatte er es versucht, aber vergeblich. Er machte seiner Mutter auch keine Vorwürfe, weil sie ihn nicht mitgenommen hatte. Die Männer der Familie Cole waren sehr besitzergreifend, was ihre Nachkommen anging, und Dawson zweifelte keinen Moment daran, dass sein Vater sie gnadenlos verfolgt hätte, um seinen Sohn zurückzuholen. Das hatte er ihm immer wieder versichert, und Dawson fragte ihn lieber nicht, was er getan hätte, wenn seine Mom ihn, den Sohn, nicht herausgerückt hätte. Er kannte die Antwort sowieso.
Wie viele Familienmitglieder lebten heute auf dem Gelände? Er wusste es nicht, aber als er von Oriental fortging, waren es außer seinem Vater und seinem Großvater noch vier Onkel, drei Tanten und sechzehn Cousins und Cousinen gewesen. Inzwischen waren diese natürlich längst erwachsen und hatten selbst Kinder. Nein, Dawson wollte das alles gar nicht so genau wissen. Er war in dieser Welt aufgewachsen, aber was für Oriental galt, das galt auch für die Coles: Er hatte nie richtig dazugehört. Vielleicht hatte es etwas mit seiner Mom zu tun, obwohl er sie ja gar nicht kannte, aber er war anders als die anderen. Seine Cousins gingen zwar in dieselbe Schule wie er, aber er war als Einziger nie in Schlägereien verwickelt, bekam gute Noten, nahm keine Drogen, trank keinen Alkohol,
und er war auch nicht dabei, wenn sie abends mit dem Auto durch die Straßen fuhren, um die Innenstadt aufzumischen. Meistens gab er als Begründung an, er müsse die Destille beaufsichtigen. Oder helfen, einen Wagen auseinanderzunehmen, den irgendein Familienmitglied gestohlen hatte. Er verhielt sich immer möglichst zurückhaltend und bemühte sich, nirgends groß aufzufallen.
Doch es war eine Gratwanderung. Die Coles waren zwar eine kriminelle Sippe, aber dumm waren sie deshalb noch lange nicht. Dawson wusste intuitiv, dass er sein Anderssein verbergen musste, so gut es nur ging. Er war wahrscheinlich der einzige Junge in der Geschichte der Schule, der vor einer Klassenarbeit besonders viel lernte, um dann absichtlich eine schlechte Note zu schreiben, und der sein Zeugnis fälschte, damit es nicht so gut aussah, wie es eigentlich war. Er entwickelte Strategien, wie er eine Bierdose heimlich ausleeren konnte, wenn die anderen gerade nicht hinschauten, indem er sie mit einem Messer anstach. Und wenn er die Arbeit als Ausrede benutzte, um nicht mit seinen Cousins losziehen zu müssen, schuftete er oft bis spät in die Nacht. Eine Weile lang funktionierten diese Methoden, aber mit der Zeit bekam die Fassade Risse. Einer seiner Lehrer erwähnte zum Beispiel gegenüber einem Trinkkumpan seines Vaters, dass Dawson der beste Schüler seines Jahrgangs sei. Tanten und Onkel registrierten, dass er als Einziger der Familie nicht mit dem Gesetz in Konflikt kam. In einer Familie, für die Loyalität und Konformität die höchsten Werte waren, galt so etwas als Todsünde.
Besonders sein Vater war deswegen richtig sauer. Er hatte seinen Sohn schon immer geschlagen, seit seiner frühesten Kindheit - am liebsten mit dem Gürtel oder mit einem Riemen. Aber als Dawson zwölf wurde, ging sein Vater noch methodischer vor. Er schlug ihn, bis Rücken und Brust schwarz und blau waren, und kam dann eine Stunde später wieder, um sich den Beinen und dem Gesicht zu widmen. Die Lehrer wussten genau, was in dieser Familie los war, aber sie sagten nichts, weil sie Angst um ihre eigenen Angehörigen hatten. Wenn der Sheriff Dawson auf dem Heimweg von der Schule begegnete, tat er so, als würde er die blauen Flecken und Striemen nicht bemerken. Die Mitglieder der Familie Cole fanden das alles eh völlig normal. Abee und Crazy Ted, Dawsons ältere Cousins, fielen mehr als einmal über ihn her und verprügelten ihn mindestens so gemein wie sein Vater - Abee, weil er fand, dass Dawson es verdient hatte, Crazy Ted einfach so, ohne jeden Grund. Abee war groß und kräftig und hatte Fäuste wie Bärentatzen. Er war gewalttätig und unbeherrscht, aber klüger, als man dachte. Crazy Ted hingegen war einfach nur brutal. Schon im Kindergarten griff er einen anderen Jungen mit einem spitzen Bleistift an, als die beiden sich um einen Schokoriegel stritten, und ehe er in der fünften Klasse aus der Schule ausgeschlossen wurde, hatte er einen seiner Mitschüler krankenhausreif geschlagen. Es hieß, er habe einen Junkie umgebracht, als er noch keine zwanzig war. Dawson kam zu der Überzeugung, dass es besser war, sich gar nicht gegen ihn zu wehren, und lernte stattdessen, wie er sich gegen die Schläge schützen konnte, bis seine Cousins die Aktion langweilig fanden oder müde wurden - oder beides.
Er stieg allerdings nicht in die Familiengeschäfte ein und gab deutlich zu verstehen, dass er dies nie tun werde.
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Übersetzung: Adelheid Zöfel
Copyright © 2012 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Nicholas Sparks
Nicholas Sparks, geb. 1965 in Nebraska, lebt mit seiner Frau und den fünf Kindern in North Carolina. Mit seinen gefühlvollen Romanen, die ausnahmslos die Bestsellerlisten eroberten und weltweit in 46 Ländern erscheinen, gilt Sparks als einer der meistgelesenen Autoren der Welt. Mehrere seiner Bestseller wurden erfolgreich verfilmt.Adelheid Zöfel lebt und übersetzt in Freiburg im Breisgau. Zu den von ihr übersetzten Autoren gehören u.a. Marisha Pessl, Chuck Klosterman, David Gilmour, Janice Deaner und Louise Erdrich.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nicholas Sparks
- 2012, 399 Seiten, Maße: 13,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Zöfel, Adelheid
- Übersetzer: Adelheid Zöfel
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453266846
- ISBN-13: 9783453266841
Rezension zu „Mein Weg zu dir “
"Sparks trifft auch in seinem neuen Roman seine Leser ganz tief in ihrem Inneren, in dem die Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit schlummert. Es ist ein Buch, mit dem man sich auf das Sofa kuscheln und in eine Welt fern der Realität träumen kann."
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