Die Entscheidung / Nightshade Bd.3
Roman. Deutsche Erstausgabe
Für die Gestaltwandlerin Calla Tor wird die Welt nie wieder sein, wie sie war. Sie hat alles daran gesetzt, ihr Rudel aus der Sklaverei zu befreien. Doch nach allem Schmerz, den sie erfahren musste, hat sie der Verrat ihres kleinen Bruders Ansel am tiefsten...
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Produktinformationen zu „Die Entscheidung / Nightshade Bd.3 “
Klappentext zu „Die Entscheidung / Nightshade Bd.3 “
Für die Gestaltwandlerin Calla Tor wird die Welt nie wieder sein, wie sie war. Sie hat alles daran gesetzt, ihr Rudel aus der Sklaverei zu befreien. Doch nach allem Schmerz, den sie erfahren musste, hat sie der Verrat ihres kleinen Bruders Ansel am tiefsten getroffen. Doch Calla ist entschlossen nicht aufzugeben und die grausamen Magier ein für alle Mal unschädlich zu machen.
Lese-Probe zu „Die Entscheidung / Nightshade Bd.3 “
Nightshade - Die Entscheidung von Andrea CremerKAPITEL 1
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Ich konnte jeden schweren Schlag meines Herzens hören. Das Geräusch schien von den Adern meines Körpers aus den ganzen Raum zwischen dem schimmernden Portal und dem dunklen Haus auszufüllen. Er war da, ohne jeden Zweifel. Obwohl ich ihn weder sehen noch den leisesten Anflug seines warmen, rauchigen Duftes wahrnehmen konnte, wusste ich, dass er da war. Und auf mich wartete. Aber warum? Warum sollte Ren an diesen einsamen Ort kommen?
Mein Blick wanderte über die Schatten, die jedes Mal tanzten, wenn Wolken über den Mond glitten. Sie weckten ungute Erinnerungen an die Larven. Ich schaute zum Himmel auf, damit ich weder das fertige Haus auf dem Hügel noch die übrigen Bauplätze mit den unvollendeten Rohbauten anzusehen brauchte. Hier war die Zeit stehen geblieben. Der Berghang, den man für eine Sackgasse und einen Ring aus Häusern gerodet hatte, raunte von einer unerreichbaren Vergangenheit. Die weitläufige Haldissiedlung - oder was die Haldissiedlung hätte werden sollen - lag vor mir. Sie war für das Rudel geplant worden, das Ren und ich zusammen angeführt hätten. Sie hätte unsere Wolfshöhle sein sollen. Unser Zuhause.Ich wandte mich zu Adne um und versuchte, mein Schaudern zu verbergen. »Bleib außer Sicht. Wenn es ein Problem gibt, wirst du mich hören, und wenn ich angerannt komme, öffnest du ganz schnell ein Portal. Egal, was passiert, komm mich nicht suchen.« »Abgemacht«, sagte sie und zog sich auch schon Richtung Wald zurück. »Danke, Calla.«
Ich nickte, bevor ich Wolfsgestalt annahm. Adne verschwand in der Dunkelheit. Als ich mir sicher war, dass niemand sie entdecken konnte, schlich ich mich an das Haus heran. Die Fenster waren dunkel, das Gebäude lag still da. Es schien verlassen, aber ich wusste, dass dem nicht so war. Ich hielt die Schnauze gesenkt und versuchte, Witterung aufzunehmen. Vom Portal aus Richtung Siedlung hatten wir den Wind im Rücken, und ich fühlte mich verletzlich. Ich würde jeden, der sich im Schleier der Nacht versteckte, erst aus nächster Nähe wahrnehmen können. Meine Ohren zuckten und horchten wachsam auf ein Anzeichen von Leben. Doch es gab keins. Keine Kaninchen, die im Unterholz Deckung suchten, keine Nachtvögel, die am Himmel flatterten. Dieser Ort war nicht nur verlassen, er wirkte verflucht, so als wage nichts, sich innerhalb der Grenzen der Lichtung zu bewegen.
Ich beschleunigte das Tempo, überwand die Entfernung zum Haus und sprang über Schneewehen. Meine Krallen kratzten über gefrorene Eisbahnen auf dem Pflaster. Als ich die Vordertreppe erreichte, blieb ich stehen, um am Boden zu schnuppern. Mein Blick folgte frischen Pfotenabdrücken, die zu Stiefelspuren wurden und die Treppe hinaufführten. Rens Duft war scharf und frisch. Er musste erst kurze Zeit vor uns eingetroffen sein. Langsam schlich ich die Veranda hinauf und wechselte die Gestalt, um die Fliegentür zu öffnen. Dann drehte ich vorsichtig den Türknauf. Das Haus war unverschlossen. Ich ließ die Tür aufschwingen, die nur ein leises Knarren von sich gab. Ich schlüpfte hinein, schloss sie und drehte den Riegel. Falls mir jemand gefolgt war, wollte ich vor seinem Eintreffen gewarnt werden. Ich nahm wieder Wolfsgestalt an, als ich mich durch den vorderen Flur bewegte, und folgte Rens Duftspur zur Haupttreppe. Ich versuchte, nicht zusammenzuzucken, als ich an der Esszimmertür vorbeikam. Ein schöner Eichentisch, wahrscheinlich antik, umringt von Stühlen. Vier auf jeder Seite, einer am Kopfende und einer am Fußende. Zehn. Es war nicht schwer, sich dort Mahlzeiten vorzustellen. Mit unserem Rudel.
Langsam stieg ich die Treppe hinauf und wünschte, meine Krallen würden auf dem Parkett nicht so laut kratzen. Als ich im Obergeschoss angelangt war, hielt ich inne und lauschte. Das Haus antwortete nur mit Schweigen. Immer noch auf Rens Spur kam ich an drei Kinderzimmern und einem Bad vorbei, bevor ich die Tür am Ende des Flurs
erreichte. Das Herz wollte mir schier aus der Brust springen, als ich das Hauptschlafzimmer erreichte. Ich trat ein und blieb nach wenigen Schritten stehen. Mondlicht fiel durch die hohen Erkerfenster auf das Himmelbett, auf dem sich Satinkissen stapelten. Es war mit Jacquardstoff verhängt und hatte an jeder Ecke einen hohen Ebenholzpfosten. Passende Kleiderschränke standen an der einen Wand. An der anderen, dem Bett gegenüber, befanden sich ein Schminktisch mit Spiegel und ein kleines Sofa. Rens Geruch war überall. Der Rauch von abgelagertem Holz, der unter einem kühlen Herbsthimmel hing, das weiche Aroma von abgenutztem Leder, der verführerische Duft von Sandelholz. Ich schloss die Augen, ließ seinen Geruch über mich hinwegströmen und die Erinnerungen wieder aufsteigen. Es dauerte einen Moment, bevor ich mein Nackenfell schütteln konnte, dann verscheuchte ich die Vergangenheit und versuchte mich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Ren lag zusammengerollt auf dem Fenstersitz, teils im Mondlicht, teils im Schatten. Völlig reglos, den Kopf auf die Pfoten gebettet. Und er starrte mich an.
Für eine gefühlte Ewigkeit verharrten wir in dieser Position und ließen die Augen nicht voneinander. Schließlich zwang ich mich, einen Schritt vorwärtszumachen. Sein Kopf fuhr hoch, und sein Fell sträubte sich. Ich hörte sein leises, drohendes Knurren. Ich hielt inne und kämpfte gegen den Drang, ihn meinerseits anzuknurren.
Immer noch grollend stand er auf und begann, unter dem Fenster auf und ab zu laufen. Ich ging noch einen Schritt nach vorne. Seine Reißzähne blitzten auf, als er eine Warnung bellte. Ich senkte den Kopf, denn ich wollte kein Zeichen der Aggression aussenden. Es spielte keine Rolle. Rens Muskeln spannten sich an; dann sprang er mich an und warf mich auf die Seite. Ich jaulte auf, als wir über den Holzboden rutschten. Als ich mich wegrollte, schnappten seine Kiefer direkt über meiner Schulter nach mir. Ich rappelte mich hoch und wich aus, als er von Neuem angriff. Dann spürte ich die Wärme seines Atems und seine Reißzähne, die über meine Flanke strichen. Ich wirbelte herum, knurrte, stellte mich vor ihn und wappnete mich gegen seinen nächsten Angriff. Als er zum dritten Mal auf mich losging und seine Zähne nicht in mein Fleisch drangen, begriff ich, was hier vorging. Ren wollte mich nicht angreifen. Er versuchte nur, mich zu verscheuchen. Ich straffte die Schultern und bellte ihn an. Hör auf!
Ich sah in seine dunklen, glühenden Augen. Warum willst du nicht gegen mich kämpfen? Er bleckte die Zähne. Ich behielt ihn im Blick und drehte mich langsam im Kreis, während er um mich herumstolzierte. Ich bin nicht hergekommen, um zu kämpfen. Als er diesmal lossprang, bewegte ich mich nicht. Seine Schnauze war nur Zentimeter von meiner entfernt, und er knurrte, aber ich wich nicht zurück. Du solltest nicht hier sein, wenn du nicht bereit bist zu kämpfen. Ich bin immer bereit zu kämpfen. Nun zeigte ich ihm die Zähne. Aber das bedeutet nicht, dass ich es will. Allmählich verklang sein Grollen. Er senkte den Kopf, wandte sich von mir ab und ging zurück zum Fenster, wo er in den Himmel starrte. Du solltest nicht hier sein. Ich weiß. Ich tappte zu ihm hinüber. Du auch nicht.
Als er sich zu mir umdrehte, nahm ich Menschengestalt an. Der dunkelgraue Wolf blinzelte, und dann stand Ren vor mir und schaute auf mich herab. »Warum bist du hier?« »Das Gleiche könnte ich dich fragen«, sagte ich und biss mir auf die Lippe. Ich war nicht hierhergekommen, weil er sich die Zeit in einem leeren Haus vertrieb, das für uns gebaut worden war. In diesem Raum zu stehen, auf diesem Berg, in diesem Haus - alles erschien so, als ginge es dabei um uns. Ich konnte mich kaum an die Außenwelt erinnern. An die Sucher. Den Krieg. Seine Augen blitzten, aber dann wurden sie leer. »Man kann hier gut allein sein.« »Es tut mir leid«, sagte ich. Die Worte fühlten sich wie Eis an in meiner Kehle.
»Was genau tut dir leid?« Sein Lächeln war rasiermesserscharf, und ich wand mich innerlich. »Alles.« Ich konnte ihn nicht ansehen, also ging ich durch den Raum, ließ meine Augen ziellos umherschweifen und bewegte mich an Möbeln mit leeren Schubladen vorbei. An einem Bett, in dem niemand schlafen würde.
»Alles«, wiederholte er. Am anderen Ende des Raumes, auf der anderen Seite des Bettes, drehte ich mich um und sah ihn an. »Ren, ich bin gekommen, um dir zu helfen. So muss es doch wirklich nicht sein.« »Ach nein?« »Du brauchst nicht hierzubleiben.« »Weshalb sollte ich gehen?«, fragte er. »Dies ist mein Zuhause.« Er strich mit den Fingern über die seidige Oberfläche der Bettwäsche. »Unser Zuhause.« »Nein, das ist es nicht.« Ich klammerte mich an einen der Bettpfosten. »Wir haben uns das hier nicht ausgesucht; das haben andere für uns getan.« »Du hast es dir nicht ausgesucht.« Er kam um das Bett herum. »Ich dachte, wir würden hier ein gutes Leben haben.« »Vielleicht.« Ich grub die Nägel in den Holzlack. »Aber es war im Grunde keine Entscheidung. Selbst wenn es vielleicht gut geworden wäre.« »Du hast es doch nie gewollt, oder?« Er hatte die Hände an seinen Seiten zu Fäusten geballt. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich. Mein Herz schlug zu schnell. »Ich habe mich nie gefragt, was ich wollte.« »Warum bist du dann weggelaufen?« »Du weißt, warum«, sagte ich leise. »Seinetwegen«, knurrte er, dann packte er ein Kissen und schleuderte es durch den Raum. Ich trat zurück und zwang mich, ruhig zu sprechen.
»So einfach ist das nicht«, erklärte ich. Sobald er Shay erwähnt hatte, regte sich etwas in mir. Ich war noch immer traurig, fühlte mich aber stärker. Shay hatte nicht nur meinen Lebensweg verändert. Er hatte mich verändert. Nein, nicht verändert. Er hatte mir geholfen, für mein wahres Ich zu kämpfen. Jetzt war ich an der Reihe, Ren zu helfen, das Gleiche zu tun. »Ach nein?« Er funkelte mich wütend an.
»Hättest du ihn töten können?«, fragte ich und hielt Rens Blick stand. »Ist das die Art, wie du ein neues Leben mit mir beginnen wolltest?« Ein Teil von mir wollte die Antwort gar nicht wissen. Konnte er wirklich Shays Tod gewollt haben? Wenn ich mich in Bezug auf Ren irrte, war es ein schrecklicher Fehler, hierhergekommen zu sein. Wir würden kämpfen, und ich würde ihn töten müssen. Oder er würde mich töten. Er bleckte seine scharfen Eckzähne, aber dann seufzte er. »Natürlich nicht.« Ich ging langsam um das Bett herum. »Das ist das einzige Leben, das sie uns geboten hätten. Die Leute zu töten, die Hilfe brauchen.« Er beobachtete, wie ich näher kam, blieb jedoch wie versteinert. »Die Hüter sind der Feind, Ren«, sagte ich. »Wir haben in diesem Krieg auf der falschen Seite gekämpft.« »Wie kannst du dir so sicher sein?« »Ich kenne jetzt die Sucher«, erwiderte ich. »Ich vertraue ihnen. Sie haben mir geholfen, unser Rudel zu retten.« Sein Lächeln war hart. »Einen Teil davon.« »Die anderen haben sich entschieden.«
»Und ich habe das nicht getan?« Seine Augen waren dunkel wie Obsidian und wütend. Aber ich glaubte nicht, dass sein Zorn sich gegen mich richtete. Als ich für einen Moment die Augen schloss, außerstande, das tiefe Bedauern in Rens Blick zu ertragen, befand ich mich wieder in Vail, in einer Zelle tief unter dem Eden. Ich erinnerte mich an die Verzweiflung in Rens Stimme, an meine eigene Furcht. »Sie haben gesagt, ich müsste es tun.«
»Was musst du tun?« »Dich brechen.« Ich schauderte, als die Erinnerung daran, wie ich gegen die Wand gekracht war und das Blut in meinem Mund geschmeckt hatte, wieder hochkam. Dann zwang ich mich, in den Raum zurückzukehren, fing Rens leicht angewiderte Miene auf und wusste, dass er im Geiste am selben Ort gewesen war. Ich schluckte und verschränkte die Hände, damit sie nicht zitterten. »Ich hoffe, du hast es nicht getan.« Er antwortete nicht, sah mich aber an. »Ich glaube nicht, dass du mir wehtun wolltest«, begann ich. »Und ich denke nicht, dass du es getan hättest, selbst wenn Monroe nicht ...« Die Worte erstarben mir im Mund. Es war die Wahrheit, aber das löschte die Erinnerung nicht aus. Das Grauen dieses Augenblicks hatte sich in meine Knochen eingemeißelt. »Ich hätte es nicht getan«, flüsterte Ren. Ich nickte, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich es glaubte. Doch jetzt musste ich ihn vor allem von hier fortbringen, fort von einer Welt, die ihn zu jemandem verbogen hatte, der mir wehtun konnte. Er hob seine Hand, als wolle er meine Wange berühren, ließ sie dann aber wieder sinken. »Haben die Sucher dich geschickt, um mich zu finden?« »Mehr oder weniger.« Seine Brauen schossen in die Höhe. »Monroe wollte dich finden«, fügte ich hinzu. Ren biss die Zähne zusammen. »Der Mann, den mein - der Mann, den Emile getötet hat.« Mir fiel auf, wie er sich gebremst hatte. Er wollte Emile nicht seinen Vater nennen. »Ren.« Ich nahm seine Hand. »Weißt du Bescheid?« Seine Finger drückten meine. »Ist es wahr? Hat Emile meine Mutter getötet?« Ich nickte und spürte, wie mir die Tränen aus den Augen liefen. Er zog die Hand weg, krallte die Finger in seine dunklen Haare
und drückte die Hände gegen die Schläfen. Seine Schultern zitterten. »Es tut mir so leid.«
»Dieser Mann.« Rens Stimme brach. »Dieser Mann, Monroe. Er war mein echter Vater, nicht wahr?« Ich ließ ihn nicht aus den Augen und fragte mich, wie er sich das alles zusammen gereimt hatte. »Woher hast du es gewusst?« Zwischen dem Kampf in den Tiefen des Eden und diesem angespannten Augenblick, in dem ich dastand und Ren ansah, war nicht viel Zeit verstrichen. Ich kannte ihn, seit wir beide Welpen waren, aber ich hatte das Gefühl, als seien wir in den letzten vierundzwanzig Stunden um Jahrzehnte gealtert.
© 2012 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Ich konnte jeden schweren Schlag meines Herzens hören. Das Geräusch schien von den Adern meines Körpers aus den ganzen Raum zwischen dem schimmernden Portal und dem dunklen Haus auszufüllen. Er war da, ohne jeden Zweifel. Obwohl ich ihn weder sehen noch den leisesten Anflug seines warmen, rauchigen Duftes wahrnehmen konnte, wusste ich, dass er da war. Und auf mich wartete. Aber warum? Warum sollte Ren an diesen einsamen Ort kommen?
Mein Blick wanderte über die Schatten, die jedes Mal tanzten, wenn Wolken über den Mond glitten. Sie weckten ungute Erinnerungen an die Larven. Ich schaute zum Himmel auf, damit ich weder das fertige Haus auf dem Hügel noch die übrigen Bauplätze mit den unvollendeten Rohbauten anzusehen brauchte. Hier war die Zeit stehen geblieben. Der Berghang, den man für eine Sackgasse und einen Ring aus Häusern gerodet hatte, raunte von einer unerreichbaren Vergangenheit. Die weitläufige Haldissiedlung - oder was die Haldissiedlung hätte werden sollen - lag vor mir. Sie war für das Rudel geplant worden, das Ren und ich zusammen angeführt hätten. Sie hätte unsere Wolfshöhle sein sollen. Unser Zuhause.Ich wandte mich zu Adne um und versuchte, mein Schaudern zu verbergen. »Bleib außer Sicht. Wenn es ein Problem gibt, wirst du mich hören, und wenn ich angerannt komme, öffnest du ganz schnell ein Portal. Egal, was passiert, komm mich nicht suchen.« »Abgemacht«, sagte sie und zog sich auch schon Richtung Wald zurück. »Danke, Calla.«
Ich nickte, bevor ich Wolfsgestalt annahm. Adne verschwand in der Dunkelheit. Als ich mir sicher war, dass niemand sie entdecken konnte, schlich ich mich an das Haus heran. Die Fenster waren dunkel, das Gebäude lag still da. Es schien verlassen, aber ich wusste, dass dem nicht so war. Ich hielt die Schnauze gesenkt und versuchte, Witterung aufzunehmen. Vom Portal aus Richtung Siedlung hatten wir den Wind im Rücken, und ich fühlte mich verletzlich. Ich würde jeden, der sich im Schleier der Nacht versteckte, erst aus nächster Nähe wahrnehmen können. Meine Ohren zuckten und horchten wachsam auf ein Anzeichen von Leben. Doch es gab keins. Keine Kaninchen, die im Unterholz Deckung suchten, keine Nachtvögel, die am Himmel flatterten. Dieser Ort war nicht nur verlassen, er wirkte verflucht, so als wage nichts, sich innerhalb der Grenzen der Lichtung zu bewegen.
Ich beschleunigte das Tempo, überwand die Entfernung zum Haus und sprang über Schneewehen. Meine Krallen kratzten über gefrorene Eisbahnen auf dem Pflaster. Als ich die Vordertreppe erreichte, blieb ich stehen, um am Boden zu schnuppern. Mein Blick folgte frischen Pfotenabdrücken, die zu Stiefelspuren wurden und die Treppe hinaufführten. Rens Duft war scharf und frisch. Er musste erst kurze Zeit vor uns eingetroffen sein. Langsam schlich ich die Veranda hinauf und wechselte die Gestalt, um die Fliegentür zu öffnen. Dann drehte ich vorsichtig den Türknauf. Das Haus war unverschlossen. Ich ließ die Tür aufschwingen, die nur ein leises Knarren von sich gab. Ich schlüpfte hinein, schloss sie und drehte den Riegel. Falls mir jemand gefolgt war, wollte ich vor seinem Eintreffen gewarnt werden. Ich nahm wieder Wolfsgestalt an, als ich mich durch den vorderen Flur bewegte, und folgte Rens Duftspur zur Haupttreppe. Ich versuchte, nicht zusammenzuzucken, als ich an der Esszimmertür vorbeikam. Ein schöner Eichentisch, wahrscheinlich antik, umringt von Stühlen. Vier auf jeder Seite, einer am Kopfende und einer am Fußende. Zehn. Es war nicht schwer, sich dort Mahlzeiten vorzustellen. Mit unserem Rudel.
Langsam stieg ich die Treppe hinauf und wünschte, meine Krallen würden auf dem Parkett nicht so laut kratzen. Als ich im Obergeschoss angelangt war, hielt ich inne und lauschte. Das Haus antwortete nur mit Schweigen. Immer noch auf Rens Spur kam ich an drei Kinderzimmern und einem Bad vorbei, bevor ich die Tür am Ende des Flurs
erreichte. Das Herz wollte mir schier aus der Brust springen, als ich das Hauptschlafzimmer erreichte. Ich trat ein und blieb nach wenigen Schritten stehen. Mondlicht fiel durch die hohen Erkerfenster auf das Himmelbett, auf dem sich Satinkissen stapelten. Es war mit Jacquardstoff verhängt und hatte an jeder Ecke einen hohen Ebenholzpfosten. Passende Kleiderschränke standen an der einen Wand. An der anderen, dem Bett gegenüber, befanden sich ein Schminktisch mit Spiegel und ein kleines Sofa. Rens Geruch war überall. Der Rauch von abgelagertem Holz, der unter einem kühlen Herbsthimmel hing, das weiche Aroma von abgenutztem Leder, der verführerische Duft von Sandelholz. Ich schloss die Augen, ließ seinen Geruch über mich hinwegströmen und die Erinnerungen wieder aufsteigen. Es dauerte einen Moment, bevor ich mein Nackenfell schütteln konnte, dann verscheuchte ich die Vergangenheit und versuchte mich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Ren lag zusammengerollt auf dem Fenstersitz, teils im Mondlicht, teils im Schatten. Völlig reglos, den Kopf auf die Pfoten gebettet. Und er starrte mich an.
Für eine gefühlte Ewigkeit verharrten wir in dieser Position und ließen die Augen nicht voneinander. Schließlich zwang ich mich, einen Schritt vorwärtszumachen. Sein Kopf fuhr hoch, und sein Fell sträubte sich. Ich hörte sein leises, drohendes Knurren. Ich hielt inne und kämpfte gegen den Drang, ihn meinerseits anzuknurren.
Immer noch grollend stand er auf und begann, unter dem Fenster auf und ab zu laufen. Ich ging noch einen Schritt nach vorne. Seine Reißzähne blitzten auf, als er eine Warnung bellte. Ich senkte den Kopf, denn ich wollte kein Zeichen der Aggression aussenden. Es spielte keine Rolle. Rens Muskeln spannten sich an; dann sprang er mich an und warf mich auf die Seite. Ich jaulte auf, als wir über den Holzboden rutschten. Als ich mich wegrollte, schnappten seine Kiefer direkt über meiner Schulter nach mir. Ich rappelte mich hoch und wich aus, als er von Neuem angriff. Dann spürte ich die Wärme seines Atems und seine Reißzähne, die über meine Flanke strichen. Ich wirbelte herum, knurrte, stellte mich vor ihn und wappnete mich gegen seinen nächsten Angriff. Als er zum dritten Mal auf mich losging und seine Zähne nicht in mein Fleisch drangen, begriff ich, was hier vorging. Ren wollte mich nicht angreifen. Er versuchte nur, mich zu verscheuchen. Ich straffte die Schultern und bellte ihn an. Hör auf!
Ich sah in seine dunklen, glühenden Augen. Warum willst du nicht gegen mich kämpfen? Er bleckte die Zähne. Ich behielt ihn im Blick und drehte mich langsam im Kreis, während er um mich herumstolzierte. Ich bin nicht hergekommen, um zu kämpfen. Als er diesmal lossprang, bewegte ich mich nicht. Seine Schnauze war nur Zentimeter von meiner entfernt, und er knurrte, aber ich wich nicht zurück. Du solltest nicht hier sein, wenn du nicht bereit bist zu kämpfen. Ich bin immer bereit zu kämpfen. Nun zeigte ich ihm die Zähne. Aber das bedeutet nicht, dass ich es will. Allmählich verklang sein Grollen. Er senkte den Kopf, wandte sich von mir ab und ging zurück zum Fenster, wo er in den Himmel starrte. Du solltest nicht hier sein. Ich weiß. Ich tappte zu ihm hinüber. Du auch nicht.
Als er sich zu mir umdrehte, nahm ich Menschengestalt an. Der dunkelgraue Wolf blinzelte, und dann stand Ren vor mir und schaute auf mich herab. »Warum bist du hier?« »Das Gleiche könnte ich dich fragen«, sagte ich und biss mir auf die Lippe. Ich war nicht hierhergekommen, weil er sich die Zeit in einem leeren Haus vertrieb, das für uns gebaut worden war. In diesem Raum zu stehen, auf diesem Berg, in diesem Haus - alles erschien so, als ginge es dabei um uns. Ich konnte mich kaum an die Außenwelt erinnern. An die Sucher. Den Krieg. Seine Augen blitzten, aber dann wurden sie leer. »Man kann hier gut allein sein.« »Es tut mir leid«, sagte ich. Die Worte fühlten sich wie Eis an in meiner Kehle.
»Was genau tut dir leid?« Sein Lächeln war rasiermesserscharf, und ich wand mich innerlich. »Alles.« Ich konnte ihn nicht ansehen, also ging ich durch den Raum, ließ meine Augen ziellos umherschweifen und bewegte mich an Möbeln mit leeren Schubladen vorbei. An einem Bett, in dem niemand schlafen würde.
»Alles«, wiederholte er. Am anderen Ende des Raumes, auf der anderen Seite des Bettes, drehte ich mich um und sah ihn an. »Ren, ich bin gekommen, um dir zu helfen. So muss es doch wirklich nicht sein.« »Ach nein?« »Du brauchst nicht hierzubleiben.« »Weshalb sollte ich gehen?«, fragte er. »Dies ist mein Zuhause.« Er strich mit den Fingern über die seidige Oberfläche der Bettwäsche. »Unser Zuhause.« »Nein, das ist es nicht.« Ich klammerte mich an einen der Bettpfosten. »Wir haben uns das hier nicht ausgesucht; das haben andere für uns getan.« »Du hast es dir nicht ausgesucht.« Er kam um das Bett herum. »Ich dachte, wir würden hier ein gutes Leben haben.« »Vielleicht.« Ich grub die Nägel in den Holzlack. »Aber es war im Grunde keine Entscheidung. Selbst wenn es vielleicht gut geworden wäre.« »Du hast es doch nie gewollt, oder?« Er hatte die Hände an seinen Seiten zu Fäusten geballt. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich. Mein Herz schlug zu schnell. »Ich habe mich nie gefragt, was ich wollte.« »Warum bist du dann weggelaufen?« »Du weißt, warum«, sagte ich leise. »Seinetwegen«, knurrte er, dann packte er ein Kissen und schleuderte es durch den Raum. Ich trat zurück und zwang mich, ruhig zu sprechen.
»So einfach ist das nicht«, erklärte ich. Sobald er Shay erwähnt hatte, regte sich etwas in mir. Ich war noch immer traurig, fühlte mich aber stärker. Shay hatte nicht nur meinen Lebensweg verändert. Er hatte mich verändert. Nein, nicht verändert. Er hatte mir geholfen, für mein wahres Ich zu kämpfen. Jetzt war ich an der Reihe, Ren zu helfen, das Gleiche zu tun. »Ach nein?« Er funkelte mich wütend an.
»Hättest du ihn töten können?«, fragte ich und hielt Rens Blick stand. »Ist das die Art, wie du ein neues Leben mit mir beginnen wolltest?« Ein Teil von mir wollte die Antwort gar nicht wissen. Konnte er wirklich Shays Tod gewollt haben? Wenn ich mich in Bezug auf Ren irrte, war es ein schrecklicher Fehler, hierhergekommen zu sein. Wir würden kämpfen, und ich würde ihn töten müssen. Oder er würde mich töten. Er bleckte seine scharfen Eckzähne, aber dann seufzte er. »Natürlich nicht.« Ich ging langsam um das Bett herum. »Das ist das einzige Leben, das sie uns geboten hätten. Die Leute zu töten, die Hilfe brauchen.« Er beobachtete, wie ich näher kam, blieb jedoch wie versteinert. »Die Hüter sind der Feind, Ren«, sagte ich. »Wir haben in diesem Krieg auf der falschen Seite gekämpft.« »Wie kannst du dir so sicher sein?« »Ich kenne jetzt die Sucher«, erwiderte ich. »Ich vertraue ihnen. Sie haben mir geholfen, unser Rudel zu retten.« Sein Lächeln war hart. »Einen Teil davon.« »Die anderen haben sich entschieden.«
»Und ich habe das nicht getan?« Seine Augen waren dunkel wie Obsidian und wütend. Aber ich glaubte nicht, dass sein Zorn sich gegen mich richtete. Als ich für einen Moment die Augen schloss, außerstande, das tiefe Bedauern in Rens Blick zu ertragen, befand ich mich wieder in Vail, in einer Zelle tief unter dem Eden. Ich erinnerte mich an die Verzweiflung in Rens Stimme, an meine eigene Furcht. »Sie haben gesagt, ich müsste es tun.«
»Was musst du tun?« »Dich brechen.« Ich schauderte, als die Erinnerung daran, wie ich gegen die Wand gekracht war und das Blut in meinem Mund geschmeckt hatte, wieder hochkam. Dann zwang ich mich, in den Raum zurückzukehren, fing Rens leicht angewiderte Miene auf und wusste, dass er im Geiste am selben Ort gewesen war. Ich schluckte und verschränkte die Hände, damit sie nicht zitterten. »Ich hoffe, du hast es nicht getan.« Er antwortete nicht, sah mich aber an. »Ich glaube nicht, dass du mir wehtun wolltest«, begann ich. »Und ich denke nicht, dass du es getan hättest, selbst wenn Monroe nicht ...« Die Worte erstarben mir im Mund. Es war die Wahrheit, aber das löschte die Erinnerung nicht aus. Das Grauen dieses Augenblicks hatte sich in meine Knochen eingemeißelt. »Ich hätte es nicht getan«, flüsterte Ren. Ich nickte, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich es glaubte. Doch jetzt musste ich ihn vor allem von hier fortbringen, fort von einer Welt, die ihn zu jemandem verbogen hatte, der mir wehtun konnte. Er hob seine Hand, als wolle er meine Wange berühren, ließ sie dann aber wieder sinken. »Haben die Sucher dich geschickt, um mich zu finden?« »Mehr oder weniger.« Seine Brauen schossen in die Höhe. »Monroe wollte dich finden«, fügte ich hinzu. Ren biss die Zähne zusammen. »Der Mann, den mein - der Mann, den Emile getötet hat.« Mir fiel auf, wie er sich gebremst hatte. Er wollte Emile nicht seinen Vater nennen. »Ren.« Ich nahm seine Hand. »Weißt du Bescheid?« Seine Finger drückten meine. »Ist es wahr? Hat Emile meine Mutter getötet?« Ich nickte und spürte, wie mir die Tränen aus den Augen liefen. Er zog die Hand weg, krallte die Finger in seine dunklen Haare
und drückte die Hände gegen die Schläfen. Seine Schultern zitterten. »Es tut mir so leid.«
»Dieser Mann.« Rens Stimme brach. »Dieser Mann, Monroe. Er war mein echter Vater, nicht wahr?« Ich ließ ihn nicht aus den Augen und fragte mich, wie er sich das alles zusammen gereimt hatte. »Woher hast du es gewusst?« Zwischen dem Kampf in den Tiefen des Eden und diesem angespannten Augenblick, in dem ich dastand und Ren ansah, war nicht viel Zeit verstrichen. Ich kannte ihn, seit wir beide Welpen waren, aber ich hatte das Gefühl, als seien wir in den letzten vierundzwanzig Stunden um Jahrzehnte gealtert.
© 2012 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
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Autoren-Porträt von Andrea Cremer
Wenn Andrea Cremer nicht schreibt, unterrichtet sie Geschichte an einem College in Minnesota. Sie liebt die Natur, starrt gern stundenlang in Baumkronen und versucht sich von weißen Teppichen fernzuhalten, da sie einen Hang hat, Dinge zu verschütten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrea Cremer
- 2012, 352 Seiten, Maße: 13,4 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übers.: Michaela Link
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802587871
- ISBN-13: 9783802587870
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