Schnitt
Psychothriller
Ein kleiner Junge wird Zeuge eines Mordes. Doch er kann nie darüber sprechen und vergisst. 30 Jahre lang. Bis seine Freundin einem Psychopathen in die Hände fällt. Jetzt muss er sich erinnern, denn nur dann kann die Frau gerettet werden....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Schnitt “
Ein kleiner Junge wird Zeuge eines Mordes. Doch er kann nie darüber sprechen und vergisst. 30 Jahre lang. Bis seine Freundin einem Psychopathen in die Hände fällt. Jetzt muss er sich erinnern, denn nur dann kann die Frau gerettet werden. Erinnern aber wäre sein eigenes Todesurteil.
Lese-Probe zu „Schnitt “
Schnitt von Marc RaabeProlog
Westberlin - 13. Oktober, 23:09 Uhr
Gabriel stand an der Türschwelle und starrte hinab. Das Licht aus dem Hausflur fiel die Kellertreppe hinunter und wurde von den Ziegelwänden verschluckt.
Er hasste den Keller, besonders nachts. Nicht etwa, dass es einen Unterschied gemacht hätte, ob es draußen hell oder dunkel war. Im Keller war es immer Nacht. Doch tagsüber konnte man nach oben flüchten, raus in den Garten, raus ins Licht. Nachts dagegen war es überall finster, auch draußen, und in jeder Ecke hockten Gespenster. Gespenster, die kein Erwachsener sehen konnte. Gespenster, die nur darauf warteten, einem elfjährigen Jungen die Klauen in den Nacken zu schlagen.
Trotzdem konnte er nicht anders, als gebannt nach unten zu starren, in den hinteren Teil des Kellers, wo das Licht verebbte.
Die Tür!
Sie war offen!
Ein schwarzer Spalt klaffte zwischen der dunkelgrauen Wand und der Tür. Dahinter lag das Labor, dunkel wie Darth Vaders Todesstern.
Sein Herz schlug bis zum Hals. Fahrig wischte Gabriel sich die feuchten Hände am Schlafanzug ab, seinem Lieblingsschlafanzug, dem mit Luke Skywalker von Star Wars auf der Brust.
Der schwarze hohe Türspalt zog ihn magisch an. Langsam setzte er seinen nackten Fuß auf die erste Stufe. Das Holz der Kellertreppe fühlte sich rau an und knarrte verräterisch. Doch er wusste, dass sie ihn nicht hören würden. Nicht solange sie stritten, hinter der verschlossenen Küchentür. Es war ein schlimmer Streit. Schlimmer als sonst. Und es jagte ihm Angst ein. Gut, dass David nicht dabei war, dachte er. Gut, dass er ihn in Sicherheit gebracht hatte. Sein kleiner Bruder hätte geweint.
... mehr
Und trotzdem wäre es jetzt gut, nicht allein zu sein, in diesem Keller, mit den Gespenstern. Gabriel schluckte. Der Spalt starrte ihn an wie ein Höllenschlund.
Sieh nach! Luke würde es auch tun.
Vater würde toben, wenn er ihn jetzt sehen könnte. Das Labor war Vaters Geheimnis, und es war gesichert wie eine Festung, mit einer Tür aus Metall und einem schwarz glänzenden Türspion. Niemand sonst hatte das Labor jemals gesehen. Selbst Mutter nicht.
Gabriels Fußsohlen berührten den nackten Betonboden des Kellers, und er schauderte. Erst die warmen Holzstufen und nun der kalte Stein.
Jetzt oder nie!
Plötzlich drang ein helles Knurren durch die Kellerdecke. Gabriel zuckte zusammen. Das Geräusch kam aus der Küche über ihm. Es klang, als wäre der Tisch über die Fliesen geschrammt. Für einen Moment überlegte er, ob er besser nach oben gehen sollte. Mutter war dort ganz alleine mit ihm, und Gabriel wusste, wie wütend er werden konnte.
Sein Blick flog zurück, zu der im Dunkeln schimmernden Tür. Eine solche Gelegenheit würde es vielleicht nie wieder geben.
Er hatte schon einmal hier gestanden, etwa zwei Jahre war das her. Damals hatte Vater vergessen, die obere Kellertür zu verriegeln. Gabriel war neun gewesen. Er hatte eine Weile im Hausflur gestanden und hinuntergespäht. Am Ende hatte die Neugier gesiegt. Auch damals war er die Treppe in den Keller hinuntergeschlichen, voller Angst wegen der Gespenster und trotzdem in völliger Dunkelheit, weil er es nicht wagte, das Licht einzuschalten.
Der Türspion hatte rot geglüht, wie das Auge eines Monsters.
Hals über Kopf war er wieder nach oben geflüchtet, zurück zu David ins Kinderzimmer, und in sein Bett gekrochen.
Jetzt war er elf. Jetzt stand er wieder hier unten, und das Monsterauge glühte nicht. Dennoch, der Türspion starrte ihn an, kalt und schwarz, wie ein totes Auge. Nur das bisschen Licht auf der Kellertreppe und er selbst spiegelten sich darin. Je näher er kam, desto größer wurde sein Gesicht.
Aber warum roch es hier eigentlich so widerlich?
Seine nackten Füße tasteten sich vor, und er trat in etwas Nasses, Breiiges. Kotze. Das war Kotze! Deshalb roch es hier so widerlich. Aber warum war ausgerechnet hier Kotze?
Er würgte den Ekel herunter und scheuerte sich den Fuß an einer trockenen Stelle des Betonbodens sauber. Trotzdem blieb etwas zwischen seinen Zehen kleben. Er hätte jetzt gerne ein Handtuch gehabt oder einen nassen Lappen, aber das Labor war wichtiger. Er streckte seine Hand vor, legte sie auf die Klinke, zog die schwere Metalltür ein wenig weiter auf und schob sich in die Dunkelheit. Eine unnatürliche Stille hüllte ihn ein.
Grabesstille.
In seine Nase stieg ein scharfer chemischer Geruch, wie im Filmkopierwerk, in das Vater ihn einmal nach einem seiner Drehtage mitgenommen hatte.
Sein Herz galoppierte. Viel zu schnell, viel zu laut. Er wünschte, er wäre woanders, bei David vielleicht, unter der Bettdecke.
Luke Skywalker würde sich niemals unter der Bettdecke verkriechen.
Die Finger seiner linken Hand suchten zitternd nach dem Lichtschalter, ständig darauf gefasst, etwas ganz anderes zu finden. Was, wenn sie hier waren, die Gespenster? Wenn sie seinen Arm packten? Wenn er ihnen aus Versehen ins Maul fasste und sie ihre Zähne zusammenschlugen?
Da! Kühles Plastik.
Er drückte den Schalter. Drei rote Lampen flammten auf und tauchten den Raum vor ihm in eine eigentümliche dunkelrote Glut.
Rot, wie im Bauch eines Monsters.
Ein Kribbeln stieg seinen Rücken empor, bis zu den Haarwurzeln. Er blieb an der Schwelle zum Labor stehen, irgendwie war da so etwas wie eine unsichtbare Grenze, die er nicht übertreten wollte. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, Einzelheiten zu erkennen.
Das Labor war größer, als er gedacht hatte, ein Schlauch, etwa drei Meter breit und sieben Meter tief. Direkt neben ihm hing ein schwerer Vorhang aus schwarzem Molton. Jemand hatte ihn hastig beiseitegerafft.
Unter der Betondecke waren Wäscheleinen gespannt, an denen Fotos hingen. Einige waren heruntergerissen worden und lagen auf dem Boden.
Auf der linken Seite stand ein Vergrößerer für Fotos. Rechts erstreckte sich ein Regal über die gesamte Wand, vollgepackt mit Geräten. Gabriels Augen weiteten sich. Die meisten der Geräte erkannte er sofort: Arri, Beaulieu, Leicina, und dazwischen noch andere, kleinere Kameras. Die Fachzeitschriften, die sich in Vaters Arbeitszimmer im ersten Geschoss stapelten, waren voll davon. Immer, wenn eine dieser Zeitschriften in den Müll gewandert war, hatte Gabriel sie herausgefischt, unter seinem Kopfkissen deponiert und abends unter der Decke im Taschenlampenschein gelesen, bis ihm die Augen zufielen.
Neben den Kameras lagen ein Dutzend Objektive, einige so lang wie Gewehrläufe; daneben kleinkalibrige Fotoapparate, Hüllen zum Dämpfen der Laufgeräusche der Kameras, 8- und 16-mm-Filmpatronen, ein Stapel aus drei VHS-Videorecordern mit vier Monitoren und zuletzt: zwei nagelneue Videocamcorder. Plastikbomber schimpfte Vater die Dinger immer. In einer der Zeitschriften hatte er gelesen, man könne mit der neuen Videotechnik fast zwei Stunden filmen, ohne die Kassette zu wechseln - einfach unglaublich! Dazu kam, dass die Plastikbomber nicht so ratterten wie Filmkameras, sondern geräuschlos liefen.
Gabriels Blick wanderte über die Schätze, seine Augen glänzten. Er wünschte, er könnte das alles hier David zeigen. Sofort bekam er ein schlechtes Gewissen. Schließlich war das hier gefährlich. Da durfte er David nicht mit hineinziehen. Außerdem hatte sein Bruder schon geschlafen. Es war richtig gewesen, die Tür vom Kinderzimmer abzuschließen.
Plötzlich polterte es laut. Erschrocken fuhr er herum. Doch da war niemand. Keine Eltern, kein Gespenst. Sie stritten wohl immer noch, oben in der Küche.
Er blickte zurück ins Labor, auf all die Schätze. Komm näher, schienen sie zu flüstern. Aber er stand immer noch an der Schwelle, neben dem Vorhang. Furcht kroch in ihm empor. Noch konnte er zurück. Er hatte das Labor ja jetzt gesehen, er musste es nicht auch noch betreten.
Elf! Du bist elf! Komm schon, sei kein Feigling.
Wie alt war eigentlich Luke?
Zögernd tat Gabriel zwei Schritte in den Raum.
Was waren das für Fotos? Er bückte sich, hob eins vom Boden auf und starrte auf das verwaschene grobkörnige Bild. Ein jähes Gefühl von Ekel und eine seltsame Erregung breiteten sich in seinem Unterleib aus. Er sah nach oben, auf die Fotos, die an der Wäscheleine hingen. Das Bild direkt über ihm zog seinen Blick an wie ein Magnet. Sein Kopf wurde heiß und rot, wie alles um ihn herum auch. Zugleich wurde ihm ein wenig übel. Es sah so echt aus, so ... oder waren das Schauspieler? Es sah aus wie im Film! Diese Säulen, die Mauern, wie im Mittelalter, und die schwarzen Kleider ...
Er riss sich los, und sein Blick sprang über die zerwühlte Ablage, das Regal und blieb schließlich an den modernen Videorecordern hängen, auf denen kleine JVC-Logos glitzerten. Der unterste davon war eingeschaltet. In seiner spiegelblanken Anzeige leuchteten Zahlen und Zeichen. Wie bei Star Wars, im Cockpit eines Raumschiffs, dachte er.
Gabriels Zeigefinger näherte sich wie von selbst den Tasten und drückte eine davon. Er zuckte zusammen, als es im Inneren des Gerätes laut klackte. Zweimal, dreimal, dann das Surren eines Motors. Eine Kassette! In dem Gerät steckte eine Kassette! Seine Stirn brannte. Fiebrig drückte er einen weiteren Knopf. Der JVC antwortete ratternd. Störstreifen zuckten über den Monitor neben den Videorecordern. Das Bild zappelte noch einen Moment, dann war es da. Diffus, mit flimmernden Farben, unwirklich, wie ein Fenster zu einer anderen Welt.
Unwillkürlich hatte Gabriel sich vorgebeugt - und zuckte jetzt zurück. Sein Mund wurde ganz trocken. Das gleiche Bild wie auf dem Foto! Der gleiche Ort, die gleichen Säulen, die gleichen Menschen, nur dass sie sich bewegten. Er wollte den Blick abwenden, aber es war unmöglich. Er sog die stickige Luft durch den offenstehenden Mund ein und hielt dann den Atem an, ohne es zu bemerken.
Wie ein Blitzlichtgewitter hämmerten die Bilder auf ihn ein, und er konnte nicht anders, als gebannt zuzusehen.
Der Schnitt durch den schwarzen Stoff des Kleides.
Das helle Dreieck auf der noch helleren Haut.
Die wirren langen blonden Haare.
Das Chaos.
Und dann noch ein Schnitt - eine wütende und scharfe Bewegung, die sich förmlich in Gabriels Eingeweide übertrug. Schlagartig war ihm übel, und alles drehte sich. Der Fernseher starrte ihn bösartig an. Zitternd fand er den Knopf.
Aus! Weg!
Mit einem dumpfen Fump stürzte das Bild in sich zusammen, als gäbe es im Monitor eins von diesen schwarzen Löchern, wie im Weltraum. Das Geräusch war schrecklich und zugleich beruhigend. Er starrte auf die dunkle Mattscheibe, in die Spiegelung seines eigenen, rot leuchtenden Gesichts. Ein Gespenst mit schreckgeweiteten Augen starrte zurück.
Nicht dran denken! Nur nicht dran denken ... Er starrte auf die Fotos, auf das ganze Durcheinander, nur ja nicht auf den Monitor.
Was du nicht siehst, ist nicht da!
Aber es war da. Irgendwo im Monitor, tief drinnen im schwarzen Loch. Aus dem Videorecorder drang ein leises schleifendes Geräusch. Er wollte die Augen zukneifen und an einem anderen Ort wieder aufwachen. Egal wo. Nur nicht hier. Immer noch hockte er vor seinem gespenstischen Spiegelbild in den Monitoren.
Plötzlich überkam Gabriel der verzweifelte Wunsch, etwas Schönes zu sehen oder einfach nur etwas anderes. Als hätten sie einen eigenen Willen, steuerten seine Finger auf die anderen Monitore zu.
Fump. Fump. Die beiden oberen Monitore blitzten auf. Zwei flaue Videobilder kristallisierten sich und warfen einen stahlblauen Schimmer in das rote Laborlicht. Das eine Bild zeigte den Hausflur und die geöffnete Kellertür; die Treppe wurde von der Dunkelheit verschluckt. Das zweite Bild zeigte die Küche. Die Küche und - seine Eltern. Aus dem Lautsprecher schnarrte die Stimme seines Vaters.
Gabriel riss die Augen auf.
Nein! Bitte, nein!
Sein Vater stieß gegen den Küchentisch. Die Tischbeine schrammten hart über den Boden. Das Geräusch übertrug sich durch die Decke, und Gabriel zuckte zusammen. Sein Vater riss eine Schublade auf, griff hinein, und seine Hand kam wieder hervor.
Gabriel starrte entsetzt auf den Monitor. Er blinzelte und wünschte sich, er wäre blind! Blind und taub.
War er aber nicht.
Tränen schossen ihm in die Augen. Der chemische Geruch des Labors, vermischt mit dem Erbrochenen vor der Tür, ließ ihn würgen. Er wünschte sich, dass jemand kommt, ihn in den Arm nimmt, alles wegredet.
Aber niemand würde kommen. Er war alleine.
© Ullstein TB (Verlag)
Und trotzdem wäre es jetzt gut, nicht allein zu sein, in diesem Keller, mit den Gespenstern. Gabriel schluckte. Der Spalt starrte ihn an wie ein Höllenschlund.
Sieh nach! Luke würde es auch tun.
Vater würde toben, wenn er ihn jetzt sehen könnte. Das Labor war Vaters Geheimnis, und es war gesichert wie eine Festung, mit einer Tür aus Metall und einem schwarz glänzenden Türspion. Niemand sonst hatte das Labor jemals gesehen. Selbst Mutter nicht.
Gabriels Fußsohlen berührten den nackten Betonboden des Kellers, und er schauderte. Erst die warmen Holzstufen und nun der kalte Stein.
Jetzt oder nie!
Plötzlich drang ein helles Knurren durch die Kellerdecke. Gabriel zuckte zusammen. Das Geräusch kam aus der Küche über ihm. Es klang, als wäre der Tisch über die Fliesen geschrammt. Für einen Moment überlegte er, ob er besser nach oben gehen sollte. Mutter war dort ganz alleine mit ihm, und Gabriel wusste, wie wütend er werden konnte.
Sein Blick flog zurück, zu der im Dunkeln schimmernden Tür. Eine solche Gelegenheit würde es vielleicht nie wieder geben.
Er hatte schon einmal hier gestanden, etwa zwei Jahre war das her. Damals hatte Vater vergessen, die obere Kellertür zu verriegeln. Gabriel war neun gewesen. Er hatte eine Weile im Hausflur gestanden und hinuntergespäht. Am Ende hatte die Neugier gesiegt. Auch damals war er die Treppe in den Keller hinuntergeschlichen, voller Angst wegen der Gespenster und trotzdem in völliger Dunkelheit, weil er es nicht wagte, das Licht einzuschalten.
Der Türspion hatte rot geglüht, wie das Auge eines Monsters.
Hals über Kopf war er wieder nach oben geflüchtet, zurück zu David ins Kinderzimmer, und in sein Bett gekrochen.
Jetzt war er elf. Jetzt stand er wieder hier unten, und das Monsterauge glühte nicht. Dennoch, der Türspion starrte ihn an, kalt und schwarz, wie ein totes Auge. Nur das bisschen Licht auf der Kellertreppe und er selbst spiegelten sich darin. Je näher er kam, desto größer wurde sein Gesicht.
Aber warum roch es hier eigentlich so widerlich?
Seine nackten Füße tasteten sich vor, und er trat in etwas Nasses, Breiiges. Kotze. Das war Kotze! Deshalb roch es hier so widerlich. Aber warum war ausgerechnet hier Kotze?
Er würgte den Ekel herunter und scheuerte sich den Fuß an einer trockenen Stelle des Betonbodens sauber. Trotzdem blieb etwas zwischen seinen Zehen kleben. Er hätte jetzt gerne ein Handtuch gehabt oder einen nassen Lappen, aber das Labor war wichtiger. Er streckte seine Hand vor, legte sie auf die Klinke, zog die schwere Metalltür ein wenig weiter auf und schob sich in die Dunkelheit. Eine unnatürliche Stille hüllte ihn ein.
Grabesstille.
In seine Nase stieg ein scharfer chemischer Geruch, wie im Filmkopierwerk, in das Vater ihn einmal nach einem seiner Drehtage mitgenommen hatte.
Sein Herz galoppierte. Viel zu schnell, viel zu laut. Er wünschte, er wäre woanders, bei David vielleicht, unter der Bettdecke.
Luke Skywalker würde sich niemals unter der Bettdecke verkriechen.
Die Finger seiner linken Hand suchten zitternd nach dem Lichtschalter, ständig darauf gefasst, etwas ganz anderes zu finden. Was, wenn sie hier waren, die Gespenster? Wenn sie seinen Arm packten? Wenn er ihnen aus Versehen ins Maul fasste und sie ihre Zähne zusammenschlugen?
Da! Kühles Plastik.
Er drückte den Schalter. Drei rote Lampen flammten auf und tauchten den Raum vor ihm in eine eigentümliche dunkelrote Glut.
Rot, wie im Bauch eines Monsters.
Ein Kribbeln stieg seinen Rücken empor, bis zu den Haarwurzeln. Er blieb an der Schwelle zum Labor stehen, irgendwie war da so etwas wie eine unsichtbare Grenze, die er nicht übertreten wollte. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, Einzelheiten zu erkennen.
Das Labor war größer, als er gedacht hatte, ein Schlauch, etwa drei Meter breit und sieben Meter tief. Direkt neben ihm hing ein schwerer Vorhang aus schwarzem Molton. Jemand hatte ihn hastig beiseitegerafft.
Unter der Betondecke waren Wäscheleinen gespannt, an denen Fotos hingen. Einige waren heruntergerissen worden und lagen auf dem Boden.
Auf der linken Seite stand ein Vergrößerer für Fotos. Rechts erstreckte sich ein Regal über die gesamte Wand, vollgepackt mit Geräten. Gabriels Augen weiteten sich. Die meisten der Geräte erkannte er sofort: Arri, Beaulieu, Leicina, und dazwischen noch andere, kleinere Kameras. Die Fachzeitschriften, die sich in Vaters Arbeitszimmer im ersten Geschoss stapelten, waren voll davon. Immer, wenn eine dieser Zeitschriften in den Müll gewandert war, hatte Gabriel sie herausgefischt, unter seinem Kopfkissen deponiert und abends unter der Decke im Taschenlampenschein gelesen, bis ihm die Augen zufielen.
Neben den Kameras lagen ein Dutzend Objektive, einige so lang wie Gewehrläufe; daneben kleinkalibrige Fotoapparate, Hüllen zum Dämpfen der Laufgeräusche der Kameras, 8- und 16-mm-Filmpatronen, ein Stapel aus drei VHS-Videorecordern mit vier Monitoren und zuletzt: zwei nagelneue Videocamcorder. Plastikbomber schimpfte Vater die Dinger immer. In einer der Zeitschriften hatte er gelesen, man könne mit der neuen Videotechnik fast zwei Stunden filmen, ohne die Kassette zu wechseln - einfach unglaublich! Dazu kam, dass die Plastikbomber nicht so ratterten wie Filmkameras, sondern geräuschlos liefen.
Gabriels Blick wanderte über die Schätze, seine Augen glänzten. Er wünschte, er könnte das alles hier David zeigen. Sofort bekam er ein schlechtes Gewissen. Schließlich war das hier gefährlich. Da durfte er David nicht mit hineinziehen. Außerdem hatte sein Bruder schon geschlafen. Es war richtig gewesen, die Tür vom Kinderzimmer abzuschließen.
Plötzlich polterte es laut. Erschrocken fuhr er herum. Doch da war niemand. Keine Eltern, kein Gespenst. Sie stritten wohl immer noch, oben in der Küche.
Er blickte zurück ins Labor, auf all die Schätze. Komm näher, schienen sie zu flüstern. Aber er stand immer noch an der Schwelle, neben dem Vorhang. Furcht kroch in ihm empor. Noch konnte er zurück. Er hatte das Labor ja jetzt gesehen, er musste es nicht auch noch betreten.
Elf! Du bist elf! Komm schon, sei kein Feigling.
Wie alt war eigentlich Luke?
Zögernd tat Gabriel zwei Schritte in den Raum.
Was waren das für Fotos? Er bückte sich, hob eins vom Boden auf und starrte auf das verwaschene grobkörnige Bild. Ein jähes Gefühl von Ekel und eine seltsame Erregung breiteten sich in seinem Unterleib aus. Er sah nach oben, auf die Fotos, die an der Wäscheleine hingen. Das Bild direkt über ihm zog seinen Blick an wie ein Magnet. Sein Kopf wurde heiß und rot, wie alles um ihn herum auch. Zugleich wurde ihm ein wenig übel. Es sah so echt aus, so ... oder waren das Schauspieler? Es sah aus wie im Film! Diese Säulen, die Mauern, wie im Mittelalter, und die schwarzen Kleider ...
Er riss sich los, und sein Blick sprang über die zerwühlte Ablage, das Regal und blieb schließlich an den modernen Videorecordern hängen, auf denen kleine JVC-Logos glitzerten. Der unterste davon war eingeschaltet. In seiner spiegelblanken Anzeige leuchteten Zahlen und Zeichen. Wie bei Star Wars, im Cockpit eines Raumschiffs, dachte er.
Gabriels Zeigefinger näherte sich wie von selbst den Tasten und drückte eine davon. Er zuckte zusammen, als es im Inneren des Gerätes laut klackte. Zweimal, dreimal, dann das Surren eines Motors. Eine Kassette! In dem Gerät steckte eine Kassette! Seine Stirn brannte. Fiebrig drückte er einen weiteren Knopf. Der JVC antwortete ratternd. Störstreifen zuckten über den Monitor neben den Videorecordern. Das Bild zappelte noch einen Moment, dann war es da. Diffus, mit flimmernden Farben, unwirklich, wie ein Fenster zu einer anderen Welt.
Unwillkürlich hatte Gabriel sich vorgebeugt - und zuckte jetzt zurück. Sein Mund wurde ganz trocken. Das gleiche Bild wie auf dem Foto! Der gleiche Ort, die gleichen Säulen, die gleichen Menschen, nur dass sie sich bewegten. Er wollte den Blick abwenden, aber es war unmöglich. Er sog die stickige Luft durch den offenstehenden Mund ein und hielt dann den Atem an, ohne es zu bemerken.
Wie ein Blitzlichtgewitter hämmerten die Bilder auf ihn ein, und er konnte nicht anders, als gebannt zuzusehen.
Der Schnitt durch den schwarzen Stoff des Kleides.
Das helle Dreieck auf der noch helleren Haut.
Die wirren langen blonden Haare.
Das Chaos.
Und dann noch ein Schnitt - eine wütende und scharfe Bewegung, die sich förmlich in Gabriels Eingeweide übertrug. Schlagartig war ihm übel, und alles drehte sich. Der Fernseher starrte ihn bösartig an. Zitternd fand er den Knopf.
Aus! Weg!
Mit einem dumpfen Fump stürzte das Bild in sich zusammen, als gäbe es im Monitor eins von diesen schwarzen Löchern, wie im Weltraum. Das Geräusch war schrecklich und zugleich beruhigend. Er starrte auf die dunkle Mattscheibe, in die Spiegelung seines eigenen, rot leuchtenden Gesichts. Ein Gespenst mit schreckgeweiteten Augen starrte zurück.
Nicht dran denken! Nur nicht dran denken ... Er starrte auf die Fotos, auf das ganze Durcheinander, nur ja nicht auf den Monitor.
Was du nicht siehst, ist nicht da!
Aber es war da. Irgendwo im Monitor, tief drinnen im schwarzen Loch. Aus dem Videorecorder drang ein leises schleifendes Geräusch. Er wollte die Augen zukneifen und an einem anderen Ort wieder aufwachen. Egal wo. Nur nicht hier. Immer noch hockte er vor seinem gespenstischen Spiegelbild in den Monitoren.
Plötzlich überkam Gabriel der verzweifelte Wunsch, etwas Schönes zu sehen oder einfach nur etwas anderes. Als hätten sie einen eigenen Willen, steuerten seine Finger auf die anderen Monitore zu.
Fump. Fump. Die beiden oberen Monitore blitzten auf. Zwei flaue Videobilder kristallisierten sich und warfen einen stahlblauen Schimmer in das rote Laborlicht. Das eine Bild zeigte den Hausflur und die geöffnete Kellertür; die Treppe wurde von der Dunkelheit verschluckt. Das zweite Bild zeigte die Küche. Die Küche und - seine Eltern. Aus dem Lautsprecher schnarrte die Stimme seines Vaters.
Gabriel riss die Augen auf.
Nein! Bitte, nein!
Sein Vater stieß gegen den Küchentisch. Die Tischbeine schrammten hart über den Boden. Das Geräusch übertrug sich durch die Decke, und Gabriel zuckte zusammen. Sein Vater riss eine Schublade auf, griff hinein, und seine Hand kam wieder hervor.
Gabriel starrte entsetzt auf den Monitor. Er blinzelte und wünschte sich, er wäre blind! Blind und taub.
War er aber nicht.
Tränen schossen ihm in die Augen. Der chemische Geruch des Labors, vermischt mit dem Erbrochenen vor der Tür, ließ ihn würgen. Er wünschte sich, dass jemand kommt, ihn in den Arm nimmt, alles wegredet.
Aber niemand würde kommen. Er war alleine.
© Ullstein TB (Verlag)
... weniger
Autoren-Porträt von Marc Raabe
Marc Raabe, 1968 geboren, ist Geschäftsführer und Gesellschafter einer Fernsehproduktion. Schnitt ist sein erster Psychothriller. Marc Raabe lebt mit seiner Familie in Köln.
Autoren-Interview mit Marc Raabe
Interview mit Marc Raabe zu „Schnitt" Was hat Sie daran gereizt, ein Buch zu schreiben?
Vor allem die Freiheit. Es ist ein tolles Gefühl, Herr über das ganze Universum zwischen den Buchdeckeln zu sein. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt - bis auf die Grenzen, die in der Geschichte und den Figuren selbst liegen. Da kann es dann durchaus mal sein, dass mir beim Schreiben einer schönen neuen Idee der Hauptdarsteller plötzlich zuflüstert: »So ein Blödsinn, das würde ich doch nie im Leben machen, so bin ich nicht gestrickt!« Da hilft es dann auch nichts zu antworten: »Stell dich nicht so an. Du machst das jetzt, und basta!«
Wie lange haben Sie an dem Roman geschrieben?
Etwa eineinhalb Jahre. Davor habe ich allerdings eine Weile damit verbracht, schreiben zu lernen. Man denkt am Anfang ja immer: Schreiben kann ich doch schon. Aber wehe, dann liest man das Zeug, das man ein paar Monate zuvor geschrieben hat. Plötzlich sieht man, was zu viel ist oder was fehlt. Es ist eins, die Geschichte im Kopf zu haben, aber etwas ganz anderes, sie so aufzuschreiben, dass jemand sie auch erleben kann. Wie bei jedem Handwerk dauert das eben eine Weile, bis man es gelernt hat.
Was war für Sie der schwierigere Moment - den ersten Satz zu schreiben oder den letzten?
Keiner von beiden. In der Anfangszeit habe ich mich zwar immer wieder an einzelnen Sätzen festgehalten, oder mit ihnen „gekämpft", aber irgendwann habe ich begriffen, dass es ja um eine Geschichte geht, um Charaktere mit all ihren Eigenheiten, und da zählen dann letztlich alle Sätze zusammen. Aber der erste Satz ist vermutlich der, den ich am häufigsten ausgetauscht habe.
Warum haben Sie sich für dieses Genre entschieden?
... mehr
Ich liebe spannende Geschichten, das war schon immer so. Und Psychothriller mag ich gerne, weil ich interessant finde, was in den Grenzbereichen der menschlichen Psyche passiert. Ich will wissen, was Menschen antreibt. Außerdem finde ich faszinierend, dass die großen Themen eines einzelnen Menschen sich oft bis in seine kleinsten Handlungen fortsetzen, also zum Beispiel der Geizkragen, der die Gläser der anderen nur halbvoll schenkt, sein Gefühle in sich verschließt, höchstens ein Kind bekommt und einen hohen Zaun um sein Grundstück zieht. Natürlich ist das ein Klischee - aber wenn man guckt, wie sehr ein solches Klischee manche Menschen bestimmt, dann kann es einen schon schaudern.
Woher kam die Inspirationen zu Ihrem Buch?
Bei Schnitt kann ich das gar nicht mehr so genau sagen. Aber irgendwann hatte ich das Bild dieses Jungen vor Augen, der in den Keller hinabsteigt, und in dem Neugier und Angst miteinander kämpfen. Und die Neugier gewinnt.
Wie viel Autobiographisches steckt in ihren Figuren?
In jeder Figur steckt etwas von mir. Sonst könnte ich sie gar nicht authentisch erzählen. Das ist für mich auch das Reizvolle. Ich darf beim Schreiben alles sein: böse, heldenhaft, schwach, stark ... ich darf mich gewissermaßen ungestraft von meinem Über-ich befreien.
Hatten Sie als Kind auch Angst in den Keller zu gehen?
Sie etwa nicht? Also bei mir gab es da diesen Keller bei meinen Großeltern. Mit einer knarrenden Holztreppe, und er endete in einem einzigen dunklen großen Raum mit Regalen. Es gab keine Fenster und eine einzelne Glühbirne warf lange Schatten. Und im hintersten Regal stand das, was ich wollte: Meine Lieblingslimonade.
Wie wichtig ist es Ihnen, dass sich Ihre Leser mit Ihren Figuren identifizieren können?
Ganz und gar, natürlich. Wenn ich mich beim Lesen nicht mit einer Figur, oder zumindest einem Teil von ihr, identifizieren kann, dann klappe ich das Buch zu. Die Frage ist natürlich immer: Wie mache ich das. Meine Frau hat da mal einen ganz entscheidenden Satz zu mir gesagt. Da war das Buch etwa halb fertig und sie meinte in Bezug auf die Hauptfigur: »Ich glaube, Du musst ihn noch etwas mehr lieb haben.« Genau darum geht es. Die Figur kann sich verhalten wie ein echter Kotzbrocken, sie kann Fehler machen, ungerecht sein. Aber wenn ich sie mag, dann wird das über alles hinweghelfen, man wird immer spüren, das diese Figur etwas liebenswertes hat - worin auch immer es besteht.
Haben andere Autoren Sie beeinflusst - und wenn ja: Wie?
Als das Angebot von Ullstein kam, mein Buch zu verlegen, war ich jedenfalls sehr stolz, im gleichen Verlag zu veröffentlichen wie Jo Nesbo, Zoran Drvenkar und James Ellroy.
In erster Linie habe ich allerdings versucht, zu schreiben, was ich selbst gerne lesen würde. Dabei entstanden für mich natürlich andauernd Fragen. Wie löse ich dieses Problem, wie löse ich jenes Problem. In diesen Momenten war es gut, bei anderen Autoren nachzulesen, wie die damit umgegangen sind. Es gibt viele tolle Bücher von ganz unterschiedlichen Autoren, die mir da sehr geholfen haben. Manchmal gab es auch Bücher, die mir geholfen haben, zu sehen was ich nicht gerne lesen würde ...
Wie sind Sie bei Ihrer Recherche zu traumatischen und psychologischen Erkrankungen vorgegangen und was hat Sie an diesem Thema gereizt?
Mein Frau ist Psychologin und damit an dieser Stelle meine erste Ansprechpartnerin. Ich fand Psychologie schon immer reizvoll und bin immer wieder davon fasziniert, was für einen umfassenden Blick auf Menschen dieses Fach ermöglicht.
Glauben Sie an die Macht von Alpträumen?
Eher an die Macht von Ängsten - oder Urängsten. Daraus entstehen ja auch Alpträume. Ängste sind für mich eine der stärksten Triebfedern für das, was Menschen tun. Wir kommen schon auf die Welt mit einem traumatischen Erlebnis: Der Geburt. Und es dauert nicht allzu lange, bis wir begreifen, dass uns am Ende unseres Lebens wieder etwas erwartet, das bestens geeignet ist, um davor eine Heidenangst zu haben: Der Tod.
Was Alpträume angeht: Die haben eine ungeheure Kraft und zeigen oft, wovor wir in den tiefsten Tiefen unserer Seele die größte Angst haben.
Ihre Charaktere sind größtenteils „Alleingänger" und sehr einsam. Haben Sie deswegen bei Gabriel eine „zweite Stimme" eingesetzt, um einen Austausch zu schaffen?
Ich glaube, dass Einsamkeit in unserer Gesellschaft sehr weit verbreitet ist. Man ist selten alleine aber trotzdem einsam. Dass Gabriel eine zweite Stimme hat, bringt natürlich den Vorteil, dass ich ihn trotz seiner Einsamkeit mit jemandem sprechen lassen kann. Aber in erster Linie zeigt diese Stimme seine Zerrissenheit. Er ist ein wenig wie Gollum, nur das Gabriel längst nicht so zerfressen ist. Für Gabriel geht es um Selbstrettung. Und irgendwie kennen wir diese inneren Dialoge auch alle von uns selbst, den Teufel auf der rechten Schulter, den Engel auf der linken, und die flüstern uns abwechselnd etwas zu.
Sie sind Geschäftsführer eine Fernsehproduktion, wollten Sie schon immer zum Film oder wie kamen Sie dorthin?
Das ist eine lange Geschichte. Sie fängt - wie sollte es anders sein - in einem Keller an. Mit 15 fragte mich ein Schulfreund, ob ich Lust hätte bei seinem Filmprojekt mitzumachen. Ich hatte Lust. Ab da waren wir jeden Tag im Keller, mit improvisierten Filmscheinwerfern, Kameras und jeder Menge Ideen. Mit achtzehn haben wir dann ein Gewerbe angemeldet und einfach immer weiter gemacht. Heute beschäftigt unsere Firma 45 Mitarbeiter.
Planen Sie schon den Film zu Ihrem Buch bzw. hatten Sie schon den Film im Kopf als Sie das Buch geschrieben haben?
In erster Linie wollte ich ein Buch schreiben. Aber da ich vom Erzählen mit Bildern geprägt bin, schreibe ich sicher oft automatisch so, als würde ein Film vor meinen Augen ablaufen. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich denke: Jetzt erst das spannende Close-up, und danach die Auflösung in der Totalen schreiben. Das kann man mit Worten genauso gut machen wie mit Bildern.
Ob aus dem Buch am Ende auch noch ein Film wird, das ist für mich vollkommen offen.
© Gerald von Foris
Ich liebe spannende Geschichten, das war schon immer so. Und Psychothriller mag ich gerne, weil ich interessant finde, was in den Grenzbereichen der menschlichen Psyche passiert. Ich will wissen, was Menschen antreibt. Außerdem finde ich faszinierend, dass die großen Themen eines einzelnen Menschen sich oft bis in seine kleinsten Handlungen fortsetzen, also zum Beispiel der Geizkragen, der die Gläser der anderen nur halbvoll schenkt, sein Gefühle in sich verschließt, höchstens ein Kind bekommt und einen hohen Zaun um sein Grundstück zieht. Natürlich ist das ein Klischee - aber wenn man guckt, wie sehr ein solches Klischee manche Menschen bestimmt, dann kann es einen schon schaudern.
Woher kam die Inspirationen zu Ihrem Buch?
Bei Schnitt kann ich das gar nicht mehr so genau sagen. Aber irgendwann hatte ich das Bild dieses Jungen vor Augen, der in den Keller hinabsteigt, und in dem Neugier und Angst miteinander kämpfen. Und die Neugier gewinnt.
Wie viel Autobiographisches steckt in ihren Figuren?
In jeder Figur steckt etwas von mir. Sonst könnte ich sie gar nicht authentisch erzählen. Das ist für mich auch das Reizvolle. Ich darf beim Schreiben alles sein: böse, heldenhaft, schwach, stark ... ich darf mich gewissermaßen ungestraft von meinem Über-ich befreien.
Hatten Sie als Kind auch Angst in den Keller zu gehen?
Sie etwa nicht? Also bei mir gab es da diesen Keller bei meinen Großeltern. Mit einer knarrenden Holztreppe, und er endete in einem einzigen dunklen großen Raum mit Regalen. Es gab keine Fenster und eine einzelne Glühbirne warf lange Schatten. Und im hintersten Regal stand das, was ich wollte: Meine Lieblingslimonade.
Wie wichtig ist es Ihnen, dass sich Ihre Leser mit Ihren Figuren identifizieren können?
Ganz und gar, natürlich. Wenn ich mich beim Lesen nicht mit einer Figur, oder zumindest einem Teil von ihr, identifizieren kann, dann klappe ich das Buch zu. Die Frage ist natürlich immer: Wie mache ich das. Meine Frau hat da mal einen ganz entscheidenden Satz zu mir gesagt. Da war das Buch etwa halb fertig und sie meinte in Bezug auf die Hauptfigur: »Ich glaube, Du musst ihn noch etwas mehr lieb haben.« Genau darum geht es. Die Figur kann sich verhalten wie ein echter Kotzbrocken, sie kann Fehler machen, ungerecht sein. Aber wenn ich sie mag, dann wird das über alles hinweghelfen, man wird immer spüren, das diese Figur etwas liebenswertes hat - worin auch immer es besteht.
Haben andere Autoren Sie beeinflusst - und wenn ja: Wie?
Als das Angebot von Ullstein kam, mein Buch zu verlegen, war ich jedenfalls sehr stolz, im gleichen Verlag zu veröffentlichen wie Jo Nesbo, Zoran Drvenkar und James Ellroy.
In erster Linie habe ich allerdings versucht, zu schreiben, was ich selbst gerne lesen würde. Dabei entstanden für mich natürlich andauernd Fragen. Wie löse ich dieses Problem, wie löse ich jenes Problem. In diesen Momenten war es gut, bei anderen Autoren nachzulesen, wie die damit umgegangen sind. Es gibt viele tolle Bücher von ganz unterschiedlichen Autoren, die mir da sehr geholfen haben. Manchmal gab es auch Bücher, die mir geholfen haben, zu sehen was ich nicht gerne lesen würde ...
Wie sind Sie bei Ihrer Recherche zu traumatischen und psychologischen Erkrankungen vorgegangen und was hat Sie an diesem Thema gereizt?
Mein Frau ist Psychologin und damit an dieser Stelle meine erste Ansprechpartnerin. Ich fand Psychologie schon immer reizvoll und bin immer wieder davon fasziniert, was für einen umfassenden Blick auf Menschen dieses Fach ermöglicht.
Glauben Sie an die Macht von Alpträumen?
Eher an die Macht von Ängsten - oder Urängsten. Daraus entstehen ja auch Alpträume. Ängste sind für mich eine der stärksten Triebfedern für das, was Menschen tun. Wir kommen schon auf die Welt mit einem traumatischen Erlebnis: Der Geburt. Und es dauert nicht allzu lange, bis wir begreifen, dass uns am Ende unseres Lebens wieder etwas erwartet, das bestens geeignet ist, um davor eine Heidenangst zu haben: Der Tod.
Was Alpträume angeht: Die haben eine ungeheure Kraft und zeigen oft, wovor wir in den tiefsten Tiefen unserer Seele die größte Angst haben.
Ihre Charaktere sind größtenteils „Alleingänger" und sehr einsam. Haben Sie deswegen bei Gabriel eine „zweite Stimme" eingesetzt, um einen Austausch zu schaffen?
Ich glaube, dass Einsamkeit in unserer Gesellschaft sehr weit verbreitet ist. Man ist selten alleine aber trotzdem einsam. Dass Gabriel eine zweite Stimme hat, bringt natürlich den Vorteil, dass ich ihn trotz seiner Einsamkeit mit jemandem sprechen lassen kann. Aber in erster Linie zeigt diese Stimme seine Zerrissenheit. Er ist ein wenig wie Gollum, nur das Gabriel längst nicht so zerfressen ist. Für Gabriel geht es um Selbstrettung. Und irgendwie kennen wir diese inneren Dialoge auch alle von uns selbst, den Teufel auf der rechten Schulter, den Engel auf der linken, und die flüstern uns abwechselnd etwas zu.
Sie sind Geschäftsführer eine Fernsehproduktion, wollten Sie schon immer zum Film oder wie kamen Sie dorthin?
Das ist eine lange Geschichte. Sie fängt - wie sollte es anders sein - in einem Keller an. Mit 15 fragte mich ein Schulfreund, ob ich Lust hätte bei seinem Filmprojekt mitzumachen. Ich hatte Lust. Ab da waren wir jeden Tag im Keller, mit improvisierten Filmscheinwerfern, Kameras und jeder Menge Ideen. Mit achtzehn haben wir dann ein Gewerbe angemeldet und einfach immer weiter gemacht. Heute beschäftigt unsere Firma 45 Mitarbeiter.
Planen Sie schon den Film zu Ihrem Buch bzw. hatten Sie schon den Film im Kopf als Sie das Buch geschrieben haben?
In erster Linie wollte ich ein Buch schreiben. Aber da ich vom Erzählen mit Bildern geprägt bin, schreibe ich sicher oft automatisch so, als würde ein Film vor meinen Augen ablaufen. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich denke: Jetzt erst das spannende Close-up, und danach die Auflösung in der Totalen schreiben. Das kann man mit Worten genauso gut machen wie mit Bildern.
Ob aus dem Buch am Ende auch noch ein Film wird, das ist für mich vollkommen offen.
© Gerald von Foris
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Bibliographische Angaben
- Autor: Marc Raabe
- 2012, 448 Seiten, Maße: 13,6 x 21 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548284353
- ISBN-13: 9783548284354
Rezension zu „Schnitt “
"Marc Raabe hat mit diesem fulminanten Psychothriller seinen beachtenswerten ersten Roman vorgelegt - und gleich einen Treffer gelandet.", Krimi-couch.de, 01.05.2012
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