Weitlings Sommerfrische
Roman. Ausgezeichnet mit dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag für den besten Familienroman 2012
»Sten Nadolny ist ein Erzähler unvergesslicher Geschichten.« Frankfurter Allgemeine Zeitung
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Weitlings Sommerfrische “
»Sten Nadolny ist ein Erzähler unvergesslicher Geschichten.« Frankfurter Allgemeine Zeitung
Klappentext zu „Weitlings Sommerfrische “
Wie wäre es, in die eigene Vergangenheit zu reisen? Sten Nadolny versetzt seinen verblüfften Helden zurück in dessen Jugend - und öffnet ihm nicht nur die Augen über sich selbst, sondern greift auch in seinen scheinbar vorgezeichneten Lebenslauf ein.In einem Sommergewitter kentert das Segelboot des angesehenen Berliner Richters Wilhelm Weitling. Er kommt nur knapp mit dem Leben davon, muss aber feststellen, dass ihn sein Unfall fünfzig Jahre in die Vergangenheit zurückgeworfen hat. Neugierig, aber auch mit sanfter Kritik begleitet er den Jungen, der er einmal war, durch die Tage nach dem Sturm. Wer ist er damals gewesen? Und wie konnte aus diesem Menschen der werden, der er heute ist? Muss er die Erinnerung an seine Eltern, seine erste Liebe, seine Berufswahl, sein ganzes Leben revidieren? Und wird er zu seiner Frau und in sein altes Leben zurückkehren dürfen?Sten Nadolny entführt uns auf eine philosophische Zeitreise, die seinen scharf beobachtenden Helden zu unverhofften Erkenntnissen führt.
Lese-Probe zu „Weitlings Sommerfrische “
Weitlings Sommerfrische von Sten NadolnyErstes Kapitel
Das Schiff
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»Sicher ist, dass ich im Leben ein paar grundlegende Dinge nie begriffen habe, und ich weiß nicht einmal, welche.«
Nachts hatte Weitling diese Bemerkung auf einen Zettel geschrieben, noch halb im Schlaf, aber euphorisch, durchdrungen von einer grundlegenden Erkenntnis. Jetzt, auf der Terrasse am hellen Tage, las er die Zeilen wieder, sie kamen ihm etwas depressiv vor, allerdings nicht falsch. Es klang wie der Beginn von Selbsterkenntnis und Besserung. Nun liebte er am hellen Tage Sätze nicht, in denen zwar etwas steckte, aber nicht herauskam. Er war unschlüssig, wollte den Zettel weder aufheben noch wegwerfen. Neben seinem rechten Fuß war eine Bodenfliese locker. Er hob sie an, schob den Zettel darunter und murmelte: »Wiedervorlage! «
Der Ostwind hatte aufgebrist. Sollte er das Boot klarmachen? Richter a. D. Wilhelm Weitling blinzelte in die Nachmittagssonne über dem Chiemsee: Ja, das war kein schlechter Tag dafür.
In der Regel fand er das Segeln ein bisschen langweilig. Es diente hauptsächlich als Beweis dafür, dass ein Boot in Ordnung und dicht war, dass das Tuch richtig stand, die Blöcke nicht eingerostet waren und das Tauwerk hielt, was es sollte. Das ließ sich innerhalb einer Viertelstunde feststellen, und dann? Dann verging Zeit, viel Zeit. Im Übrigen verursachte die Segelei Rückenschmerzen, Schulterschmerzen, Sonnenbrand und so etwas wie Melancholie, wenn der Wind einschlief. Freude machte hingegen die Pflege eines Bootes, all das Spachteln und Lackieren, Prüfen und Schrauben, das Voraussehen von Schäden und Gefahren. Kein Wunder, dass die Eigner mehr Zeit unter ihren Booten verbrachten als in ihnen und auf dem Wasser. Ihre Klage, sie kämen vor lauter Instandhaltung nicht zum Segeln, war ein wichtiger Teil des Genusses.
Eine ungetrübte Freude war auch das Arbeiten an der Bootshütte, in deren Dunkel das Boot vor Sturm und Hagel, Eis und Schnee sicher liegen sollte. Gewiss, das Grobziel von alledem hieß »Segeln«. Aber welchem Zweck diente es, wohin segelte man? Am Strandbad vorbei, einmal hin und her mit halbem Wind, wobei man eifrig schaute, ob jemand schaute. Zum Segelhafen nach Seebruck, weil da so viele andere Boote unterwegs waren. Ab und zu ein Geschwindigkeitsvergleich mit anderen Booten hart am Wind, aber wozu? Um es einem der bauchigen Jollenkreuzer zu zeigen? Ein langes, schlankes Boot war nun einmal schneller als so eine schwimmende Plastiklaube, das wusste man vorher. Oder man fuhr zur Fraueninsel, um dort deutlich teurer zu essen als daheim. Auf dem Rückweg dann die erwähnte Flaute, und eigentlich musste man auf die Toilette. So ketzerisch dachte Wilhelm Weitling längst über das Segeln und entschied sich gewöhnlich dagegen.
Aber er wollte sich auch nichts vormachen: Er hatte von seiner körperlichen Behendigkeit in Jahren und Jahrzehnten einiges eingebüßt, war schwerer geworden, in den Gelenken eingerostet, der Rücken tat ihm schon ohne Segeln weh. Zudem stand er nicht mehr so sicher auf den Füßen wie als Junge. Das Segeln konnte zur Strapaze werden, auch wenn sein Kopf immer noch genau wusste, wie mit Wind und Neigung umzugehen war. Es war wie beim Radfahren: Man verlernt es nie, muss freilich noch aufsteigen, die Pedale treten und die Lenkstange führen können.
Ihm war vor dem Segeln, besonders dem Alleinsegeln, zunächst bange gewesen, darum hatte er es bis in den Hochsommer hinausgezögert. Immer hatte er noch etwas entdeckt, was an der Bootshütte oder am Boot zu basteln war, was gekauft und eingebaut werden musste. Beim Umgang mit Seilwinden, Beschlägen, Schrauben, Brettern, mit Pinsel und Farbe konnte ihm nichts Schlimmes passieren. Außer wenn er das alles ohne einen Willen zum Abschluss immer weiter betrieb, dann allerdings drohte Verblödung. Das hatte er ins Auge gefasst und das Boot schließlich doch einige Male gesegelt.
Das Ferienhaus, das er jetzt Sommer für Sommer mietete, hatte einst seinen Großeltern und Eltern gehört, er war darin aufgewachsen. Vater Weitling hatte es nach dem Tod seiner Frau einem von Wilhelms Volksschulfreunden verkauft, um ins Tessin zu ziehen. Das Haus stand hoch über dem Ostufer des Chiemsees, näher an Stöttham als an Chieming, hinter Bäumen verborgen und vom Fußweg am hohen Ufer im Sommer kaum zu sehen. Die Zufahrt mit dem Auto war nur über eine kleine Birkenallee von der östlich liegenden Landstraße her möglich. Man sah aus den Fenstern hauptsächlich Wald und Sträucher nach Westen wie nach Osten, einzig auf der Dachterrasse konnte man ungehindert westwärts auf den mächtigen See schauen.
Von außen sah das Haus immer noch so aus wie in Weitlings Kindheit. Und im Inneren waren zumindest die Dauergäste die gleichen geblieben: Im Winter bauten Mäuse ihre Nester im Sofa oder hinter der Spülmaschine, weil die elektrischen Frostwächter auch bei Eiseskälte ihr Überleben sicherten, im Frühjahr bekamen die Jungameisen Flügel und strebten unbeholfen durch das ganze Haus nach oben, im Sommer spannten eigensinnige Kreuzspinnen ihre Netze in jeden Türrahmen, im Spätherbst krabbelten überall verendende Wespen. Dazu im Garten eine muntere Population von Maulwürfen, Igeln, Mardern, Eichhörnchen, Katzen aus dem Dorf, Schnecken zuhauf. Krähenschwärme misstönten schon am frühen Morgen.
Hellhörig war das Haus wie eine Fregatte bei Flaute, und im Sturm ächzte und knarrte es zum Gotterbarmen. Feuchtigkeit war oft dort anzutreffen, wo sie nicht hingehörte, fehlte aber manchmal dort, wo man auf sie hoffte, die Wasserpumpe arbeitete unzuverlässig. Für einen Menschen, der naturnah leben wollte, war das Anwesen das reinste Paradies.
Was Weitling vermisste, waren die unendlich vielen Bücher, die in seiner Jugend die Wände gefüllt hatten. Fast jeden Tag stutzte er, weil er Meyers Konversationslexikon aus dem Jahre 1904 nicht mehr dort sah, wo es jahrzehntelang gestanden hatte. Und wie gern hätte er noch einmal in den Kinderbüchern gelesen: in den Oberheudorfer Buben- und Mädel-Geschichten, in Else Urys Nesthäkchen oder auch nur in dem Ermutigungsbuch, das er als ehrgeiziger Sechzehnjähriger studiert hatte, als wäre es der Katechismus, Fritz Pachtners Richtig denken - Richtig arbeiten. Die Wörter »denken« und »arbeiten« waren auf dem Umschlag unscheinbar klein und schwarz geschrieben, das zweifache »Richtig« hingegen leuchtete rot in Schreibschrift, wie von einem Lehrer am Rand einer guten Arbeit hinterlassen, weshalb Vater das Werk mit mildem Spott als das »Richtig-Richtig-Buch« bezeichnet hatte. Enthielt es Nützliches? Weitling erinnerte sich noch, dass es ein Kapitel »Aufgeben - nie!« gegeben hatte, ferner die Empfehlung, eine »Wissenskartei« anzulegen, damit man auf jedem Gebiet irgendwelche Details wusste und »mitreden« konnte. Natürlich hatte Willy eine solche Sammlung begonnen und für die zu erwartenden Informationen Kuverts beschriftet: »China und sonstige Ostblockstaaten, außer Sowjetunion«, »Technische Hilfsmittel, Apparaturen usw.« und »Laufbahn, eig. Zukunft«. Teil dieses Wissensvorrats war auch das Kuvert »Glaube usw«.
Aber nicht nur die Bücher seiner Jugend vermisste er, auch die Möbel, vor allem das erste und einzige, das ihm allein gehört hatte: ein Schränkchen, eigentlich nur eine Holzkiste mit Klapptür und zwei Schubladen, es war sein erster Schreibtisch, obwohl er noch kaum schreiben konnte.
Die Putzfrau, eine Frau Klähr, legte beim Saubermachen alle möglichen Gegenstände auf dieses Willy gehörende Möbel, Hefte, Schuhe, Nachttopf, und ließ dann alles dort. Wütend hatte er einen Bleistift in die Hand, nein, in die Faust genommen und in die Oberfläche des Kistchens gekratzt: »BITTE NICHZ HINLEGEN!!! FERST«. Aus Ferst hatte »ferstanden?« werden sollen, aber sein Zorn auf Frau Klähr hatte die Buchstaben zu groß werden lassen, das »anden« musste entfallen. Die Putzfrau häufte weiterhin alles auf Willys Schreibkiste, von »ferst« konnte keine Rede sein. Gäbe es das Ding noch, dachte Weitling, ich würde es als Talisman aufbewahren wie Citizen Kane den Schlitten »Rosebud«. Es wäre ideal gewesen, um das Faxgerät draufzustellen.
Schade auch, dass es den Treppenläufer nicht mehr gab, der mit runden Holzstäben in den Stufenwinkeln fixiert war. Nahm man diese Stäbe heraus, hatte man wunderbare Degen, um mit Freunden aus dem Dorf »Drei Musketiere « zu spielen. Einmal fochten sechs Buben im Garten, drei Stötthamer gegen drei Chieminger Musketiere. Der nichts ahnende Vater aber rutschte auf dem losen Läufer aus und setzte sich schmerzhaft auf den Steiß.
Weitling hatte zwei direkte Nachbarn: Siebzig Meter nördlich stand am höchsten Punkt des Uferwegs eine kleine Villa und südlich, deutlich unterhalb des Weitling- Hauses in einer kleinen Lichtung, das Holzhäuschen einer Försterswitwe, auch sie längst tot. Als Junge hatte er ihr den Namen »Dommelfey« gegeben, nach der Kräuterfrau in Waldemar Bonsels' Mario und die Tiere. Wer jetzt in diesen Häusern wohnte, wusste er nicht, vielleicht waren es ebenfalls Feriengäste.
Es war ihm gelungen, die alte Bootshütte unterhalb des Anwesens zu kaufen, die bisher nie zum Haus gehört hatte. Als Halbwüchsiger war er von den Besitzern verscheucht worden, wenn er sich nach dem Baden auf ihrem Dach sonnen wollte. Dass sie ihm jetzt gehörte, bestärkte ihn in dem Gefühl, im Leben doch das eine oder andere erreicht zu haben, außerdem war es ausgleichende Gerechtigkeit. Und weil eine Bootshütte nicht nur Badehütte sein soll, hatte er sich dann auch ein Boot zugelegt, eigentlich einen Kahn mit Segel, genannt Plätte, Chiemseeplätte. Als Junge hatte er so ein Boot gesegelt, man konnte Plätten in den Fünfzigerjahren mieten, tausend Meter weiter südlich in Chieming bei Franz Peteranderl, dem »Wegmacher- Franz«. Weil dessen Familie es generationenlang übernommen hatte, in der Gemeinde Wege auszubessern, hieß der Hof »beim Wegmacher« und die Mole, an der die Boote festmachten, der Wegmacherzipf.
In Bayern hieß alles, was aus Kies bestand und in einen See ragte, ein »Zipf«. Diesen hier gab es nur, weil der Bootsverleiher jahrelang Steine zusammengetragen und aufgeschichtet hatte. Wenn Kinder solche Steine ins Wasser warfen, weil sie schöner plumpsten als die kleineren, fuhr er fuchsteufelswild aus seiner Hütte und verjagte sie mit Beschimpfungen und Drohungen. Das war verständlich: Er musste Woche für Woche die hohen Gummistiefel anziehen und die Steine mit der Mistgabel wieder an ihren Ort bringen, damit es weiter eine Mole gab.
Franz, der seit einem Motorradunfall ein krummes Bein hatte, saß die meiste Zeit am Fenster und prüfte mit dem Glas, wie es den verliehenen Booten draußen auf dem See ging oder, wie er sie nannte, den Schiffen. Das bäuerliche Bairisch kennt keine Boote, und dem Wegmacher Franz zu Ehren nannte auch Richter Weitling sein Boot in der Regel »mein Schiff«. Als Junge hatte er es damals geschafft, beim Wegmacher kostenlos segeln zu dürfen. Mehr noch: Gegen einen Stundenlohn von 1,50 DM fuhr er Sommergäste spazieren, es war sein erstes selbstverdientes Geld. Damals hatten sogar Flauten ihr Gutes.
Und jetzt? Meist entschied er sich auch an sonnigen Tagen schon beim Frühstück dafür, heute lieber Sinnvolleres zu tun als zu segeln, etwa an einem Rechtsgutachten zu arbeiten oder zum hundertsten Mal sein Manuskript durchzusehen. An diesem Buch schrieb er seit Jahren, es hatte den Arbeitstitel »Ursprung und Zukunft des Rechtsempfindens « und sollte seine philosophischen und religiösen Gedankengänge mit den Erfahrungen als Jurist verbinden. Ja, religiös, Weitling bezeichnete sich als gläubigen Menschen.
Wilhelm Weitling, Richter a. D., Hauptadresse in Berlin- Charlottenburg, war seit Jahrzehnten verheiratet, allerdings kinderlos. Seine Frau betrieb einen kleinen Laden für Geschenkkartons im Bezirk Prenzlauer Berg und hatte einen großen Freundeskreis. Weitling selbst kannte man außerhalb von Berliner Juristen- und Polizeikreisen und Strafanstalten so gut wie nicht. Nannte er seinen vollen Namen, dann fiel dem Gegenüber meist ein Frühkommunist ein: Wilhelm Weitling, Schneidergeselle und eigensinniger Gegner von Karl Marx. Dann musste er antworten: »Kompliment, Sie wissen ja gut Bescheid!«
© Piper Verlag GmbH, München 2012
»Sicher ist, dass ich im Leben ein paar grundlegende Dinge nie begriffen habe, und ich weiß nicht einmal, welche.«
Nachts hatte Weitling diese Bemerkung auf einen Zettel geschrieben, noch halb im Schlaf, aber euphorisch, durchdrungen von einer grundlegenden Erkenntnis. Jetzt, auf der Terrasse am hellen Tage, las er die Zeilen wieder, sie kamen ihm etwas depressiv vor, allerdings nicht falsch. Es klang wie der Beginn von Selbsterkenntnis und Besserung. Nun liebte er am hellen Tage Sätze nicht, in denen zwar etwas steckte, aber nicht herauskam. Er war unschlüssig, wollte den Zettel weder aufheben noch wegwerfen. Neben seinem rechten Fuß war eine Bodenfliese locker. Er hob sie an, schob den Zettel darunter und murmelte: »Wiedervorlage! «
Der Ostwind hatte aufgebrist. Sollte er das Boot klarmachen? Richter a. D. Wilhelm Weitling blinzelte in die Nachmittagssonne über dem Chiemsee: Ja, das war kein schlechter Tag dafür.
In der Regel fand er das Segeln ein bisschen langweilig. Es diente hauptsächlich als Beweis dafür, dass ein Boot in Ordnung und dicht war, dass das Tuch richtig stand, die Blöcke nicht eingerostet waren und das Tauwerk hielt, was es sollte. Das ließ sich innerhalb einer Viertelstunde feststellen, und dann? Dann verging Zeit, viel Zeit. Im Übrigen verursachte die Segelei Rückenschmerzen, Schulterschmerzen, Sonnenbrand und so etwas wie Melancholie, wenn der Wind einschlief. Freude machte hingegen die Pflege eines Bootes, all das Spachteln und Lackieren, Prüfen und Schrauben, das Voraussehen von Schäden und Gefahren. Kein Wunder, dass die Eigner mehr Zeit unter ihren Booten verbrachten als in ihnen und auf dem Wasser. Ihre Klage, sie kämen vor lauter Instandhaltung nicht zum Segeln, war ein wichtiger Teil des Genusses.
Eine ungetrübte Freude war auch das Arbeiten an der Bootshütte, in deren Dunkel das Boot vor Sturm und Hagel, Eis und Schnee sicher liegen sollte. Gewiss, das Grobziel von alledem hieß »Segeln«. Aber welchem Zweck diente es, wohin segelte man? Am Strandbad vorbei, einmal hin und her mit halbem Wind, wobei man eifrig schaute, ob jemand schaute. Zum Segelhafen nach Seebruck, weil da so viele andere Boote unterwegs waren. Ab und zu ein Geschwindigkeitsvergleich mit anderen Booten hart am Wind, aber wozu? Um es einem der bauchigen Jollenkreuzer zu zeigen? Ein langes, schlankes Boot war nun einmal schneller als so eine schwimmende Plastiklaube, das wusste man vorher. Oder man fuhr zur Fraueninsel, um dort deutlich teurer zu essen als daheim. Auf dem Rückweg dann die erwähnte Flaute, und eigentlich musste man auf die Toilette. So ketzerisch dachte Wilhelm Weitling längst über das Segeln und entschied sich gewöhnlich dagegen.
Aber er wollte sich auch nichts vormachen: Er hatte von seiner körperlichen Behendigkeit in Jahren und Jahrzehnten einiges eingebüßt, war schwerer geworden, in den Gelenken eingerostet, der Rücken tat ihm schon ohne Segeln weh. Zudem stand er nicht mehr so sicher auf den Füßen wie als Junge. Das Segeln konnte zur Strapaze werden, auch wenn sein Kopf immer noch genau wusste, wie mit Wind und Neigung umzugehen war. Es war wie beim Radfahren: Man verlernt es nie, muss freilich noch aufsteigen, die Pedale treten und die Lenkstange führen können.
Ihm war vor dem Segeln, besonders dem Alleinsegeln, zunächst bange gewesen, darum hatte er es bis in den Hochsommer hinausgezögert. Immer hatte er noch etwas entdeckt, was an der Bootshütte oder am Boot zu basteln war, was gekauft und eingebaut werden musste. Beim Umgang mit Seilwinden, Beschlägen, Schrauben, Brettern, mit Pinsel und Farbe konnte ihm nichts Schlimmes passieren. Außer wenn er das alles ohne einen Willen zum Abschluss immer weiter betrieb, dann allerdings drohte Verblödung. Das hatte er ins Auge gefasst und das Boot schließlich doch einige Male gesegelt.
Das Ferienhaus, das er jetzt Sommer für Sommer mietete, hatte einst seinen Großeltern und Eltern gehört, er war darin aufgewachsen. Vater Weitling hatte es nach dem Tod seiner Frau einem von Wilhelms Volksschulfreunden verkauft, um ins Tessin zu ziehen. Das Haus stand hoch über dem Ostufer des Chiemsees, näher an Stöttham als an Chieming, hinter Bäumen verborgen und vom Fußweg am hohen Ufer im Sommer kaum zu sehen. Die Zufahrt mit dem Auto war nur über eine kleine Birkenallee von der östlich liegenden Landstraße her möglich. Man sah aus den Fenstern hauptsächlich Wald und Sträucher nach Westen wie nach Osten, einzig auf der Dachterrasse konnte man ungehindert westwärts auf den mächtigen See schauen.
Von außen sah das Haus immer noch so aus wie in Weitlings Kindheit. Und im Inneren waren zumindest die Dauergäste die gleichen geblieben: Im Winter bauten Mäuse ihre Nester im Sofa oder hinter der Spülmaschine, weil die elektrischen Frostwächter auch bei Eiseskälte ihr Überleben sicherten, im Frühjahr bekamen die Jungameisen Flügel und strebten unbeholfen durch das ganze Haus nach oben, im Sommer spannten eigensinnige Kreuzspinnen ihre Netze in jeden Türrahmen, im Spätherbst krabbelten überall verendende Wespen. Dazu im Garten eine muntere Population von Maulwürfen, Igeln, Mardern, Eichhörnchen, Katzen aus dem Dorf, Schnecken zuhauf. Krähenschwärme misstönten schon am frühen Morgen.
Hellhörig war das Haus wie eine Fregatte bei Flaute, und im Sturm ächzte und knarrte es zum Gotterbarmen. Feuchtigkeit war oft dort anzutreffen, wo sie nicht hingehörte, fehlte aber manchmal dort, wo man auf sie hoffte, die Wasserpumpe arbeitete unzuverlässig. Für einen Menschen, der naturnah leben wollte, war das Anwesen das reinste Paradies.
Was Weitling vermisste, waren die unendlich vielen Bücher, die in seiner Jugend die Wände gefüllt hatten. Fast jeden Tag stutzte er, weil er Meyers Konversationslexikon aus dem Jahre 1904 nicht mehr dort sah, wo es jahrzehntelang gestanden hatte. Und wie gern hätte er noch einmal in den Kinderbüchern gelesen: in den Oberheudorfer Buben- und Mädel-Geschichten, in Else Urys Nesthäkchen oder auch nur in dem Ermutigungsbuch, das er als ehrgeiziger Sechzehnjähriger studiert hatte, als wäre es der Katechismus, Fritz Pachtners Richtig denken - Richtig arbeiten. Die Wörter »denken« und »arbeiten« waren auf dem Umschlag unscheinbar klein und schwarz geschrieben, das zweifache »Richtig« hingegen leuchtete rot in Schreibschrift, wie von einem Lehrer am Rand einer guten Arbeit hinterlassen, weshalb Vater das Werk mit mildem Spott als das »Richtig-Richtig-Buch« bezeichnet hatte. Enthielt es Nützliches? Weitling erinnerte sich noch, dass es ein Kapitel »Aufgeben - nie!« gegeben hatte, ferner die Empfehlung, eine »Wissenskartei« anzulegen, damit man auf jedem Gebiet irgendwelche Details wusste und »mitreden« konnte. Natürlich hatte Willy eine solche Sammlung begonnen und für die zu erwartenden Informationen Kuverts beschriftet: »China und sonstige Ostblockstaaten, außer Sowjetunion«, »Technische Hilfsmittel, Apparaturen usw.« und »Laufbahn, eig. Zukunft«. Teil dieses Wissensvorrats war auch das Kuvert »Glaube usw«.
Aber nicht nur die Bücher seiner Jugend vermisste er, auch die Möbel, vor allem das erste und einzige, das ihm allein gehört hatte: ein Schränkchen, eigentlich nur eine Holzkiste mit Klapptür und zwei Schubladen, es war sein erster Schreibtisch, obwohl er noch kaum schreiben konnte.
Die Putzfrau, eine Frau Klähr, legte beim Saubermachen alle möglichen Gegenstände auf dieses Willy gehörende Möbel, Hefte, Schuhe, Nachttopf, und ließ dann alles dort. Wütend hatte er einen Bleistift in die Hand, nein, in die Faust genommen und in die Oberfläche des Kistchens gekratzt: »BITTE NICHZ HINLEGEN!!! FERST«. Aus Ferst hatte »ferstanden?« werden sollen, aber sein Zorn auf Frau Klähr hatte die Buchstaben zu groß werden lassen, das »anden« musste entfallen. Die Putzfrau häufte weiterhin alles auf Willys Schreibkiste, von »ferst« konnte keine Rede sein. Gäbe es das Ding noch, dachte Weitling, ich würde es als Talisman aufbewahren wie Citizen Kane den Schlitten »Rosebud«. Es wäre ideal gewesen, um das Faxgerät draufzustellen.
Schade auch, dass es den Treppenläufer nicht mehr gab, der mit runden Holzstäben in den Stufenwinkeln fixiert war. Nahm man diese Stäbe heraus, hatte man wunderbare Degen, um mit Freunden aus dem Dorf »Drei Musketiere « zu spielen. Einmal fochten sechs Buben im Garten, drei Stötthamer gegen drei Chieminger Musketiere. Der nichts ahnende Vater aber rutschte auf dem losen Läufer aus und setzte sich schmerzhaft auf den Steiß.
Weitling hatte zwei direkte Nachbarn: Siebzig Meter nördlich stand am höchsten Punkt des Uferwegs eine kleine Villa und südlich, deutlich unterhalb des Weitling- Hauses in einer kleinen Lichtung, das Holzhäuschen einer Försterswitwe, auch sie längst tot. Als Junge hatte er ihr den Namen »Dommelfey« gegeben, nach der Kräuterfrau in Waldemar Bonsels' Mario und die Tiere. Wer jetzt in diesen Häusern wohnte, wusste er nicht, vielleicht waren es ebenfalls Feriengäste.
Es war ihm gelungen, die alte Bootshütte unterhalb des Anwesens zu kaufen, die bisher nie zum Haus gehört hatte. Als Halbwüchsiger war er von den Besitzern verscheucht worden, wenn er sich nach dem Baden auf ihrem Dach sonnen wollte. Dass sie ihm jetzt gehörte, bestärkte ihn in dem Gefühl, im Leben doch das eine oder andere erreicht zu haben, außerdem war es ausgleichende Gerechtigkeit. Und weil eine Bootshütte nicht nur Badehütte sein soll, hatte er sich dann auch ein Boot zugelegt, eigentlich einen Kahn mit Segel, genannt Plätte, Chiemseeplätte. Als Junge hatte er so ein Boot gesegelt, man konnte Plätten in den Fünfzigerjahren mieten, tausend Meter weiter südlich in Chieming bei Franz Peteranderl, dem »Wegmacher- Franz«. Weil dessen Familie es generationenlang übernommen hatte, in der Gemeinde Wege auszubessern, hieß der Hof »beim Wegmacher« und die Mole, an der die Boote festmachten, der Wegmacherzipf.
In Bayern hieß alles, was aus Kies bestand und in einen See ragte, ein »Zipf«. Diesen hier gab es nur, weil der Bootsverleiher jahrelang Steine zusammengetragen und aufgeschichtet hatte. Wenn Kinder solche Steine ins Wasser warfen, weil sie schöner plumpsten als die kleineren, fuhr er fuchsteufelswild aus seiner Hütte und verjagte sie mit Beschimpfungen und Drohungen. Das war verständlich: Er musste Woche für Woche die hohen Gummistiefel anziehen und die Steine mit der Mistgabel wieder an ihren Ort bringen, damit es weiter eine Mole gab.
Franz, der seit einem Motorradunfall ein krummes Bein hatte, saß die meiste Zeit am Fenster und prüfte mit dem Glas, wie es den verliehenen Booten draußen auf dem See ging oder, wie er sie nannte, den Schiffen. Das bäuerliche Bairisch kennt keine Boote, und dem Wegmacher Franz zu Ehren nannte auch Richter Weitling sein Boot in der Regel »mein Schiff«. Als Junge hatte er es damals geschafft, beim Wegmacher kostenlos segeln zu dürfen. Mehr noch: Gegen einen Stundenlohn von 1,50 DM fuhr er Sommergäste spazieren, es war sein erstes selbstverdientes Geld. Damals hatten sogar Flauten ihr Gutes.
Und jetzt? Meist entschied er sich auch an sonnigen Tagen schon beim Frühstück dafür, heute lieber Sinnvolleres zu tun als zu segeln, etwa an einem Rechtsgutachten zu arbeiten oder zum hundertsten Mal sein Manuskript durchzusehen. An diesem Buch schrieb er seit Jahren, es hatte den Arbeitstitel »Ursprung und Zukunft des Rechtsempfindens « und sollte seine philosophischen und religiösen Gedankengänge mit den Erfahrungen als Jurist verbinden. Ja, religiös, Weitling bezeichnete sich als gläubigen Menschen.
Wilhelm Weitling, Richter a. D., Hauptadresse in Berlin- Charlottenburg, war seit Jahrzehnten verheiratet, allerdings kinderlos. Seine Frau betrieb einen kleinen Laden für Geschenkkartons im Bezirk Prenzlauer Berg und hatte einen großen Freundeskreis. Weitling selbst kannte man außerhalb von Berliner Juristen- und Polizeikreisen und Strafanstalten so gut wie nicht. Nannte er seinen vollen Namen, dann fiel dem Gegenüber meist ein Frühkommunist ein: Wilhelm Weitling, Schneidergeselle und eigensinniger Gegner von Karl Marx. Dann musste er antworten: »Kompliment, Sie wissen ja gut Bescheid!«
© Piper Verlag GmbH, München 2012
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Autoren-Porträt von Sten Nadolny
Nadolny, StenSten Nadolny, geboren 1942 in Zehdenick an der Havel, lebt in Berlin und am Chiemsee. Für sein Werk wurde er unter anderen mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 1980, dem Hans-Fallada-Preis 1985, dem Premio Vallombrosa 1986, dem Ernst-Hoferichter-Preis 1995 und dem Weilheimer Literaturpreis 2010 ausgezeichnet. Nach seinem literarischen Debüt »Netzkarte« erschien 1983 der Roman »Die Entdeckung der Langsamkeit«, der in alle Weltsprachen übersetzt wurde, und inzwischen zum modernen Klassiker der deutschsprachigen Literatur geworden ist. Danach veröffentlichte Sten Nadolny die Romane »Selim oder Die Gabe der Rede«, »Ein Gott der Frechheit«, »Er oder ich«, den »Ullsteinroman« und zuletzt der gemeinsam mit Jens Sparschuh verfasste Gesprächsband »Putz- und Flickstunde«. Für seinen Familienroman »Weitlings Sommerfrische« bekam er 2012 den Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sten Nadolny
- 2012, 6, 218 Seiten, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492054501
- ISBN-13: 9783492054508
Rezension zu „Weitlings Sommerfrische “
"Ein Buch über die verlorene Identität und eine poetische Zeitreise durch das Leben des Autors als multiple Persönlichkeit.", Radio Bremen, Literaturzeit, 08.10.2012
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