Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen
Roman
Risiken abzusichern ist ihr Geschäft. Doch sie verstrickt sich in Unsicherheiten, trügerische Phantasien und Ängste. Brillant, packend und raffiniert erzählt Thomas von Steinaeckers großer Zeitroman von unserer Welt, in der alle Sicherheiten endgültig...
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Produktinformationen zu „Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen “
Klappentext zu „Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen “
Risiken abzusichern ist ihr Geschäft. Doch sie verstrickt sich in Unsicherheiten, trügerische Phantasien und Ängste. Brillant, packend und raffiniert erzählt Thomas von Steinaeckers großer Zeitroman von unserer Welt, in der alle Sicherheiten endgültig abhanden gekommen sind und unsere Sehnsüchte in die Irre führen. Ein schlau-präzises und gespenstisch-surreales Porträt unserer Gegenwart.Renate Meißner wird versetzt, befördert und gewinnt für ihre Versicherungsgesellschaft einen großen Auftrag. Doch eine interne Evaluierung ergibt, dass in ihrer Abteilung Stellen gestrichen werden. Vielleicht war die Versetzung ein abgekarterter Spiel, um sie loszuwerden? Der große Auftrag ein Test? Sie reist nach Russland, um die Grande Dame hinter dem Projekt kennenzulernen, die Herrin über ein generationenaltes Vergnügungspark-Imperium. Die Greisin scheint erstaunliche Ähnlichkeiten mit Renates verschwundener Großmutter zu haben. In einer Welt futuristischer Jahrmarktsattraktionen verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Phantasie. Welcher Wirklichkeit ist noch zu trauen?
Thomas von Steinaeckers Roman entwirft ein großes Panorama, das mit Fotos, Zeichnungen und Tabellen die Möglichkeiten realistischen Erzählens auslotet und ein phantastisches Paranoia-Spiel in Gang setzt.
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Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen von Thomas von Steinaecker... mehr
Am Morgen meines ersten Arbeitstages in München, der 01. Oktober 2008, blieb ich irritiert im Untergeschoss der U-Bahnstation Nordfriedhof vor den Treppen stehen, die an die Oberfläche führten. Dort, wo die Überdachung endete und damit auch die Wärme, die sich in den unterirdischen Räumen wie eine Erinnerung an den Sommer hielt, bedeckte ein feiner Film aus Schnee die Stufen. Seit für die Region Wetteraufzeichnungen existieren, war es erst ein, zwei Mal zu einem so plötzlichen Kälteeinbruch gekommen. Außerdem hatte, wenn mir mein Gedächtnis keinen Streich spielt, die RTL-Wetterfee, bei der ich mich immer fragte, ob ihr blondes Haar auch in natura so dezent matt glänzt oder ob es sich um einen digitalen Effekt handelt, leichte Bewölkung vorhergesagt, nicht jedoch Regen, geschweige denn Schnee. Als ich eine halbe Stunde zuvor meine Wohnung in der Maxvorstadt verlassen hatte, war es zwar stürmisch gewesen - irgendetwas zwischen Windstärke vier und fünf, schätze ich -, aber trocken. Bei feuchtem Belag ist das Treppensteigen mit 7-cm-Absätzen beschwerlich.
Die »Gala« sagt: »Mörder-High-Heels ruinieren Victoria Beckhams Gesundheit.« Angela Braly, geborene Fick, Geschäftsführerin von WellPoint Inc.-Versicherungen und laut Forbes die aktuell fünfmächtigste Frau der Welt, sagt: »After all I am still a woman, what do you think?« Ellen von Unwerth, Starfotografin, sagt: »The higher the heel, the better I feel.« Meine beste Freundin Lisa Miller sagt: »Nicht klagen, tragen.«
Draußen herrschte eine von den Straßenlaternen und den Lichtern in den umliegenden Gebäuden ungesund orange eingefärbte Dämmerung, durch die Flocken wirbelten. Auf der anderen Seite des Mittleren Rings bemerkte ich eine Trauergemeinde. Vor den Mauern des Friedhofs, hinter denen die schwarzen Flügel der Engelsstatuen und Kreuze hervorragten, gingen circa dreißig Frauen und Männer in langen dunklen Mänteln und mit gesenkten Häuptern eng beisammen. Es war mir, als könnte ich ihren Schmerz spüren, der in mir, ohne dass ich es kontrollieren konnte, die Erinnerung daran auslöste, wie ich selbst vor wenigen Monaten, im Juli, nur ein paar Kilometer entfernt, in einer kleinen Aussegnungshalle gestanden hatte. Doch dann steuerten die vermeintlich Trauernden nicht auf die Kapelle zu, sondern auf das Business-Towers-Areal einige Straßen weiter. Sie waren auf dem Weg zur Arbeit wie ich.
Alle vier Sekunden geschieht in Deutschland ein Unfall. Über 39% aller Knochenbrüche in den westeuropäischen Ländern ereignen sich bei Neuschnee. Angesichts der Größe der Gruppe standen die Chancen somit nicht schlecht für ein plötzliches Ausgleiten, eine unsanfte Landung, eine kostspielige Fraktur. Und wenn es hier keinen traf, dann jemanden in der Nähe, genau jetzt, mit Sicherheit. Es würde passieren. Es passierte.
Düster und trutzig erhoben sich über den Dächern der Flachbauten und den Baumwipfeln die High-Light-Towers mit ihren 33 und 28 Geschossen, meine künftige Arbeitsstätte, in der bereits mehr Fenster erhellt waren, als ich erwartet hatte. Glücklicherweise hatte man mich zuvor genauestens informiert, wie man von der U-Bahnstation zum Areal gelangte, über Fußgängerbrücken, durch Wohnblöcke und Unterführungen unter der Autobahn hindurch, ansonsten wäre ich an diesem Morgen verloren gewesen und am Mittleren Ring entlanggeirrt, immer das Ziel, die Türme vor Augen, ohne Aussicht, sie je zu erreichen.
Die Büros der CAVERE-Abteilung München-Nord waren im 14. Stockwerk des Ostturmes untergebracht, jene der Zentrale in den 19 Etagen darüber. Während ich das Klingelschild drückte und die beiden Türen mit einem Summen von selbst aufschwangen, las ich fast ausnahmslos die Namen von Vermögens- und Steuerberatern, Anwaltskanzleien und Werbefirmen. Das war die Gesellschaft, der sich CAVERE zugehörig fühlte. So war es in Frankfurt gewesen, so war es auch hier. You think big? We too.
Der Außenlift verfügte über die übliche Notruftaste. Ordnungsgemäß wies das TÜV-Schild das nicht allzu weit zurückliegende Baujahr aus. Sanft und geräuschlos, was auf gewartete Seile schließen ließ, hob sich die Kabine empor. In meinem Taschenspiegel richtete ich meine in Mitleidenschaft gezogene Frisur. Wie immer trug ich Make-up, Puder, Wimperntusche, Lidschatten, Eyeliner und sehr dezenten roten Lippenstift. Ohne Make-up, Puder, Wimperntusche, Lidschatten, Eyeliner und Lippenstift war ich kein Mensch. Kräftig kniff ich mich. Rasch zeigten meine schmerzenden Wangen den gewünschten Effekt, ein gesundes Rosa.
Ohne einen Zwischenfall öffnete sich die Tür zum Halbrund des Empfangsbereichs der CAVERE-Abteilung München-Nord. Die Farben des Unternehmens, Orange-Blau, die in breiten Streifen an den beiden gewölbten Wänden entlangliefen, erinnerten mich an die Flagge eines Landes, dessen Name mir entfallen war. Studien haben bewiesen, dass die Farbkombination Orange-Blau die meisten Menschen in eine positive Stimmung versetzt. Der blaugraue Kurzhaarteppich harmonierte mit der steingrauen Sechser-Ledersitzgruppe vor einem Flachbildfernseher, auf dem das rote Tickerband von »n-tv« lief, sowie mit dem Gelbgrün der Birkenfeige im Topf, die gern mit einem Ficus verwechselt wird. Daneben die massive und dennoch wie mühelos geschwungene Theke aus Kastanienholz, nicht nur eine Einrichtung, eine Raumlandschaft.
Das Flattern in meinem Brustbereich, das durch das vor einer knappen Stunde eingenommene Trevilor seltsamerweise nicht abgeschwächt, sondern verstärkt worden war, schwand in diesem Moment, und meine Professionalität kehrte zurück. Lächelnd plus festen Schrittes steuerte ich auf die vielleicht 30-jährige, zu dicke Frau im braunen Hosenanzug zu.
»Guten Morgen, Frau Aktan«, las ich vom Namensschild ab und fragte mich, in welchem Verhältnis ihr Migrationshintergrund zur Ethnizität des durchschnittlichen CAVERE-Kunden in München-Nord stand. »Guten Morgen ... ähm ... «, sie strich sich die langen schwarzen Locken hinters Ohr und versuchte, ihre Irritation zu überspielen, was mir Vergnügen bereitete. »... der Publikumsverkehr beginnt eigentlich erst um acht.«
»Renate Meißner.« Ich machte eine Pause, um zu sehen, welche Wirkung mein Status auf sie hatte. Keine. »Ich bin Renate Meißner. Die neue stellvertretende Abteilungsleiterin.«
»Stellvertretende ... Abteilungsleiterin?«
»Renate Meißner«, wiederholte ich.
»Das ist ja merkwürdig. Davon ... ähm ... weiß ich ja gar nichts.« Sie blätterte in einem großformatigen Kalender. »Vielleicht ein Stockwerk höher? In der Zentrale ein Stockwerk höher?« Sie griff nach dem Telefon. »Einen Moment. Ich frage mal schnell nach ...« Während sie darauf wartete, dass jemand abhob, starrte sie mir in die Augen.
»Ist hier nicht die Anmeldung für die Abteilung Nord ... Ach so, macht man das oben?« Ich lachte zu laut. Frau Aktan antwortete mir nicht. Sie flüsterte in den Hörer.
Die orange-blauen Streifen. Der Nachrichtensprecher im Fernseher, der zu den Lederstühlen und der Birkenfeige sprach.
Ich versuchte, mir in Erinnerung zu rufen, wie auf der Anzeige im Lift die Vierzehn erschienen war, was mir nicht gelang. Wo war der CAVERE-Schriftzug? Der Raum passte für mich mit einem Mal viel besser zu einer Werbefirma als zu einer Versicherung. Eine Aktan ebenso. »Frau Meißner?« Ein sonorer Bariton aus dem hellen Korridor. Ein knapp 60-jähriger, zwei Köpfe größer als ich, Halbglatze, schwarzer Schnauzer, Brille, im Eilschritt, der Nadelstreifen-Anzug von Benvenuto, darin, drahtig, ein gesunder Mann, Willy Scholz, der Leiter, ich seine Stellvertreterin. 100 %ig souverän lächelnd, löste ich mich von der schwitzig-feucht gewordenen Oberfläche der Theke, die mir Halt gegeben hatte.
»Hatte eben Strunk am Apparat.« Er entblößte die geraden weißen Zähne seines Oberkiefers, Brücken oder Implantate, eine schmerzhafte, aber hinsichtlich des täglichen Kundenkontakts sinnvolle Operation, und schüttelte mir die Hand, während er mir auf die rechte Schulter klopfte. Sein Blick, der mich ein, zwei Sekunden länger als üblich maß. »Die Nachbesserung unseres Angebots für die Fitness-Center beim Stadion scheint zu fruchten. Es handelt sich um vier Center.«
Die Empfangsdame, die aufgehört hatte zu existieren, sagte von der Seite: »Das ist mir aber jetzt wirklich unangenehm. Ich war die letzten Tage nicht im Büro, und meine Vertretung hat das vergessen zu notieren. Schön, dass Sie da sind und willkommen bei uns.«
Ich schenkte ihr ein Lächeln, mit dem ich signalisierte, dass ich ihr vergab, obwohl ich in meiner Position auch anders gekonnt hätte. Ich habe ein Herz.
Scholz streckte einladend seinen Arm aus, zum Korridor deutend, und senkte den Kopf, um mir den Vortritt zu lassen. Er trug eine Breitling Uhr. »Wollen wir?«
Ich überlegte, ob ich auf sein Gesprächsangebot zu Strunk, dem Inhaber der Fitness-Center-Kette, ich hatte mich umgehört, eingehen sollte, war aber dann überzeugt, dass es sich empfahl, abzuwarten, bis ich mein Gegenüber besser einschätzen konnte. Scholz roch nach Fuel, dem neuen Diesel-Duft, erinnere ich mich richtig.
»Führe Sie mal ein wenig rum. Ist eigentlich, wie gesagt, was die Orientierung betrifft, ganz simpel hier. Rechts die Vermittler, gegenüber davon das Großraumbüro mit den Schadensregulierern ... «
Er hätte ebenso sagen können: »Sie werden sehen, Ihre Strafversetzung, ich nenne das mal so, von Frankfurt nach München wird auch etwas Gutes haben. Stellvertretende Abteilungsleiterin ist doch auch nicht übel, noch dazu eine Beförderung. Na, wir werden schon gut miteinander auskommen, meinen Sie nicht?« Oder Ähnliches. Er hätte mich als Mensch abgeholt, plus es wäre aus der Welt gewesen. Letztlich war es allerdings positiv zu werten, dass er die Umstände meines Hierseins nicht offen ansprach. Das erlaubte die Konzentration aufs Wesentliche.
Dachte er: »Die ist es also. So sieht die also aus. Naja, ganz appetitlich. Die hat also der Walter Albrecht vernascht. Nur: Der hat sich für seine Frau entschieden, und jetzt knallt der mir seine Ex-Gespielin vor den Latz. Ob die überhaupt das Zeug hat zur SV?« Sollten ihm derartige Gedanken tatsächlich durch den Kopf gegangen sein, gebrauchte er dann das Wort »vernaschen«, »vögeln« oder »schnackseln«, oder war er letztlich so durchweg korrekt, dass er, nur für sich, mit seinem fränkischen Dialekt, den Ausdruck »etwas mit jemandem haben« verwendete?
»12 SBs, oder?«, ergänzte ich.
»Ganz richtig.« Er schaute erfreut, als hätte ich ihm soeben eine gute Nachricht überbracht. »Ich sehe, Sie sind im Bilde.« Vor der geöffneten Tür zu einem dunklen Zimmer: »Ihre Kollegen von der Vermittlung. Hier Martin Luckner«, vor der geschlossenen Tür daneben, »Serdar Koban ... «. Glücklicherweise war ich die einzige Frau unter den CAVERE-Nord-Vermittlern. In Frankfurt hatte vor drei Jahren eine jüngere Kollegin das Team verstärkt, wie man so sagt. Tamara Kretschmann. Vom Zeitpunkt ihres Eintreffens an rückte ich aus dem Fokus meiner männlichen Mitarbeiter. Deren Blick richtete sich, gingen wir beide auf dem Korridor an ihnen vorbei, nicht mehr allein auf mich, sondern wanderte unfreiwillig auf die Gesichts- bzw. Brust- bzw. Gesäß-Region meiner Kollegin direkt neben mir. Bald schon hatte der Frankfurter Leiter die Tendenz, Tamara Kretschmann diejenigen potentiellen männlichen Kunden anzuvertrauen, deren Nicht-Akquise für das Unternehmen schmerzhaft gewesen wäre. Anfangs unterschätzte ich diese Entwicklung - ich bin eine Gegnerin der Stutenbissigkeit -, nur um erkennen zu müssen, dass die Gegenmaßnahmen, die ich schließlich ergriff, um zu punkten - Mehrarbeit, Kreativkonzepte, Veränderung des Erscheinungsbildes -, kaum die gewünschte Wirkung hatten. »... und hier unser Dienstältester.«
Ich las »Rolf Katzer« auf dem Schild neben einem Büro mit der Nummer 1407, das vollkommen leergeräumt war. Lediglich in der Mitte ein weißer Schreibtisch, hinter dem ein Mann kniete. Als er uns hörte, erhob er sich, ein Hüne, einen Schraubenzieher in der Hand, die neue Krawatte ruhte auf dem äußersten Punkt seines birnenförmigen Bauchs. Gelblich-braune Gesichtshaut, Falten, Kettenraucher. Ich gab ihm noch vier, maximal sechs Jahre.
Obwohl ich sofort Gernot Lindinger, den vierten München-Nord-Vermittler, von der CAVERE-Homepage erkannte, tat ich erstaunt: »Herr Katzer?« Scholz blies amüsiert Luft durch die Nase, direkt im Anschluss auch der Dienstälteste, ein seltsames Ventil-Geräusch-Echo. »Um Gottes willen, bloß nicht. Ich heiße Lindinger. Seit 20 Jahren Vermittler dieser schönen Firma hier.« Auffallend, wie er »schön« betonte, ohne dass auszumachen war, ob er das ironisch meinte. Seine Kurzatmigkeit nötigte ihn, zwischen den Wörtern Pausen einzulegen. Ansonsten eine Stimme, die sicherlich früher eindrucksvoll sowohl in allgemeines Gelächter mit einfallen wie Untergeordnete zurechtweisen hatte können, nun aber rachitisch belegt und brüchig Lindingers desolaten körperlichen Zustand offenbarte. Möglich, dass Lindinger und der mir unbekannte Katzer aus welchen Gründen auch immer an diesem Tag ihre Büros tauschten. Man würde mich im Lauf des Tages über den neuen Kollegen aufklären, wahrscheinlich eine kurzfristige Verstärkung unseres Teams.
Als der Dienstälteste begann: »Und Sie sind also die Neue hier? Die, die's richten soll, was? Na, ich kann Ihnen gerne erzählen, wie das hier so läuft ... «, unterbrach ihn Scholz: »Ist schon gut, Gernot. Lass Frau Meißner doch erst einmal ankommen, bevor du sie hier zwischen Tür und Angel überfällst«, und tippte mir sanft an die Schulter, um mich zum Weitergehen aufzufordern. Er zwinkerte nervös.
»Schönen Tag noch! Und vielleicht bis später!« Lindingers Stimme in unserem Rücken, die »schön« ebenso wie »später« zweideutig betonte. Draußen im Korridor drehten wir um, ohne das Ende erreicht zu haben. An den Wänden hingen großformatige Fotos von Gruppen gut-gekleideter Menschen während eines Empfangs oder einer Vernissage, die an Stehtischen miteinander plauderten. Es konnte sich auch um Kunst handeln.
»Wir fahren noch schnell zum Chef von dem Ganzen, solange der im Haus ist. Lause. Danach zeige ich Ihnen Ihr Büro. Die Zentrale der CAVERE-Bayern ist ja über uns, wie Sie wissen.«
Unvermittelt hatte Scholz begonnen, imaginäre Fussel von seinem Jackett zu wischen, was darauf schließen ließ, dass ihm die Themen Zentrale und Lause nicht 100 %ig angenehm waren.
Das Büro des Vorstands im 32. Stockwerk wirkte durch die Panoramafenster noch größer, als es tatsächlich war. Ein Schreibtisch aus hellgrauem Stein, nicht Marmor, mit einem Flatscreen und einem Telefon darauf, zwei Stühle davor, ein Schrank mit Handwörterbüchern und zwei Statuen, wahrscheinlich aus Stahl, organisch, schneckengehäuse oder ohrmuschelartig, ansonsten Weite, Leere. Die Macht zeigt sich in den verhältnismäßig riesigen Zwischenräumen zwischen den wenigen Objekten, dachte ich, als uns die Sekretärin im Bleistiftrock die Tür aufhielt und wir eintraten.
Lause war hager, circa ebenso alt wie ich und ebenso groß wie ich mit Absätzen. Er trug eine Omega-Uhr. Als Willy Scholz zwischen mir und Lause bei jedem Satz, mit dem er mich vorstellte, auf und ab wippte, Lause mit seinem klaren blauen Blick mich zwei, drei Sekunden länger als üblich maß und ich spürte, wie sich eine Angst-Kuppel um Scholz aufbaute, wie er mit den verschränkten Armen zuckte, 20 Jahre älter als der Vorstand, diesem körperlich deutlich überlegen, aber bei jeder Konferenz, bei jeder Bitte um eine finale Absegnung konfrontiert mit der Tatsache: Ich habe es nicht so weit gebracht wie du, da versuchte ich meinen eigenen professionellen Modus zu wahren, indem ich, wie ich es hin und wieder, einfach so zum Vergnügen und zur Übung tat, taxierte. Wie viel waren die Leben der beiden Männer vor mir wert? In Beziehung zu setzen war die durchschnittliche Lebenserwartung eines deutschen Mannes im Herbst 2008 mit dessen hierarchischer Position und den damit einhergehenden gesundheitlichen Risiken plus den bislang geleisteten Beitragszahlungen, wobei vorauszusetzen war, dass eine höhere hierarchische Position einen umfassenderen Versicherungsschutz und damit auch eine höhere Police bedingte. Unter Berücksichtigung, dass Lause seine Position nicht länger als fünf Jahre innehatte und somit auch erst in diesem Zeitraum einen umfassenderen Versicherungsschutz in Anspruch nahm, lag der Wert Willy Scholz' im sechsstelligen Bereich, der des Vorstands aber deutlich darunter. Ich beeilte mich, beiden zu versichern, wie sehr es mich freue, dass und so weiter.
Auf der Fahrt zurück besaß Scholz' Haltung nichts Legeres mehr, er wirkte erschöpft. Zur Chromwand gegenüber flüsterte er: »So. Jetzt kennen Sie also auch den Vorstand. Guter Mann. Wir hoffen hier ja alle, dass er den Laden wieder flott kriegt. Sind ja sicher mit den Quartalszahlen vertraut. Dabei ist das nicht einmal unsere Schuld. Wir sind es, die die Gewinne einfahren. München fährt Gewinne ein. Und Frankfurt verzockt sie ... Wie gesagt, das Aktuariat dort.« Er schüttelte den Kopf und machte eine Pause. »Bitte löschen, was ich eben gesagt habe.« Es mochte Zufall sein, dass er mich bei dem Wort »löschen« anblickte, und ich glaubte, durch seine Brille und seine enttäuschten braunen Augen hindurch in seine Seele, was immer man sich darunter vorstellen mag, blicken zu können.
»Schaffen das natürlich. Wäre ja gelacht, noch dazu jetzt, wo Sie bei uns sind, meinen Sie nicht?« Plötzlich klangen seine Sätze wieder sonor. Wir schritten durch den Empfang, er mit durchgedrücktem Kreuz, federnd, wie zuvor. Indem Scholz eben absichtlich im Lift Gefühl gezeigt hatte, war eine Vertrauensbasis zwischen uns entstanden, schien mir. Je mehr wir uns Frau Aktan näherten, desto lauter und akzentuierter sprach er jetzt, um bei Erreichen der Theke zu schließen: »Frau Aktan wird Sie jetzt zu Ihrem Büro begleiten. Sie rufen, wenn Sie etwas brauchen. In diesem Fall bitte an Kollegen Koban oder Luckner wenden. Die Anwesenheit beim Strategie-Meeting mittwochs ist obligatorisch. Das Verfassen der wöchentlichen Bilanz ist obligatorisch. Der wöchentliche Bericht für den Controller ist obligatorisch. Unsere Abteilung steht bis 31. Dezember unter der Beobachtung eines Controllers aus der Zentrale. Wie auch immer. Wegen der Zielvereinbarung für diese Woche komme ich später auf Sie zu. Die Hauptpforte wird um 21 Uhr 30 vom Facility Manager abgesperrt. Sich einsperren zu lassen, wie dies einige Kollegen schon praktiziert haben, trägt nicht zur Popularität bei. Was glauben Sie, wie mir der Betriebsrat im Nacken sitzt, dass wir hier alle auch ja und so weiter? Der Besuch der Kantine ist im Übrigen nicht obligatorisch und außerdem auch nicht empfehlenswert. Also. Weiter geht's. Sie verstehen schon.«
Er schmunzelte. Ich versuchte, drei Adjektive zu finden, die ihn treffend beschrieben, eines für das Äußere, eines für das Innere und eines für den Gesamteindruck, ein gutes Mittel, um Menschen und ihr Verhalten in jeder Situation richtig einordnen zu können. Die Adjektive lagen mir auf der Zunge.
Auf dem Weg zu meinem Büro am Ende des Korridors erklärte mir Frau Aktan, die beiden anderen Vermittler Serdar und Martin würden bald eintreffen, auch Gerda, die Betriebsrätin aus der Schadensregulierung im 21. Stock, ihre Bekanntschaft sei »obligatorisch«, sie zwinkerte mir zu und entschuldigte sich nochmals für ihren »Blackout«. Frau Aktan nannte alle nur beim Vornamen; offensichtlich herrschten hier andere Gepflogenheiten als in Frankfurt, wo wenig von flachen Hierarchien gehalten wurde. Sie erwartete, dass ich ihr das Du anbot, was ich nicht tat. »Das Du ist ein Asset, das man nicht zu früh aus der Hand geben sollte.« Und: »Die Einwilligung ins angebotene Du ist die soziale Defloration. Man sollte da vorsichtig sein. Gerade du als Frau«, pflegte Walter zu sagen.
Ein paar Sekunden später schloss sich hinter mir die Tür meines neuen Büros. Es war nahezu 100%ig still. Die Pressspanplatten an der Decke, die Stärke der Wände und die isolierten Fensterscheiben garantierten eine Dezibelzahl, die meinem Wunschwert entsprach. Ich muss bei der Arbeit durch die Ausschaltung aller Hintergrundgeräusche meinen Herzschlag und das leichte Sirren in meinen Ohren hören können. Nur so kann ich optimale Leistungen erbringen. Mein Blick glitt vom Computer, ein Dell, auf den weißen Schreibtisch mit der Glasplatte, den schwarzen Ledersessel über die beiden schwarzen Stühle für die Kunden zu den circa einen Meter hohen, wichtiges zusätzliches CO2 produzierenden plus das von den Möbeln abgegebene Formaldehyd neutralisierenden Grünlilien an der Fensterwand, wohl eines der wenigen Überbleibsel meiner Vorgängerin, über die ich sonst kaum Informationen besaß. Den farblichen Akzent im Raum setzte ein exakt in der Mitte der Wand gegenüber des Tisches angebrachtes silbern gerahmtes Kunstdruckplakat aus der »20th Century Hits«- Serie, die auch in den Büros in Frankfurt hing. Es handelte sich ausschließlich um Werke von Künstlern des 20. Jahrhunderts, die a) eine beruhigende Wirkung auf den Kunden und den Angestellten ausübten und b) zu den Top Twenty der teuersten Gemälde der Welt gehörten. In meinem Fall war dies das mir nur zu Genüge bekannte »Edward Hopper: Sonne in einem leeren Zimmer«. Das bedeutete, dass ich erneut keines der drei Bilder erhalten hatte, deren Originale bisher die 100-Millionen-Dollar-Marke gerissen hatten, Pollock, Klimt, Picasso.
...
Am Morgen meines ersten Arbeitstages in München, der 01. Oktober 2008, blieb ich irritiert im Untergeschoss der U-Bahnstation Nordfriedhof vor den Treppen stehen, die an die Oberfläche führten. Dort, wo die Überdachung endete und damit auch die Wärme, die sich in den unterirdischen Räumen wie eine Erinnerung an den Sommer hielt, bedeckte ein feiner Film aus Schnee die Stufen. Seit für die Region Wetteraufzeichnungen existieren, war es erst ein, zwei Mal zu einem so plötzlichen Kälteeinbruch gekommen. Außerdem hatte, wenn mir mein Gedächtnis keinen Streich spielt, die RTL-Wetterfee, bei der ich mich immer fragte, ob ihr blondes Haar auch in natura so dezent matt glänzt oder ob es sich um einen digitalen Effekt handelt, leichte Bewölkung vorhergesagt, nicht jedoch Regen, geschweige denn Schnee. Als ich eine halbe Stunde zuvor meine Wohnung in der Maxvorstadt verlassen hatte, war es zwar stürmisch gewesen - irgendetwas zwischen Windstärke vier und fünf, schätze ich -, aber trocken. Bei feuchtem Belag ist das Treppensteigen mit 7-cm-Absätzen beschwerlich.
Die »Gala« sagt: »Mörder-High-Heels ruinieren Victoria Beckhams Gesundheit.« Angela Braly, geborene Fick, Geschäftsführerin von WellPoint Inc.-Versicherungen und laut Forbes die aktuell fünfmächtigste Frau der Welt, sagt: »After all I am still a woman, what do you think?« Ellen von Unwerth, Starfotografin, sagt: »The higher the heel, the better I feel.« Meine beste Freundin Lisa Miller sagt: »Nicht klagen, tragen.«
Draußen herrschte eine von den Straßenlaternen und den Lichtern in den umliegenden Gebäuden ungesund orange eingefärbte Dämmerung, durch die Flocken wirbelten. Auf der anderen Seite des Mittleren Rings bemerkte ich eine Trauergemeinde. Vor den Mauern des Friedhofs, hinter denen die schwarzen Flügel der Engelsstatuen und Kreuze hervorragten, gingen circa dreißig Frauen und Männer in langen dunklen Mänteln und mit gesenkten Häuptern eng beisammen. Es war mir, als könnte ich ihren Schmerz spüren, der in mir, ohne dass ich es kontrollieren konnte, die Erinnerung daran auslöste, wie ich selbst vor wenigen Monaten, im Juli, nur ein paar Kilometer entfernt, in einer kleinen Aussegnungshalle gestanden hatte. Doch dann steuerten die vermeintlich Trauernden nicht auf die Kapelle zu, sondern auf das Business-Towers-Areal einige Straßen weiter. Sie waren auf dem Weg zur Arbeit wie ich.
Alle vier Sekunden geschieht in Deutschland ein Unfall. Über 39% aller Knochenbrüche in den westeuropäischen Ländern ereignen sich bei Neuschnee. Angesichts der Größe der Gruppe standen die Chancen somit nicht schlecht für ein plötzliches Ausgleiten, eine unsanfte Landung, eine kostspielige Fraktur. Und wenn es hier keinen traf, dann jemanden in der Nähe, genau jetzt, mit Sicherheit. Es würde passieren. Es passierte.
Düster und trutzig erhoben sich über den Dächern der Flachbauten und den Baumwipfeln die High-Light-Towers mit ihren 33 und 28 Geschossen, meine künftige Arbeitsstätte, in der bereits mehr Fenster erhellt waren, als ich erwartet hatte. Glücklicherweise hatte man mich zuvor genauestens informiert, wie man von der U-Bahnstation zum Areal gelangte, über Fußgängerbrücken, durch Wohnblöcke und Unterführungen unter der Autobahn hindurch, ansonsten wäre ich an diesem Morgen verloren gewesen und am Mittleren Ring entlanggeirrt, immer das Ziel, die Türme vor Augen, ohne Aussicht, sie je zu erreichen.
Die Büros der CAVERE-Abteilung München-Nord waren im 14. Stockwerk des Ostturmes untergebracht, jene der Zentrale in den 19 Etagen darüber. Während ich das Klingelschild drückte und die beiden Türen mit einem Summen von selbst aufschwangen, las ich fast ausnahmslos die Namen von Vermögens- und Steuerberatern, Anwaltskanzleien und Werbefirmen. Das war die Gesellschaft, der sich CAVERE zugehörig fühlte. So war es in Frankfurt gewesen, so war es auch hier. You think big? We too.
Der Außenlift verfügte über die übliche Notruftaste. Ordnungsgemäß wies das TÜV-Schild das nicht allzu weit zurückliegende Baujahr aus. Sanft und geräuschlos, was auf gewartete Seile schließen ließ, hob sich die Kabine empor. In meinem Taschenspiegel richtete ich meine in Mitleidenschaft gezogene Frisur. Wie immer trug ich Make-up, Puder, Wimperntusche, Lidschatten, Eyeliner und sehr dezenten roten Lippenstift. Ohne Make-up, Puder, Wimperntusche, Lidschatten, Eyeliner und Lippenstift war ich kein Mensch. Kräftig kniff ich mich. Rasch zeigten meine schmerzenden Wangen den gewünschten Effekt, ein gesundes Rosa.
Ohne einen Zwischenfall öffnete sich die Tür zum Halbrund des Empfangsbereichs der CAVERE-Abteilung München-Nord. Die Farben des Unternehmens, Orange-Blau, die in breiten Streifen an den beiden gewölbten Wänden entlangliefen, erinnerten mich an die Flagge eines Landes, dessen Name mir entfallen war. Studien haben bewiesen, dass die Farbkombination Orange-Blau die meisten Menschen in eine positive Stimmung versetzt. Der blaugraue Kurzhaarteppich harmonierte mit der steingrauen Sechser-Ledersitzgruppe vor einem Flachbildfernseher, auf dem das rote Tickerband von »n-tv« lief, sowie mit dem Gelbgrün der Birkenfeige im Topf, die gern mit einem Ficus verwechselt wird. Daneben die massive und dennoch wie mühelos geschwungene Theke aus Kastanienholz, nicht nur eine Einrichtung, eine Raumlandschaft.
Das Flattern in meinem Brustbereich, das durch das vor einer knappen Stunde eingenommene Trevilor seltsamerweise nicht abgeschwächt, sondern verstärkt worden war, schwand in diesem Moment, und meine Professionalität kehrte zurück. Lächelnd plus festen Schrittes steuerte ich auf die vielleicht 30-jährige, zu dicke Frau im braunen Hosenanzug zu.
»Guten Morgen, Frau Aktan«, las ich vom Namensschild ab und fragte mich, in welchem Verhältnis ihr Migrationshintergrund zur Ethnizität des durchschnittlichen CAVERE-Kunden in München-Nord stand. »Guten Morgen ... ähm ... «, sie strich sich die langen schwarzen Locken hinters Ohr und versuchte, ihre Irritation zu überspielen, was mir Vergnügen bereitete. »... der Publikumsverkehr beginnt eigentlich erst um acht.«
»Renate Meißner.« Ich machte eine Pause, um zu sehen, welche Wirkung mein Status auf sie hatte. Keine. »Ich bin Renate Meißner. Die neue stellvertretende Abteilungsleiterin.«
»Stellvertretende ... Abteilungsleiterin?«
»Renate Meißner«, wiederholte ich.
»Das ist ja merkwürdig. Davon ... ähm ... weiß ich ja gar nichts.« Sie blätterte in einem großformatigen Kalender. »Vielleicht ein Stockwerk höher? In der Zentrale ein Stockwerk höher?« Sie griff nach dem Telefon. »Einen Moment. Ich frage mal schnell nach ...« Während sie darauf wartete, dass jemand abhob, starrte sie mir in die Augen.
»Ist hier nicht die Anmeldung für die Abteilung Nord ... Ach so, macht man das oben?« Ich lachte zu laut. Frau Aktan antwortete mir nicht. Sie flüsterte in den Hörer.
Die orange-blauen Streifen. Der Nachrichtensprecher im Fernseher, der zu den Lederstühlen und der Birkenfeige sprach.
Ich versuchte, mir in Erinnerung zu rufen, wie auf der Anzeige im Lift die Vierzehn erschienen war, was mir nicht gelang. Wo war der CAVERE-Schriftzug? Der Raum passte für mich mit einem Mal viel besser zu einer Werbefirma als zu einer Versicherung. Eine Aktan ebenso. »Frau Meißner?« Ein sonorer Bariton aus dem hellen Korridor. Ein knapp 60-jähriger, zwei Köpfe größer als ich, Halbglatze, schwarzer Schnauzer, Brille, im Eilschritt, der Nadelstreifen-Anzug von Benvenuto, darin, drahtig, ein gesunder Mann, Willy Scholz, der Leiter, ich seine Stellvertreterin. 100 %ig souverän lächelnd, löste ich mich von der schwitzig-feucht gewordenen Oberfläche der Theke, die mir Halt gegeben hatte.
»Hatte eben Strunk am Apparat.« Er entblößte die geraden weißen Zähne seines Oberkiefers, Brücken oder Implantate, eine schmerzhafte, aber hinsichtlich des täglichen Kundenkontakts sinnvolle Operation, und schüttelte mir die Hand, während er mir auf die rechte Schulter klopfte. Sein Blick, der mich ein, zwei Sekunden länger als üblich maß. »Die Nachbesserung unseres Angebots für die Fitness-Center beim Stadion scheint zu fruchten. Es handelt sich um vier Center.«
Die Empfangsdame, die aufgehört hatte zu existieren, sagte von der Seite: »Das ist mir aber jetzt wirklich unangenehm. Ich war die letzten Tage nicht im Büro, und meine Vertretung hat das vergessen zu notieren. Schön, dass Sie da sind und willkommen bei uns.«
Ich schenkte ihr ein Lächeln, mit dem ich signalisierte, dass ich ihr vergab, obwohl ich in meiner Position auch anders gekonnt hätte. Ich habe ein Herz.
Scholz streckte einladend seinen Arm aus, zum Korridor deutend, und senkte den Kopf, um mir den Vortritt zu lassen. Er trug eine Breitling Uhr. »Wollen wir?«
Ich überlegte, ob ich auf sein Gesprächsangebot zu Strunk, dem Inhaber der Fitness-Center-Kette, ich hatte mich umgehört, eingehen sollte, war aber dann überzeugt, dass es sich empfahl, abzuwarten, bis ich mein Gegenüber besser einschätzen konnte. Scholz roch nach Fuel, dem neuen Diesel-Duft, erinnere ich mich richtig.
»Führe Sie mal ein wenig rum. Ist eigentlich, wie gesagt, was die Orientierung betrifft, ganz simpel hier. Rechts die Vermittler, gegenüber davon das Großraumbüro mit den Schadensregulierern ... «
Er hätte ebenso sagen können: »Sie werden sehen, Ihre Strafversetzung, ich nenne das mal so, von Frankfurt nach München wird auch etwas Gutes haben. Stellvertretende Abteilungsleiterin ist doch auch nicht übel, noch dazu eine Beförderung. Na, wir werden schon gut miteinander auskommen, meinen Sie nicht?« Oder Ähnliches. Er hätte mich als Mensch abgeholt, plus es wäre aus der Welt gewesen. Letztlich war es allerdings positiv zu werten, dass er die Umstände meines Hierseins nicht offen ansprach. Das erlaubte die Konzentration aufs Wesentliche.
Dachte er: »Die ist es also. So sieht die also aus. Naja, ganz appetitlich. Die hat also der Walter Albrecht vernascht. Nur: Der hat sich für seine Frau entschieden, und jetzt knallt der mir seine Ex-Gespielin vor den Latz. Ob die überhaupt das Zeug hat zur SV?« Sollten ihm derartige Gedanken tatsächlich durch den Kopf gegangen sein, gebrauchte er dann das Wort »vernaschen«, »vögeln« oder »schnackseln«, oder war er letztlich so durchweg korrekt, dass er, nur für sich, mit seinem fränkischen Dialekt, den Ausdruck »etwas mit jemandem haben« verwendete?
»12 SBs, oder?«, ergänzte ich.
»Ganz richtig.« Er schaute erfreut, als hätte ich ihm soeben eine gute Nachricht überbracht. »Ich sehe, Sie sind im Bilde.« Vor der geöffneten Tür zu einem dunklen Zimmer: »Ihre Kollegen von der Vermittlung. Hier Martin Luckner«, vor der geschlossenen Tür daneben, »Serdar Koban ... «. Glücklicherweise war ich die einzige Frau unter den CAVERE-Nord-Vermittlern. In Frankfurt hatte vor drei Jahren eine jüngere Kollegin das Team verstärkt, wie man so sagt. Tamara Kretschmann. Vom Zeitpunkt ihres Eintreffens an rückte ich aus dem Fokus meiner männlichen Mitarbeiter. Deren Blick richtete sich, gingen wir beide auf dem Korridor an ihnen vorbei, nicht mehr allein auf mich, sondern wanderte unfreiwillig auf die Gesichts- bzw. Brust- bzw. Gesäß-Region meiner Kollegin direkt neben mir. Bald schon hatte der Frankfurter Leiter die Tendenz, Tamara Kretschmann diejenigen potentiellen männlichen Kunden anzuvertrauen, deren Nicht-Akquise für das Unternehmen schmerzhaft gewesen wäre. Anfangs unterschätzte ich diese Entwicklung - ich bin eine Gegnerin der Stutenbissigkeit -, nur um erkennen zu müssen, dass die Gegenmaßnahmen, die ich schließlich ergriff, um zu punkten - Mehrarbeit, Kreativkonzepte, Veränderung des Erscheinungsbildes -, kaum die gewünschte Wirkung hatten. »... und hier unser Dienstältester.«
Ich las »Rolf Katzer« auf dem Schild neben einem Büro mit der Nummer 1407, das vollkommen leergeräumt war. Lediglich in der Mitte ein weißer Schreibtisch, hinter dem ein Mann kniete. Als er uns hörte, erhob er sich, ein Hüne, einen Schraubenzieher in der Hand, die neue Krawatte ruhte auf dem äußersten Punkt seines birnenförmigen Bauchs. Gelblich-braune Gesichtshaut, Falten, Kettenraucher. Ich gab ihm noch vier, maximal sechs Jahre.
Obwohl ich sofort Gernot Lindinger, den vierten München-Nord-Vermittler, von der CAVERE-Homepage erkannte, tat ich erstaunt: »Herr Katzer?« Scholz blies amüsiert Luft durch die Nase, direkt im Anschluss auch der Dienstälteste, ein seltsames Ventil-Geräusch-Echo. »Um Gottes willen, bloß nicht. Ich heiße Lindinger. Seit 20 Jahren Vermittler dieser schönen Firma hier.« Auffallend, wie er »schön« betonte, ohne dass auszumachen war, ob er das ironisch meinte. Seine Kurzatmigkeit nötigte ihn, zwischen den Wörtern Pausen einzulegen. Ansonsten eine Stimme, die sicherlich früher eindrucksvoll sowohl in allgemeines Gelächter mit einfallen wie Untergeordnete zurechtweisen hatte können, nun aber rachitisch belegt und brüchig Lindingers desolaten körperlichen Zustand offenbarte. Möglich, dass Lindinger und der mir unbekannte Katzer aus welchen Gründen auch immer an diesem Tag ihre Büros tauschten. Man würde mich im Lauf des Tages über den neuen Kollegen aufklären, wahrscheinlich eine kurzfristige Verstärkung unseres Teams.
Als der Dienstälteste begann: »Und Sie sind also die Neue hier? Die, die's richten soll, was? Na, ich kann Ihnen gerne erzählen, wie das hier so läuft ... «, unterbrach ihn Scholz: »Ist schon gut, Gernot. Lass Frau Meißner doch erst einmal ankommen, bevor du sie hier zwischen Tür und Angel überfällst«, und tippte mir sanft an die Schulter, um mich zum Weitergehen aufzufordern. Er zwinkerte nervös.
»Schönen Tag noch! Und vielleicht bis später!« Lindingers Stimme in unserem Rücken, die »schön« ebenso wie »später« zweideutig betonte. Draußen im Korridor drehten wir um, ohne das Ende erreicht zu haben. An den Wänden hingen großformatige Fotos von Gruppen gut-gekleideter Menschen während eines Empfangs oder einer Vernissage, die an Stehtischen miteinander plauderten. Es konnte sich auch um Kunst handeln.
»Wir fahren noch schnell zum Chef von dem Ganzen, solange der im Haus ist. Lause. Danach zeige ich Ihnen Ihr Büro. Die Zentrale der CAVERE-Bayern ist ja über uns, wie Sie wissen.«
Unvermittelt hatte Scholz begonnen, imaginäre Fussel von seinem Jackett zu wischen, was darauf schließen ließ, dass ihm die Themen Zentrale und Lause nicht 100 %ig angenehm waren.
Das Büro des Vorstands im 32. Stockwerk wirkte durch die Panoramafenster noch größer, als es tatsächlich war. Ein Schreibtisch aus hellgrauem Stein, nicht Marmor, mit einem Flatscreen und einem Telefon darauf, zwei Stühle davor, ein Schrank mit Handwörterbüchern und zwei Statuen, wahrscheinlich aus Stahl, organisch, schneckengehäuse oder ohrmuschelartig, ansonsten Weite, Leere. Die Macht zeigt sich in den verhältnismäßig riesigen Zwischenräumen zwischen den wenigen Objekten, dachte ich, als uns die Sekretärin im Bleistiftrock die Tür aufhielt und wir eintraten.
Lause war hager, circa ebenso alt wie ich und ebenso groß wie ich mit Absätzen. Er trug eine Omega-Uhr. Als Willy Scholz zwischen mir und Lause bei jedem Satz, mit dem er mich vorstellte, auf und ab wippte, Lause mit seinem klaren blauen Blick mich zwei, drei Sekunden länger als üblich maß und ich spürte, wie sich eine Angst-Kuppel um Scholz aufbaute, wie er mit den verschränkten Armen zuckte, 20 Jahre älter als der Vorstand, diesem körperlich deutlich überlegen, aber bei jeder Konferenz, bei jeder Bitte um eine finale Absegnung konfrontiert mit der Tatsache: Ich habe es nicht so weit gebracht wie du, da versuchte ich meinen eigenen professionellen Modus zu wahren, indem ich, wie ich es hin und wieder, einfach so zum Vergnügen und zur Übung tat, taxierte. Wie viel waren die Leben der beiden Männer vor mir wert? In Beziehung zu setzen war die durchschnittliche Lebenserwartung eines deutschen Mannes im Herbst 2008 mit dessen hierarchischer Position und den damit einhergehenden gesundheitlichen Risiken plus den bislang geleisteten Beitragszahlungen, wobei vorauszusetzen war, dass eine höhere hierarchische Position einen umfassenderen Versicherungsschutz und damit auch eine höhere Police bedingte. Unter Berücksichtigung, dass Lause seine Position nicht länger als fünf Jahre innehatte und somit auch erst in diesem Zeitraum einen umfassenderen Versicherungsschutz in Anspruch nahm, lag der Wert Willy Scholz' im sechsstelligen Bereich, der des Vorstands aber deutlich darunter. Ich beeilte mich, beiden zu versichern, wie sehr es mich freue, dass und so weiter.
Auf der Fahrt zurück besaß Scholz' Haltung nichts Legeres mehr, er wirkte erschöpft. Zur Chromwand gegenüber flüsterte er: »So. Jetzt kennen Sie also auch den Vorstand. Guter Mann. Wir hoffen hier ja alle, dass er den Laden wieder flott kriegt. Sind ja sicher mit den Quartalszahlen vertraut. Dabei ist das nicht einmal unsere Schuld. Wir sind es, die die Gewinne einfahren. München fährt Gewinne ein. Und Frankfurt verzockt sie ... Wie gesagt, das Aktuariat dort.« Er schüttelte den Kopf und machte eine Pause. »Bitte löschen, was ich eben gesagt habe.« Es mochte Zufall sein, dass er mich bei dem Wort »löschen« anblickte, und ich glaubte, durch seine Brille und seine enttäuschten braunen Augen hindurch in seine Seele, was immer man sich darunter vorstellen mag, blicken zu können.
»Schaffen das natürlich. Wäre ja gelacht, noch dazu jetzt, wo Sie bei uns sind, meinen Sie nicht?« Plötzlich klangen seine Sätze wieder sonor. Wir schritten durch den Empfang, er mit durchgedrücktem Kreuz, federnd, wie zuvor. Indem Scholz eben absichtlich im Lift Gefühl gezeigt hatte, war eine Vertrauensbasis zwischen uns entstanden, schien mir. Je mehr wir uns Frau Aktan näherten, desto lauter und akzentuierter sprach er jetzt, um bei Erreichen der Theke zu schließen: »Frau Aktan wird Sie jetzt zu Ihrem Büro begleiten. Sie rufen, wenn Sie etwas brauchen. In diesem Fall bitte an Kollegen Koban oder Luckner wenden. Die Anwesenheit beim Strategie-Meeting mittwochs ist obligatorisch. Das Verfassen der wöchentlichen Bilanz ist obligatorisch. Der wöchentliche Bericht für den Controller ist obligatorisch. Unsere Abteilung steht bis 31. Dezember unter der Beobachtung eines Controllers aus der Zentrale. Wie auch immer. Wegen der Zielvereinbarung für diese Woche komme ich später auf Sie zu. Die Hauptpforte wird um 21 Uhr 30 vom Facility Manager abgesperrt. Sich einsperren zu lassen, wie dies einige Kollegen schon praktiziert haben, trägt nicht zur Popularität bei. Was glauben Sie, wie mir der Betriebsrat im Nacken sitzt, dass wir hier alle auch ja und so weiter? Der Besuch der Kantine ist im Übrigen nicht obligatorisch und außerdem auch nicht empfehlenswert. Also. Weiter geht's. Sie verstehen schon.«
Er schmunzelte. Ich versuchte, drei Adjektive zu finden, die ihn treffend beschrieben, eines für das Äußere, eines für das Innere und eines für den Gesamteindruck, ein gutes Mittel, um Menschen und ihr Verhalten in jeder Situation richtig einordnen zu können. Die Adjektive lagen mir auf der Zunge.
Auf dem Weg zu meinem Büro am Ende des Korridors erklärte mir Frau Aktan, die beiden anderen Vermittler Serdar und Martin würden bald eintreffen, auch Gerda, die Betriebsrätin aus der Schadensregulierung im 21. Stock, ihre Bekanntschaft sei »obligatorisch«, sie zwinkerte mir zu und entschuldigte sich nochmals für ihren »Blackout«. Frau Aktan nannte alle nur beim Vornamen; offensichtlich herrschten hier andere Gepflogenheiten als in Frankfurt, wo wenig von flachen Hierarchien gehalten wurde. Sie erwartete, dass ich ihr das Du anbot, was ich nicht tat. »Das Du ist ein Asset, das man nicht zu früh aus der Hand geben sollte.« Und: »Die Einwilligung ins angebotene Du ist die soziale Defloration. Man sollte da vorsichtig sein. Gerade du als Frau«, pflegte Walter zu sagen.
Ein paar Sekunden später schloss sich hinter mir die Tür meines neuen Büros. Es war nahezu 100%ig still. Die Pressspanplatten an der Decke, die Stärke der Wände und die isolierten Fensterscheiben garantierten eine Dezibelzahl, die meinem Wunschwert entsprach. Ich muss bei der Arbeit durch die Ausschaltung aller Hintergrundgeräusche meinen Herzschlag und das leichte Sirren in meinen Ohren hören können. Nur so kann ich optimale Leistungen erbringen. Mein Blick glitt vom Computer, ein Dell, auf den weißen Schreibtisch mit der Glasplatte, den schwarzen Ledersessel über die beiden schwarzen Stühle für die Kunden zu den circa einen Meter hohen, wichtiges zusätzliches CO2 produzierenden plus das von den Möbeln abgegebene Formaldehyd neutralisierenden Grünlilien an der Fensterwand, wohl eines der wenigen Überbleibsel meiner Vorgängerin, über die ich sonst kaum Informationen besaß. Den farblichen Akzent im Raum setzte ein exakt in der Mitte der Wand gegenüber des Tisches angebrachtes silbern gerahmtes Kunstdruckplakat aus der »20th Century Hits«- Serie, die auch in den Büros in Frankfurt hing. Es handelte sich ausschließlich um Werke von Künstlern des 20. Jahrhunderts, die a) eine beruhigende Wirkung auf den Kunden und den Angestellten ausübten und b) zu den Top Twenty der teuersten Gemälde der Welt gehörten. In meinem Fall war dies das mir nur zu Genüge bekannte »Edward Hopper: Sonne in einem leeren Zimmer«. Das bedeutete, dass ich erneut keines der drei Bilder erhalten hatte, deren Originale bisher die 100-Millionen-Dollar-Marke gerissen hatten, Pollock, Klimt, Picasso.
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Autoren-Porträt von Thomas von Steinaecker
Thomas von Steinaecker, geboren 1977 in Traunstein, wohnt in Augsburg. Er schreibt vielfach ausgezeichnete Romane, Graphic Novels sowie Hörspiele. Außerdem dreht er Dokumentarfilme u.a. zur Musik des 20. Jahrhunderts und zur Kulturgeschichte Deutschlands, für die er internationale Preise gewonnen hat. Zuletzt erschienen 2016 der Roman »Die Verteidigung des Paradieses«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war, 2021 das Sachbuch »Ende offen« und 2022 die Graphic Novel »Stockhausen: Der Mann, der vom Sirius kam«.
Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas von Steinaecker
- 2012, 3. Aufl., 400 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100704088
- ISBN-13: 9783100704085
- Erscheinungsdatum: 21.02.2012
Pressezitat
Ein meisterhaftes Abbild unserer Gesellschaft. Wiebke Porombka Frankfurter Allgemeine Zeitung
Kommentar zu "Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen"
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