Die Stunde der Dilettanten
Wie wir uns verschaukeln lassen
Ob die Spekulationen der Banker, die Rettungsschirme, die die Regierenden aufspannen, oder die Reformen in der Bildungs- und der Gesundheitspolitik - niemand durchschaut mehr die Mechanismen, auf die wir uns täglich verlassen müssen. Gibt es sie denn...
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Produktinformationen zu „Die Stunde der Dilettanten “
Klappentext zu „Die Stunde der Dilettanten “
Ob die Spekulationen der Banker, die Rettungsschirme, die die Regierenden aufspannen, oder die Reformen in der Bildungs- und der Gesundheitspolitik - niemand durchschaut mehr die Mechanismen, auf die wir uns täglich verlassen müssen. Gibt es sie denn überhaupt noch, die Experten? Es hat den Anschein, als wäre der Dilettant zum modernen Charakter par excellence geworden. Sänger ohne Stimme treten in diesem Buch ebenso auf wie Maler ohne Talent, Banker ohne Vermögen und Politiker ohne politische Überzeugung - von Angela Merkel bis Günther Jauch, von Wendelin Wiedeking bis Karl-Theodor zu Guttenberg, von Lena Meyer-Landrut bis Thomas Middelhoff.
Lese-Probe zu „Die Stunde der Dilettanten “
Die Stunde der Dilettanten von Thomas RietzschelVorwort
Jedermann ganz groß
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Von Helden und Hasardeuren, von hellen Köpfen und von solchen, die sich dafür halten, ist hier zu berichten, von schlichten Einfaltspinseln und dreisten Aufschneidern zuhauf, von genialen Erfindern mitunter. In der Geschichte, die sie alle verbindet, geht es hoch her. Es wird geträumt und gehandelt, gekämpft, gezittert und aufgetrumpft, gelogen und betrogen, dass es eine Art hat. Minister mit und ohne Titel, eitle Diplomaten und große Männer der Geschichte, Diktatoren, rote und braune, Kriegsherren und Revolutionäre, bedeutende Unternehmer und Banker, die fröhlich verzocken, was ihnen nicht gehört, bejubelte Sänger ohne Stimme und begnadete Erfinder, die die Welt beherrschen könnten, tumbe Toren und wahre Lichtgestalten treiben das Geschehen voran. Dass die schrägen Vögel dabei öfter auftreten als die überragenden Geister, muss der Chronist hinnehmen. Unberührt lässt es ihn nicht. Mit epischer Gelassenheit kann er sich nicht aus der historischen Affäre ziehen. Zum Pathos werden ihn die Tatsachen selten verführen, eher schon zu satirischer Schärfe, zu polemischer Einmischung immer wieder. Der größte Vorzug schöner Geschichten, vergangen zu sein, ist der Geschichte des Dilettantismus noch nicht zugewachsen. Noch wissen wir nicht, wie sie ausgehen wird. Noch gibt es keine abgeschlossene Handlung, die wir aus historischer Distanz mit der Überlegenheit der Nachgeborenen betrachten könnten. Das Thema brennt uns unter den Nägeln. Es erlangt, wie jene formulieren würden, um die es hier gehen soll, »nachhaltig« größere Brisanz: Es ist »virulent «. Auf gut Deutsch: Der Erreger brei tet sich aus. Und niemand kann sagen, wen er noch nicht befallen hat. Allenthalben steigt die Ansteckungsgefahr des epidemischen Dilettantismus. Ohne ihn wäre die moderne Welt schlechterdings unvorstellbar. Mehr denn je ist die Gesellschaft von ihm abhängig. Fast scheint es, dass er sie überhaupt erst zukunftstauglich macht, im Großen wie im Kleinen.
Täglich müssen wir uns als Dilettanten behaupten. Schon durch den technischen Fortschritt sind wir gezwungen, uns immer wieder auf Dinge einzulassen, über die wir gar nicht mehr verfügen können. Ohne tieferes Wissen um ihre Funktionsweise bedienen wir Computer und andere elektronische Geräte. Kaum, dass wir mit der einen Software halbwegs zurechtkommen, müssen wir uns auf die nächste einstellen. Zeit für die gründlichere Durchdringung bleibt niemals. Oberflächlich erfassen wir das Neue, hantieren mit Begriffen, die wir kaum übersetzen, geschweige denn erklären könnten. Niemand durchschaut mehr die Mechanismen, auf die er sich gleichwohl verlassen muss, derer er sich bedient, um das Unbegreifliche weiter und weiter zu entwickeln. Eingestehen aber könnten wir uns das alles nur um den Preis der Verunsicherung, der eigenen sowie der der anderen. Die Bereitschaft dazu hält sich in Grenzen, gerade in Deutschland. Je weniger wir Herr der Dinge sind, desto mehr haben wir gelernt, den Anschein zu erwecken. Die Hybris gehört zum Charakter der Dilettanten. Learning by Doing heißt ihre aus der Not geborene Devise. Auf gut Glück wird ausprobiert, wovon man annimmt, dass es irgendwie funktionieren müsste. Ob es das dann wirklich tut, bleibt immer öfter dem Zufall überlassen, bei den Spekulationen der Banker und den Rettungsschirmen, die die Regierenden aufspannen, ebenso wie in der Gesundheits- oder der Bildungspolitik, wo eine Reform die andere ad absurdum führt. Schneller und schneller sind wir damit, mit der fachlichen Selbstüberschätzung, dem Mut und dem Aktivismus der Dilettanten, vorangekommen, haben Gewinne verbucht und Verluste angehäuft. Ohne die treibende Kraft der Ahnungslosen, die unwissend genug sind, anzupacken, wovon der Fachmann lieber die Finger lässt, weil er weiß, was alles schiefgehen könnte, gäbe es keine Computer, nie wäre ein Mensch auf dem Mond gelandet, kein Kind hätte je mit einer Käthe- Kruse-Puppe gespielt. Auch der Schatz des Priamos wäre womöglich niemals gehoben worden. Schließlich war es kein Altertumswissenschaftler, kein graduierter Archäologe, der das antike Troja ausgrub, sondern Heinrich Schliemann, ein Handelsgehilfe aus dem Mecklenburgischen, der sich zu Höherem berufen fühlte. Unschätzbar bereicherte sein Fund das Wissen der Menschheit, den Kanon der klassischen Bildung. Ebenso sind es aber dilettierende Bildungspolitiker, die heute Schul- und Hochschulreformen durchsetzen, bei denen auf derartige Werte kein sonderlicher Wert mehr gelegt werden soll. Nicht weil es womöglich neue Forschungsergebnisse gäbe, die es erübrigten, sich weiter noch mit der älteren Kulturgeschichte zu befassen, sondern weil der Dilettant alles, womit er sich befasst, ausschließlich auf das Maß seiner eigenen Vorstellungskraft reduziert. Mehr als diese mitunter produktive Naivität vermag er nicht einzubringen. Fixiert auf den Moment der Handlung, auf die unmittelbar »praktische« Verwirklichung seiner Wünsche, Ideen und Ansprüche, scheint ihm das Wissen um die weiteren Zusammenhänge schlichtweg überflüssig, wenn nicht gar hinderlich. Was sollen ihm die retardierenden Momente kultureller Bildung angesichts einer Gegenwart, in der es darauf ankommt, Kommunikationstechnologien, Personalpolitik und High-tech zu beherrschen. Unter der Überschrift »Depression« hielt Fritz J. Raddatz am 8. Juli 1995 in seinem Tagebuch fest, was er bei einem Besuch Joschka Fischers in der Hamburger Zeit-Redaktion erleben musste. »Es stimmt«, soll der nachmalige Außenminister, in dessen Zuständigkeit auch die Goethe-Institute fielen, damals gesagt haben, »es stimmt, ich habe mit Kultur nichts am Hut. Ich war noch nie in der Oper. Ich gehe nicht ins Theater, nicht ins Konzert. Ich lese ein bisschen. Ich finde es ehrlich, das zuzugeben. Erst gestern habe ich mit einem der berühmtesten zeitgenössischen Maler gesprochen - ich habe seinen Namen vergessen.« Als Fritz J. Raddatz daraufhin nachfragte, ob es ihn nicht geniere, »zwar die Gesellschaft umbauen zu wollen, aber ausschließlich in Termini wie Hammelsprung und Wählerverhalten, Mehrheitsbeschaffung und ›Politik ist in erster Linie Personalpolitik‹ zu reden«, bekam er zur Antwort: »Nein, warum sollte mich das genieren. Das ist mein Alltag.« Danach blieb dem Bildungsbürger Raddatz nur noch die Abwendung mit drei Worten des Entsetzens: »Feist, aber leer.« Übersehen hatte er dabei freilich, dass es eben diese Leere, dieser bildungsentleerte Hohlraum ist, in dem sich das Selbstbewusstsein der Dilettanten entfaltet, unerschütterlich. Um vierzig Prozent sanken die Kulturausgaben in Italien, seit Silvio Berlusconi an der Macht ist. Ein Aufschrei des Entsetzens ging durch das internationale Feuilleton, als 2010 Teile der Ruinen von Pompeji bei einem Starkregen einstürzten, weil sie infolge der Sparmaßnahmen nicht hinreichend gesichert waren. Von einem Reuebekenntnis des Ministerpräsidenten ob dieser archäologischen Katastrophe hat man nichts gehört, nichts, das auf eine gewisse Betroffenheit oder ein Umdenken schließen ließe.
Der aus dem Wissen geborene Zweifel, dem sich jeder Fachmann, und der Intellektuelle im Besonderen, permanent zu erwehren hat, kann den Dilettanten nicht anfechten. Davor schützt ihn das Nichtwissen, ein Mangel, den er meist ahnungslos erträgt, immer öfter aber auch aggressiv kompensiert, indem er seine Ignoranz kultiviert. Joschka Fischer ist da nur ein Beispiel von vielen. Ein anderes wäre Karl-Theodor zu Guttenberg, der am Anfang seiner Plagiatsaffäre gar nicht begreifen konnte, weshalb denn so ein Aufhebens darum gemacht wurde, dass er bei anderen abgeschrieben und mit seiner Doktorarbeit geistigen Diebstahl begangen hat, während er später, als der Betrug immer offensichtlicher wurde, mit erhabener Nachsicht auf die verletzten Prinzipien der Wissenschaft zu sprechen kam, gerade so, als handle es sich um ein mehr oder weniger abseitiges Reglement, das man als Politiker nicht gar zu ernst nehmen sollte. Wie wir sehen werden, ist es dieses egoistische, aus den persönlichen Ansprüchen wachsende, unerschütterliche Selbstvertrauen, das den Dilettanten zum Tatmenschen macht. Es gibt ihm die Kraft, alles Mögliche - und öfter noch das Unmögliche - ins Werk zu setzen. Da er es nicht besitzt, kann ihn das Wissen um die Sache nicht hemmen. An der Wunschvorstellung orientiert sich sein Handeln, daraus, aus sonst nichts erwächst es, aus keiner Analyse, die dieses Handeln zwingend erforderte. Auch die Umwandlung der Universität in eine Berufsschule, die Reduktion des Studiums auf eine praxisorientierte Ausbildung, der sogenannte Bologna-Prozess, ist so eine Tat der ahnungslos Engagierten. Nicht zu reden vom Bubenstück der Rechtschreibreform.
Nur wer das Regelwerk der deutschen Sprache, die Vielfalt seiner Ausdrucksmöglichkeiten nicht kennt, konnte auf die Idee verfallen, das Schreiben durch eine simplifizierte Orthografie vereinfachen zu wollen. Bezeichnenderweise waren es die Nationalsozialisten, die das mit politischem Kalkül, um die Bildungselite auf das sprachliche Niveau der Masse zu bringen, schon einmal versucht hatten. Und auch jetzt wieder hat sich die Rechtschreibreform nicht aus der sprachlichen Entwicklung ergeben. Es gab keinen sachlichen Zwang; und es waren nicht die Philologen, die den Anstoß gaben; sie haben den Angriff auf das Kulturgut eher verschlafen. Erst als das Kind im Brunnen lag, die Reform gesetzlich sanktioniert war, hat die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ihre Stimme zaghaft erhoben. Der nachgereichte Protest verhallte kläglich. Die Tatsachen waren längst geschaffen, die neuen Duden gedruckt, die veränderten Rechtschreibprogramme auf den Computern installiert. Dafür hatten mehr oder weniger radebrechende Politiker gesorgt, um etwas zu schaffen, von dem sie glaubten, dass es besser abgestimmt sein müsste auf das veränderte Bildungsniveau, ihr eigenes eingeschlossen. Die akademische Welt wurde kurzerhand auf den Kopf gestellt. Maßstab der Reform war nicht mehr die Sprache, das Kulturgut selbst, es ging nicht um die Erschließung neuer Ausdrucksmöglichkeiten, sondern um eine Reduktion der Sprache, um ihre Anpassung an die sinkende Ausdrucksfähigkeit der Sprachbenutzer. Unterdessen wissen wir, wozu das führte: zu einer anarchistisch gebrauchten Rechtschreibung, an der sich die Linguisten mit immer neuen Nachbesserungen abarbeiten, während gleichzeitig die Zahl der Analphabeten steigt. 7,5 Millionen Deutsche, so die Ergebnisse einer Studie der Universität Hamburg, sind schon heute, 2011, nicht mehr in der Lage, richtig zu lesen und zu schreiben oder gar zusammenhängende Texte zu verstehen. 2004 waren es noch drei Millionen weniger. Die aus sprachwissenschaftlichem Unvermögen geborene Reform hat der sprachlichen Destruktion Vorschub geleistet. Aus dem Nichts erwachsen, droht sie ins Nichts zu führen.
So beherzt, wie sie sich das Unmögliche vornehmen, weil sie sich nicht auszumalen vermögen, was denn die Aufgabe erfordert, so bedenkenlos werfen die Dilettanten zum alten Eisen, was sie für überflüssig halten, weil sie selbst damit nichts anzufangen wissen. Da wie dort, im Positiven wie Negativen, handeln sie ad hoc und mit einer Ichbezogenheit, die nur allzu oft autistische Züge offenbart, in der Kunst wie in der Wissenschaft, in der Wirtschaft wie in der Politik. Auf diese Weise wird einerseits kreatives Potenzial freigesetzt, so entstehen die Werke der Avantgarde, das Neuartige schlechthin, so verschafft sich andererseits aber auch die pure Banalität unverhofft Geltung, so werden Katastrophen ausgelöst, Terrorregime errichtet, Ideologien durchgesetzt und Kriege heraufbeschworen.
Das fortwirkende Verhängnis des 20. Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg, war nicht nur das Werk eines skrupellosen Kapitalismus, als das es die Historiker, die marxistisch orientierten zumal, lange darstellten. Auch der politische Dilettantismus der damaligen Herrscher hat wesentlich zum Ausbruch des Krieges beigetragen, die neurotische Hybris Kaiser Wilhelms ebenso wie der Starrsinn des ergrauten Habsburgers Franz Joseph und der Realitätsverlust des russischen Zaren Nikolaus. Hindenburg, der brave Soldat als Präsident, und Hitler, der Gefreite aus der Etappe, der sich zum Feldherrn berufen wähnte, folgten ihnen auf dem Fuß. Alle waren sie nur Darsteller dessen, was sie sein sollten oder wollten.
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte der Soziologe Max Weber in seiner Auseinandersetzung mit der Ethik der Industriegesellschaft vor dem Auftritt der »letzten Menschen« gewarnt, vor »Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz«, die sich, gestützt auf den materiellen Zugewinn, gleichwohl »einbilden« würden, »eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben«. Die Prophezeiung wurde nicht gern gehört, und geändert hat sie erst recht nichts. Der Geist war aus der Flasche, seit der wachsende Wohlstand den Freiraum biografischer Spekulation eröffnete, zwar nicht gleich für alle, aber doch für immer mehr Menschen, die die Chance bekamen, jenseits des Broterwerbs spielerisch ihren Interessen nachzugehen. Dass das weitgehend ungehemmt geschehen konnte, ohne den Zwang, anderen als den eigenen Ansprüchen genügen zu müssen, wirkte erstens befreiend und weckte zweitens die Hoffnung, später die Überzeugung, allein kraft seiner Persönlichkeit, seines bloßen Daseins sein zu können, was man zu sein verlangte, während der Gedanke an Begabung, Talent, Befähigung, Ausbildung, Ausdauer und Übung zunehmend in den Hintergrund trat. Diese jenseits des Erwerbslebens gereiften Vorstellungen waren zu verlockend, als dass sie auf die Freizeit hätten beschränkt bleiben können. Der Versuchung, sich etwas vorzumachen, das den Wünschen entspricht, wie verstiegen sie auch sein mögen, konnte auf Dauer weder der Einzelne noch die Gesellschaft widerstehen. Zwangsläufig und unversehens zugleich hat sich der Dilettantismus zum Grundzug einer Spaßgesellschaft entwickelt, in der wir uns heute so aufgehoben fühlen wie zu den Zeiten, als der Begriff aufkam. Das schlechte Gewissen, mit dem wir ihn, gleich ertappten Kindern, unterdessen zu vermeiden suchen, ändert nichts an den Tatsachen.
Die Dilettanten sind die Heroen unserer Tage, die Helden einer leistungsmüden Gesellschaft. Nicht nur auf der Showbühne, in der Arena von Thomas Gottschalk, wo sie für die perfektionierte Darbietung des Sinnlosen bejubelt werden, oder im Dschungelcamp des Comedian Dirk Bach, bei dem es genügt, sich nach Kräften zu blamieren, um Punkte zu sammeln, auch in der Politik steigen die per Umfrage ermittel ten Sympathiewerte mit sinkender Kompetenz. Jörg Haider akklamierten die Wähler ungeachtet dessen, dass seine wirtschaftspolitischen Eskapaden die Republik Österreich Milliarden kosteten, zu schweigen von den internationalen Ansehensverlusten, die er regelmäßig einfuhr. Und wenn der Fall des, wie der Spiegel schrieb, »famosen« Karl-Theodor zu Guttenberg irgendetwas von historischem Belang gezeigt haben sollte, dann die Verführbarkeit der Massen durch den Dilettantismus, wobei sich diese Masse heute nicht mehr wie noch zu der Zeit, da sie Elias Canetti beschrieb, mehrheitlich aus Menschen mit niederen Schulabschlüssen und schlichterer Berufsausbildung rekrutiert. Auch die geistig arbeitende Mittelschicht wollte Hoffnung in den verkrachten Juristen als Politiker setzen. Der unverhofft Aufgestiegene galt als begnadet, weil er sich selbst dafür hielt. Weil er durchdrungen schien von dem Gefühl der eigenen Bedeutung, überzeugte Karl-Theodor zu Guttenberg wie andere Demagogen vor ihm. Die Frage nach der eigentlichen, der fachlichen und der geistig- moralischen Qualifikation für die Politik schien sich zu erübrigen. Noch nach der Aufdeckung seines Betrugs, als Gefahr für die Macht im Verzug war, beeilte sich die Kanzlerin, der Öffentlichkeit zu versichern, sie habe schließlich einen Minister, »keinen wissenschaftlichen Assistenten oder einen Promovierenden oder einen Inhaber einer Doktorarbeit berufen «. War der promovierten Physikerin gar nicht mehr aufgefallen, dass es bei ihrer Argumentation auf eine sophistische Rechtfertigung der Unmoral durch die kultivierte Ignoranz von Prinzipien hinauslief, denen sie sich als einstige Wissenschaftlerin hätte verpflichtet fühlen sollen? Vermutlich nicht. Jedenfalls hegte die Kanzlerin keine Bedenken, sich bei dem gefallenen Minister »für seinen Dienst am Vaterland von ganzem Herzen« zu bedanken.
Was in seinem Fall geradezu beispielhaft zählen sollte, war die Emphase des Ausdrucks, nicht der Inhalt seiner Reden. Davon musste sich niemand irritiert fühlen. Der gern erhobene Vorwurf intellektueller Arroganz ließ sich daraus nicht ableiten. Karl-Theodor zu Guttenberg wurde als besondere Begabung gefeiert und euphorisch auf den Schild der Bild- Zeitung gehoben, weil er nicht wirklich besser war als wir alle, dies aber strahlender darstellte. Ein Dilettant unter Dilettanten, die Gallionsfigur einer Zeit, in der wir es leid geworden sind, uns vom Zweifel an den eigenen Fähigkeiten die Laune verderben zu lassen. Noch bei seinem erzwungenen Abschied wiegte sich der Minister rhetorisch ausschweifend im Wohlgefühl der getragenen »Verantwortung«, um mit der Illusion eigener Bedeutung über die Realität seines Versagens zu triumphieren, wiederum nicht, ohne dafür den erheischten Beifall zu bekommen. Waren es doch nicht zuletzt seine zugestandenen »Fehler«, die ihn in der Gunst des Publikums aufsteigen ließen. Bis zum Schluss, dem vorläufigen Ende seiner kurzen Karriere, gab der charismatische Aufsteiger ein glänzendes Beispiel - eines, das es der per Umfrage gemessenen Mehrheit offenbar leichter machte, die Unzulänglichkeit der eigenen Existenz zu ertragen. Ist doch noch die Entlarvung des Hochstaplers von vielen wie eine persönliche Kränkung aufgenommen worden. Der Baron sei, so zitierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung den sprichwörtlichen Mann auf der Straße, »ein Mensch, der Fehler gemacht habe, aber den wir brauchen«. Martin Walser, der Schriftsteller, wollte in der aufgedeckten Abschreiberei sogar eine »notgedrungene Überlebenshilfe « erkennen, für die er am liebsten »auf die Straße« gegangen wäre.
Was diese Allianz der Amateure für die politische Zukunft bedeutet, was sie dem Einzelnen bringt oder nimmt, wie es überhaupt zu dem machtvollen Schulterschluss der Fehlbaren gekommen ist und wie sich das mit der Demokratie, mit der Kultur und der Bildung vertragen soll, all das werden wir hier zu ergründen versuchen, historisch analysierend zum einen und hypothetisch spekulierend zum anderen. Zu fragen ist nach dem Einfluss der Medien, insbesondere nach dem Machtzuwachs des Boulevards. Stimmt es, dass dort die Meinung gemacht wird? Oder bekommen wir da nur geboten, was wir gerade noch verstehen? Und wie wirkt dieses mit jenem zusammen, bis hinein in die Wirtschaft? Inwieweit wurden die jüngsten, kaum überstandenen Krisen durch den Dilettantismus heraufbeschworen? Denn auch die Banker, die sie maßgeblich verursachten, auf unteren, mittleren, höheren und ganz hohen Ebenen, auch sie haben ja nicht so sehr wider besseres Wissen gehandelt als vielmehr im Rahmen dessen, was sie sich vorstellen wollten. Für die nachher vielfach eingeklagte moralische Verantwortung fehlte ihnen, so ist aus etlichen Berichten zu folgern, ganz einfach die Basis ausreichender Sachkenntnis. Nicht zu reden von einer kulturellen Bildung, aus der moralische Normen erwachsen könnten. An ihre Stelle setzten die Banker die Gier, die sie mit ihren Kunden teilten. Dazu kam der Anspruch, so faszinierend wahrgenommen zu werden, wie sie andere erlebten. Denn die dilettantische ist immer und zuerst eine nachgeahmte Existenz, nicht zu verwechseln mit der des in der Sache engagierten Laien. Beruflich kann sie in den verschiedensten Rollen auftreten, als Außenminister oder als Chef einer deutschen Landesbank und ganz unverstellt als ein Jedermann, der beschlossen hat, sich als Superstar selbst zu verwirklichen, bei Thomas Gottschalk, dem Quizmaster Günther Jauch oder eben bei Dieter Bohlen. Manchmal, im einfachsten Fall, nimmt dieses Theater derart kuriose Züge an, dass man sich herzlich amü sieren möchte; immer öfter jedoch wird der Typus von seinem Anspruch so hoch getragen, dass es nichts mehr zu lachen gibt, ganze Länder und Kulturen für den angerichteten Schaden aufkommen müssen, nach einer Finanzkrise, einem Atomunfall oder einer Bildungsreform zum Beispiel. Aus den einfältigen sind längst professionelle Dilettanten geworden. Von der Arglosigkeit, mit der noch Bouvard und Pécuchet, die verschrobenen Helden Gustave Flauberts, sich im Vertrauen auf den »gesunden Menschenverstand« alles zutrauten, wovon sie nichts verstanden, um dann von einer Niederlage zur nächsten zu stolpern, von dieser tölpelhaften Einfalt ist wenig geblieben. Die Nachfahren wissen, was sie wollen. Dass das in aller Regel mehr ist, als sie können, braucht sie nicht weiter verunsichern, nicht in einer Welt, in der sie unter ihresgleichen sind. Forsch können sie über die Stränge schlagen, nach Herzenslust aufschneiden, wenn es gilt, eine Rolle zu bekommen, von der sie sich etwas versprechen.
Die Illusion ist ohnehin ihre Realität. Darin wiegen sie sich und ihr Publikum mit Erfolg. Niemand konnte ernsthaft erwarten, dass die Bundeskanzlerin Angela Merkel am 5. Oktober 2008 noch wusste, wovon sie sprach, als sie »den Sparern und Sparerinnen« mitten in der Wirtschafts- und Finanzkrise, während eine Bank nach der anderen die Schalter zu schließen drohte, im Brustton der Überzeugung erklärte, »eure Sparguthaben sind sicher «, das »verspreche« sie, dafür stehe die Regierung ein. Was zählte, war allein die Vorspiegelung einer Kompetenz, an die sie selbst glauben wollte. Dass diese Regierung in Wahrheit nur Schulden machen und das Steuergeld derer umverteilen kann, für deren Vermögen die Regierungschefin bürgen wollte, wurde bei der Verkündigung kurzerhand ausgeblendet.
Der gutgläubige, um seine Spareinlage besorgte Bürger bekam, was er verdiente, das Versprechen, sich schlimmstenfalls am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen zu dürfen. Ein absurdes Theater, dessen Sinn sich in der Selbstdarstellung der Politik erschöpfte, im Auftritt an sich. Viel mehr scheinen die Wähler allerdings auch gar nicht mehr zu erwarten. Oder wie sonst sollte man sich das monatliche Politbarometer erklären, in dem dieselben Politiker, die auf der Beliebtheitsskala die höchsten Sympathiewerte erreichen, bei den Fragen nach ihrer fachlichen Kompetenz bescheiden bis miserabel abschneiden. Unbedarft in der Sache und überzeugend oder eben versagend in der Vorstellung, werden sie als die Darsteller bejubelt oder ausgepfiffen, die sie sein wollen, ähnlich dem Schauspieler, den wir in der Rolle des Wallenstein beklatschen, obwohl wir ihm niemals die Führung eines Heeres anvertrauen würden.
Was immer der Dilettant sein will, stets zieht es ihn auf die Bühne, stets will er etwas vorstellen. Schon Gerhard Schröder soll einst bei Nacht an den eisernen Stäben des Tores vor dem Bonner Kanzleramt gerüttelt und gerufen haben: »Ich will hier rein!« Ob das so war, mag wie bei den meisten Anekdoten fraglich sein, ohne einen Wahrheitskern aber wäre die Anekdote auch nicht als solche überliefert, vielleicht erfunden worden. Was sie offenbart, ist der narzisstische Antrieb, mit dem da einer in das höchste Regierungsamt strebte. Gerhard Schröder wollte den Kanzler geben, und er wollte, das war sein erklärtes Ziel, »Spaß« dabei haben. Und solange er sich damit zufriedengab, durfte er dann auch im Kanzleramt bleiben. Erst als er mehr verlangte, als er glaubte, mit seinen Arbeitsmarktreformen politisch etwas bewirken zu müssen, wurde er bei der Bundestagswahl am 18. September 2005 wieder vor die Tür gesetzt. So viel mochte ihm die Mehrheit der Wähler, die ihn ansonsten durchaus schätzte, weil sie ihn für einen Typ hielt, mit dem man gut »Party feiern« könnte, nun doch nicht zutrauen. Für ihn selbst war das, darin mag man eine gewisse Tragik erkennen, schier unbegreiflich. Noch als bereits feststand, dass er unterlegen sein würde, wollte er seiner Kontrahentin Angela Merkel vor dem versammelten Fernsehvolk »das Recht« absprechen, in das Amt einzuziehen, das er bisher besetzte. Die veränderte Situation passte nicht in seine Vorstellung von der Wirklichkeit. Die Bretter, auf denen er sich bewegte, sollten weiter die Welt bedeuten. Seine Nachfolgerin hat die Lektion schnell gelernt und seither mit großer Umsicht alles zu vermeiden versucht, was den Eindruck der Inszenierung stören und sie die Besetzung kosten könnte. Mit beispielhafter Professionalität versieht sie die Geschäfte eines Dilettantismus, der überzeugt, indem er sich an der Vorstellung gewünschter Erfolge berauscht, in der Politik wie in der Wirtschaft, im Bildungswesen wie im Kunstbetrieb. Frei nach dem Motto, man muss nur richtig wollen, was man sein will, um sein zu können, was man will, machen die Dilettanten ihr Glück. Und wo immer sie dabei ankommen, stehen sie auf einem Gipfel, auf einem Bildungs-, einem Wirtschafts-, einem Kinder-, einem Rentner-, einem Benzingipfel oder auch mal auf einem Frauenquotengipfel. Allweil fühlen sie sich durch den Eindruck eigener Leistung erhoben, selbst wenn nur ein kurzer Anstieg hinter ihnen liegt, der bezwungene Berg bestenfalls ein Hügel ist - eine Erhebung wie der Monte Verità, jener »Berg der Wahrheit«, auf dem unsere Geschichte des Dilettantismus, die Geschichte des erfolgreichen Versagens, vor mehr als einem Jahrhundert begonnen hat, mit viel Enthusiasmus und dem unerschütterlichen Glauben der handelnden Figuren an die weltsetzende Bedeutung ihrer Einzigartigkeit.
© Carl Hanser Verlag, München
Von Helden und Hasardeuren, von hellen Köpfen und von solchen, die sich dafür halten, ist hier zu berichten, von schlichten Einfaltspinseln und dreisten Aufschneidern zuhauf, von genialen Erfindern mitunter. In der Geschichte, die sie alle verbindet, geht es hoch her. Es wird geträumt und gehandelt, gekämpft, gezittert und aufgetrumpft, gelogen und betrogen, dass es eine Art hat. Minister mit und ohne Titel, eitle Diplomaten und große Männer der Geschichte, Diktatoren, rote und braune, Kriegsherren und Revolutionäre, bedeutende Unternehmer und Banker, die fröhlich verzocken, was ihnen nicht gehört, bejubelte Sänger ohne Stimme und begnadete Erfinder, die die Welt beherrschen könnten, tumbe Toren und wahre Lichtgestalten treiben das Geschehen voran. Dass die schrägen Vögel dabei öfter auftreten als die überragenden Geister, muss der Chronist hinnehmen. Unberührt lässt es ihn nicht. Mit epischer Gelassenheit kann er sich nicht aus der historischen Affäre ziehen. Zum Pathos werden ihn die Tatsachen selten verführen, eher schon zu satirischer Schärfe, zu polemischer Einmischung immer wieder. Der größte Vorzug schöner Geschichten, vergangen zu sein, ist der Geschichte des Dilettantismus noch nicht zugewachsen. Noch wissen wir nicht, wie sie ausgehen wird. Noch gibt es keine abgeschlossene Handlung, die wir aus historischer Distanz mit der Überlegenheit der Nachgeborenen betrachten könnten. Das Thema brennt uns unter den Nägeln. Es erlangt, wie jene formulieren würden, um die es hier gehen soll, »nachhaltig« größere Brisanz: Es ist »virulent «. Auf gut Deutsch: Der Erreger brei tet sich aus. Und niemand kann sagen, wen er noch nicht befallen hat. Allenthalben steigt die Ansteckungsgefahr des epidemischen Dilettantismus. Ohne ihn wäre die moderne Welt schlechterdings unvorstellbar. Mehr denn je ist die Gesellschaft von ihm abhängig. Fast scheint es, dass er sie überhaupt erst zukunftstauglich macht, im Großen wie im Kleinen.
Täglich müssen wir uns als Dilettanten behaupten. Schon durch den technischen Fortschritt sind wir gezwungen, uns immer wieder auf Dinge einzulassen, über die wir gar nicht mehr verfügen können. Ohne tieferes Wissen um ihre Funktionsweise bedienen wir Computer und andere elektronische Geräte. Kaum, dass wir mit der einen Software halbwegs zurechtkommen, müssen wir uns auf die nächste einstellen. Zeit für die gründlichere Durchdringung bleibt niemals. Oberflächlich erfassen wir das Neue, hantieren mit Begriffen, die wir kaum übersetzen, geschweige denn erklären könnten. Niemand durchschaut mehr die Mechanismen, auf die er sich gleichwohl verlassen muss, derer er sich bedient, um das Unbegreifliche weiter und weiter zu entwickeln. Eingestehen aber könnten wir uns das alles nur um den Preis der Verunsicherung, der eigenen sowie der der anderen. Die Bereitschaft dazu hält sich in Grenzen, gerade in Deutschland. Je weniger wir Herr der Dinge sind, desto mehr haben wir gelernt, den Anschein zu erwecken. Die Hybris gehört zum Charakter der Dilettanten. Learning by Doing heißt ihre aus der Not geborene Devise. Auf gut Glück wird ausprobiert, wovon man annimmt, dass es irgendwie funktionieren müsste. Ob es das dann wirklich tut, bleibt immer öfter dem Zufall überlassen, bei den Spekulationen der Banker und den Rettungsschirmen, die die Regierenden aufspannen, ebenso wie in der Gesundheits- oder der Bildungspolitik, wo eine Reform die andere ad absurdum führt. Schneller und schneller sind wir damit, mit der fachlichen Selbstüberschätzung, dem Mut und dem Aktivismus der Dilettanten, vorangekommen, haben Gewinne verbucht und Verluste angehäuft. Ohne die treibende Kraft der Ahnungslosen, die unwissend genug sind, anzupacken, wovon der Fachmann lieber die Finger lässt, weil er weiß, was alles schiefgehen könnte, gäbe es keine Computer, nie wäre ein Mensch auf dem Mond gelandet, kein Kind hätte je mit einer Käthe- Kruse-Puppe gespielt. Auch der Schatz des Priamos wäre womöglich niemals gehoben worden. Schließlich war es kein Altertumswissenschaftler, kein graduierter Archäologe, der das antike Troja ausgrub, sondern Heinrich Schliemann, ein Handelsgehilfe aus dem Mecklenburgischen, der sich zu Höherem berufen fühlte. Unschätzbar bereicherte sein Fund das Wissen der Menschheit, den Kanon der klassischen Bildung. Ebenso sind es aber dilettierende Bildungspolitiker, die heute Schul- und Hochschulreformen durchsetzen, bei denen auf derartige Werte kein sonderlicher Wert mehr gelegt werden soll. Nicht weil es womöglich neue Forschungsergebnisse gäbe, die es erübrigten, sich weiter noch mit der älteren Kulturgeschichte zu befassen, sondern weil der Dilettant alles, womit er sich befasst, ausschließlich auf das Maß seiner eigenen Vorstellungskraft reduziert. Mehr als diese mitunter produktive Naivität vermag er nicht einzubringen. Fixiert auf den Moment der Handlung, auf die unmittelbar »praktische« Verwirklichung seiner Wünsche, Ideen und Ansprüche, scheint ihm das Wissen um die weiteren Zusammenhänge schlichtweg überflüssig, wenn nicht gar hinderlich. Was sollen ihm die retardierenden Momente kultureller Bildung angesichts einer Gegenwart, in der es darauf ankommt, Kommunikationstechnologien, Personalpolitik und High-tech zu beherrschen. Unter der Überschrift »Depression« hielt Fritz J. Raddatz am 8. Juli 1995 in seinem Tagebuch fest, was er bei einem Besuch Joschka Fischers in der Hamburger Zeit-Redaktion erleben musste. »Es stimmt«, soll der nachmalige Außenminister, in dessen Zuständigkeit auch die Goethe-Institute fielen, damals gesagt haben, »es stimmt, ich habe mit Kultur nichts am Hut. Ich war noch nie in der Oper. Ich gehe nicht ins Theater, nicht ins Konzert. Ich lese ein bisschen. Ich finde es ehrlich, das zuzugeben. Erst gestern habe ich mit einem der berühmtesten zeitgenössischen Maler gesprochen - ich habe seinen Namen vergessen.« Als Fritz J. Raddatz daraufhin nachfragte, ob es ihn nicht geniere, »zwar die Gesellschaft umbauen zu wollen, aber ausschließlich in Termini wie Hammelsprung und Wählerverhalten, Mehrheitsbeschaffung und ›Politik ist in erster Linie Personalpolitik‹ zu reden«, bekam er zur Antwort: »Nein, warum sollte mich das genieren. Das ist mein Alltag.« Danach blieb dem Bildungsbürger Raddatz nur noch die Abwendung mit drei Worten des Entsetzens: »Feist, aber leer.« Übersehen hatte er dabei freilich, dass es eben diese Leere, dieser bildungsentleerte Hohlraum ist, in dem sich das Selbstbewusstsein der Dilettanten entfaltet, unerschütterlich. Um vierzig Prozent sanken die Kulturausgaben in Italien, seit Silvio Berlusconi an der Macht ist. Ein Aufschrei des Entsetzens ging durch das internationale Feuilleton, als 2010 Teile der Ruinen von Pompeji bei einem Starkregen einstürzten, weil sie infolge der Sparmaßnahmen nicht hinreichend gesichert waren. Von einem Reuebekenntnis des Ministerpräsidenten ob dieser archäologischen Katastrophe hat man nichts gehört, nichts, das auf eine gewisse Betroffenheit oder ein Umdenken schließen ließe.
Der aus dem Wissen geborene Zweifel, dem sich jeder Fachmann, und der Intellektuelle im Besonderen, permanent zu erwehren hat, kann den Dilettanten nicht anfechten. Davor schützt ihn das Nichtwissen, ein Mangel, den er meist ahnungslos erträgt, immer öfter aber auch aggressiv kompensiert, indem er seine Ignoranz kultiviert. Joschka Fischer ist da nur ein Beispiel von vielen. Ein anderes wäre Karl-Theodor zu Guttenberg, der am Anfang seiner Plagiatsaffäre gar nicht begreifen konnte, weshalb denn so ein Aufhebens darum gemacht wurde, dass er bei anderen abgeschrieben und mit seiner Doktorarbeit geistigen Diebstahl begangen hat, während er später, als der Betrug immer offensichtlicher wurde, mit erhabener Nachsicht auf die verletzten Prinzipien der Wissenschaft zu sprechen kam, gerade so, als handle es sich um ein mehr oder weniger abseitiges Reglement, das man als Politiker nicht gar zu ernst nehmen sollte. Wie wir sehen werden, ist es dieses egoistische, aus den persönlichen Ansprüchen wachsende, unerschütterliche Selbstvertrauen, das den Dilettanten zum Tatmenschen macht. Es gibt ihm die Kraft, alles Mögliche - und öfter noch das Unmögliche - ins Werk zu setzen. Da er es nicht besitzt, kann ihn das Wissen um die Sache nicht hemmen. An der Wunschvorstellung orientiert sich sein Handeln, daraus, aus sonst nichts erwächst es, aus keiner Analyse, die dieses Handeln zwingend erforderte. Auch die Umwandlung der Universität in eine Berufsschule, die Reduktion des Studiums auf eine praxisorientierte Ausbildung, der sogenannte Bologna-Prozess, ist so eine Tat der ahnungslos Engagierten. Nicht zu reden vom Bubenstück der Rechtschreibreform.
Nur wer das Regelwerk der deutschen Sprache, die Vielfalt seiner Ausdrucksmöglichkeiten nicht kennt, konnte auf die Idee verfallen, das Schreiben durch eine simplifizierte Orthografie vereinfachen zu wollen. Bezeichnenderweise waren es die Nationalsozialisten, die das mit politischem Kalkül, um die Bildungselite auf das sprachliche Niveau der Masse zu bringen, schon einmal versucht hatten. Und auch jetzt wieder hat sich die Rechtschreibreform nicht aus der sprachlichen Entwicklung ergeben. Es gab keinen sachlichen Zwang; und es waren nicht die Philologen, die den Anstoß gaben; sie haben den Angriff auf das Kulturgut eher verschlafen. Erst als das Kind im Brunnen lag, die Reform gesetzlich sanktioniert war, hat die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ihre Stimme zaghaft erhoben. Der nachgereichte Protest verhallte kläglich. Die Tatsachen waren längst geschaffen, die neuen Duden gedruckt, die veränderten Rechtschreibprogramme auf den Computern installiert. Dafür hatten mehr oder weniger radebrechende Politiker gesorgt, um etwas zu schaffen, von dem sie glaubten, dass es besser abgestimmt sein müsste auf das veränderte Bildungsniveau, ihr eigenes eingeschlossen. Die akademische Welt wurde kurzerhand auf den Kopf gestellt. Maßstab der Reform war nicht mehr die Sprache, das Kulturgut selbst, es ging nicht um die Erschließung neuer Ausdrucksmöglichkeiten, sondern um eine Reduktion der Sprache, um ihre Anpassung an die sinkende Ausdrucksfähigkeit der Sprachbenutzer. Unterdessen wissen wir, wozu das führte: zu einer anarchistisch gebrauchten Rechtschreibung, an der sich die Linguisten mit immer neuen Nachbesserungen abarbeiten, während gleichzeitig die Zahl der Analphabeten steigt. 7,5 Millionen Deutsche, so die Ergebnisse einer Studie der Universität Hamburg, sind schon heute, 2011, nicht mehr in der Lage, richtig zu lesen und zu schreiben oder gar zusammenhängende Texte zu verstehen. 2004 waren es noch drei Millionen weniger. Die aus sprachwissenschaftlichem Unvermögen geborene Reform hat der sprachlichen Destruktion Vorschub geleistet. Aus dem Nichts erwachsen, droht sie ins Nichts zu führen.
So beherzt, wie sie sich das Unmögliche vornehmen, weil sie sich nicht auszumalen vermögen, was denn die Aufgabe erfordert, so bedenkenlos werfen die Dilettanten zum alten Eisen, was sie für überflüssig halten, weil sie selbst damit nichts anzufangen wissen. Da wie dort, im Positiven wie Negativen, handeln sie ad hoc und mit einer Ichbezogenheit, die nur allzu oft autistische Züge offenbart, in der Kunst wie in der Wissenschaft, in der Wirtschaft wie in der Politik. Auf diese Weise wird einerseits kreatives Potenzial freigesetzt, so entstehen die Werke der Avantgarde, das Neuartige schlechthin, so verschafft sich andererseits aber auch die pure Banalität unverhofft Geltung, so werden Katastrophen ausgelöst, Terrorregime errichtet, Ideologien durchgesetzt und Kriege heraufbeschworen.
Das fortwirkende Verhängnis des 20. Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg, war nicht nur das Werk eines skrupellosen Kapitalismus, als das es die Historiker, die marxistisch orientierten zumal, lange darstellten. Auch der politische Dilettantismus der damaligen Herrscher hat wesentlich zum Ausbruch des Krieges beigetragen, die neurotische Hybris Kaiser Wilhelms ebenso wie der Starrsinn des ergrauten Habsburgers Franz Joseph und der Realitätsverlust des russischen Zaren Nikolaus. Hindenburg, der brave Soldat als Präsident, und Hitler, der Gefreite aus der Etappe, der sich zum Feldherrn berufen wähnte, folgten ihnen auf dem Fuß. Alle waren sie nur Darsteller dessen, was sie sein sollten oder wollten.
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte der Soziologe Max Weber in seiner Auseinandersetzung mit der Ethik der Industriegesellschaft vor dem Auftritt der »letzten Menschen« gewarnt, vor »Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz«, die sich, gestützt auf den materiellen Zugewinn, gleichwohl »einbilden« würden, »eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben«. Die Prophezeiung wurde nicht gern gehört, und geändert hat sie erst recht nichts. Der Geist war aus der Flasche, seit der wachsende Wohlstand den Freiraum biografischer Spekulation eröffnete, zwar nicht gleich für alle, aber doch für immer mehr Menschen, die die Chance bekamen, jenseits des Broterwerbs spielerisch ihren Interessen nachzugehen. Dass das weitgehend ungehemmt geschehen konnte, ohne den Zwang, anderen als den eigenen Ansprüchen genügen zu müssen, wirkte erstens befreiend und weckte zweitens die Hoffnung, später die Überzeugung, allein kraft seiner Persönlichkeit, seines bloßen Daseins sein zu können, was man zu sein verlangte, während der Gedanke an Begabung, Talent, Befähigung, Ausbildung, Ausdauer und Übung zunehmend in den Hintergrund trat. Diese jenseits des Erwerbslebens gereiften Vorstellungen waren zu verlockend, als dass sie auf die Freizeit hätten beschränkt bleiben können. Der Versuchung, sich etwas vorzumachen, das den Wünschen entspricht, wie verstiegen sie auch sein mögen, konnte auf Dauer weder der Einzelne noch die Gesellschaft widerstehen. Zwangsläufig und unversehens zugleich hat sich der Dilettantismus zum Grundzug einer Spaßgesellschaft entwickelt, in der wir uns heute so aufgehoben fühlen wie zu den Zeiten, als der Begriff aufkam. Das schlechte Gewissen, mit dem wir ihn, gleich ertappten Kindern, unterdessen zu vermeiden suchen, ändert nichts an den Tatsachen.
Die Dilettanten sind die Heroen unserer Tage, die Helden einer leistungsmüden Gesellschaft. Nicht nur auf der Showbühne, in der Arena von Thomas Gottschalk, wo sie für die perfektionierte Darbietung des Sinnlosen bejubelt werden, oder im Dschungelcamp des Comedian Dirk Bach, bei dem es genügt, sich nach Kräften zu blamieren, um Punkte zu sammeln, auch in der Politik steigen die per Umfrage ermittel ten Sympathiewerte mit sinkender Kompetenz. Jörg Haider akklamierten die Wähler ungeachtet dessen, dass seine wirtschaftspolitischen Eskapaden die Republik Österreich Milliarden kosteten, zu schweigen von den internationalen Ansehensverlusten, die er regelmäßig einfuhr. Und wenn der Fall des, wie der Spiegel schrieb, »famosen« Karl-Theodor zu Guttenberg irgendetwas von historischem Belang gezeigt haben sollte, dann die Verführbarkeit der Massen durch den Dilettantismus, wobei sich diese Masse heute nicht mehr wie noch zu der Zeit, da sie Elias Canetti beschrieb, mehrheitlich aus Menschen mit niederen Schulabschlüssen und schlichterer Berufsausbildung rekrutiert. Auch die geistig arbeitende Mittelschicht wollte Hoffnung in den verkrachten Juristen als Politiker setzen. Der unverhofft Aufgestiegene galt als begnadet, weil er sich selbst dafür hielt. Weil er durchdrungen schien von dem Gefühl der eigenen Bedeutung, überzeugte Karl-Theodor zu Guttenberg wie andere Demagogen vor ihm. Die Frage nach der eigentlichen, der fachlichen und der geistig- moralischen Qualifikation für die Politik schien sich zu erübrigen. Noch nach der Aufdeckung seines Betrugs, als Gefahr für die Macht im Verzug war, beeilte sich die Kanzlerin, der Öffentlichkeit zu versichern, sie habe schließlich einen Minister, »keinen wissenschaftlichen Assistenten oder einen Promovierenden oder einen Inhaber einer Doktorarbeit berufen «. War der promovierten Physikerin gar nicht mehr aufgefallen, dass es bei ihrer Argumentation auf eine sophistische Rechtfertigung der Unmoral durch die kultivierte Ignoranz von Prinzipien hinauslief, denen sie sich als einstige Wissenschaftlerin hätte verpflichtet fühlen sollen? Vermutlich nicht. Jedenfalls hegte die Kanzlerin keine Bedenken, sich bei dem gefallenen Minister »für seinen Dienst am Vaterland von ganzem Herzen« zu bedanken.
Was in seinem Fall geradezu beispielhaft zählen sollte, war die Emphase des Ausdrucks, nicht der Inhalt seiner Reden. Davon musste sich niemand irritiert fühlen. Der gern erhobene Vorwurf intellektueller Arroganz ließ sich daraus nicht ableiten. Karl-Theodor zu Guttenberg wurde als besondere Begabung gefeiert und euphorisch auf den Schild der Bild- Zeitung gehoben, weil er nicht wirklich besser war als wir alle, dies aber strahlender darstellte. Ein Dilettant unter Dilettanten, die Gallionsfigur einer Zeit, in der wir es leid geworden sind, uns vom Zweifel an den eigenen Fähigkeiten die Laune verderben zu lassen. Noch bei seinem erzwungenen Abschied wiegte sich der Minister rhetorisch ausschweifend im Wohlgefühl der getragenen »Verantwortung«, um mit der Illusion eigener Bedeutung über die Realität seines Versagens zu triumphieren, wiederum nicht, ohne dafür den erheischten Beifall zu bekommen. Waren es doch nicht zuletzt seine zugestandenen »Fehler«, die ihn in der Gunst des Publikums aufsteigen ließen. Bis zum Schluss, dem vorläufigen Ende seiner kurzen Karriere, gab der charismatische Aufsteiger ein glänzendes Beispiel - eines, das es der per Umfrage gemessenen Mehrheit offenbar leichter machte, die Unzulänglichkeit der eigenen Existenz zu ertragen. Ist doch noch die Entlarvung des Hochstaplers von vielen wie eine persönliche Kränkung aufgenommen worden. Der Baron sei, so zitierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung den sprichwörtlichen Mann auf der Straße, »ein Mensch, der Fehler gemacht habe, aber den wir brauchen«. Martin Walser, der Schriftsteller, wollte in der aufgedeckten Abschreiberei sogar eine »notgedrungene Überlebenshilfe « erkennen, für die er am liebsten »auf die Straße« gegangen wäre.
Was diese Allianz der Amateure für die politische Zukunft bedeutet, was sie dem Einzelnen bringt oder nimmt, wie es überhaupt zu dem machtvollen Schulterschluss der Fehlbaren gekommen ist und wie sich das mit der Demokratie, mit der Kultur und der Bildung vertragen soll, all das werden wir hier zu ergründen versuchen, historisch analysierend zum einen und hypothetisch spekulierend zum anderen. Zu fragen ist nach dem Einfluss der Medien, insbesondere nach dem Machtzuwachs des Boulevards. Stimmt es, dass dort die Meinung gemacht wird? Oder bekommen wir da nur geboten, was wir gerade noch verstehen? Und wie wirkt dieses mit jenem zusammen, bis hinein in die Wirtschaft? Inwieweit wurden die jüngsten, kaum überstandenen Krisen durch den Dilettantismus heraufbeschworen? Denn auch die Banker, die sie maßgeblich verursachten, auf unteren, mittleren, höheren und ganz hohen Ebenen, auch sie haben ja nicht so sehr wider besseres Wissen gehandelt als vielmehr im Rahmen dessen, was sie sich vorstellen wollten. Für die nachher vielfach eingeklagte moralische Verantwortung fehlte ihnen, so ist aus etlichen Berichten zu folgern, ganz einfach die Basis ausreichender Sachkenntnis. Nicht zu reden von einer kulturellen Bildung, aus der moralische Normen erwachsen könnten. An ihre Stelle setzten die Banker die Gier, die sie mit ihren Kunden teilten. Dazu kam der Anspruch, so faszinierend wahrgenommen zu werden, wie sie andere erlebten. Denn die dilettantische ist immer und zuerst eine nachgeahmte Existenz, nicht zu verwechseln mit der des in der Sache engagierten Laien. Beruflich kann sie in den verschiedensten Rollen auftreten, als Außenminister oder als Chef einer deutschen Landesbank und ganz unverstellt als ein Jedermann, der beschlossen hat, sich als Superstar selbst zu verwirklichen, bei Thomas Gottschalk, dem Quizmaster Günther Jauch oder eben bei Dieter Bohlen. Manchmal, im einfachsten Fall, nimmt dieses Theater derart kuriose Züge an, dass man sich herzlich amü sieren möchte; immer öfter jedoch wird der Typus von seinem Anspruch so hoch getragen, dass es nichts mehr zu lachen gibt, ganze Länder und Kulturen für den angerichteten Schaden aufkommen müssen, nach einer Finanzkrise, einem Atomunfall oder einer Bildungsreform zum Beispiel. Aus den einfältigen sind längst professionelle Dilettanten geworden. Von der Arglosigkeit, mit der noch Bouvard und Pécuchet, die verschrobenen Helden Gustave Flauberts, sich im Vertrauen auf den »gesunden Menschenverstand« alles zutrauten, wovon sie nichts verstanden, um dann von einer Niederlage zur nächsten zu stolpern, von dieser tölpelhaften Einfalt ist wenig geblieben. Die Nachfahren wissen, was sie wollen. Dass das in aller Regel mehr ist, als sie können, braucht sie nicht weiter verunsichern, nicht in einer Welt, in der sie unter ihresgleichen sind. Forsch können sie über die Stränge schlagen, nach Herzenslust aufschneiden, wenn es gilt, eine Rolle zu bekommen, von der sie sich etwas versprechen.
Die Illusion ist ohnehin ihre Realität. Darin wiegen sie sich und ihr Publikum mit Erfolg. Niemand konnte ernsthaft erwarten, dass die Bundeskanzlerin Angela Merkel am 5. Oktober 2008 noch wusste, wovon sie sprach, als sie »den Sparern und Sparerinnen« mitten in der Wirtschafts- und Finanzkrise, während eine Bank nach der anderen die Schalter zu schließen drohte, im Brustton der Überzeugung erklärte, »eure Sparguthaben sind sicher «, das »verspreche« sie, dafür stehe die Regierung ein. Was zählte, war allein die Vorspiegelung einer Kompetenz, an die sie selbst glauben wollte. Dass diese Regierung in Wahrheit nur Schulden machen und das Steuergeld derer umverteilen kann, für deren Vermögen die Regierungschefin bürgen wollte, wurde bei der Verkündigung kurzerhand ausgeblendet.
Der gutgläubige, um seine Spareinlage besorgte Bürger bekam, was er verdiente, das Versprechen, sich schlimmstenfalls am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen zu dürfen. Ein absurdes Theater, dessen Sinn sich in der Selbstdarstellung der Politik erschöpfte, im Auftritt an sich. Viel mehr scheinen die Wähler allerdings auch gar nicht mehr zu erwarten. Oder wie sonst sollte man sich das monatliche Politbarometer erklären, in dem dieselben Politiker, die auf der Beliebtheitsskala die höchsten Sympathiewerte erreichen, bei den Fragen nach ihrer fachlichen Kompetenz bescheiden bis miserabel abschneiden. Unbedarft in der Sache und überzeugend oder eben versagend in der Vorstellung, werden sie als die Darsteller bejubelt oder ausgepfiffen, die sie sein wollen, ähnlich dem Schauspieler, den wir in der Rolle des Wallenstein beklatschen, obwohl wir ihm niemals die Führung eines Heeres anvertrauen würden.
Was immer der Dilettant sein will, stets zieht es ihn auf die Bühne, stets will er etwas vorstellen. Schon Gerhard Schröder soll einst bei Nacht an den eisernen Stäben des Tores vor dem Bonner Kanzleramt gerüttelt und gerufen haben: »Ich will hier rein!« Ob das so war, mag wie bei den meisten Anekdoten fraglich sein, ohne einen Wahrheitskern aber wäre die Anekdote auch nicht als solche überliefert, vielleicht erfunden worden. Was sie offenbart, ist der narzisstische Antrieb, mit dem da einer in das höchste Regierungsamt strebte. Gerhard Schröder wollte den Kanzler geben, und er wollte, das war sein erklärtes Ziel, »Spaß« dabei haben. Und solange er sich damit zufriedengab, durfte er dann auch im Kanzleramt bleiben. Erst als er mehr verlangte, als er glaubte, mit seinen Arbeitsmarktreformen politisch etwas bewirken zu müssen, wurde er bei der Bundestagswahl am 18. September 2005 wieder vor die Tür gesetzt. So viel mochte ihm die Mehrheit der Wähler, die ihn ansonsten durchaus schätzte, weil sie ihn für einen Typ hielt, mit dem man gut »Party feiern« könnte, nun doch nicht zutrauen. Für ihn selbst war das, darin mag man eine gewisse Tragik erkennen, schier unbegreiflich. Noch als bereits feststand, dass er unterlegen sein würde, wollte er seiner Kontrahentin Angela Merkel vor dem versammelten Fernsehvolk »das Recht« absprechen, in das Amt einzuziehen, das er bisher besetzte. Die veränderte Situation passte nicht in seine Vorstellung von der Wirklichkeit. Die Bretter, auf denen er sich bewegte, sollten weiter die Welt bedeuten. Seine Nachfolgerin hat die Lektion schnell gelernt und seither mit großer Umsicht alles zu vermeiden versucht, was den Eindruck der Inszenierung stören und sie die Besetzung kosten könnte. Mit beispielhafter Professionalität versieht sie die Geschäfte eines Dilettantismus, der überzeugt, indem er sich an der Vorstellung gewünschter Erfolge berauscht, in der Politik wie in der Wirtschaft, im Bildungswesen wie im Kunstbetrieb. Frei nach dem Motto, man muss nur richtig wollen, was man sein will, um sein zu können, was man will, machen die Dilettanten ihr Glück. Und wo immer sie dabei ankommen, stehen sie auf einem Gipfel, auf einem Bildungs-, einem Wirtschafts-, einem Kinder-, einem Rentner-, einem Benzingipfel oder auch mal auf einem Frauenquotengipfel. Allweil fühlen sie sich durch den Eindruck eigener Leistung erhoben, selbst wenn nur ein kurzer Anstieg hinter ihnen liegt, der bezwungene Berg bestenfalls ein Hügel ist - eine Erhebung wie der Monte Verità, jener »Berg der Wahrheit«, auf dem unsere Geschichte des Dilettantismus, die Geschichte des erfolgreichen Versagens, vor mehr als einem Jahrhundert begonnen hat, mit viel Enthusiasmus und dem unerschütterlichen Glauben der handelnden Figuren an die weltsetzende Bedeutung ihrer Einzigartigkeit.
© Carl Hanser Verlag, München
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Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas Rietzschel
- 2012, 252 Seiten, Maße: 13,6 x 21,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552055541
- ISBN-13: 9783552055544
Rezension zu „Die Stunde der Dilettanten “
"Rietzschel hat fleißig Banalitäten und Peinlichkeiten gesammelt, die als Einzelne weder tragisch noch neu sind. Begleitet von melancholisch-satirischen Kommentaren fügt er aber seine Puzzelsteinchen zu einem Deutschland-Bild, das einigermaßen erschüttert. Wer aber Rietzschels an- und streckenweise aufregenden Essay zur Hand nimmt, demonstriert schon damit fröhlichen Trotz gegen seinen Pessimismus - und natürlich gegen den grassierenden Dilettantismus." Peter Carstens, Deutschlandfunk, 27.02.2012"Brillant geschrieben." Franziska Augstein, Augsteins Auslese, 07.03.2012
"Eine scharfzüngige Zeit- und Gesellschaftsdiagnose - ein Weckruf für ein saturiertes Bürgertum." Rudolf Mitlöhner, Die Furche, 22.03.2012
"Die rabiate Intervention eines Citoyen - ein Buch, das darauf gewartet hat, geschrieben zu werden. Man sieht die Hochstapler nicht nur mit anderen Augen, man hört sie auch mit anderen Ohren ( ). Man sieht bestätigt, was man eher geahnt als gewusst hat." Henryk M. Broder, Die Welt, 24.02.2012
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